T homas Mor it z Mü l ler/ R e i n e r S c h l o t t h a u e r ( H g .) Gott denkend entdecken Meilensteine der Theologie topos taschenbücher 08012_umbr.indd 3 25.06.12 16:48 Inhalt 13 Vorwort 18 I. Teil: Die frühe Zeit Einführung Was wissen wir von Gott? ERNST DASSMANN 22 Paulus von Tarsus: »Erster Brief an die Korinther« (um 55 n. Chr.) Der Weg der Liebe übersteigt den Weg des Gesetzes WOLFGANG BAUR 27 Johannes: Der Prolog zum Evangelium (um 100 n. Chr.) Gott hat sein Licht in die Finsternis gesandt WOLFGANG BAUR 32 Origenes von Alexandrien: »Von den Prinzipien« (vor 220 n. Chr.) 37 Cyrill von Jerusalem: »Taufkatechesen« (um 348–351 n. Chr.) Glaube und Vernunft gehören zusammen GEORG RÖWEKAMP Hineingenommen in das Mysterium der Dreifaltigkeit STEPAN SHARKO 42 Ambrosius von Mailand: Aus den »Briefen« (386 n. Chr.) »Dem Kaiser die Paläste, dem Bischof die Kirchen« ERNST DASSMANN 47 Aurelius Augustinus: »Bekenntnisse« (um 400 n. Chr.) Feuer fangen an Gottes gnadenhafter Liebe WOLFGANG WIELAND 52 Dionysius Areopagita: »Über die mystische Theologie« (um 500 n. Chr.) Am Ende bleibt nichts als das Schweigen CHRISTIAN PÖPPERL 5 08012_umbr.indd 5 25.06.12 16:48 56 Benedikt von Nursia: »Mönchsregel« (um 550 n. Chr.) Rechtes Maß ist die Mutter aller Tugenden 64 HERBERT STANGL II. Teil: Das frühe Mittelalter Einführung Können wir Gott studieren? MARIA BURGER 69 Die Martinsschriften des frühen Mittelalters (zwischen 400 und 800 n. Chr.) Gott zum Ruhm, den Menschen zum Vorbild SILKE KÖSTER 74 Die Wandmalereien in St. Georg in Oberzell auf der Insel Reichenau (um 900/1000 n. Chr.) Jesu Wundertaten zur Anschauung gebracht WOLFGANG URBAN 78 Anselm von Canterbury: »Warum Gott Mensch geworden ist« (1094/97–1098) Die rationale Rekonstruktion des Glaubens 83 STEPHAN ERNST Bernhard von Clairvaux: »Von Gnade und freiem Willen« (1127) Der Mensch muss die Mündigkeit erst wieder lernen GERHARD B. WINKLER 88 Hildegard von Bingen: »Wisse die Wege« (1141/1151) Ein »Feuer, unauslöschlich und ganz Leben« CHRISTIAN FELDMANN 92 Albertus Magnus: »Über den Menschen« (1242) Der Mensch ist eine Einheit von Leib und Seele HENRYK ANZULEWICZ 97 Thomas von Aquin: »Summe der Theologie« (1266–1273) Die Vernunft strebt von Natur aus nach der Wahrheit ANDREAS SPEER 103 Jacobus de Voragine: »Legenda Aurea« (1263–1267) Ständig kämpfend wandern wir durch das Leben PHILIPP REICHLING 6 08012_umbr.indd 6 25.06.12 16:48 110 III. Teil: Das späte Mittelalter Einführung »Gott ist allzeit krank nach mir« ULRIKE STÖLTING 115 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie (1304/1321) Rettung kommt mit einer Reise durch das Jenseits JOACHIM LEEKER 119 Meister Eckhart: Das »Buch der göttlichen Tröstung« (um 1320) »Wie kann ich so sein, dass ich das Richtige tue?« DIETMAR MIETH 124 Biblia pauperum – Armenbibel (13. bis 15. Jahrhundert) Auf einen Blick in den Glauben unterwiesen WOLFGANG URBAN 128 Wilhelm von Ockham: Begriff und Wirklichkeit (1285–1349) Hätte Gott alles anders machen können? VOLKER LEPPIN 133 Heinrich Seuse: »Das Buch der Wahrheit« (1326) Der Königsweg zur Gotteserkenntnis heißt Gelassenheit AURELIA SPENDEL OP 138 Birgitta von Schweden: »Offenbarungen« (1349/73) Eine Frau als Sprachrohr Gottes für die Welt ULRIKE STÖLTING 142 Thomas von Kempen: »Die Nachfolge Christi« (ca. 1420–1427) »Schäme dich nicht, aus Liebe zu Jesus zu dienen« ULRIKE BODEMANN-KORNHAAS 147 Nicolaus von Cues: »Die belehrte Unwissenheit« (1440) In Gott fallen selbst die Gegensätze zusammen CLAUDIA LÜCKING-MICHEL 7 08012_umbr.indd 7 25.06.12 16:48 154 IV. Teil: Der Übergang zur Neuzeit Einführung »Gerechtfertigt allein aus Gnade« RAINER BENDEL 160 Erasmus von Rotterdam: »Handbüchlein eines christlichen Streiters« (1504) Der schwerste Kampf gilt der eigenen Trägheit PETER WALTER 164 Thomas Morus: »Utopia« (1516) Alle Bürger arbeiten für den gemeinsamen Wohlstand GERALD MUNIER 169 Martin Luther: »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (1520) »Ein freier Herr und niemand untertan« MARLIES MÜGGE 174 Ignatius von Loyola: »Geistliche Übungen« (1533/1541) Deine Liebe und Deine Gnade genügen mir WILLI LAMBERT SJ 178 Bartolomé de las Casas: »Gegen die Verfolger und Verleumder« (1550/1553) Das Evangelium mit Sanftmut und Liebe lehren CHRISTIAN FELDMANN 183 Teresa von Avila: »Wohnungen der inneren Burg« (1577) Wie im siebten Himmel: Verweilen bei Gott BEATE-MARIA LINK 188 Franz von Sales: »Anleitung zum frommen Leben« (1609) »Die Frömmigkeit aber passt zu jedem Stand« HERBERT WINKLEHNER 193 Friedrich Spee von Langenfeld: »O Heiland, reiß die Himmel auf« (1622) Sehnsuchtslied aus dem Dunkel größter Not FRIEDRICH HAARHAUS 8 08012_umbr.indd 8 25.06.12 16:48 200 V. Teil: Das Zeitalter der Aufklärung Einführung »Mehr Licht ins Denken über Gott«: Das Profil der katholischen Aufklärung BERNHARD SCHNEIDER 205 John Milton: »Paradise Lost – Das verlorene Paradies« (1667) Eine »glückliche Schuld« erst ermöglicht die Erlösung MARK BERNINGER 210 Angelus Silesius: »Cherubinischer Wandersmann« (1657) »Wird Christus tausendmal zu Betlehem geboren« CHRISTIAN FELDMANN 215 Blaise Pascal: »Gedanken über die Religion« (1670) Gott übersteigt sogar die Regeln der Geometrie SASCHA MÜLLER 220 Johann Michael Sailer: »Vorlesungen aus der Pastoraltheologie« (1788/89) »Werkzeug zur Ausbreitung christlicher Weisheit« OTTO WEISS 225 Johann Adam Möhler: »Die Einheit in der Kirche« (1825) Leben und Geist haben Vorrang vor Begriff und Lehre ANDREAS HOLZEM 230 Johann Baptist Hirscher: »Die Christliche Moral als Lehre von der Verwirklichung des göttlichen Reiches in der Menschheit« (1835/36) Christliches Handeln auf der Höhe der Zeit 235 WALTER FÜRST John Henry Newman: »Zur Entwicklung der Glaubenslehre« (1845) »Vollkommenheit heißt, sich oft gewandelt zu haben« ROMAN A. SIEBENROCK 240 Wilhelm Emmanuel von Ketteler: Die »Adventspredigten« (1848) Wer besitzt, dem sind soziale Pflichten auferlegt KARL BREHMER 9 08012_umbr.indd 9 25.06.12 16:48 246 VI. Teil: Anbruch der Moderne Einführung Wo bist du geblieben, Gott? WOLFGANG PAULY 251 Oswald von Nell-Breuning: »Grundzüge der Börsenmoral« (1928) Welche Wirtschaftsordnung dient dem Gemeinwohl? WOLF-GERO REICHERT 256 Karl Barth: »Kirchliche Dogmatik« (1932–1967) Gott selbst rettet die Menschen aus der Verlorenheit EBERHARD BUSCH 261 Romano Guardini: »Der Herr« (1937) »Zu allem im Unterschied und Widerspruch« JEAN GREISCH 265 Marie-Dominique Chenu: Le Saulchoir. Eine Schule der Theologie (1937) Das Wort Gottes in Menschenworten sprechen ULRICH ENGEL OP 270 Rudolf Bultmann: »Neues Testament und Mythologie« (1941) Die Bibel: Geschichtliches Dokument des Glaubens CHRISTOF LANDMESSER 275 Paul Tillich: »Systematische Theologie« (1951/63) und »Religiöse Reden« (1948/63) Gott ist, was über Sein und Nichtsein entscheidet ANDREAS RÖSSLER 280 Pierre Teilhard de Chardin: »Der Mensch im Kosmos« (1955) Der kosmische Christus am Ende der Evolution CHRISTIAN FELDMANN 285 Eugen Biser: »Gott ist tot« (1962) Eine Brücke über den Abgrund des Atheismus GABRIELE RIFFERT 10 08012_umbr.indd 10 25.06.12 16:48 290 Hans Urs von Balthasar: »Herrlichkeit« (1961/69) – »Theodramatik« (1971/83) – »Theologik« (1985/87) Gott komponierte die Schöpfung als eine Weltoper WOLFGANG W. MÜLLER 296 VII. Teil: Neue Spuren, neue Wege Einführung Gott mit neuen Augen sehen 301 WOLFGANG PAULY Joseph Ratzinger: »Einführung in das Christentum« (1968) Die Wahrheit Gottes ist die Wahrheit der Liebe SIEGFRIED WIEDENHOFER 306 Gustavo Gutiérrez: »Theologie der Befreiung« (1972) Gott erkennen heißt Gerechtigkeit üben ULRICH ENGEL OP 311 Hans Küng: »Christ sein« (1974) Den Unterschied macht die Person Jesu Christi ROMAN A. SIEBENROCK 316 Walter Kasper: »Jesus der Christus« (1974) Gott schenkte dem Menschen in Liebe die Freiheit PETER WALTER 320 Karl Rahner: »Grundkurs des Glaubens« (1976) Gott ist mit uns – zu allen Zeiten und überall ROMAN A. SIEBENROCK 325 Eberhard Jüngel: »Gott als Geheimnis der Welt« (1977) Im Kreuz bringt Gott sich selbst zur Sprache TOM KLEFFMANN 330 Heinrich Fries/Karl Rahner: »Einigung der Kirche – Reale Möglichkeit« (1983) Die Einheit der Kirchen – ein Gebot des Herrn BEATE UND JÖRG BEYER 335 Elisabeth Schüssler Fiorenza: »Zu ihrem Gedächtnis« (1983/88) Das Schweigen über die Frauen durchbrechen HILDEGARD KÖNIG 11 08012_umbr.indd 11 25.06.12 16:48 340 Eugen Drewermann: »Tiefenpsychologie und Exegese« (1984/85) Aus der Bibel leuchten die Urbilder der eigenen Seele hervor ANTON A. BUCHER 345 Alfons Auer: »Autonome Moral und christlicher Glaube« (1971/1984) Kann die Kirche noch moralische Heimat stiften? DIETMAR MIETH 350 Edward Schillebeeckx: »Menschen. Die Geschichte von Gott« (1990) Glaube fußt auf der Erfahrung des Heils in der Welt ULRICH ENGEL OP 356 VIII. Teil: Ausblick Ausblick Wohin führt uns die Theologie? JOHANNA RAHNER 362 Zeittafel 371 Autorinnen und Autoren 12 08012_umbr.indd 12 25.06.12 16:48 Vorwort Was wissen wir von Gott? Es gibt viele tausend Antworten auf diese Frage. Wer das Internet durchstöbert, der begegnet schier unzähligen Versuchen, Gott in irgendeiner Weise zu definieren, von Erfahrungen mit ihm zu berichten, aber auch: seine Existenz zu widerlegen. Wenige Menschen lässt die Frage nach seinem Dasein und seinem Wesen in ihrem Innersten wirklich gleichgültig. Es kann als gewiss gelten: Seit Menschen denken können, denken sie sich auch Gott. Fragend und zweifelnd, forschend und glaubend versuchen sie die Natur des sie übersteigenden Ursprungs und Ziels allen Seins und Nichtseins zu ergründen. Mit Jesus Christus nahm eine neue Vorstellung von Gott Gestalt an. Zunächst noch tastend, dann immer weiter ausgreifend mühten sich die Denkerinnen und Denker des Christentums, die Dimensionen des neuen Gottesbildes auszumessen. Unser heutiges Ahnen und Wissen über Gott stützt sich auf den Pioniergeist von Generationen von Vordenkern in den aufeinanderfolgenden Epochen der Kirchengeschichte – von den Aposteln und Evangelisten über die Kirchenväter bis zu den Scholastikern des frühen Mittelalters, von den großen Ordensgründern über die Mystikerinnen und Mystiker des 14. und 15. Jahrhunderts bis hin zu den Aufklärern der Neuzeit und den Reformtheologen der Gegenwart. In ihren Werken haben sie prägende Spuren hinterlassen. Was wissen wir von Gott? Mit dieser Frage im Gepäck ist die Redaktion des Katholischen Sonntagsblattes, des Magazins für die Diözese Rottenburg-Stuttgart, im Jahr 2008 aufgebrochen und hat sich auf die Suche gemacht. Unser Ziel war es, Antworten aus zweitausend Jahren christlicher Theologie zu sammeln und vorzustellen. »Meilensteine« sollten es sein, Werke, die in der Geschichte des »Redens über Gott« – nichts anderes heißt »Theologie« – jeweils ei13 08012_umbr.indd 13 25.06.12 16:48 nen neuen Anstoß, eine neue Richtung gegeben haben. In insgesamt sieben großen Artikelreihen haben wir die wichtigen Epochen der Kirchengeschichte durchschritten. In diesem Buch sind die im Zeitraum von insgesamt vier Jahren im »Katholischen Sonntagsblatt« erschienenen Artikel nun komplett versammelt. Wir freuen uns darüber, dass es gelungen ist, für alle Beiträge Autorinnen und Autoren zu gewinnen, die für die jeweilige Zeit und für die jeweiligen Werke als ausgewiesene Experten in der theologischen Forschung tätig sind. Die durchweg rasche Bereitschaft zur Mitwirkung an unserem Projekt und die engagierte Mitarbeit wissen wir zu schätzen. Dankbar sind wir dafür, dass obendrein nun die Autorinnen und Autoren ihre Beiträge – fallweise in leicht aktualisierter Form – für diese Publikation zur Verfügung gestellt haben. Mag sein, dass unsere Auswahl an Werken manche Wünsche offenlässt, mag sein, dass man über die Bedeutung einzelner Werke streiten kann. Dennoch glauben wir, so viele »Meilensteine« entlang des Weges des christlichen Denkens über Gott markiert zu haben, dass sich ein ausreichend klares, aber auch genügend buntes Mosaikbild ergibt. Unter die rein theologischen Werke haben wir einige Stücke gestreut, die – wie Dantes »Göttliche Komödie« oder Miltons »Paradise Lost« – zu den literarischen Verarbeitungen theologischer Erkenntnis ihrer Zeit gehören. Auch wenn sie selbst nicht bahnbrechend waren, haben sie doch zur Popularisierung denkerischer Vorstellungen beigetragen. Wem die jeweils bewusst kurz gehaltenen Beiträge nicht genügen, findet direkt im Anschluss »Zum Weiterlesen« Hinweise auf weiterführende Literatur und, sofern greifbar, auf eine deutsche Übersetzung des Originals. Wenn unsere theologische Spurensuche uns eines deutlich gemacht hat, dann dieses: Auf Gott kann man sich schwerlich einen einfachen Reim machen. Selbst ein Satz wie »Gott ist die Liebe«, der klingt, als könne er alles erklären, bedarf der Deutung: Welche Liebe ist gemeint? Wie 14 08012_umbr.indd 14 25.06.12 16:48 zeigt sie sich, wie lässt sie sich erfahren, wann wird sie falsch verstanden? Eines freilich eint die theologischen Denkansätze zu allen Zeiten: Die intensive Leidenschaft, mit der um die Wahrheit, mit der um Erkenntnis gerungen wurde und wird. Tastend zwar, aber mit unendlich großer Sehnsucht greifen Menschen nach dem Höchsten. Dass sie dafür auch in Zukunft eine geeignete und angemessene Sprache an die Hand bekommen, ist die vielleicht mächtigste Herausforderung für kommende Generationen von Theologinnen und Theologen. Was wissen wir von Gott? Eine der schönsten Antworten schildert das erste Buch der Könige. Der Prophet Elija erlebt nacheinander einen Sturm, ein Erdbeben und ein Feuer. In keiner dieser Erscheinungen, heißt es, war Gott. Dann »kam ein sanftes, leises Säuseln«. Elija tritt hinaus und hört die Stimme Gottes, die zu ihm spricht. Allen sorgsam gepflegten theologischen Vorstellungen, allen dogmatisch abgesicherten Formulierungen zum Trotz: Gott ist nie nur so, wie wir es uns denken. Gott ist immer auch anders. Und er ist auch immer nicht nur eine Sache des Denkens, des Intellekts. Es ist möglich, Gott denkend zu entdecken. Aber er will auch erlebt, erspürt, erfahren werden. Diese Erkenntnis hilft zu begreifen, dass die Suche nach ihm erst zu Ende ist, wenn – nach Augustinus – unser »Herz in ihm ruht«. Thomas Moritz Müller Reiner Schlotthauer 15 08012_umbr.indd 15 25.06.12 16:48 Erasmus von Rotterdam: »Handbüchlein eines christlichen Streiters« (1504) Der schwerste Kampf gilt der eigenen Trägheit Als das »Handbüchlein eines christlichen Streiters« (im Original kurz »Enchiridion« genannt) 1504 erschien, konnte niemand ahnen, dass es 500 Jahre später und in zahlreiche Sprachen übersetzt noch immer gelesen werde. Das Werk war bei seinem ersten Erscheinen in einem Sammelband versteckt, der einen Allerweltstitel trug: »Lucubratiunculae« (»Bei Kerzenlicht geschriebene Kleinigkeiten«). Der damals etwa 35-jährige Autor war bis dahin nur mit einem größeren Werk auf dem Markt, einer Sammlung von mehr als 800 antiken Sprichwörtern, die 1500 in Paris gedruckt worden war und die sich später zu einem Riesenwerk mit über 4100 Stücken auswachsen sollte. Immerhin hatte er, der sich schlicht »Erasmus, Augustinerchorherr« nannte, einen renommierten Drucker gefunden, Dirk Martens in Antwerpen. In Nachdrucken des Sammelbandes der »Lucubratiunculae« erschien das »Handbüchlein« noch einige Male, auch an anderen Orten, bevor Martens es 1515 erstmals separat veröffentlichte. Ein Jahr später gelang Erasmus in mehrfacher Hinsicht ein Coup: Er ließ den von ihm aus Handschriften herausgegebenen griechischen Text des Neuen Testamentes mit einer eigenen lateinischen Übersetzung drucken samt Anmerkungen, die erklären, warum diese von der durch jahrhundertelangen Gebrauch geheiligten »Vulgata« abweicht. Und er schaffte es zusammen mit seinem Basler Drucker Johannes Froben, einem spanischen Parallelunternehmen zuvorzukommen und sich den Ruhm, die erste Druckausgabe des griechischen Neuen Testamentes herausgebracht zu haben, zu sichern. Erasmus genoss damals den Ruf des wichtigsten europäischen Geistes, den ihm ein Jahr später Martin Luther streitig machte. 160 08012_umbr.indd 160 25.06.12 16:48 Als dieser Rangstreit noch keineswegs entschieden war, brachte Froben 1518 die mit einem umfangreichen Vorwort versehene Neuauflage des »Enchiridion« heraus, die Erasmus seinen Rang als geistlicher Schriftsteller sicherte. Auf dem Titelblatt nannte er, der zwei Jahre vorher mit päpstlicher Dispens aus dem Augustinerorden ausgetreten war und fortan als Weltpriester lebte, sich »Desiderius Erasmus Roterodamus«. Er hielt sich in den Niederlanden, Paris und England auf, bereiste Italien und wirkte in Burgund, ließ sich in Basel nieder, ging nach Freiburg im Breisgau und kehrte schließlich nach Basel zurück. Dort starb er am 12. Juli 1536 und ist (als katholischer Priester) im dortigen (evangelischen) Münster beigesetzt. Das »Enchiridion« macht deutlich, dass das erstaunlich umfangreiche und vielfältige Werk des Erasmus von Anfang an eine Mitte hat: Jesus Christus. Ihn, das Wort Gottes, möchte er sprechen lassen und die Menschen hellhörig machen für seine Botschaft und bereit, sie im Leben zu verwirklichen. Das Titelblatt nannte bereits die »Lucubratiunculae« und das in ihnen enthaltene »Enchiridion« »überaus nützlich für junge Menschen«. Erasmus verstand sein Werk als eine Hinführung zu Jesus Christus, als christliche Pädagogik. Erasmus hat das »Enchiridion« für einen an einem Fürstenhof lebenden Mann geschrieben, den er zum rechten Christsein anleiten möchte. Dieses ist für ihn keineswegs Sache der Geistlichen und Ordensleute allein, sondern aller Christen. Entsprechend dem Bild vom menschlichen Leben als Kriegsdienst, das sowohl bei stoischen Philosophen wie Seneca und Epiktet, der gleichfalls ein »Enchiridion« verfasst hat, als auch in der Bibel, etwa im Buch Ijob (7,1) oder im Epheserbrief (6,11–17), begegnet, charakterisiert Erasmus das Leben als einen Kampf, der nur mit den richtigen Waffen gewonnen werden kann. Dieser Kampf ist nicht gegen andere, sondern gegen sich selbst, die eigene Trägheit und das eigene Versagen zu richten. Seine Waffen sind Gebet 161 08012_umbr.indd 161 25.06.12 16:48 und Kenntnis der Heiligen Schrift. Nur weil es im übertragenen Sinn um einen Kampf geht und die bildliche Rede vom christlichen Soldaten – in der Sprache der höfischen Welt des Mittelalters: Ritter – gängig war, hat der zeitlebens pazifistisch gesinnte Erasmus sie überhaupt aufgreifen können. Als Einstieg zum rechten Christsein empfiehlt Erasmus den bereits von den Weisen der Antike gegebenen Rat »Erkenne dich selbst«. Wenn er diesem Rat folgt, nimmt der Mensch wahr, dass er dem Leibe nach zum animalischen, der Seele nach zum geistigen, letztlich göttlichen Bereich gehört. Die ursprüngliche, durch die Sünde gestörte Einheit beider soll wiederhergestellt werden, indem die Vernunft als das Göttliche im Menschen, das durch die Sünde nicht zerstört wurde, wieder zur Herrschaft gelangt. Dazu gibt Erasmus 22 Regeln und weitere Ratschläge an die Hand, die zur Überwindung der Vorherrschaft des Äußerlichen im einzelnen Menschen wie in Kirche und Welt helfen sollen. Sie werden von einer teilweise heftigen Kritik begleitet, die sich vor allem gegen die Ordensleute richtet, deren besondere Qualität in Sachen Christsein Erasmus bestreitet. Seine Auffassung hat er gegen Ende des »Enchiridion« auf die bündige Formel gebracht: »Mönchtum ist nicht Frömmigkeit, sondern eine Art zu leben, dem Einzelnen entsprechend der Beschaffenheit des Körpers und der Begabung entweder nützlich oder schädlich.« Von zentraler Bedeutung ist die fünfte Regel, in der Erasmus das anthropologische und hermeneutische »Grundgesetz« (Alfons Auer) sowohl für die Lebensgestaltung wie für die Schriftauslegung darlegt: Überall ist vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, von außen nach innen, vom Buchstaben zum Geist vorzustoßen. In einer Zeit, in der Fürsten kostbare Reliquiensammlungen anlegten, die Kirchen mit Darstellungen Jesu Christi, Mariens und der Heiligen geschmückt wurden und Menschen entbehrungsreiche und gefährliche Pilgerfahrten zu entlegenen Wallfahrtsorten 162 08012_umbr.indd 162 25.06.12 16:48 wie Jerusalem, Santiago de Compostela oder Rom unternahmen, wirkte die Kritik des Erasmus, der all dies für den sichtbaren, äußeren Bereich verbuchte und stattdessen schlicht die Lektüre der Heiligen Schrift empfahl, provokant. Es ist zu kurz gegriffen, wenn man Erasmus eine Beschränkung des Christseins auf die Moral vorwirft. Das »Enchiridion« zeigt, dass das Bemühen um ein christliches Leben für Erasmus keine rein menschliche Leistung, sondern von Jesus Christus gnadenhaft getragen und ermöglicht ist. Ihn soll der Christ als das alleinige Ziel seines Lebens betrachten und auf dieses Urbild hin alles ausrichten. Gewiss enthalten die Ratschläge des Erasmus, wenn er vor dem Verhalten der Menge warnt, einen elitären Zug. Aber insofern er das Christsein durch keine Standesschranken eingeengt sieht, sprengt er alle elitären Begrenzungen. Da er aber den Bereich des Institutionellen, Kirche und Ämter, Liturgie und Sakramente sowie frommes Brauchtum, zugunsten einer individuellen, verinnerlichten Frömmigkeit in den Hintergrund treten ließ, ist es nicht verwunderlich, dass die Linie des Erasmus sich in den Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts nicht durchsetzen konnte. Zu denken jedoch gibt sie noch heute. Peter Walter Wörtlich Du erweist dem Bild des Angesichtes Christi Ehre, das in Stein gehauen oder aus Holz geschnitzt oder auch in Farben gemalt ist. Viel frömmer ist es, das Bild seines Geistes zu ehren, welches uns mit der Hilfe des Heiligen Geistes die Schriften des Evangeliums anschaulich machen. … Da er [Christus] die höchste Aufrichtigkeit und Wahrheit ist, kann es keine Unähnlichkeit zwischen dem Urbild des göttlichen Herzens und dem davon hergeleiteten Bild der Rede geben. Wie nichts dem Vater ähnlicher ist als 163 08012_umbr.indd 163 25.06.12 16:48 der Sohn, das Wort des Vaters, das aus seinem innersten Herzen strömt, so ist Christus nichts ähnlicher als das Wort Christi, das aus seinem Innersten dringt … Du besitzt so heilige, so wirksame Andenken an Deinen Herrn und lässt sie unbeachtet, um viel Fremderes zu suchen? Du betrachtest gespannt das Gewand oder das Schweißtuch, das man Christus zuschreibt, und liest schläfrig die Sprüche des Gesetzes Christi? Du glaubst, es sei das Größte, dass du zu Hause ein Stück des Kreuzes besitzt? Doch das ist nichts im Vergleich dazu, dass du das Geheimnis des Kreuzes in dir trägst. Aus dem »Enchiridion« Zum Weiterlesen → Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften. Hg. von Werner Welzig. 8 Bde. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006. – Das »Enchiridion« befindet sich in Band I. Martin H. Jung/Peter Walter, Theologen des 16. Jahrhunderts. Humanismus – Reformation – Katholische Erneuerung. Eine Einführung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002. Thomas Morus: »Utopia« (1516) Alle Bürger arbeiten für den gemeinsamen Wohlstand Der Urteilsspruch lautete: Erhängen und noch lebendig wieder abschneiden, dann die Eingeweide herausreißen und ins Feuer werfen, schließlich den Kopf abschlagen und den Körper vierteilen lassen. Aber Heinrich VIII. von England war gnädig und gestattete seinem ehemaligen Lordkanzler die weniger Qualen verursachende Hinrichtung unter dem Beil. »Ich sterbe als treuer Diener des Königs, aber Gottes Diener zuerst«, sollen Mores letzte Worte gewesen sein. 164 08012_umbr.indd 164 25.06.12 16:48 Selbstgerechtigkeit: Glaube und Liebe bedingen und fordern sich gegenseitig. Aus: Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum, S. 253f Zum Weiterlesen → Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. Mit einem neuen einleitenden Essay. Kösel-Verlag, München 92007 (Ausschnitte gibt es auch auf einem zwei CDs umfassenden Hörbuch). Peter Hofmann, Benedikt XVI. Einführung in sein theologisches Denken. Verlag Schöningh, Paderborn 2009; Hansjürgen Verweyen, Ein unbekannter Ratzinger. Die Habilitationsschrift von 1955 als Schlüssel zu seiner Theologie. Verlag Pustet, Regensburg 2010; Hansjürgen Verweyen, Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. Sein Leben – Sein Denken. Hörbuch der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt, 2 CDs, Laufzeit: 130 Min. Gustavo Gutiérrez: »Theologie der Befreiung« (1972) Gott erkennen heißt Gerechtigkeit üben Gustavo Gutiérrez, 1928 in Lima (Peru) geboren, von seiner Ausbildung her Mediziner, Psychologe und Theologe, Emeritus der Katholischen Universität Lima und bis heute als Seelsorger in einem Armenviertel tätig, gilt als Begründer der bis heute umstrittenen Befreiungstheologie. Sein bekanntestes Werk ist seine 1971 publizierte »Teología de la Liberación«, die 1973 erstmals in deutscher Übersetzung erschien: »Theologie der Befreiung«. Dieses Buch setzte theologisch Maßstäbe – und ist nicht ohne den Bezug zu wichtigen Theologen des Dominikanerordens zu verstehen. Theologisch und spirituell ist Gustavo Gutiérrez ganz wesentlich beeinflusst vom »Großvater der Befreiungstheologie«, dem Dominikanerbischof Bartolomé de Las Casas 306 08012_umbr.indd 306 25.06.12 16:49 (1484–1566, vgl. S. 178ff). Ihn, der sich energisch gegen die Unterdrückung und Zwangschristianisierung der indianischen Urbevölkerung Lateinamerikas wandte, zitiert und kommentiert er in einem kurzen Text zu dessen Bedeutung für die Befreiungstheologie: »›Gott erinnert sich immer wieder neu und lebendig des Kleinsten und Vergessenen.‹ … In dieser Idee des Las Casas … finden wir das, was mir der Schlüssel des theologischen Denkens des Las Casas zu sein scheint. Er hatte ein enormes Einfühlungsvermögen, im Indio gemäß dem Evangelium den Armen zu sehen … Im Indio entdeckte er den Armen und folglich Christus.« Man kann den Eindruck bekommen, Gutiérrez schreibe hier über sich selbst. Wohl nicht von ungefähr hat er ein wichtiges Buch über den ersten Verteidiger der Indios in der damals sogenannten Neuen Welt verfasst: »Gott oder das Gold. Der befreiende Weg des Bartolomé de Las Casas« (1990). Gleichermaßen auf den Spuren von Las Casas entschloss sich Gustavo Gutiérrez, in den Orden der Predigerbrüder, wie die Dominikaner genannt werden, einzutreten. Im September 2001 legte er dort seine Profess ab. Diese seine Entscheidung hat er einmal so erläutert: »Meine Beziehungen zum Dominikanerorden gehen zurück auf meine Studienzeit in Frankreich. Dort kam ich persönlich in Kontakt mit dem wissenschaftlichen Werk der Patres Congar, Chenu und Schillebeeckx – allesamt Dominikanertheologen. Ich fühlte mich angezogen von ihrem tiefen Verständnis der inneren Beziehung, die zwischen Theologie, Spiritualität und der zeitgemäßen Verkündigung des Evangeliums existieren soll …« (2003). Spuren hat die hier erinnerte Beziehung zu den großen Dominikanertheologen des 20. Jahrhunderts auch in Gutiérrez’ Hauptwerk hinterlassen. Verdeutlicht sei dies beispielhaft im Blick auf Marie-Dominique Chenu (1895–1990, vgl. S. 265ff). Eine erste Erwähnung Chenus findet sich schon auf Seite 69 der 10. Auflage der deutschen Ausgabe 307 08012_umbr.indd 307 25.06.12 16:49 der »Theologie der Befreiung«; vier Seiten weiter wird an die vom Zweiten Vatikanischen Konzil im Dokument »Gaudium et spes« entwickelte »Theologie der Zeichen der Zeit« erinnert – mit ausdrücklicher Referenz an Chenu! Und wiederum in direkter Nachbarschaft dazu erkennt Gutiérrez im Rückgriff auf Chenus wichtigstes Buch »Eine Schule der Theologie« die »großen sozialen Bewegungen« als theologisch bedeutsamen Ort. Gutiérrez’ »Theologie der Befreiung« markiert in der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts einen »Paradigmenwechsel« – so M. Delgado in einer im Jahr 2000 publizierten Festschrift für Gustavo Gutiérrez. Dieser unterscheidet in seinem Hauptwerk drei Ebenen der Befreiung, die sich gegenseitig ergänzen: eine politische, eine kulturelle und schließlich eine theologische – genauerhin: eine erlösungstheologische. – »Befreiung bedeutet erstens die Bestrebungen sozialer Klassen und unterdrückter Völker. Sie betont den konfliktgeladenen Charakter des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozesses, in dem diese den unterdrückenden Klassen und wohlhabenden Völkern gegenübersteht.« Mit dieser Charakterisierung des politischen Aspekts von Befreiung verwahrt sich Gutiérrez gegen eine damals vielerorts bevorzugte, in seinen Augen jedoch die politische Lage eher reformistisch verschleiernde »Entwicklungsideologie«. – Auf der zweiten, kulturellen Befreiungsebene geht es im Wesentlichen um die Bewusstmachung der Situation, die dazu führt, dass der Mensch »sein Geschick selbst in die Hand nimmt«. In einem utopisch geschärften Optimismus heißt es bei Gutiérrez sodann: »Die allmähliche Eroberung einer wirklichen und schöpferischen Freiheit führt zu einer permanenten Kulturrevolution, zur Schaffung eines neuen Menschen und in Richtung einer qualitativ anderen Gesellschaft.« 308 08012_umbr.indd 308 25.06.12 16:49 – Der dritte Aspekt schließlich betrifft die theologische Dimension, insofern im Zentrum der Botschaft des Neuen Testaments die Befreiung von der Sünde steht: »Christus hat uns befreit, damit wir in Freiheit leben« (Gal 5,1). Gutiérrez kommentiert diese Aussage des Paulus wie folgt: »Sünde ist ja nichts anderes als ein Verneinen von Liebe den anderen und demnach dem Herrn gegenüber. Sünde als Bruch der Freundschaft mit Gott und den Menschen ist für die Bibel der letzte Grund für alle Misere, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, in der Menschen leben.« Alle drei hier skizzierten Aspekte wurden sehr bald schon nach Veröffentlichung der »Theologie der Befreiung« hinterfragt – auch von wohlmeinenden Kritikern. Während vielen die politische Analyse als nicht genügend fundiert erschien, kritisierten andere den utopischen Optimismus des Befreiungsdiskurses auf der kulturellen Ebene oder die zu vage Ausarbeitung des unterscheidend Christlichen in Gutiérrez’ theologischer Argumentation. Die römische Kongregation für die Glaubenslehre zielte in ihrer 1986 veröffentlichten Instruktion »Über die christliche Freiheit und die Befreiung« in eine ähnliche Richtung. Wenn es dort allerdings heißt: »Man muss sich also um die Bekehrung der Herzen und um die Verbesserung der Strukturen bemühen«, dann ist jedoch zu fragen, was denn anderes je Anliegen von Gutiérrez gewesen sein soll. In seinem Hauptwerk wie auch in seinen weiteren Veröffentlichungen will er verhindern, dass die Rede über Gott – nichts anderes ist TheoLogie – idealistisch oder spiritualistisch überhöht wird. Dass diese von Gutiérrez aufgezeigte Gefahr eine reale ist, zeigt sich heute mehr als deutlich in der immer weiteren Ausbreitung von Sekten und evangelikalen Gemeinschaften auf dem ganzen lateinamerikanischen Kontinent. Für Gustavo Gutiérrez gehören die theologische Reflexion und das geistliche Leben unabdingbar zusammen: »Theologie ist notwendigerweise Spiritualität und rationales Wissen zugleich.« Dies ist ganz und gar dominikanische 309 08012_umbr.indd 309 25.06.12 16:49 Tradition. Eine Theologie der Befreiung ist immer Spiritualität der Befreiung und als solche Praxis der Befreiung. In Gutiérrez’ Hauptwerk heißt es demgemäß: »Unterdrückung der Armen ist ein Attentat auf Gott selbst. Gotteserkenntnis heißt Praxis der Gerechtigkeit unter den Menschen« (Seite 352). Ulrich Engel OP Wörtlich Die Theologie der Befreiung ist »eine neue Art, Theologie zu treiben. Theologie als kritische Reflexion auf die historische Praxis ist … eine befreiende Theologie, eine Theologie der befreienden Veränderung von Geschichte und Menschheit und deshalb auch die Umgestaltung jenes Teils der Menschheit, der – als ecclesia vereint – sich offen zu Christus bekennt. Theologie beschränkt sich dann nicht mehr darauf, die Welt gedanklich zu ergründen, sondern versucht, sich als ein Moment in dem Prozess zu verstehen, mittels dessen die Welt verändert wird, weil sie – im Protest gegen die mit Füßen getretene menschliche Würde, im Kampf gegen die Ausbeutung der weitaus größten Mehrheit der Menschen, in der Liebe, die befreit, und bei der Schaffung einer neuen, gerechten und geschwisterlichen Gesellschaft – sich der Gabe des Reiches Gottes öffnet.« Aus: Gustavo Gutiérrez, Theologie der Befreiung, S. 83 Zum Weiterlesen → Gustavo Gutiérrez, Theologie der Befreiung. Mit einer neuen Einleitung des Autors und einem neuen Vorwort von Johann Baptist Metz. Aus dem Spanischen von Horst Goldstein. Matthias Grünewald Verlag, Mainz 101992 (antiquarisch und in Bibliotheken). Gustavo Gutiérrez, Nachfolge Jesu und Option für die Armen. Beiträge zur Theologie der Befreiung im Zeitalter der Globalisierung, hg. von Mariano Delgado. Academic Press Fribourg/W. Kohlham- 310 08012_umbr.indd 310 25.06.12 16:49 mer Verlag, Stuttgart 2009; Gustavo Gutiérrez/Gerhard L. Müller, An der Seite der Armen. Theologie der Befreiung. Mit einem Vorwort von Josef Sayer. Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2004; Mariano Delgado/Odilo Noti/Hermann-Josef Venetz (Hg.), Blutende Hoffnung. Gustavo Gutiérrez zu Ehren. Edition Exodus, Luzern 2000 (antiquarisch und in Bibliotheken). Hans Küng: »Christ sein« (1974) Den Unterschied macht die Person Jesu Christi Im vielseitigen Werk des sowohl gefeierten wie auch immer wieder heftig umstrittenen Tübinger Theologen Hans Küng ist »Christ sein« ein Schlüsselwerk. Mit einer viel beachteten Dissertation zur möglichen Übereinstimmung in der Rechtfertigungslehre zwischen katholischer Kirche und reformierter Tradition war er angetreten. Seine programmatische Schrift zum Zweiten Vatikanischen Konzil, »Konzil und Wiedervereinigung« (1960), hatte große Bedeutung für die Selbstfindung dieser Kirchenversammlung. Nach Studien zur Kirche, insbesondere zur Unfehlbarkeit, und einer umfangreichen Arbeit zur Menschwerdung (1970) versuchte Küng nun 1974 in »Christ sein« eine vielen auf der Seele brennende Frage zu beantworten: Wozu und warum heute noch Christ sein? Für zahlreiche Gläubige, mehr noch für viele Zweifelnde, wurde »Christ sein« bei seiner ersten Veröffentlichung 1974 zum Kompass bei der Suche nach einem Weg als Christ und Katholik in der Welt von heute. Küng versucht darin eine Antwort auf die Frage: Wie soll das gehen – vernünftig, frei und auf der Höhe der Zeit sein und dennoch gleichzeitig katholisch? Er macht Ernst mit der Rechtfertigung des Glaubens auf dem Forum der kritischen Vernunft der Gegenwart. Keines der bis heute »heißen Eisen« klammert er dabei aus. Ganz aus der Dynamik des Konzils will sein Werk 311 08012_umbr.indd 311 25.06.12 16:49