Ayurveda Journal – Dezember 2004 Übergewicht: Entstehung, Folgen und Therapie im Ayurveda Autor und © Copyright: Ralph Steuernagel Die Entstehung von Übergewicht Um die Kausalität eines Übergewichtszustandes individuell zu verstehen, ist die Kenntnis der physiologischen Verdauungs- und Stoffwechselprozesse unabdingbar. Nach der Nahrungsaufnahme führt Prana Vata die Nahrung in den Rumpf, nachdem im Mund durch Bodhaka Kapha eingespeichelt und durch die von Vata gesteuerte Kaubewegung adäquat zerkleinert wurde. Das im Magen befindliche Samana Vata stimuliert nun Jatharagni und Pacaka Pitta, die für die Aufspaltung der aufgenommenen Nahrung verantwortlich sind. Ferner trennt es die Essenz von Abfallprodukten und hilft bei deren Absorption. Samana Vata kann wie der Züder einer Flamme angesehen werden. Die einzelnen Elementfraktionen werden durch Bhutagni, dem für die Elemente verantwortlichen Feuer, zerlegt – durch dieses „Bhutagni-Paka“ werden die heterogenen Ingredienten und Attribute homolog und erzeugen dadurch eine angemessene Nutrition für die Gewebe. Nachdem die unreifen Gewebematerialien durch die Aktivität der Dhatvagni, den für die Gewebebildung verantwortlichen Feuern, in den Körperbahnen in reife Gewebe transformiert werden, stehen dem Körper nun Energie und funktionstüchtige Masse zur Verfügung. Ist dieser Prozess der Verdauung, Energie- und Gewebsbildung durch eine Schwächung des zentralen Körperfeuers „Jatharagni“ gestört, kann sich diese auf unterschiedliche Gewebe auswirken. Ist das dem Fettgewebe zugehörige Dhatvagni von der Unterfunktion betroffen, kommt es zur Bildung vermehrten unreifen Gewebes und Ansammlung von Abfallprodukten. Dieses funktionsuntüchtige Gewebe stellt nun eine nicht vorgesehene Raumforderung durch seine Masse dar und blockiert in der Folge die umgebenden Zirkulationskanäle (Srota) und Strukturen. Durch diese Blockade wiederum können frische nahrhafte Säfte nicht mehr an ihre Zielorte gelangen, alte verbrauchte Abfallstoffe werden gleichzeitig nicht mehr abtransportiert. Vata wird in seiner Bewegung zudem gehindert, was nicht selten zu Schmerzsyndromen führen kann. Ist dieses Vata im Bauchraum blockiert, kommt es vor der Blockade zur übermäßigen Bewegung, in deren Folge Jatharagni ständig stimuliert und die Absorption gefördert wird. Durch die schnellere Verdauung kommt es zu gesteigertem Appetit und Hunger, die vermehrte Nahrungsaufnahme führt letztlich zur Fettleibigkeit. Dieser Circulus Vitiosus wurde bereits vor über 2000 Jahren in der Caraka Samhita, Sutrasthana 21.4f., detailliert beschrieben. Wird der Hunger in diesem skizzierten Fall nicht gestillt, kann es zu schweren Störungen kommen. Dieser Zustand wird wie folgt beschrieben: „Agni und Vayu verbrennen den Fettleibigen wie Feuer einen Wald“. Ursachen für eine Schwächung des Jatharagni Als Ursachen für eine Schwächung des Jatharagni mit der Folge einer Fettgewebszunahme (Medovrddhi) werden in den Ayurvedischen Texten übermäßiger Konsum schwerer, süßer, kalter und fetter Nahrungsmittel angesehen. Übermäßiger Schlaf, Tagesschlaf sowie Schlaf nach Mahlzeiten fördern die Trägheit der Körpersäfte und ergänzen die Ursachen für Fettleibigkeit wie auch ein Mangel an körperlicher und geistiger Aktivität. Liegen diese Ursachen in einer Kapha-dominierten Konstitution vor, kommt es in kurzer Zeit zu Übergewicht. Pitta-dominierte Konstitutionen sind gewöhnlich durch ein starkes Jatharagni unterstützt und entwickeln erst nach längerfristigem Abusus Zeichen einer derartigen Stoffwechsellage. Im Rahmen einer Vata-Grundlage kommt es zu derartigen Reaktionen eher durch emotionale Störungen, da im gesunden Falle Vata keine großen Mengen an Nahrung verschlingen kann. Nicht zu unterschätzen ist das Verhalten mangelnder Aktivität und vermehrter unkontrollierter Nahrungsaufnahme in der psychogen bedingten Adipositas, die alle Konstitutionen betreffen kann, obgleich sie bei Vata gehäuft anzutreffen ist. Hier stellt das Essen ein Symbol für Liebe und Geborgenheit als Ersatzbefriedigung dar und tröstet bei Schmerz, Verlust und Krankheit. Es liegt ein massiv gestörtes Körperbild und Körpererleben vor, es kommt zur Selbstdestruktion in Ermangelung nicht erreichbarer anderer Möglichkeiten der Liebeszuwendung. Therapeutisch müssen hier Kapha und Fett sanft reduziert werden, um Frustrationsbildung und massiven emotionalen Spannungslagen vorzubeugen. Folgen von Übergewicht Nach Caraka Samhita, Sutrasthana 21.4, hat der Fettleibige acht Defekte: 1. Verkürzung der Lebensspanne 2. Behinderte Bewegungsfähigkeit 3. Schwierigkeiten beim Geschlechtsverkehr 4. Schwäche und Entkräftung 5. Fauliger Körpergeruch 6. Übermäßiges Schwitzen 7. Übermäßiger Hunger 8. Übermäßiger Durst Der Prozeß der Obstruktion von Leitungsbahnen (Srotorodha) zieht vielfältige Folgen nach sich, die unter dem Begriff „moderne Zivilisationskrankheiten“ zusammengefaßt werden können. Die Zellen können ihre Funktionen nicht mehr ausüben, die Zellintelligenz wird beeinträchtigt. Somit ist der Boden für die Entwicklung vieler chronischer und schwerwiegender Erkrankungen inklusive immunologischer Störungen bereitet. Statistisches Übergewicht gilt heutzutage als eine der zentralen Ursachen moderner Zivilisationserkrankungen. Die Folgen von lästigen Pfunden sind nicht nur kosmetischer Natur. In Deutschland gab es bereits Ende der 90er Jahre über 5 Millionen Diabetiker, es starben über 400000 Menschen an den Folgen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und über 200000 Menschen an Krebs, etwa 8 Millionen Menschen waren von Osteoporose betroffen und 10 Millionen Menschen litten unter Erkrankungen des Rheumatischen Formenkreises. Schätzungen zufolge ist etwas die Hälfte aller Erkrankungen in den westlichen Industrienationen auf falsche Ernährung und ein Großteil davon auf Übergewicht zurückzuführen. Ende der 90er Jahre galt bereits jeder zweite Deutsche als übergewichtig und die BRD stellte das Land mit dem höchsten Gewichtsdurchschnitt weltweit. An diesen Statistiken läßt sich die Bedeutung des Themas Übergewicht leicht erkennen. Maße für das Körpergewicht Als Maß für Übergewicht wird heutzutage u.a. der Body Mass Index (BMI) herangezogen, der sich wie folgt berechnet: BMI = Körpergewicht (kg) : [Körpergröße (m)]² Dieser Index gilt weltweit als Orientierung für das Sollgewicht eines Erwachsenen und hat sich eingeschränkt auch zur Bestimmung von Übergewicht im Kindes- und Jugendalter international durchgesetzt. Das richtige Körpergewicht hängt natürlich auch vom individuellen Knochenbau sowie dem Anteil an Muskelmasse ab. Ferner spielen Art der Arbeit, Ernährung und sportliche Aktivitäten eine zusätzliche Rolle. Folgende Auswertung wird heutzutage vorgenommen: BMI > 40 extremes Übergewicht: Grad 3 BMI = 30-40 starkes Übergewicht: Grad 2 BMI = 25-29 Übergewicht: Grad 1 BMI = 20-24 Normalgewicht BMI < 20 Untergewicht Integration eines Konstitutionsmodelles In der Ayurvedischen Diätetik steht die Individualisierung eines Gewichtsreduktionsprogramms im Vordergrund. Die Analyse der zugrundeliegenden Konstitution gibt zunächst Aufschluß über das zu erreichende „Idealgewicht“. Während eine Vata-dominierte Konstitution von den leichtmachenden Elementen Äther und Luft durchdrungen ist und damit eher zu minimalem Körpergewicht neigt, stehen in einer Kapha-dominierten Konstitution die Elemente Erde und Wasser im Vordergrund und verleihen dieser ein hohes Maß an Körpermasse und –wasser mit der Folge eines maximalen Körpergewichtes. Die vom Feuerelement dominierte Pitta-Konstitution hingegen erzeugt athletische Körperformen und steht auf der Skala in der gesunden Mitte. In BMI ausgedrückt: Vata kämpft zumeist mit der Hürde des BMI=20, Kapha kommt selten unter 24, Pitta hingegen liegt zumeist in der goldenen Mitte bei etwa 22. Trotzdem können durch krankhafte Entwicklungen alle drei Konstitutionen Übergewicht entwickeln. Ziele moderner Gewichtsreduktionsdiäten Hauptansatz moderner Gewichtsreduktionsdiäten ist das Erzielen einer „Negativen Energiebilanz“, die dann entsteht, wenn die Kalorienaufnahme geringer als der Kalorienverbrauch wird. Die Bedarfsdeckung erfolgt über Energiedepots mit dem Ergebnis einer Gewichtsreduktion. Zum Erreichen dieses Zieles werden unzählige Diätformen angeboten, die alle eines gemeinsam haben: schnelle Gewichtsreduktion unter möglichst angenehmen Begleitumständen – also geringfügigen Entbehrungen. Je nach Bedarf werden fettreiche (z.B. die umstrittene Atkins-Diät), eiweißreiche (z.B. Hollywood-Diät) oder kohlenhydratreiche (z.B. Kartoffel-Diät) Diäten angeboten. Auch die kalorienreduzierte Mischkost (z.B. Weight Watchers, Brigitte-Diät), Formuladiäten, Blitzdiäten und die Trennkost (z.B. Fit-for-Life) gehören zur Gruppe der Gewichtsreduktionsdiäten. Leider ist eine Gewichtsreduktion nicht immer ganz so leicht zu erzielen, wie es verprochen wird. Hat man in kurzer Zeit lästige Pfunde abwerfen können, kommt es doch oft zum unerweünschten JoJo-Effekt mit erneuter Gewichtszunahme und einem frustrierten Patienten. Entscheidend für den Erfolg ist die Anpassung von Energiebedarf, -verbrauch und aufnahme. Wie hoch der Bedarf an Energiezufuhr tatsächlich ist und wie dieser bei voller Leistungsfähigkeit minimal gehalten und der Energieverbrauch angepaßt werden kann, stellt die große Herausforderung für den Ernährungsberater dar. Er bestimmt die beiden wichtigen Größen des „Grundumsatzes“ und des „Leistungsumsatzes“ und kalkuliert daraus die bedarfs- und belastungsgerechte Energie- und Nährstoffzufuhr, die über langfristige Zeiträume zu realisieren ist. Gewichtsreduktion im Ayurveda Zu den gewebereduzierenden Therapieformen (Apatarpana Karma) zählen die Reduktionstherapie (Langhana Cikitsa), die Trocknung des Körpers (Rukshana) und schweißtreibende Therapieformen (Svedana Karma). Auf das Fettgewebe bezogen, spricht man im Ayurveda von der Notwendigkeit des „Lekhana Karma“, welches als Reduktionstherapie die drei genannten umfaßt. Der Begriff „Lekhana“ bedeutet entfernen, abkratzen, durchfurchen oder aufreißen – es wird also förmlich am „Fett gekratzt“. Dies geschieht durch Konsum der Geschmacksrichtungen scharf, bitter und herb. Die bevorzugten Nahrungsmittel tragen Qualitäten wie rauh, penetrierend, leicht, fein, klar und sind zumeist erhitzend. Somit lassen sich die für Übergewicht verantwortlichen Elemente Wasser und Erde nachhaltig reduzieren. Lekhana Karma kann durch Ernährung, Lebensführung, medikamentös oder durch chirurgische Intervention eingeleitet werden: Die Ernährung wirkt als Lekhana durch Einsatz scharfer Gewürze, Steinsalz als einzige Salzform, heißes Wasser und Getränke bei geringer Menge, Gerstengetreide und Senföl. Allgemein steht die Kostreduktion im Vordergrund, Gemüse und Gewürze stellen die vorherrschenden Nahrungsmittelgruppen dar. Es sollten nur zwei warme Mahlzeiten konsumiert werden, bestenfalls am späten Vormittag und am späten Nachmittag. Ggf. kommt vor Nahrungsaufnahme das Trinken größerer Mengen in Betracht, um den Appetit zu senken. Nach den Mahlzeiten haben sich als „Postprandialdrinks“ bei Übergewicht Honigwässer bewährt, die mit herben und würzigen Honigarten wie Eucalyptus-, Thymian oder Tannenhonig zubereitet und evt. durch langen Pfeffer (Pippali) ergänzt werden. Die Lebensführung sollte durch Schlafrestriktion, Integration täglicher körperlicher Bewegungsprogramme in den Morgenstunden sowie Körperpeelings und Bürstenmassagen mit anschließenden trockenen Schwitzbädern gekennzeichnet sein. Jegliche körperliche und geistige Aktivität hilft in der Anregung des Stoffwechsels. Medikamentös haben sich Rezepturen auf Basis von Commiphora Mukul (Guggulu Vati) über Jahrhunderte bewährt. Triphala Guggulu, Kancanara Guggulu, Punarnavadi und Gokshuradi Guggulu stellen einige optionale Kombinationen dar. Der Einsatz sollte jedoch nur nach vorheriger Konsultation eines erfahrenen Phytotherapeuten erfolgen. Stark wirsame Lekhana Rezepturen sind klassischerweise auch Candra Prabha Vati oder Arogya Vardhini Vati, die neben pflanzlichen Ingredienten auch gereinigtes Kupfer enthalten. Allgemein können in Gewichtsreduktionsprogrammen alle Agni-steigernden Mischungen hilfreich sein. Beispiele hierfür sind Citrakadi Vati, Trikatu Curna oder Hingvasthaka Curna. Panca Karma als Tiefenreinigung sowie alle Ausleitungsverfahren unterstützen die Wirkung der medikamentösen Therapie erheblich und führen oft zu verblüffenden Ergebnissen. Auch den chirurgischen Interventionen steht man Ayurvedisch offen gegenüber. Sollte bsp. nach einer drastischen Reduktion von mehreren zehn Kilogramm Gewicht ganze Hautlappen das Befinden beeinträchtigen, kann über eine chirurgische Entfernung nachgedacht werden. Das heutzutage oft durchgeführte Fett-Absaugen sollte jedoch immer nur das letzte Mittel sein, wenn alle konventionellen Methoden versagt haben – dieses Versagen ist meist nicht auf die Methoden, sondern vielmehr deren undisziplinierte Umsetzung zurückzuführen. Zusammenfassung Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Übergewicht eine der zentralen Probleme der heutigen Zeit darstellt und langfristig verheerende Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden des Betroffenen bedeutet. Die Analyse des pathogenetischen Prozesses hinter der jeweiligen Fettgewebsansammlung und die darauf abgestimmte Ernährungstherapie, Lebensführung, medikamentöse Einstellung sowie evt. chirurgische Intervention sind die Garanten für eine erfolgreiche Reduktion. Die persönliche Begleitung und psychogene Betreuung eines Übergewichtigen sind die Grundlage, ohne die eine disziplinierte Umsetzung kaum erfolgen kann.