Teil 2: Integration von Genetik in Public Health

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Genetik in Public Health • Teil 2: Integration von Genetik in Public Health
Landesinstitut für den
Öffentlichen Gesundheitsdienst
des Landes Nordrhein-Westfalen
Genetik in Public Health
Teil 2: Integration von Genetik in
Public Health
Wissenschaftliche Reihe
24
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Genetik in Public Health
lögd: Wissenschaftliche
Te i l 2 : I n t e g r a t i o nReihe
von Genetik
in Public Health
Genetik in Public Health
Teil 2: Integration von Genetik in Public Health
Hg. von Angela Brand, Peter Schröder, Alfons Bora, Peter Dabrock,
Karl Kälble, Notburga Ott, Christa Wewetzer, Helmut Brand
Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW, 2007
311u
Impressum
Herausgeber:
Prof. Dr. Angela Brand MPH
Deutsches Zentrum Public Health Genomics (DZPHG)
Fachhochschule Bielefeld
Kurt-Schumacher-Straße 6
33615 Bielefeld
Dr. Peter Schröder
Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst
NRW (lögd)
Westerfeldstraße 35/37
33611 Bielefeld
Prof. Dr. Alfons Bora
Institut für Wissenschafts- und Technikforschung (IWT)
Fakultät für Soziologie
Universität Bielefeld
Postfach 100131
33501 Bielefeld
Prof. Dr. Peter Dabrock M.A.
Juniorprofessur für Sozialethik (Bioethik)
Fachbereich Evangelische Theologie
Philipps-Universität Marburg
Lahntor 3
35037 Marburg
Dr. Karl Kälble
Abteilung für Medizinische Soziologie
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Hebelstraße 29
79104 Freiburg
Prof. Dr. Notburga Ott
Lehrstuhl Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft
Fakultät für Sozialwissenschaft
GCFW/04
Ruhr-Universität Bochum
44780 Bochum
Dr. Christa Wewetzer
Zentrum für Gesundheitsethik (ZfG)
an der Evangelischen Akademie Loccum
Knochenhauerstraße 33
30159 Hannover
Dr. Helmut Brand MSc
Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst
NRW (lögd)
Westerfeldstraße 35/37
33611 Bielefeld
Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst
des Landes Nordrhein-Westfalen (lögd)
Leiter: Dr. Helmut Brand MSc
Westerfeldstraße 35/37
D-33611 Bielefeld
Tel.: Fax.: 0521 / 80 07-0
0521 / 80 07-2 00
Gestaltung, Satz, Druck und Verlag:
lögd, Bielefeld, August 2007 lögd, Bielefeld, August 2007
Titelbild © U.S. Department of Energy Human Genome Program
Redaktion:
lögd Bielefeld
Nachdruck und Vervielfältigung nur mit schriftlicher Genehmigung des Landesinstitutes.
ISBN 978-3-88139-149-8
t312
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Inhalt
TEIL 1: Grundlagen von Genetik und Public Health
Geleitwort
Ipke Wachsmuth.......................................................................9
Einleitung...........................................................................11
I. Genetik
Henn, Wolfram:
Die Bedeutung genetischer Mutationen und ihrer
Diagnostik für Prävention und Therapie multifaktoriell
bedingter Krankheiten – Aktueller Stand und
Perspektiven für Public Health..................................................23
Schreiber, Stefan:
Stand der Aufklärung genetischer Ursachen
komplexer Erkrankungen und potentieller
Einfluss genetischer Erkenntnisse auf
Public Health Strategien........................................................ 109
Wewetzer, Christa:
Der Beitrag der Genetik zu Public Health Aufgaben . ............... 141
II. Public Health
Kälble, Karl:
Public Health in Deutschland
Entwicklung und Entwicklungsstand
(mit einem Exkurs zu Public Health und Genetik)....................... 215
Kälble, Karl:
Zum Begriff des Risiko.
Die versicherungsmathematische, die soziologische
und die (in Public Health und Genetik dominante)
epidemiologische Sichtweise.................................................. 253
Neus, Hermann:
Von der mathematischen Analyse zur Risikokommunikation.
Die Risikodebatte im Bereich des umweltbezogenen
Gesundheitsschutzes............................................................. 277
313u
Teil 2: Integration von Genetik in Public Health
III. Genetik in Public Health
Bromen, Katja:
Genetik-Umwelt-Interaktionen bei Krebserkrankungen
am Beispiel des Lungenkrebses aus der Perspektive der
Genetischen Epidemiologie unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung dieser Erkenntnisse auf
Public Health Genetik........................................................... 317
Lühmann, Dagmar; Bartel, Carmen; Raspe, Heiner:
Ethische Aspekte und gesellschaftliche Wertvorstellungen
in HTA-Berichten zu genetischen Testverfahren.......................... 349
Wewetzer, Christa; Brand, Angela:
Public Health Genetics
Eine Übersicht über die Entwicklung und aktuelle Aufgaben....... 417
Brand, Angela; Brand, Helmut:
Risikoabschätzung, Risikomanagement und Risikokommunikation in Public Health Genomics............................... 471
IV. Ethik und Policy
Norbert Paul:
Genetik, Gesundheit und Gesellschaft: Anmerkungen
zu Geschichte, Theorie und Ethik einer schwierigen
Beziehung........................................................................... 493
Dabrock, Peter; Schröder, Peter:
Ethik der Public Health Genetik.............................................. 515
Sass, Hans-Martin:
Genetic Knowledge reduces Health Risk and
Promotes Health Care Competence......................................... 561
t314
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Metraux, Peter:
How to Get the Message Through?......................................... 579
Wandl, Ursula:
Gentests: Besonderheiten in der Versicherungswirtschaft............ 591
V. Autoren/Herausgeberverzeichnis.............................. 601
315u
t316
Genetik in Public Health
III. Genetik
in Public
Te i l 2 : Health
Integration
von Genetik in Public Health
Genetik-Umwelt-Interaktionen bei Krebserkrankungen am Beispiel des Lungenkrebses aus der
Perspektive der Genetischen Epidemiologie unter
besonderer Berücksichtigung der Anwendung
dieser Erkenntnisse auf Public Health Genetik
Gutachten erstellt für die ZiF-Kooperationsgruppe
„Public Health Genetics“ 1
Katja Bromen
1
Die Erstellung dieses Gutachtens wurde ermöglicht durch den Stifterverband der deutschen
Wissenschaft.
317u
t318
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Inhalt
III. Genetik in Public Health
Genetik-Umwelt-Interaktionen bei Krebserkrankungen am Beispiel
des Lungenkrebses aus der Perspektive der Genetischen
Epidemiologie unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung
dieser Erkenntnisse auf Public Health Genetik.
1.
Einführung.................................................................. 320
2.
Die Genetische Epidemiologie und ihre Bedeutung
bei der Untersuchung von Zivilisationskrankheiten........... 320
3.
3.1. 3.2.
Grundlagen und Methoden der genetischen
Epidemiologie............................................................ 322
Einteilung der Methoden.............................................. 323
Segregationsanalyse.................................................... 323
4.
4.1.
4.2.
4.3.
4.4.
Beispiel Lungenkrebs .................................................. 326
Public Health Relevanz................................................ 326
Histologische Typen..................................................... 328
Risikofaktoren............................................................. 329
Prävention, Früherkennung und Diagnostik..................... 336
5.
Public Health Genetik und Lungenkrebs –
Ausblick und Empfehlungen.......................................... 339
Literatur.............................................................................. 341
319u
Genetik-Umwelt-Interaktionen
1. Einführung
Bösartige Neubildungen gehören zu denjenigen Erkrankungen, die als
komplex bezeichnet werden. Dies bedeutet, dass die Krankheitsentwicklung
nicht auf eine oder einige wenige Ursachen zurückgeführt werden kann,
die in vorhersagbarer Weise eine Krankheit verursachen, sondern dass
mehrere Faktoren in meist komplexer Form zusammenwirken müssen, um
die Entstehung der Erkrankung auszulösen. Dabei ist derzeit in den meisten Fällen weder eine vollständige Liste aller verursachenden Faktoren
noch eine Quantifizierung der Effektstärke der einzelnen Faktoren bekannt.
Es gibt jedoch zahlreiche Hinweise, dass hier sowohl endogene als
auch exogene Faktoren eine Rolle spielen und bei Präventionsansätzen
in Betracht gezogen werden müssen. Speziell gibt es bei einer ganzen
Reihe von Krebserkrankungen Hinweise darauf, dass den Genen in der
Krankheitsgenese eine entscheidende Rolle zukommt. Hier sind beispielsweise Neoplasmen der Brust, Eierstöcke, Prostata, Cervix, Hoden, Darm,
Magen und Haut zu nennen, jedoch ist diese Liste keineswegs vollständig.
Eine weitere Krebserkrankung, deren Entstehung immer wieder mit Genen
in Verbindung gebracht wird, ist das Lungenkarzinom. Dieses Krankheitsbild
bildet den Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit.
In den folgenden Abschnitten wird zunächst eine Einführung in die
Genetische Epidemiologie gegeben, welche die für die Untersuchung dieser
Zusammenhänge relevante Methodik bereitstellt. Dabei wird insbesondere
auf ihre Bedeutung bei der Untersuchung von Zivilisationskrankheiten
eingegangen. Am Beispiel Lungenkrebs wird dann aufgezeigt, welche
Bedeutung die Berücksichtigung von familiärer Vorbelastung, Genen und
Gen-Umwelt-Interaktionen bei der Entwicklung dieses Phänotyps zukommt
und wie sich dieses auf den Bereich Public Health Genetik auswirkt.
In diesem Zusammenhang wird eine Übersicht der Epidemiologie des
Lungenkarzinoms gegeben, seine Public Health Relevanz erläutert und der
derzeitige Stand von Prävention, Früherkennung und Diagnostik präsentiert. Abschließend wird ein Ausblick zur derzeitigen Bedeutung der Public
Health Genetik für die Erkrankung Lungenkrebs dargestellt.
2. Die Genetische Epidemiologie und ihre Bedeutung bei der Untersuchung von Zivilisationskrankheiten
Unter dem Begriff der genetischen Epidemiologie verbergen sich mehrere
Verfahren und Methoden, die ihre Wurzel im Wesentlichen in der Statistik,
t320
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Mathematik, Genetik und Epidemiologie haben und durch ihren Einfluss
aus weiteren, labortechnisch orientierten Bereichen, wie beispielsweise
der Molekularbiologie, stark interdisziplinär geprägt sind. Die genetische
Epidemiologie untersucht die Rolle genetischer Faktoren, deren Interaktion
untereinander und mit Umweltfaktoren im Auftreten von Krankheiten in
menschlichen Populationen.
Dieses relativ junge Forschungsgebiet hat ihren Ursprung insbesondere
in den Mendel’schen Vererbungsmodellen und der Populationsgenetik.
Letztere verfolgt wiederum das Ziel, mathematische Eigenschaften von
Genen in Populationen bzw. Faktoren, die die genetische Zusammensetzung
einer Population bestimmen, zu untersuchen. Ihre Entwicklung ergab sich
nicht zuletzt aus dem Humanen Genomprojekt (HUGO), das Ende der 80er
Jahre begann und primär das Ziel der Sequenzierung des menschlichen
Genoms verfolgte. Dabei galt es, alle Gene zu lokalisieren und zu identifizieren mit dem weiterreichenden Ziel, deren funktionelle Bedeutung
und Zusammenhänge zu verstehen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass
es sich bei den untersuchten Kollektiven üblicherweise um Populationen
mit bestimmten Abhängigkeitsstrukturen, wie z.B. Familien handelt. Die
zunehmende Verzahnung von Genetik und Epidemiologie wurde durch die
rasanten Entwicklungen in der Molekularbiologie unterstützt.
Dabei gilt es, suszeptible Individuen möglichst frühzeitig zu identifizieren
und dadurch gezielt zu Primär- und Sekundärprävention beizutragen. Ein
weiteres, langfristiges Ziel besteht darin, durch individuelle Therapien, die
auf genetische und andere persönliche Attribute zugeschnitten sind, den
Heilungserfolg zu verbessern. Anders als die molekulare Epidemiologie,
die sich ganz allgemein mit erblichen und erworbenen Veränderungen auf
molekularer Ebene befasst, hat die genetische Epidemiologie ihren Fokus
auf hereditären, d.h. erblichen Mechanismen, wie z.B. Keimbahnmutationen
und setzt neben Bevölkerungs- auch Familienstudien ein.
Durch ihren häufig populationsbezogenen Ansatz erreicht die genetische
Epidemiologie eine gewisse Bevölkerungsrepräsentativität. Sie liefert die
methodische Basis zur Untersuchung des Gen-Merkmal-Zusammenhangs
und bietet die Möglichkeit, Interaktionen zwischen Genen sowie zwischen
Genen und Umwelteinflüssen zu untersuchen. Neben der funktionalen
Analyse von Genen untersucht sie die Rolle von Genen in komplexen
Funktionszusammenhängen, beispielsweise bei polygenetischen oder multifaktoriellen Erkrankungen. Die genetische Epidemiologie hat im bereits
erwähnten Humanen Genomprojekt insbesondere durch das Verfahren der
Kopplungsanalyse eine zentrale Rolle gespielt. Man kann festhalten, dass die
321u
Genetik-Umwelt-Interaktionen
genetische Epidemiologie einerseits der Wegbereiter für die Bioinformatik
war, indem sie die Identifikation und Lokalisation von Genen unterstützt,
andererseits ist es möglich, die mithilfe bioinformatischer Methoden gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen (genetisch)-epidemiologischer Studien zu
verifizieren bzw. weitergehend zu untersuchen.
Aus den bisher dargestellten Punkten zeigt sich, dass die genetische
Epidemiologie einerseits einen Fokus auf genetische Mechanismen hat.
Andererseits berücksichtigt sie jedoch auch exogene Faktoren, wie z.B.
Umwelteinflüsse, Lebensstilfaktoren und soziale Determinanten. Dies
ist nicht nur möglich, sondern geradezu zwingend, insbesondere bei
„Zivilisations“-Krankheiten mit bedeutsamer exogener Komponente. Die
Rolle der genetischen Epidemiologie ist hierbei darin zu sehen, dass sie
einen Beitrag zur Erklärung der komplexen Zusammenhänge leistet, insbesondere in den Bereichen, in denen die Erklärung durch bekannte Faktoren
unzureichend ist.
Zusammengefasst hat die genetische Epidemiologie die folgenden Aufgaben
und Inhalte:
n Untersuchung der Ätiologie und des Vererbungsmechanismus von
Erkrankungen
n Schätzung des erblichen Anteils einer Erkrankung im Vergleich zu exogenen Expositionen
n Lokalisation und Identifikation relevanter Krankheitsgene
n Untersuchung der Bedeutung einzelner Gene und deren Interaktion mit
anderen Genen bzw. Umweltfaktoren
3. Grundlagen und Methoden der genetischen
Epidemiologie
Im Folgenden wird eine kurze Übersicht über die Verfahren gegeben, die in
der genetischen Epidemiologie angewendet werden. Der interessierte Leser
sei an die entsprechende Fachliteratur verwiesen. Einen Überblick über das
Gebiet vermittelt beispielsweise Khoury et al. (Khoury et al. 1993) oder
Elston et al. in enzyklopädischer Form (Elston et al. 2002). Die verschiedenen methodischen Ansätze, die in der genetischen Epidemiologie eingesetzt werden, können nach verschiedenen Kriterien in Klassen eingeteilt
werden. Diese werden im Folgenden dargestellt:
t322
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
3.1. Einteilung der Methoden
Populations- versus Familienstudien
Erstere haben einen Bevölkerungsbezug und untersuchen meist unabhängige
Individuen, die einer bestimmten, definierten Population entstammen. Dabei
werden beispielsweise die Verteilung von, sowie Einflussfaktoren für genetische Merkmale und ihre Bedeutung für die Entwicklung von Erkrankungen
untersucht. Familienstudien beziehen dagegen die Familienangehörigen bzw.
relevante Informationen zu diesen ein und ermöglichen Stammbaumanalysen.
Sie untersuchen außer dem Vorliegen genetischer Merkmale in Familien u.a.
familiäre Erkrankungscluster sowie deren Ursache, erlauben Heritabilität
sschätzungen und führen Tests zu genetischen Mechanismen durch. Beide
Ansätze lassen sich sinnvoll kombinieren.
Deskriptive versus analytische Verfahren
Bei ersteren werden die Verteilung von Genen und Erkrankungen in
Populationen (bzw. in Familien) untersucht, bei letzteren deren
Zusammenhang untereinander bzw. zu Risikofaktoren. Weiterhin werden
spezifische genetische Mechanismen in Familien analysiert.
Epidemiologische versus genetisch-mathematische Ansätze
Epidemiologische Methoden werden beispielsweise eingesetzt, um
Erkrankungshäufigkeiten bei Verwandten von erkrankten Personen mit
denen eines gesunden Kollektivs bzw. mit der Allgemeinbevölkerung zu
vergleichen. Spezielle statistische bzw. genetisch-mathematische Verfahren
werden dagegen verwendet, um Vererbungsmodelle zu detektieren oder
Vererbungsmechanismen zu quantifizieren.
Weiterhin unterscheidet man zwischen Methoden, die auf dem Vorliegen
genetischen Materials basieren und solchen, die ohne dieses auskommen.
Generell ist anzumerken, dass die Abgrenzung manchmal schwierig und
unscharf ist und die Verfahren meist den Einsatz komplexer statistischer
Methoden erfordern. Häufig werden zur Untersuchung eines genetischen
Mechanismus mehrere Verfahren angewendet.
3.2.Segregationsanalyse
Das statistische Verfahren der Segregationsanalyse (Segregation =
Aufspaltung) wurde ursprünglich entwickelt, um zu überprüfen, ob das
Vorliegen eines Phänotyps in Familien mit einem der Mendel‘schen
Vererbungsmodelle, d.h. einem (autosomal oder X- bzw. Y-chromosomal)
dominanten, rezessiven oder kodominanten Erbgang kompatibel ist. In
der medizinischen Genetik hatte sie insbesondere das Ziel, innerhalb einer
323u
Genetik-Umwelt-Interaktionen
Familie bzw. einer Gruppe von Geschwistern den zu erwartenden Anteil
erkrankter Geschwister und damit die Erkrankungswahrscheinlichkeit einzelner Personen zu schätzen und zu prüfen, ob dieser Anteil zu einem der
Mendel‘schen Vererbungsformen passt (Khoury et al. 1993). Wenngleich das
Verfahren im Laufe der Zeit um allgemeinere Vererbungsmodelle erweitert
worden ist, blieben Grundgedanke und Ziel im Wesentlichen unverändert.
Die Methode basiert auf der Anpassung verschiedener genetischer Modelle
an vorliegende Daten und identifiziert unter den zur Wahl stehenden das am
besten geeignete.
Ebenso wie epidemiologische Methoden kann auch die Segregationsanalyse
das Vorliegen eines Vererbungsweges nicht beweisen, sondern lediglich
zu dessen wissenschaftlicher Evidenz beitragen. Das Vorliegen eines plausiblen biologischen Mechanismus, der die Kausalität des Zusammenhangs
unterstützt, ist auch hier von großer Bedeutung. Weiterhin ist es wichtig, alle Modelle, die den Zusammenhang zwischen dem Auftreten des
Phänotyps in den einzelnen Generationen potentiell beschreiben, in der
Segregationsanalyse zu berücksichtigen und sich nicht nur auf die einfachen
Mendel‘schen Vererbungsmodelle zu beschränken.
Zu dem Verfahren der Segregationsanalyse erschienen bereits in den 50er
Jahren, vor allem von Morton verschiedene Publikationen, jedoch wurde
sie erst ab den siebziger Jahren durch ihre Weiterentwicklung zur komplexen Segregationsanalyse verstärkt angewendet. Als „komplex“ wurde
die Methode ursprünglich deshalb bezeichnet, weil sie erlaubt, unterschiedliche Segregationsmuster, d.h. genotypische Paarungstypen und andere
Einflussfaktoren, z.B. unvollständige Penetranz, variable Lebensfähigkeit,
polygene Merkmale etc., innerhalb eines bestimmten elterlichen phänotypischen Paarungstyps zu berücksichtigen (Elandt-Johnson 1970).
Mittlerweile wird der Begriff allgemein verwendet, wenn das Verfahren
zur Charakterisierung von Genen eingesetzt wird, welche zum Teil im
Zusammenspiel mit anderen Faktoren, wie z.B. den oben beschriebenen
und Umweltfaktoren, eine phänotypische Variation verursachen. Dabei
sind die Gene selbst im Allgemeinen nicht beobachtbar, d.h. man kennt
ihre Ausprägung nicht. Gerade bei komplexen Erkrankungen ist davon
auszugehen, dass mehrere Gene einen relativ kleinen Einfluss ausüben,
deren gemeinsamer Effekt wiederum beträchtlich sein kann. Dabei ist
anzunehmen, dass einige dieser Gene einen deutlichen Einfluss haben, der
möglicherweise einem Mendel‘schen Vererbungsmuster entspricht. Auf die
Identifikation und statistische Beschreibung solcher Gene konzentriert sich
das Verfahren.
t324
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Im Folgenden wird eine simplifizierte Übersicht über das Prinzip der
Modellierung bei der Segregationsanalyse gegeben. Die Darstellung
beschränkt sich dabei auf diejenigen Aspekte, die für Kernfamilien
(Kernfamilie = Eltern und ihre Kinder) mit Rekrutierung bzw. Datenerhebung
durch eines der Kinder relevant sind. Für Details hinsichtlich Methodik und
Umsetzung anhand eines Beispiels sei auf (Bromen 2002) verwiesen. Das
mathematische Modell, das der Segregationsanalyse zugrunde liegt, besteht
im Wesentlichen aus den folgenden vier Komponenten (Elston 1981):
n Gemeinsame Genotypverteilung der Paarungen (joint genotypic frequencies of mating pairs)
n Zusammenhang zwischen Genotyp und Phänotyp (relationship between
genotype and phenotype)
Hier ist beispielsweise eine Modellierung des Phänotyps anhand von
erkrankungsfreien Überlebenszeiten möglich. Auf das Beispiel Lungenkrebs
Hier solche
ist beispielsweise
eine darüber
Modellierung
dessinnvoll,
Phänotypsdaanhand
bezogen, ist eine
Modellierung
hinaus
diese von erkrankungsfreien
Überlebenszeiten
möglich.
Auf das Beispiel
bezogen, ist eine solche MoErkrankung üblicherweise
erst im
fortgeschrittenen
AlterLungenkrebs
auftritt.
dellierung darüber hinaus sinnvoll, da diese Erkrankung üblicherweise erst im fortge-
n Übertragungswahrscheinlichkeiten
schrittenen Alter auftritt. der Genotypen von einer Generation
auf die nächste (genetic transition probabilities)
• Übertragungswahrscheinlichkeiten
der Genotypen
von einer Generation auf die nächste
n Auswahlwahrscheinlichkeit
der Familien (ascertainment
probability)
(genetic transition probabilities)
Typisch ist die Situation, in der die Familien über einen Fall rekrutiert
• Auswahlwahrscheinlichkeit der Familien (ascertainment probability)
oder zumindest durch diesen erfasst werden. Man spricht dann von „single
ascertainment“.Typisch
Dabei ist
ist die
dieSituation,
Wahrscheinlichkeit,
dass eine
in die
in der die Familien
überFamilie
einen Fall
rekrutiert oder zumindest
Stichprobe gerät
proportional
zu
der
Zahl
ihrer
erkrankten
Angehörigen.
Aus
durch diesen erfasst werden. Man spricht dann von "single ascertainment". Dabei ist die
diesen Komponenten
lässt sich nun
des jeweiligen
Wahrscheinlichkeit,
dassunter
eine Berücksichtigung
Familie in die Stichprobe
gerät proportional zu der Zahl ihVererbungsmodus
für
jede
Familie
eine
sogenannte
Likelihood
L
berechF
rer erkrankten Angehörigen. Aus diesen Komponenten lässt sich nun unter Berücksichtinen (Elston 1981).
gung des jeweiligen Vererbungsmodus für jede Familie eine sogenannte Likelihood LF
berechnen (Elston 1981).
Die Likelihood für einen Datensatz bestehend aus D unabhängigen Familien Ff
(f = 1,...,D)
sich für
schließlich
aus dem bestehend
Produkt der
Die ergibt
Likelihood
einen Datensatz
aus einzelnen
D unabhängigen Familien Ff
Likelihoods:(f = 1,...,D) ergibt sich schließlich aus dem Produkt der einzelnen Likelihoods:
D
L Datensatz = ! L Ff
f =1
Diese ist noch für den Auswahlmodus der Familien zu korrigieren. Diese Korrektur besteht
Diese ist noch
für den Auswahlmodus der Familien zu korrigieren.
darin, die Likelihood LF jeder Familie unter der Bedingung zu berechnen, dass eine solche in
Diese Korrektur besteht darin, die Likelihood LF jeder Familie unter der
die Stichprobe gerät. An dieser Stelle kommt die vierte der oben beschriebenen KomponenBedingung zu berechnen, dass eine solche in die Stichprobe gerät. An dieser
ten, die Auswahlwahrscheinlichkeit ! bei der Berechnung der Likelihood zum Tragen (im
Stelle kommt die vierte der oben beschriebenen Komponenten, die Auswahlvorliegenden Fall ein „single ascertainment“).
Insgesamt ergibt sich für den Gesamtdatensatz folgende, für den Selektionsmodus korrigierte Likelihood:
325u
D
LF
L Datensatz | single ascertainment = ! LC f
f =1
f
Die Likelihood für einen Datensatz bestehend aus D unabhängigen Familien Ff
(f = 1,...,D) ergibt sich schließlich aus dem Produkt der einzelnen Likelihoods:
D
L Datensatz = ! L Ff
G e n e t i k - U m w e l t - I n tf =e1 r a k t i o n e n
Diese ist noch für den Auswahlmodus der Familien zu korrigieren. Diese Korrektur besteht
darin, die Likelihood LF jeder Familie unter der Bedingung zu berechnen, dass eine solche in
die Stichprobe gerät. An dieser Stelle kommt die vierte der oben beschriebenen Komponen-
wahrscheinlichkeit
π bei der Berechnung
Likelihood
Tragenzum
(imTragen (im
ten, die Auswahlwahrscheinlichkeit
! bei der der
Berechnung
derzum
Likelihood
vorliegenden Fall ein „single ascertainment“).
vorliegenden Fall ein „single ascertainment“).
Insgesamt
ergibt
fürGesamtdatensatz
den Gesamtdatensatz
für den korrigierInsgesamt ergibt
sich sich
für den
folgende, fürfolgende,
den Selektionsmodus
Selektionsmodus
korrigierte
Likelihood:
te Likelihood:
D
LF
L Datensatz | single ascertainment = ! LC f
f =1
f
Nachdem die Likelihood der Familien wie beschrieben spezifiziert worden ist, werden im
Nachdem die Likelihood der Familien wie beschrieben spezifiziert worden
nächsten Schritt die nicht festgelegten Parameter geschätzt. Schließlich ist, wie bereits erist, werden im nächsten Schritt die nicht festgelegten Parameter geschätzt.
wähnt, das Ziel der Segregationsanalyse, aus den verschiedenen Vererbungsmodellen dasSchließlich
ist, wie bereits erwähnt, das Ziel der Segregationsanalyse, aus
jenige
auszuwählen,Vererbungsmodellen
welches der Datensituation
besten entspricht.
erfolgt
den
verschiedenen
dasjenige am
auszuwählen,
welches Dieses
der
schließlich anhand
Modellvergleichs.
Datensituation
ameines
besten
entspricht. Dieses erfolgt schließlich anhand eines
Modellvergleichs.
Im Folgenden soll nun anhand des Beispiels Lungenkrebs aufgezeigt
werden, wie Erkenntnisse, die sich anhand
genetisch epidemiologischer
8
Verfahren gewinnen lassen, in Strategien der Public Health Genetik umgewandelt werden können.
F
w
4. Beispiel Lungenkrebs
4.1.Public Health Relevanz
Wenn man die Public Health Relevanz einzelner Krebserkrankungen bewertet, so kommt dem Lungenkrebs eine besondere Bedeutung zu. Zum einen ist
die Inzidenz dieser Erkrankung vergleichsweise hoch, in Deutschland erkranken jährlich über 42000 Menschen (31800 Männer, 10400 Frauen) an dieser
Erkrankung (AG Bevölkerungsbezogener Krebsregister in Deutschland
2004), zum anderen ist ihre Prognose nach wie vor sehr ungünstig und konnte
im Laufe der Zeit kaum verbessert werden (Nackaerts et al. 2002b). Auch
führten Präventions- und Früherkennungsmaßnahmen bislang nicht zu einer
deutlichen Reduktion von Inzidenz und Mortalität. So beträgt nach aktuellen
Angaben die relative 5-Jahres-Überlebensrate etwa 13% bei den Männern
und 14% bei den Frauen (AG Bevölkerungsbezogener Krebsregister in
Deutschland 2004). Dieses erklärt die hohe Mortalität der Erkrankung. In
Deutschland versterben jährlich knapp 40.000 Personen an Lungenkrebs,
bei den Männern lag er im Jahr 2002 auf Platz drei, bei den Frauen auf
Platz sieben der Todesursachen. Der Lungenkrebs ist damit jedoch nicht nur
hierzulande die bedeutsamste Krebserkrankung. Weltweit gehen insgesamt
über eine Million Todesfälle auf diese Erkrankung zurück, allein etwa 1.2
A
D
ru
D
kr
m
t326
vö
in
19
w
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Millionen (12.3% aller Neuerkrankungen mit Krebs) Neuerkrankungen
und 1.1 Millionen Todesfälle (810000 Männer, 293000 Frauen) im Jahr
2000 (Parkin et al. 2001). Dieses entspricht einer Zunahme von fast 20%
zwischen 1990 und 2000. Bei der Verwendung altersstandardisierter Raten,
die Veränderungen in der Bevölkerungsgröße und der Altersstruktur berücksichtigen, stellt man fest, dass diese Veränderungen hauptsächlich auf den
Anstieg der Lungenkrebsmortalität in den Entwicklungsländern und bei
Frauen zurückzuführen sind. Hier ist der wachsende Trend ungebrochen
wohingegen bei den Männern in den westlichen Industrienationen der jahrzehntelange Anstieg der Inzidenz und damit auch der Mortalität seit einigen
Jahren abflacht bzw. sogar rückläufig ist. Die bislang bei Frauen relativ
moderaten Mortalitätsraten sind in den letzten Jahren drastisch angestiegen. In Deutschland stieg die altersstandardisierte Mortalitätsrate seit den
frühen 50er Jahren kontinuierlich an und erreichte bei den Männern Ende
der 70er Jahre ihr Maximum. Seither ist ein leichter Abfall zu verzeichnen
(Abbildung 1) (AG Bevölkerungsbezogener Krebsregister in Deutschland
2002; AG Bevölkerungsbezogener Krebsregister in Deutschland 2004;
Casper et al. 1995). Im Gegensatz dazu hat sich die Inzidenz und entsprechend die Mortalität bei den Frauen seit den frühen 70er Jahren aufgrund
Frauen seit den frühen
70er Jahrenimaufgrund
von Änderungen
im Rauchverhalten,
von Änderungen
Rauchverhalten,
dem wichtigsten
Risikofaktordem
für diese
wichtigsten Risikofaktor
für
diese
Erkrankung,
verdoppelt
(Abbildung
1).
Erkrankung, verdoppelt (Abbildung 1).
pro 100.000
120
100
Männer (alte Länder)
Männer (neue Länder)
80
Frauen (alte Länder)
Frauen (neue Länder)
Männer (Deutschland)
60
40
Frauen (Deutschland)
20
0
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
Standardbevölkerung: Bundesrepublik 1989 (alte und neue Länder),
für gesamtdeutsche Mortalität ab 1990: Europabevölkerung
Abb. 1:
Altersstandardisierte
Mortalitätsrate des
Lungenkrebses bei
Männern und Frauen,
Deutschland
(AG Bevölkerungsbezogener Krebsregister in
Deutschland 2002;
AG Bevölkerungsbezogener Krebsregister in
Deutschland 2004;
Casper et al. 1995)
Abb. 1: Altersstandardisierte Mortalitätsrate des Lungenkrebses bei Männern und Frauen,
Das lebenslange Risiko
eines 1940
geborenen 2002;
Menschen,
bis zum
Deutschland (AG Bevölkerungsbezogener
Krebsregister
in Deutschland
AG Bevölkerungsbezogener Krebsregister in Deutschland 2004; Casper et al. 1995)
75.
Lebensjahr Lungenkrebs zu entwickeln, beträgt bei den Männern etwa 8%
und bei den Frauen etwa 1%. Das mittlere Erkrankungsalter beträgt bei
Das lebenslange Risiko
einesund
1940
geborenen
Menschen,
zum(AG
75. Lebensjahr
LungenMännern
Frauen
etwa 67
bzw. 68bis
Jahre
Bevölkerungsbezogener
krebs zu entwickeln, beträgt bei den Männern etwa 8% und bei den Frauen etwa 1%. Das
mittlere Erkrankungsalter beträgt bei Männern und Frauen etwa 67 bzw. 68 Jahre (AG Bevölkerungsbezogener Krebsregister in Deutschland 2004). Dies ist vergleichbar zu Krebs
insgesamt und ist während der letzten 30-40 Jahre geringfügig angestiegen (Schön et al.
1999). Jeder an Lungenkrebs erkrankte Patient verliert etwa 12-13 Jahre seiner Lebenserwartung. Damit ist die Gesamtzahl der verlorenen Lebensjahre in Deutschland mit 541.300
327u
Genetik-Umwelt-Interaktionen
Krebsregister in Deutschland 2004). Dies ist vergleichbar zu Krebs insgesamt
und ist während der letzten 30-40 Jahre geringfügig angestiegen (Schön et al.
1999). Jeder an Lungenkrebs erkrankte Patient verliert etwa 12-13 Jahre seiner Lebenserwartung. Damit ist die Gesamtzahl der verlorenen Lebensjahre
in Deutschland mit 541.300 Jahren insgesamt (394.000 bei Männern)
größer als für jede andere Lokalisation (AG Bevölkerungsbezogener
Krebsregister in Deutschland 2002). Diagnosestadium und Erkrankungsalter
sind bedeutsame Prädiktoren der Überlebenszeit und, wie erwartet, wird die
Prognose mit steigendem Erkrankungsalter schlechter. Diese Veränderung
in der Überlebenswahrscheinlichkeit wird besonders deutlich, wenn man
die Überlebensraten derjenigen unter und über 70 Jahren vergleicht (Schön
et al. 1999). Die Ausführungen dieses Kapitels verdeutlichen bereits das
Ausmaß der Bedeutung der Erkrankung Lungenkrebs sowohl für die
Patienten und ihr persönliches Umfeld als auch für die Gesellschaft und das
Gesundheitssystem. Sie führen zu der Frage, mit welchen möglicherweise
neuen Strategien und Erkenntnissen sich eine nachhaltige Reduktion der
Krankheitslast erzielen lässt.
4.2.Histologische Typen
Nahezu alle Bronchialkarzinome entwickeln sich aus dem Epithelgewebe.
Dabei bilden die Plattenepithel-, Adeno- und kleinzellige Karzinome
mit etwa 80% aller histologischen Typen die häufigsten Formen
(Jöckel et al. 1995). Weiterhin gibt es großzellige Karzinome, andere
Gewebetypen und Kombinationstumore. Geschlechtsspezifisch existieren deutliche Unterschiede in der histologischen Verteilung. Während
das Plattenepithelkarzinom die häufigste Form bei den Männern darstellt, ist es bei den Frauen das Adenokarzinom. Dieser Unterschied ist
jedoch nicht direkt auf das Geschlecht sondern eher auf unterschiedliche
Risikoprofile, insbesondere hinsichtlich des Rauchens zurückzuführen. Das
Adenokarzinom ist der häufigste Typ bei Nichtrauchern – in einer großen
europäischen Multizenterstudie betrug der Anteil von Adenokarzinomen
bei männlichen und weiblichen nichtrauchenden Lungenkrebspatienten
jeweils 50% (Boffetta et al. 1998) Weltweit wird ein Zuwachs des Anteils
der Adenokarzinome berichtet. Dabei ist noch unklar, ob es sich um einen
tatsächlichen Anstieg handelt oder ob veränderte diagnostische Maßnahmen
für diesen verantwortlich sind. Obwohl die Überlebenszeit nach Zelltypen
insgesamt nur wenig variiert, haben Patienten mit nichtkleinzelligen
Lungenkarzinomen einen prognostischen Vorteil (Blot et al. 1996).
t328
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
4.3.Risikofaktoren
Rauchen
Das Tabakrauchen ist der bedeutsamste Risikofaktor für den Lungenkrebs.
Anhand von Risikoschätzungen der Mortalität für gegenwärtige und ehemalige Raucher aus dem Report des amerikanischen Surgeon General
sowie deutschen Daten zu Rauchverhalten und Lungenkrebsmortalität,
wurden krude Schätzer des Attributivrisikos und der rauchassoziierten
Lungenkrebsmortalität für Deutsche ab 14 Jahren für das Jahr 1998
berechnet. Es ergaben sich Attributivrisiken von 90.5% bei den Männern
und 74.6% bei den Frauen. Dies entspricht einer Anzahl von 32.847
Lungenkrebsfällen, die dem Rauchen zuzuschreiben sind (25.923 Männer,
6.924 Frauen) (Sachverständigenrat (SVR) für die Konzertierte Aktion
im Gesundheitswesen 2002). Der Zusammenhang zwischen Rauchen und
Lungenkrebs wurde bereits von Soemmering am Ende des 19. Jahrhunderts
erwähnt (Rigdon et al. 1958) und in den folgenden Jahrzehnten wiederholt
in Tierexperimenten, Fallberichten und Beobachtungsstudien bestätigt. Eine
der frühesten Fall-Kontrollstudien wurde in diesem Zusammenhang von
Müller in den späten 30er Jahren durchgeführt (Müller 1939). Daran schlossen sich einige Kohortenstudien an, die in den USA und Großbritannien
in den 50er und 60er Jahren durchgeführt wurden und hauptsächlich das
Zigarettenrauchen untersuchten. Eine Dosis-Wirkungsbeziehung der kumulativen Rauchdosis ist wissenschaftlich gut abgesichert (Blot et al. 1996).
Aber auch Intensität und Rauchdauer haben einen starken Effekt. Weiterhin
weisen Studienergebnisse darauf hin, dass ein früher Rauchbeginn (Jöckel
et al. 1992), das Rauchen von Zigaretten ohne Filter oder solchen mit einem
hohem Teergehalt (Blot et al. 1996) zu einer Risikoerhöhung beitragen.
Darüber hinaus haben die Tabaksorte (Blot et al. 1996; Simonato et al. 2001)
sowie das Rauchen von Zigarren und Pfeifen (siehe z.B. Boffetta et al. 1999)
einen verstärkenden Effekt.
Das Rauchen stellt bei allen histologischen Typen einen Risikofaktor
dar, jedoch ist die Assoziation und der dosisabhängige Gradient bei
Adenokarzinomen geringer als bei Plattenepithel- und kleinzelligen
Karzinomen (Jöckel et al. 1995). Bei verschiedenen histologischen Typen
wurde die klinische Beobachtung gemacht, dass Lungenkrebspatienten
bereits vor Diagnosestellung aufgehört hatten zu rauchen (Pohlabeln et al.
1997).
Es wird nach wie vor diskutiert, ob das rauchassoziierte Lungenkrebsrisiko
bei Frauen stärker ist als bei Männern. Epidemiologische Evidenz aus großen
Untersuchungen existiert für beide Richtungen, selbst nach Berücksichtigung
329u
Genetik-Umwelt-Interaktionen
der Expositionsdosis. Während beispielsweise verschiedene nordamerikanische Studien einen solchen Effekt entdeckt haben (Risch et al. 1993; Zang et
al. 1996), wurde dieses in zwei großen europäischen Studien nicht gefunden
(Agudo et al. 2000; Kreuzer et al. 2000a; Prescott et al. 1998; Simonato et
al. 2001). Mögliche Erklärungen für einen solchen Risikoanstieg sind z.B.
Östrogene, Körpergröße, Body-Mass-Index (Kabat et al. 1992), sowie eine
höhere GRP (gastrin releasing peptide)-Expression (Shriver et al. 2000).
Jedoch könnte diese scheinbar größere Suszeptibilität der Frauen auch ein
Artefakt sein, da Männer aufgrund einer stärkeren beruflichen Exposition
zu relevanten Lungenkrebskarzinogenen (siehe Kapitel 4.3.3) ein höheres
Basisrisiko für den Lungenkrebs haben. Des Weiteren haben Frauen traditionell eine höhere Wahrscheinlichkeit, einen rauchenden Partner zu haben
als Männer, insbesondere wenn sie selber rauchen. Aufgrund dieser zusätzlichen Passivrauchexposition haben sie eine höhere Tabakbelastung als durch
das aktive Rauchen per se.
Ein Rauchstopp, insbesondere im frühen Alter, verbessert den
Gesundheitszustand allgemein (Samet 1992) und reduziert vor allem das
Lungenkrebsrisiko im Vergleich zur Rauchfortsetzung (Peto et al. 2000). Das
Risiko sinkt mit zunehmender Zeit seit Rauchbeendigung und approximiert
das Risiko eines Nichtrauchers nach etwa 20 Jahren. Allerdings hängt diese
Zeitspanne und das Ausmaß der Risikoreduktion auch von Menge und Dauer
der vorhergehenden Exposition ab. Da sich ein Rauchstopp jedoch jederzeit vorteilhaft auf den Gesundheitszustand auswirkt, sollte grundsätzlich
jeder Raucher ermutigt werden, mit dem Rauchen aufzuhören (Jöckel et al.
2002a).
Passivrauchen
Passivrauchen (ETS – Environmental Tobacco Smoke) ist die Exposition
zu Tabakverbrennungsprodukten, die durch das Rauchen anderer Menschen
erzeugt werden. Seine Public Health Relevanz wurde zuerst in epidemiologischen Studien entdeckt, die das erhöhte Lungenkrebsrisiko nichtrauchender
Ehefrauen von Rauchern zeigten (Hirayama 2000; Trichopoulos et al. 1981).
Seitdem haben viele Studien diesen Zusammenhang untersucht (für einen
Überblick siehe z.B. Jöckel 2000). Toxikologisch ist der Effekt von ETS
aus verschiedenen Gründen plausibel. Erstens ist die Konzentration effektiver Karzinogene im Nebenstromrauch des Passivrauchens im Vergleich
zum Hauptstromrauch des Aktivrauchens höher. Zweitens unterstützen die
Ergebnisse von Tierexperimenten diesen kausalen Zusammenhang.
Viele epidemiologische Studien zum Passivrauchen konzentrieren sich
allerdings auf das Lungenkrebsrisiko von Nichtrauchern (z.B. Kreuzer et
t330
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
al. 2000b), insbesondere auf nichtrauchende Partnerinnen von Rauchern
und wurden von der Tabakindustrie und kooperierenden Wissenschaftlern
scharf kritisiert. Die angeführten Argumente konzentrierten sich vor
allem auf methodische Aspekte, wie z.B. die Beobachtung, dass Raucher
häufiger Partner von Rauchern sind. Im Falle einer Missklassifikation
eines Rauchers als Nichtraucher würde dieses zu einer artifiziellen
Risikoerhöhung führen. Trotz dieser Kritikpunkte kommen nationale und
internationale Studien (Boffetta et al. 1998), Reviews, Metaanalysen und
Aussagen von Regierungsagenturen wie z.B. der amerikanischen EPA zu
der Schlussfolgerung, dass auch nach Berücksichtigung dieser methodischen
Schwächen der lungenkarzinogene Effekt des Passivrauchens existiert.
Entsprechend wurde es von der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der DFG als menschliches Karzinogen eingestuft
(Greim 1998).
Beruf
Bereits in den frühen 80er Jahren hatten Doll and Peto geschätzt, dass etwa
15% der männlichen und 5% der weiblichen Lungenkrebsfälle auf berufliche Exposition zurückzuführen sind (Doll et al. 1981). Die Ergebnisse
späterer deutscher Studien deuten an, dass die Situation hierzulande vergleichbar ist (Jöckel et al. 1997). Die gemeinsame Auswertung zweier großer deutscher Fall-Kontroll-Studien als sogenannte Pooling-Studie (BrüskeHohlfeld et al. 2000; Jöckel et al. 1998b) zeigte, dass die Beschäftigung
in verschiedenen Berufen und Industriezweigen mit sehr unterschiedlichen Lungenkrebsrisiken assoziiert ist. Bei den Berufstätigkeiten zeigte
sich z.B., dass eine Beschäftigung in typischen Bluecollar-Berufen
(z.B. Arbeiter) mit einem relevanten Anstieg des Lungenkrebsrisikos
einhergeht, während bei Whitecollar-Berufen (z.B. Büroangestellte) das
Gegenteil vorliegt. Diese Ergebnisse zeigten sich auch nach Adjustierung
für Rauchen und Asbestexposition und ergaben sich ebenfalls für die
nichtrauchenden Teilnehmer der bereits zuvor erwähnten IARC-Studie
(Pohlabeln et al. 2000a). Asbest ist trotz des Verbots seiner Produktion und
Verwendung in den 80er Jahren, als seine gesundheitsschädliche Wirkung
erkannt wurde, nach wie vor das bedeutendste berufliche Karzinogen.
Weitere anerkannte Lungenkarzinogene sind die polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe (PAK), Radionuklide, Dichlordimethyl- und
Monochlordimethylether, Arsen-, Nickel- und Chrom-(VI)-Verbindungen
sowie ionisierende Strahlung. Belege für den lungenkarzinogenen Effekt
dieser Strahlung stammen sowohl von medizinischen Anwendungen als
auch von Überlebenden der Atombombenangriffe auf Japan (Blot et al.
1996). Es gibt eine Reihe weiterer Substanzen, die mit wachsender wissenschaftlicher Evidenz mit Lungenkrebs assoziiert werden. Zu erwähnen
331u
Genetik-Umwelt-Interaktionen
sind hier insbesondere Dieselmotoremissionen, kristallines Silizium, künstliche Mineralfasern (Brüske-Hohlfeld et al. 2000; IARC 1997; Jöckel et
al. 1998b), künstliche Glasfasern (Pohlabeln et al. 2000b) sowie Cadmium
(Wolf 1998) und Schweissrauche (Jöckel et al. 1998a).
Radon
Radon ist ein Edelgas, das sich aus Radium während des natürlichen
Zerfalls von Uran entwickelt. Ein erhöhtes Lungenkrebsrisiko wurde
bei Uranbergarbeitern mit einer hohen Exposition zu Radon und
Radonspaltprodukten beobachtet (Darby et al. 2001a; Hornung 2001; Lubin
et al. 1997; Samet et al. 2000). Deshalb ist eine Risikoerhöhung aufgrund
von Innenraumexposition zu Radon wahrscheinlich (Darby et al. 2001a).
Basierend auf Expositionsmessungen in Haushalten wurde anhand von
Risikoextrapolationen geschätzt, dass etwa 7% der Lungenkrebsfälle in der
ehemaligen Bundesrepublik Deutschland durch Umweltradon verursacht
werden (Steindorf et al. 1995). Es bleibt umstritten, ob diese Übertragung in
den Niedrigdosisbereich zulässig ist, zumal die Beweislage aus epidemiologischen Studien zu Radon in Haushalten uneinheitlich ist. Eine Studie, die
in einer westdeutschen Region mit erhöhten Radonkonzentrationen durchgeführt wurde, zeigte eine grenzwertig relevante Risikoerhöhung (Kreienbrock
et al. 2001) und entspricht damit dem Ergebnis einer Metaanalyse (Lubin et
al. 1997).
Luftverschmutzung
Es wird vermutet, dass allgemeine Luftverschmutzung das Lungenkrebsrisiko
erhöht, da zum einen in Ballungsräumen eine deutlich erhöhte
Lungenkrebsmortalität beobachtet wurde und außerdem gesicherte oder
vermutete Karzinogene, aus industriellen Prozessen, Heizölverbrennung und
Verkehr (insbesondere Dieselmotoren), in der Atemluft vorliegen. Jedoch
konnten individuelle Risikofaktoren wie Rauchverhalten und berufliche
Exposition in den zur Hypothesenüberprüfung durchgeführten ökologischen
Studien nicht angemessen berücksichtigt werden. Nach dem derzeitigen
Kenntnisstand liegt das relative Risiko deutlich unter 1.5. Es sollten nicht
mehr als 5-10% der Lungenkrebsfälle in hochbelasteten Gegenden und
etwa 2% in Gesamtdeutschland der Luftverschmutzung zuzuschreiben
sein (Pesch et al. 1995). Jedoch wurde in einer neueren großen Studie ein
Zusammenhang zwischen Langzeitexposition zu Luftverschmutzung durch
feine Partikel (Schwebstaub) und einer erhöhten Lungenkrebsmortalität
gefunden (Pope, III et al. 2002). Als relevante Quelle von Innenraumluft
verschmutzung werden schließlich Kochdämpfe diskutiert. Studien hierzu
wurden vor allem in Asien, beispielsweise bei nichtrauchenden chinesischen
Frauen durchgeführt (Seow et al. 2000).
t332
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Ernährung
Häufiger Konsum von frischem Obst und Gemüse wurde in vielen epidemiologischen Studien mit einer Risikoreduktion von Lungenkrebs in Verbindung
gebracht (Brennan et al. 2000; Darby et al. 2001b). Weiterhin gibt es konsistente Hinweise, dass diese Protektion auch für andere Krebserkrankungen
besteht. Aufgrund biochemischer Daten erscheint es plausibel, dass u.a. das
Betakarotin für diese Risikoreduktion verantwortlich ist. Jedoch ist dieses
möglicherweise ein Marker für gesunde Ernährung, d.h. der Einnahme
einer gesundheitsförderlichen Mischung von Nährstoffen (Micronutrients)
(Epstein 2003). Als weiterer, potentiell lungenkrebspräventiver Nährstoff
gilt das Vitamin E. Jedoch waren bisherige Bemühungen, das Betakarotin
oder Vitamin E zur Chemoprävention einzusetzen, erfolglos (Omenn et al.
1996; The Alpha-Tocopherol Beta Carotene Cancer Prevention Study Group
1994). Vitamin C und Selen gelten ebenfalls als protektiv, wohingegen eine
cholesterin- und fettreiche Diät mit einer Risikoerhöhung einher zu gehen
scheint (Blot et al. 1996).
Weitere nichtgenetische Risikofaktoren
Es wurde häufig beobachtet, dass Patienten mit Asbestose und Silikose ein
erhöhtes Lungenkrebsrisiko haben und diese Assoziation ist nicht zuletzt
aufgrund der zuvor beschriebenen Situation plausibel. Dagegen ist die Rolle
anderer Lungenerkrankungen, wie z.B. der Tuberkulose, weniger klar. Die
vorliegende Evidenz zu der Rolle von Vogelhaltung ist inkonsistent (Jöckel
et al. 2002b). Als weitere potentielle Risikofaktoren gelten psychosoziale
Faktoren (Jahn et al. 1995), das Immunsystem sowie Hormone (Blot et al.
1996). Letzteres könnte zum Teil die möglicherweise erhöhte Suszeptibilität
von Frauen für den Lungenkrebs erklären. Hierfür könnte eine Interaktion
von Rauchstatus, genetischen und hormonellen Faktoren eine Rolle spielen
(Gasperino et al. 2004).
Genetische Faktoren
Obwohl bis zu 90% der Lungenkrebsfälle dem Zigarettenrauchen zugeschrieben werden, entwickeln kaum mehr als 10% der Raucher diese
Erkrankung. Zudem ist ein beträchtlicher Anteil von Lungenkrebspatienten
Nichtraucher. Deshalb wird davon ausgegangen, dass Suszeptibilitätsgene
das individuelle Erkrankungsrisiko mitbestimmen, eine Sichtweise, die von
unterschiedlichen Studientypen unterstützt wird. Zum einen haben molekularepidemiologische Studien gezeigt, dass bestimmte Genpolymorphismen
in Lungenkrebspatienten häufiger vorliegen. In der Vergangenheit haben
sich diese Studien primär auf Gene konzentriert, die in den beiden Phasen
des Metabolismus von Umweltkarzinogenen involviert sind, wie z.B. das
Zytochrom P450-System, GSTM1 und NAT2. Neuere Studien haben darü-
333u
Genetik-Umwelt-Interaktionen
ber hinaus Gene untersucht, die, wie das Dopaminrezeptorgen DRD2, möglicherweise zur Nikotinsucht beitragen und dadurch indirekt am Lungenkrebs
beteiligt sind. Weiterhin haben klassische epidemiologische Studien mit
Angehörigeninformation eine stärkere Aggregation des Lungenkrebses in
Familien von Lungenkrebspatienten gezeigt, insbesondere für diejenigen
Patienten, bei denen die Erkrankung verhältnismäßig früh aufgetreten ist.
Eine Fall-Kontroll Studie, die u.a. das Vorliegen einer genetischen / familiären Komponente untersuchte, bestätigte die zum Teil schon in vorhergehenden Untersuchungen gefundenen Ergebnisse: Das Lungenkrebsrisiko
in Familien von Lungenkrebspatienten war im Vergleich zu Familien von
Personen ohne Lungenkrebs um etwa 70% erhöht. Dieses Risiko was
besonders hoch in Familien von Patienten, die frühzeitig erkrankten. Ein
erhöhtes familiäres Risiko zeigt sich lediglich beim Lungenkrebs, nicht
jedoch bei anderen rauchbezogenen oder sonstigen Krebsarten. Das familiäre Lungenkrebsrisiko blieb auch nach Adjustierung für verschiedene andere
Risikofaktoren erhöht, inklusive der individuellen Rauchmenge sowie des
Rauchstatus’ der Eltern. Dieser Befund spricht gegen die Vermutung, dass
die Korrelation des Rauchverhaltens innerhalb von Familien allein für die
familiäre Aggregation verantwortlich ist. Es lag außerdem eine DosisWirkungsbeziehung vor, d.h. Lungenkrebspatienten hatten eine höhere
Wahrscheinlichkeit, mehrere an Lungenkrebs erkrankte Angehörige zu
haben (Bromen et al. 2000). Der Anteil einer familiären Vorbelastung am
Lungenkrebsrisiko wurde in dieser Studie insgesamt auf 3%, in der jungen
Population allerdings auf knapp 10% geschätzt.
Diese Ergebnisse deuten an, dass Unterschiede im Rauchverhalten zwischen
den Familien der Fälle und der Kontrollen die Unterschiede im familiären
Lungenkrebsrisiko zwischen diesen Gruppen nicht alleine erklären. Auch
zeigte sich innerhalb der Fall- bzw. Kontrollpopulationen kein grundlegender Unterschied im Rauchverhalten zwischen denjenigen mit und ohne
familiären Lungenkrebs. Dieses könnte ein Hinweis darauf sein, dass
es suszeptible Subpopulationen insbesondere, aber nicht ausschließlich,
innerhalb der Fallpopulation gibt, die für Expositionen zu den etablierten Risikofaktoren besonders gefährdet sind. Eine solche, bereits zuvor
erwähnte Suszeptibilität sollte deshalb nicht losgelöst vom Rauchverhalten
betrachtet werden. Einige Ergebnisse der angesprochenen Arbeit legen das
Vorliegen einer Gen-Umwelt (d.h. Rauch)-Interaktion nah. Zum einen hatten Rauchgewohnheiten einen besonders schwerwiegenden Effekt bei den
Eltern der Lungenkrebspatienten und dieser zeigte sich spezifisch in dem
elterlichen Lungenkrebsrisiko, nicht jedoch in anderen rauchassoziierten
Krebserkrankungen. Zum anderen war ein gemeinsamer Effekt von Rauchen
und familiärer Vorbelastung auch bei den Studienteilnehmern selbst erkenn-
t334
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
bar. Die Risikoschätzer für das Rauchen waren bei denjenigen Teilnehmern
mit familiärer Vorbelastung besonders hoch. Für eine detaillierte Darstellung
der Ergebnisse siehe (Bromen et al. 2000; Bromen 2002).
Schließlich haben Segregationsanalysen eine gewisse Kompatibilität der
Vererbungsmuster mit Mendel’schen Modellen gezeigt. Dieses Verfahren
erlaubt auch eine Berücksichtigung nicht-genetischer Faktoren. So wurden
bei (Bromen 2002) als Kovariaten außer dem –nicht gemessenen – Status
eines einzelnen Gens auch Alter, Geschlecht, Rauchstatus sowie eine
Interaktion zwischen dem Rauchstatus und dem Genstatus untersucht. Diese
Analyse ergab, dass ein Mendel’sches Vererbungsmodell mit exogenen
Faktoren sich am besten an die Daten anpassen ließ und weiterhin, dass
die Berücksichtigung einer Gen-Rauch Interaktion diese Modellanpassung
deutlich verbessern konnte. Es zeigte sich insgesamt, dass rauchende Träger
eines seltenen Allels (Populationshäufigkeit des krankheitsassoziierten
Allels=0.12%) im Verhältnis zu nichtrauchenden Personen, die das Allel
nicht tragen, ein extrem hohes Lungenkrebsrisiko tragen. Andererseits lässt
das Ergebnis dieses Ansatzes keine eindeutigen Schlussfolgerungen über
den genauen Vererbungsmechanismus zu. Ein Grund dafür ist der Mangel
an Information zu den Kovariaten der Geschwistern der Studienteilnehmer.
Weiterhin konnte nur wenig Vorwissen über die Modellparameter, wie z.B.
die Allelfrequenz und über die Zahl der eventuell beteiligten Genorte in die
Analyse eingebracht werden, insbesondere da zum Lungenkrebs bislang
nur wenige Segregationsanalysen durchgeführt worden sind. Zudem ist
anzunehmen, dass, wie bei anderen Krebsarten, mehr als ein Gen, möglicherweise mit niedriger Penetranz, die Suszeptibilität für die Erkrankung
beeinflusst. Eine ausführlichere Beschreibung der Ergebnisse dieser Analyse
und der aufgetretenen verfahrenstechnischen Schwierigkeiten findet sich bei
(Bromen et al. 2002).
Für einen Überblick über den Kenntnisstand der genetischen Epidemiologie
zum Lungenkrebs siehe z.B. (Bromen et al. 2002; Bromen 2002; Nackaerts
et al. 2002a). Allerdings ist die Interpretation solcher Ergebnisse schwierig,
da Familienmitglieder nicht nur Gene, sondern auch andere Risikofaktoren,
wie z.B. das Rauchen und andere Lebensstilfaktoren etc. teilen (Bromen
et al. 2000; Kreuzer et al. 1998). Insbesondere der Hauptrisikofaktor
Zigarettenrauchen stellt eine Gewohnheit dar, für die es innerhalb von
Familien Verhaltensübereinstimmung gibt. Die gegenwärtige Beweislage für
die Rolle genetischer Suszeptibilitätsmarker bleibt zwiespältig, insbesondere
da in verschiedenen Populationen unterschiedliche Polymorphismen existieren. Auch liegen zwar inzwischen zahlreiche Hinweise auf die Bedeutsamkeit
genetischer Faktoren für die Ätiologie des Lungenkrebses vor, jedoch ist der
335u
Genetik-Umwelt-Interaktionen
Kenntnisstand über den möglichen Wirkmechanismus einzelner Gene nach
wie vor diffus und es gibt bislang keine klaren Kandidatengene. Darüber
hinaus ist der Lungenkrebs ein typisches Beispiel für eine multifaktorielle
und sozial determinierte Erkrankung, wenn man die zuvor beschriebenen
Risikofaktoren betrachtet. Es soll an dieser Stelle nochmals betont werden,
dass Lungenkrebs eine Erkrankung ist, die in erster Linie durch exogene
Risikofaktoren wie z.B. Rauchen und Asbestexposition verursacht wird, was
sich auch in früheren Analysen zur Bremer Lungenkrebsstudie gezeigt hat
(Jöckel et al. 1995). Nichtsdestotrotz ist es sehr wahrscheinlich, dass eine
Interaktion von genetischen und Umweltfaktoren an der Erkrankungsgenese
beteiligt ist (Kiyohara et al. 2004). Aufgrund von Ergebnissen aus
Tierexperimenten (Tripodis et al. 2001) wird zudem erwartet, dass dabei
mehrere niedrig penetrante Gene interagieren (Shields et al. 2000). Insofern
ist die Frage relevant, welche zusätzlichen Erklärungsmöglichkeiten sich mit
Hilfe der Genetischen Epidemiologie bieten: Ein verbessertes ätiologisches
Verständnis erhöht möglicherweise das Präventionspotential, was angesichts
der hohen Inzidenz und der aus der ungünstigen Prognose resultierenden
hohen Mortalität besonders lohnenswert erscheint.
4.4.Prävention, Früherkennung und Diagnostik
Trotz allen Fortschritts in der Forschung und trotz intensiver Bemühung,
Diagnose und Behandlung von Lungenkrebs zu verbessern, ist die Prognose
für Lungenkrebs nach wie vor ungünstig. Patienten, deren Diagnose
in einem frühen Stadium (0 oder 1) erfolgt, haben die größte Chance
auf eine längere Überlebenszeit. Deshalb erscheint es erstrebenswert,
Lungentumoren so früh wie möglich, d.h. im asymptomatischen Stadium,
zu entdecken. Hochrisikoindividuen, wie z.B. diejenigen mit starker
Umwelt- und Rauchexposition sowie einer hohen Suszeptibilität, sollten
am meisten von Früherkennungsmaßnahmen profitieren. Zudem erhöhen sich, bei gegebener Sensitivität und/oder Spezifität, der positive und
negative prädiktive Wert eines jeden Tests mit zunehmender Prävalenz der
Erkrankung in der untersuchten Population. Allerdings konnten randomisierte klinische Studien bislang keine relevante Mortalitätsverringerung als
Ergebnis solcher Früherkennungsmaßnahmen zeigen. Dies könnte jedoch
teilweise auf den bislang noch sehr lückenhaften Wissensstand zur Rolle
der genetischen Suszeptibilität bzw. die fehlende Identifikation relevanter
Gene und ihrer Bedeutung zurückzuführen sein. Bislang jedenfalls konnte
für den Lungenkrebs weder eine Assoziation zwischen Tumorgröße und biologischem Verhalten noch die Äquivalenz von kleinen Läsionen mit einem
frühen Erkrankungsstadium bestätigt werden (Patz, Jr. et al. 2000). In der
Beurteilung der Sinnhaftigkeit solcher Screeningansätze müssen auch die
Kosteneffizienz und das Strahlenrisiko, welches das Mortalitätsrisiko für
t336
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
andere Erkrankungen, z.B. Mamma-CA, möglicherweise erhöht, berücksichtigt werden.
Wenngleich bereits einige potentielle Marker für die Erkrankung im
Frühstadium, beispielsweise das heterogene nukleare Ribonukleoprotein
(hnRNP) identifiziert wurden, lässt sich generell feststellen, dass genetische
Aberrationen und andere molekulare Marker der präklinischen Erkrankung
der weiteren Untersuchung im Rahmen klinischer Studien bedürfen, bevor
sie im Screening eingesetzt werden können. Dieses gilt jedoch für alle
Arten von Screeningmethoden, die gegenwärtig verfügbar sind. Es ist
verfrüht, irgendeines der vorhandenen Verfahren, wie z.B. Bronchoskopie,
Röntgenuntersuchung der Brust, Niedrigdosis-Computertomographie oder
Untersuchung molekularer Marker in Sputum, peripherem Blut oder in
Flüssigkeit aus Bronchoalveolärer Lavage (BAL), für ein Massenscreening
zu empfehlen (Chanin et al. 2004; Cohen et al. 2004; Manser 2004; Manser
et al. 2003). Hierbei ist anzumerken, dass man sich bei der Evaluierung
dieser Methoden nicht ausschließlich auf die Reduktion der lungenkrebsspezifischen Mortalität fokussieren sollte, sondern zusätzlich die allgemeine
Mortalität berücksichtigt werden muss (Black et al. 2002). Dies zum einen,
weil die allgemeine Mortalität nicht von einem Missklassifikationsbias der
Todesursache beeinträchtigt wird, sondern vor allem, weil Screeningverfahren
wie z.B. die Thoraxübersichtsaufnahme oder das Niedrigdosis-Spiral-CT
Nebenwirkungen haben, die letztendlich den Tod aus anderen Gründen als
dem Lungenkrebs verursachen können. Die exklusive Berücksichtigung der
krankheitsspezifischen Mortalität vermittelt eine limitierte und potentiell
verzerrte Sicht des Benefits, der durch das Screening erworben wird. Es
existieren Beispiele aus randomisierten Studien, die zeigen, dass Vorteile
entweder nur hinsichtlich der krankheitsspezifischen, nicht aber in der allgemeinen Mortalität erworben wurden und umgekehrt (Black et al. 2002).
Gegenwärtig gibt es weder eine allgemeine Übereinstimmung hinsichtlich
eines Screening-Ansatzes für Hochrisiko-Individuen (Boyle 2002) noch
eine klare Empfehlung, Früherkennungsmaßnahmen bei asymptomatischen
Personen mit einem starken Risikoprofil einzusetzen (Smith et al. 2003).
Deshalb ist die Primärprävention, insbesondere des Rauchens, eindeutig die
effektivste Methode zur Vermeidung des Lungenkrebses. Im wesentlichen
verfolgen Antirauchprogramme drei Ziele:
1. Menschen, insbesondere Jugendliche vom Beginn des Rauchens abzuhalten. (primary prevention of active smoking).
337u
Genetik-Umwelt-Interaktionen
2. Personen bei der Rauchentwöhnung zu unterstützen oder zumindest zu
helfen, ihr Expositionsniveau zu reduzieren (primary prevention of passive
smoking).
3. Die Allgemeinbevölkerung vor Passivrauchexposition zu schützen (smoking cessation, primary, secondary and tertiary prevention).
Es hat sich gezeigt, dass diese Ziele am besten mit umfassenden TabakKontroll-programmen erreicht werden können, die verschiedene Ansätze
umfassen, wie z.B. Aufklärung, radikale gesellschafts- und medienbasierte Anti-Rauch-Kampagnen, Werbeverbot, preisregulierende Maßnahmen
(Steuererhöhung), Verbot des Verkaufs an Kinder und Jugendliche,
sowie ein Rauchverbot in Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz (Jöckel et
al. 2002a; Sachverständigenrat (SVR) für die Konzertierte Aktion im
Gesundheitswesen 2002). Solche Initiativen werden auf internationaler
Ebene durch verschiedene politische Maßnahmen und Kampagnen, z.B.
in Form der „WHO Framework Convention on Tobacco Control“ u.a.
von der WHO und von der Europäischen Kommission („Feel free to say
no“-Kampagne) unterstützt. Für den Erfolg dieser Maßnahmen ist es
essentiell, verschiedene Akteure und Institutionen auf unterschiedlichen
Ebenen (z.B. Eltern, Schule, Arbeitgeber, Vereine etc.) in ihre Umsetzung
einzubinden. Auch bei Rauchentwöhnung und -reduktionsmaßnahmen hat
sich ein mehrdimensionaler Ansatz, der u.a. Nikotinersatz und psychotherapeutische Ansätze (kognitive Verhaltenstherapie) beinhaltet, die besten
Ergebnisse gezeigt (Sachverständigenrat (SVR) für die Konzertierte Aktion
im Gesundheitswesen 2002). Für eine erfolgreiche Rauchentwöhnung ist
die umfassende Unterstützung und Stärkung der Motivation des Einzelnen
durch sein soziales Umfeld von größter Bedeutung, da die eigene Motivation
das entscheidende Element darstellt.
Zusätzlich zu Rauchpräventionsmaßnahmen, beispielsweise in Form von
Aufklärung, Werbeverbot, Steuern, Rauchverbot in öffentlichen Räumen
etc. ist es wünschenswert, relevante berufliche Expositionen zu reduzieren
bzw. wenn möglich ganz zu vermeiden und gefährdete Arbeitnehmer über
relevante Schutzmaßnahmen aufzuklären.
Diese Ergebnisse unter Berücksichtigung der in der Literatur beschriebenen lassen die folgenden Schlussfolgerungen zu einem möglichen
Präventionspotential dieser Erkrankung zu: Neben der Vermeidung
oder Verringerung der etablierten Risikofaktoren beispielsweise durch
Rauchentwöhnung, Schutz vor Arbeits- und Umweltexpositionen und
Verbesserung der Ernährung sollten insbesondere bei Personen mit
familiärer Vorbelastung oder mit noch zu identifizierenden ungünstigen
t338
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Genpolymorphismen gezielte Maßnahmen hinsichtlich Primär- und
Sekundärprävention unternommen werden. So könnten möglicherweise
geeignete Aufklärungs- und Screeningmaßnahmen bei Personen mit mindestens einem an Lungenkrebs erkrankten Angehörigen, einem bestimmten
Genprofil und weiteren Risikofaktoren einen größeren Erfolg erzielen als in
der Allgemeinbevölkerung.
5. Public Health Genetik und Lungenkrebs –
Ausblick und Empfehlungen
Der Lungenkrebs ist eine weitverbreitete bösartige Neubildung und das
typische Beispiel ei-ner multifaktoriell verursachten Krebserkrankung. Die
Belastung der Bevölkerung weltweit und die ökonomischen Konsequenzen
sind entsprechend groß, während gleichzeitig die Identifikation relevanter
Risikofaktoren, abgesehen von dem Hauptrisikofaktor Rauchen, schwierig
ist. Neben dem Rauchen sind jedoch andererseits bereits eine ganze Reihe
von Faktoren – insbesondere aus dem beruflichen Umfeld – identifiziert
worden und fordern Maßnahmen zur Primärprävention und, falls dies
nicht mehr möglich ist, sozialmedizinische Konsequenzen. Substantielle
Fortschritte in Diagnostik und Therapie dieser Erkrankung lassen trotz
intensiver Bemühungen nach wie vor auf sich warten. Jedoch ist auch
weiterhin Forschung essentiell, um molekularbiologische Prinzipien, das
Zusammenspiel verschiedener Gene, Gen-Umwelt-Interaktion sowie das
Potential von Früherkennung und Therapie dieses Tumors besser zu verstehen und zu nutzen. Letztendlich sollte es das Ziel sein, potentielle Risiken zu
identifizieren und zu quantifizieren, notwendige Maßnahmen bereitzustellen
und umzusetzen, wo relevante Expositionen bereits identifiziert wurden und
die Möglichkeiten der Früherkennung und Therapie zu verbessern.
Es bleibt zu hoffen und ist zu erwarten, dass mit dem Fortschreiten der
Erkenntnisse auf molekularbiologischer und genetischer Ebene, nicht
zuletzt unterstützt durch die Bioinformatik, schließlich auch Fortschritte
in Prävention, Diagnostik und Therapie erzielt werden. Bezogen auf eine
Public Health Genetik bedeutet dieses, dass zur Reduktion der Inzidenz
dieses Krankheitsbildes der Schwerpunkt derzeit noch auf der Fortführung
und Intensivierung von klassischen, nicht-genetischen Public HealthAufgaben liegen muss, wie sie zuvor angesprochen wurden: Hier ist zum
einen die Gesundheitserziehung und Aufklärung über die Effekte bekannter Risikofaktoren zu nennen. Dabei sollten selbstverständlich über den
Lungenkrebs hinausgehend die vielfältigen Effekte der Risikofaktoren,
insbesondere des Rauchens veranschaulicht werden, d.h. es muss verdeut-
339u
Genetik-Umwelt-Interaktionen
licht werden, dass nicht nur der Lungenkrebs sondern eine Vielzahl von
Erkrankungen durch das Rauchen verursacht werden kann. Weiterhin sollten
auch andere physische Effekte, die möglicherweise gerade das Interesse
junger Menschen ansprechen (Stichwort: Hautalterung / Faltenbildung –
„Rauchen macht alt“ oder „Rauchen macht hässlich“) kommuniziert werden.
Im Rahmen der klassischen Public Health Aufgaben sind hier, wie bereits
dargestellt, die Prävention bzw. Reduktion bereits bekannter Risikofaktoren
zu nennen. Hierzu sind multidimensionale und multiprofessionelle Ansätze
erforderlich.
In Richtung der Genetik lautet die Aufforderung, auf dem derzeitigen
Kenntnisstand aufzubauen und die derzeitigen Forschungsbemühungen
fortzusetzen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es verfrüht, aus dem bisherigen,
limitierten Wissensstand bereits konkrete Handlungsempfehlungen abzuleiten, da zum einen weder relevante Gene identifiziert wurden noch
ihr Zusammenspiel untereinander und mit anderen Faktoren verstanden
ist. Eine Ausnahme bildet hier jedoch der Fall einer Vorbelastung von
Familienmitgliedern mit der Erkrankung. Diese familiäre Prädisposition
ist als potentieller Risikofaktor anzusehen und sollte als solcher auch in
Präventionsstrategien berücksichtigt und beispielsweise vom Hausarzt
oder vom behandelnden Arzt entsprechend kommuniziert werden. Hierbei
sollten Hochrisikopersonen (Rauchen + Familiäre Vorbelastung + berufliche
Exposition) besondere Aufmerksamkeit erfahren. Auch könnte in langfristig
angelegten prospektiven Studien überprüft werden, ob bislang enttäuschende
präventive und diagnostische Maßnahmen in solchen Hochrisikokollektiven
zum erhofften Erfolge führen.
Ethische und sozialgemeinschaftliche Fragen wie der Umgang der
Gesellschaft mit Personen, die rauchen, obwohl ihr Genprofil ein hohes
Riskio für den Lungenkrebs aufweist, sind einerseits aufgrund des mangelhaften Wissensstand verfrüht, sollten aber trotzdem auf allgemeiner Ebene
diskutiert werden. Dies umso mehr, als dieses kein krankheitsspezifisches
Problem sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die allgemein im
Rahmen der Public Health Genetik zu diskutieren und auf gesellschaftspolitischer Ebene zu lösen ist.
t340
Genetik in Public Health
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Genetik in Public Health
III. Genetik
in Public
Te i l 2 : Health
Integration
von Genetik in Public Health
Ethische Aspekte und gesellschaftliche Wertvorstellungen in HTA-Berichten zu genetischen
Testverfahren
Gutachten erstellt für die ZiF-Kooperationsgruppe
„Public Health Genetics“
Dagmar Lühmann, Carmen Bartel, Heiner Raspe
349u
t350
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Inhalt
III. Genetik in Public Health
Ethische Aspekte und gesellschaftliche Wertvorstellungen
in HTA-Berichten zu genetischen Testverfahren
1.
Policy Question und Fragestellungen.............................. 352
2.
Hintergrund................................................................ 354
2.1. Ethische Aspekte ........................................................ 354
2.2. Health Technology Assessment...................................... 357
3.
Methoden.................................................................. 360
3.1. Recherchen................................................................ 360
3.2. Der Leitfaden.............................................................. 362
4.
Ergebnisse................................................................. 363
4.1. Fragile-X-Syndrom....................................................... 363
4.2. Das hereditäre Mammakarzinom................................. 383
5.
5.1.
5.2.
5.3.
5.4.
5.5.
Diskussion.................................................................. 396
Wird in HTA-Berichten zur Bewertung von
genetischen Testverfahren auf die ethischen
Implikationen des Technologieeinsatzes eingegangen?..... 396
Welche ethischen und Public Health relevanten
Fragestellungen werden angesprochen?......................... 397
Welche Forschungsmethoden werden zur Bewertung
ethischer und sozialer Konsequenzen eingesetzt?............ 398
Wie werden die Ergebnisse der Bewertung von
ethischen und sozialen Implikationen bei der
Generierung von Schlussfolgerungen von
HTA-Berichten umgesetzt?............................................. 400
Gibt es Weiterentwicklungs- und / oder
Forschungsbedarf zur Integration von ethischen
Aspekten in Bewertungen genetischer Testverfahren?........ 401
Resümee............................................................................. 406
Literatur.............................................................................. 407
Rechercheergebnisse............................................................. 413
351u
H TA - B e r i c h t e
1. Policy Question und Fragestellungen
Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms, der Entdeckung
einer Vielzahl von Assoziationen von Genen und Krankheiten bzw.
Krankheitsdispositionen und der Entwicklung von akkuraten molekularbiologischen Testverfahren haben sich in den letzten Jahren die Möglichkeiten
zur Erkennung von vererbbaren Gesundheitsstörungen vervielfacht. In
der Datenbank GeneTests-GeneClinics sind über 800 genetische Tests
verzeichnet, die derzeit zur Verfügung stehen oder sich in Entwicklung
befinden. Die Interpretation von Ergebnissen genetischer Tests ist jedoch
in den seltensten Fällen klar und unproblematisch. Oftmals sind GenotypPhänotyp-Assoziationen uneindeutig. Krankheiten können mit einer
Vielzahl interagierender und zum großen Teil unverstandener genetischer
Veränderungen einhergehen und schließlich führt bei manchen Störungen
erst die Einwirkung von umweltabhängigen Faktoren zur Manifestation
der Erkrankung. Hinzu kommt, dass die Entwicklung der diagnostischen
Möglichkeiten von genetischen Störungen die Entwicklung von Therapien
weit hinter sich gelassen hat. So können eine Reihe von Erkrankungen und
Dispositionen zwar diagnostiziert, aber nicht behandelt werden. Solche
Informationen sind nicht nur kritisch für Individuen und ihre Angehörigen,
welche sich für ihren weiteren Lebensweg und möglicherweise für den der
Nachkommen mit einer Risikokonstellation auseinandersetzen müssen,
sondern auch für die Gesellschaft insgesamt. Genetische Informationen,
beispielsweise erfasst in Gendatenbanken, ausgewertet nach dem Methoden
der genetischen Epidemiologie versprechen Fortschritte bei der Aufklärung
und Bekämpfung von chronischen Krankheiten, bergen aber gleichzeitig ein
nicht zu unterschätzendes Missbrauchspotenzial. Versicherungsrechtliche
Konsequenzen von genetischen Merkmalen werden bereits diskutiert.
Vor diesem Hintergrund wird klar, dass die Entscheidung genetische
Testverfahren in die Gesundheitsversorgung einzuführen, für jeden Test sehr
sorgfältig abgewogen werden muss. Es reicht dabei nicht, die Testqualitäten,
die therapeutischen Konsequenzen und die Kostenaspekte zu diskutieren, sondern in die Bewertung von genetischen Testverfahren sind, vor
allem wegen der Tragweite der Ergebnisse, die ethischen Implikationen
(Schadensvermeidung, Wohlergehen, Autonomie und Gerechtigkeit) aus
individueller und aus Public Health Sicht zu diskutieren.
Die umfassende Beratung von Entscheidungsträgern zu Folgen eines
Technologieeinsatzes ist das zentrale Aufgabengebiet von Health Technology
Assessment. Nach der Definition des International Network of Agencies
for Health Technology Assessment (INAHTA) ist Health Technology
t352
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Assessment (HTA) eine Form der Politikfeldanalyse, die systematisch
kurz- und langfristige Konsequenzen der Anwendung einer medizinischen
Technologie, einer Gruppe verwandter Technologien oder eines technologiebezogenen Sachverhalts untersucht. Ziel von HTA ist die Unterstützung von
Entscheidungen in Politik und Praxis. Dabei haben sich seit der Initiierung
von HTA durch das OTA (Office for Technology Assessment) in den USA in
den 70er Jahren zwei Richtungen der Verfahrensbewertung entwickelt:
1. Das „Parlamentarische“ TA (PTA), dessen breit gefasste Fragestellungen
in erster Linie die gesellschaftlichen Auswirkungen von neuen technologischen Konzepten, auch in der Gesundheitsversorgung, behandeln.
Adressat für TA Berichte ist die Politik, die gesetzgebende Instanz.
2. „Health Technology Assessment“ dagegen fokussiert auf enger umschriebene Fragestellungen, die aus einem direkten Entscheidungsbedarf (z.B. für
oder gegen die Kostenübernahme für ein medizinisches Verfahren) resultieren. In diesem Kontext steht die Bewertung von Sicherheit, Wirksamkeit
und
Kosteneffektivität der Verfahren im Vordergrund. Es besteht jedoch
Konsens, dass auch die Bewertung von ethischen, rechtlichen und sozialen
Konsequenzen des Technologieeinsatzes notwendiger Bestandteil von HTA
ist, insbesondere wenn diese Aspekte im Zusammenhang mit der zu bewertenden Technologie kontrovers diskutiert werden. HTA bietet so zumindest das Potenzial, Entscheidungsträger umfassend zu den Folgen eines
Technologieeinsatzes zu informieren. Vorarbeiten haben jedoch gezeigt,
dass zumindest für Kurz-HTA-Verfahren diese Anforderung nur selten
umgesetzt wird.
Der vorliegende Bericht soll sich an zwei Beispielen mit folgenden Fragen
auseinandersetzen:
n Wird in HTA-Berichten zur Bewertung von genetischen Testverfahren auf
die ethischen Implikationen des Technologieeinsatzes eingegangen?
n Welche ethischen Fragestellungen, Theorien und Konzepte werden angesprochen?
n Welche Forschungsmethoden werden zur Bewertung ethischer und sozialer
Konsequenzen eingesetzt?
n Wie werden die Ergebnisse der Bewertung von ethischen und sozialen
Implikationen bei der Generierung von Schlussfolgerungen von HTABerichten umgesetzt?
n Gibt es Weiterentwicklungs- und / oder Forschungsbedarf zur Integration
von ethischen Aspekten in Bewertungen genetischer Testverfahren?
353u
H TA - B e r i c h t e
2. Hintergrund
2.1.Ethische Aspekte
Um eine Bestandsaufnahme ethischer Überlegungen in HTA-Berichten
durchführen zu können, müssen erst einige im Weiteren verwendete Begriff­
lich­kei­ten klar gestellt werden:
Nach Burke et al. ist ein „genetischer Test“ jeder Labortest, der benutzt wird,
um eine erbliche Veranlagung zu identifizieren – nicht nur DNA-basierte
Analyseverfahren (Burke, Atkins, Gwinn, et al. 2002). Ähnlich definiert
auch das Institut für Technikfolgenabschätzung (ITA) der österreichischen
Akademie der Wissenschaften in ihrem HTA-Bericht zu „Prädiktiver
humangenetischer Diagnostik“ diesen Begriff, er steht für eine Vielzahl
verschiedener Labormethoden. Sie grenzen davon den Ausdruck „genetische
Diagnostik“ ab: Damit wird der Einsatz besonderer Untersuchungsverfahren
zur Identifikation einer genetischen Krankheitsdisposition bei einer
ausgesuchten Person beschrieben, die beispielsweise auf Grund ihrer
Familienanamnese ein erhöhtes Risiko hat (Jonas et al. 2002).
Um „ethische Aspekte“ im weitesten Sinne in HTA-Berichten zu identifizieren, wurde eine einfache, pragmatische Erklärung dieses Begriffs benötigt.
Droste, Gerhardus und Kollek (2003) haben hierzu eine Arbeitsdefinition
geliefert:
„… Ethik ist – kurz gesagt- die Theorie vom richtigen Handeln. Sie reflektiert und überprüft die Richtigkeit menschlichen Handelns, das von den
gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Normen, die in einer bestimmten
Kultur soziale Geltung erlangt haben, geprägt wird. Im Kontext dieser Studie werden deshalb als „ethische Aspekte“ und gesellschaftliche
Wertvorstellungen diejenigen Bestandteile eines Kurz-HTA-Berichtes verstanden, die sich auf die Bewertung medizinischen Handelns beziehen und
die explizit oder implizit auf ethische Prinzipien und/oder auf Begriffe und
Kategorien Bezug nehmen, die von diesen Prinzipien abgeleitet sind oder
ihnen zugrunde liegen….“
Ein simples Schema zur Identifikation von „ethischen Aspekten“ schlagen
Beauchamp und Childress vor (Beauchamp, Childress 1994): Autonomie
einschließlich Achtung vor der Person und ihrer Selbstbestimmung,
Wohltun, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit. Diese eher individuumsbezogenen Prinzipien reichen allerdings nicht aus, um Public Health relevante
ethische Betrachtungen abzubilden. Hierzu schlägt Brand (2002) fünf
weitere Prinzipien vor: Verhältnismäßigkeit, Befähigungsgerechtigkeit,
t354
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Bürgerbeteiligung, umfassende Sicherheit der Gesundheitsversorgung und
Verantwortlichkeit des Einzelnen.
Wie gelangt man von den Prinzipien zu einer ethischen Bewertung? Nach
Marckmann (2003) stehen bei Beauchamp und Childress die ersten vier
Aspekte der o. g. Liste zunächst gleichberechtigt nebeneinander, sie haben
keine absolute moralische Geltung und müssen im Falle eines Konflikts
gegeneinander abgewogen werden. Diese Gewichtung soll mit gut begründeten Argumenten erfolgen. Die Ordnung nach den Prinzipien gibt keine
schematischen Lösungen ethischer Probleme vor und lässt Raum für
Interpretationen. Sie hilft allerdings, den Konflikt in der konkreten Situation
herauszuarbeiten (Marckmann 2003).
Im Zusammenhang mit prädiktiven genetischen Tests wird eine sorgfältige
Diskussion von ethischen Aspekten gefordert, unter anderem:
n weil die Informationen durch die Gefährdung der sozialen und biologischen
Existenzintegrität und ihr Diskriminierungspotential (zur Zeit noch) einen
schicksalhaften Charakter für das Individuum haben,
n weil die Ergebnisse genetischer Tests aufgrund variabler Genotyp-PhänotypKorrelationen und (noch) fehlender Informationen häufig niedrige prädiktive Werte liefern, was einen hohen Anteil falsch positiver Testergebnisse
bedeutet. Hieraus erwächst ein nicht zu unterschätzender Interpretationsund Bewertungsbedarf,
n weil vererbbare genetische Informationen Rückschlüsse vom Einzelnen auf
die Familie (ggf. auf ganze Populationen) erlauben, also Dritte betreffen.
Für den bundesdeutschen Kontext wird von der Bundesärztekammer, der
DFG und der deutschen Gesellschaft ein normativer Hintergrund für den
Einsatz von prädiktiven genetischen Testverfahren skizziert.
Die Richtlinien der Bundesärztekammer sind im Vergleich zu den Leitlinien
der verschiedenen wissenschaftlichen Gesellschaften und Berufsverbände
rechtsverbindlich. In der Richtlinie der Bundesärztekammer zur „Diagnostik
der genetischen Disposition für Krebserkrankungen“ vom 29. Mai 1998
wird ein Bevölkerungsscreening zu diesen Krankheiten abgelehnt, weil die
hereditären Tumorerkrankungen höchstens 10% aller Malignome ausmachen. Sie fokussiert auf die Früherkennung innerhalb der Familie, wenn
nach Identifizierung eines Indexpatienten die genetische Disposition als
wahrscheinlich angenommen werden kann. Folgende Voraussetzungen
müssen für ein solches Risikogruppenscreening gegeben sein: Die zu
testende Person sollte volljährig sein. Ein Minderjähriger darf nur gete-
355u
H TA - B e r i c h t e
stet werden, wenn durch den frühen Beginn einer Vorsorge/ Behandlung,
die Krankheit verhindert werden kann. Die Bundesärztekammer verlangt
außerdem ein interdisziplinäres, fachlich qualifiziertes Ärzteteam, das eine
angemessenen Beratung sicher stellen und den Ratsuchenden auch über die
Möglichkeit nicht zu interpretierender Testergebnisse und das Risiko in der
Allgemeinbevölkerung informieren kann.
In der Richtlinie der Bundesärztekammer zur „Pränatalen Diagnostik von
Krankheiten und Krankheitsdispositionen“ (1998) wird festgehalten, dass
die Einführung der pränatale Diagnostik in erster Linie dazu dient, die perinatale Morbidität und Mortalität zu senken und die Abklärung besonderer
genetischer Risiken im Einzelfall zu ermöglichen. In der Richtlinie wird
betont, dass keine Maßnahme der pränatalen Diagnostik einer eugenischen
Zielsetzung folgen darf. Ethische Aspekte werden hier explizit angesprochen, z.B. die Nutzen- und Risiko-Abwägung für Mutter und Kind als auch
der Respekt vor der Entscheidung der Schwangeren. Zentrales Problem der
pränatalen Diagnostik ist der
(mögliche) Schwangerschaftsabbruch, der mit dem Tötungsverbot im
Konflikt steht. Aber auch die Risiken einer (invasiven) Diagnostik für das
Kind, die nicht notwendigerweise zum Tod führen, sollten berücksichtigt
werden.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) äußert sich in ihrer
„Stellungnahme zur prädiktiven genetischen Diagnostik“ zuerst zu
Sachfragen wie den genetischen Grundlagen als auch der Anwendung und
Interpretation genetischer Tests. In einem eigenen Kapitel wendet sich
die DFG ethischen und rechtlichen Aspekten der prädiktiven genetischen
Diagnostik zu. Hier werden die wichtigsten vorgestellt: Die DFG schlägt
einen Arztvorbehalt für das Angebot genetischer Testverfahren vor. Dieser
soll durch die Sicherstellung einer qualifizierten Beratung die Autonomie
der Ratsuchenden schützen (Befähigung zum „informed consent“ / „informed refusal“). Des Weiteren fordert sie, die Qualitätssicherung der genetischen Testverfahren zu regeln.
Die DFG führt die vier ethischen Aspekte (Autonomie, Wohlergehen,
Nicht-Schaden und Gerechtigkeit) an und beschreibt mögliche Folgen der
Technologieeinführung. Sie sieht ein Schadenspotenzial: Die Gefahr der
Diskriminierung im Rahmen von Kranken- oder Lebensversicherungen
als auch im Beruf ist offensichtlich. Sie diskutiert die Gerechtigkeit im
Hinblick auf den Zugang zu genetischen Tests und die Kostenübernahme
für diese Verfahren. Weiterhin argumentiert sie, dass die Autonomie eines
t356
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Ratsuchenden durch den oben erwähnten Arztvorbehalt nicht eingeschränkt
sondern gestärkt wird.
Die Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und Ethik der Gesellschaft für
Humangenetik e. V. (GfH) äußert sich in ihrem Positionspapier wie folgt:
Sie betont die Wichtigkeit der vier Prinzipien (Autonomie, Gerechtigkeit
im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes, Nicht-Schaden und Wohlergehen)
bei der humangenetischen Beratung. Sie erklärt, dass sie die Autonomie
und Selbstbestimmung von Patienten und deren Familien fördern will, und
spricht sich ausdrücklich gegen eugenische Intentionen aus. Zudem verweist
sie auf die ärztliche Schweigepflicht und Vertraulichkeit, aber auch auf den
möglichen Konflikt, Schaden für Dritte (Familienangehörige) zu verhindern
versus der Schweigepflicht gegenüber dem Ratsuchenden (GfH 1996).
Fazit:
Unter „Ethischen Aspekten“ werden diejenigen Bestandteile eines
HTA-Berichtes verstanden, die sich auf die Bewertung medizinischen
Handelns beziehen und die explizit oder implizit auf ethische Prinzipien
und/oder auf Begriffe und Kategorien Bezug nehmen, die von diesen
Prinzipien abgeleitet sind oder ihnen zugrunde liegen. Einen pragmatischen Ansatz zur Identifikation von ethischen Problemen im Kontext eines
Technologieeinsatzes, zu ihrer Beschreibung und zur Vorbereitung der
ethischen Diskussion liefert der „4-Prinzipien“ Ansatz von Beauchamp und
Childress. Aus der Public Health Perspektive sind darüber hinaus die Aspekte
„Verhältnismäßigkeit“, „Befähigungsgerechtigkeit“, „Verantwortlichkeit des
Einzelnen“ und „Bürgerpartizipation“ von Relevanz.
2.2.Health Technology Assessment
Health Technology Assessment (HTA) ist per Definitionem „eine Form der
Politikfeldanalyse, die systematisch kurz- und langfristige Konsequenzen
der Anwendung einer medizinischen Technologie, einer Gruppe verwandter
Technologien oder eines Technologiebezogenen Sachverhalts untersucht….“
(Banta 1997). Dabei werden die Folgen des Technologieeinsatzes aus
unterschiedlichen Perspektiven untersucht. Ein umfassendes „Assessment“
nimmt Bewertungen der Sicherheit einer Technologie (für Patienten und
Anwender), ihrer „medizinischen Wirksamkeit“ (unter Studien- und
Alltagsbedingungen), ihres Entwicklungs- und Diffusionsstandes sowie der
organisatorischen Einbettung in das Versorgungssystem, ihren psycho-sozialen Konsequenzen und ihren rechtlichen und ethischen
Implikationen vor. Die Vielfalt der Perspektiven weist auf ein weiteres
Charakteristikum von HTA: die Multidisziplinarität. Das übergeordnete Ziel
357u
H TA - B e r i c h t e
von HTA ist immer die Unterstützung von Entscheidungen in Politik und
Praxis.
Die Wurzeln von HTA liegen in den Arbeiten des „Office for Technology
Assessment“ (OTA) in den USA. Dort wurden seit Mitte der 60er Jahre
multidisziplinäre Technikfolgenabschätzungen vorgenommen, für solche
Technologien, für die gesamtgesellschaftliche Auswirkungen anzunehmen
waren (z.B. Umwelt-, Verkehrs-, Weltraum-, Informationstechnologien). Mit
der Einführung eines Gesundheitsprogramms 1976 wurde die Grundlage des
eigentlichen „Health Technology Assessments“ gelegt. HTA hat sich seitdem
in zwei Richtungen weiter entwickelt, die zwar häufig die gleichen Themen,
diese aber aus unterschiedlichen Perspektiven bearbeiten, sie sind somit
komplementär zu sehen.
An Themen der Gesundheitsversorgung, aber in der Tradition der klassischen Technikfolgenabschätzung arbeiten die so genannten parlamentarischen TA Institutionen (in Deutschland, zum Beispiel, das Büro
für Technikfolgenabschätzung des deutschen Bundestages). Sie befassen
sich in der Regel mit Technologien oder Gruppen von Technologien in
einem frühen Entwicklungsstadium, vor der breiten Implementation in
die Gesundheitsversorgung. Die direkt an die Politik (legislative Ebene)
gerichtete Bewertung zielt in erster Linie auf die sozialen und juristischen Auswirkungen des Technologieeinsatzes und benennt ethische
Problemfelder. TA setzt in erster Linie sozialwissenschaftliche qualitative
Methoden ein.
Ebenfalls auf der Grundlage der OTA Arbeiten hat sich das „Health
Technology Assessment“ oder das „pragmatische“ HTA entwickelt. Im
Gegensatz zum parlamentarischen TA sind die Adressaten für diese Art von
Verfahrensbewertung Entscheidungsträger auf unterschiedlichen Ebenen
innerhalb der Gesundheitssysteme. HTA-Berichte fokussieren vor allem
auf klinische und ökonomische Technologiefolgen. Soziale, rechtliche
und ethische Implikationen gehören zwar zu den Anforderungen an ein
vollständiges Assessment, nehmen aber in der Praxis einen eher untergeordneten Stellenwert ein. HTA wird von einer Vielzahl abhängiger und
unabhängiger öffentlich und privat finanzierter Institutionen durchgeführt.
Dabei haben vor allem im Bereich Methodenentwicklung internationale
Zusammenarbeiten auf dem öffentlich rechtlichen Sektor (z.B. INAHTA
– International Network of Agencies for Health Technology Assessment, ein
Netzwerk von öffentlich finanzierten HTA-Institutionen; ECAHI – European
Collaboration for Assessment of Health Interventions) Bedeutung erlangt.
ECAHI schlägt für HTAs ein methodisches Vorgehen in 7 Schritten vor:
t358
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Am Anfang steht immer die „Policy Question“, die den Informationsbedarf,
der durch das Assessment gedeckt werden soll, im gesundheitspolitischen
Kontext beschreibt. Es folgen die Erstellung eines wissenschaftlichen
Protokolls und die Aufarbeitung des Hintergrundes, die zur Formulierung
von präzisen Forschungsfragen führen. Diese werden in systematischen
Informationsaufarbeitungen (systematische Reviews) zu den Aspekten
Sicherheit, Wirksamkeit, soziale und ethische Implikationen, Organisation
und Ökonomie behandelt. Dabei wird im Rahmen von HTA in erster Linie
auf bereits bestehende Informationen zurückgegriffen. Nur in Einzelfällen
werden Primärstudien durchgeführt. An die Informationssynthese und die
Ableitung von Schlussfolgerungen schließt sich ein Peer-Review-Prozess
und die Veröffentlichung der Ergebnisse an.
Formulierung der Policy Question
Vorbereitung eines HTA-Protokolls
Aufarbeitung der Hintergrundinformationen /
Bestimmung des Status der Technologie
Formulierung der Forschungsfragen
Sicherheit
Wirksamkeit
Quellen
Bewertung
Synthese
Quellen
Bewertung
Synthese
Soziale/ethische Folgen
Quellen
Bewertung
Synthese
Organisation
Ökonomie
Quellen
Bewertung
Synthese
Quellen
Bewertung
Synthese
Schlussfolgerungen / Empfehlungen
Peer Review und Veröffentlichung(en)
Abbildung 1:
Schritte im HTA
Prozess (Busse &
Orvain 2002)
Bei der Durchsicht von Methodenpapieren und Handbüchern zu HTA wird
ein Problem offensichtlich: Während die meisten Werke die Berücksichtigung
von „ethischen Implikationen“ als essentiellen Bestandteil von HTA würdiBei der Durchsichtgen,
von Methodenpapieren
und Handbüchern
zu HTA wird
ein Problem
gibt es nur vereinzelte
und ungenaue
Hinweise,
wie offensichtlich:
eine derartige
Während die meisten Werke die Berücksichtigung von "ethischen Implikationen" als essentiellen BeBewertung inhaltlich und methodisch umgesetzt werden soll. Es ist daher
standteil von HTA würdigen, gibt es nur vereinzelte und ungenaue Hinweise, wie eine derartige Benicht verwunderlich, dass eine systematische Durchsicht von Kurz-HTAwertung inhaltlich und methodisch umgesetzt werden soll. Es ist daher nicht verwunderlich, dass eine
Berichten (Droste, Gerhardus, Kollek 2003) feststellen konnte, dass von insAbbildung 1: Schritte im HTA Prozess (Busse & Orvain 2002)
systematische Durchsicht von Kurz-HTA-Berichten (Droste, Gerhardus, Kollek 2003) feststellen
konnte, dass von insgesamt 282 verfügbaren Assessments weniger als 10% der Berichte ethische Aspekte explizit in die Bewertung einbezogen haben. Weitere 10% befassten sich zumindest implizit mit
der Thematik. Eine systematische Methodik zur Bewertung ethischer Implikationen wurde auch in
diesen Berichten nicht erkennbar. Die Autoren stellten fest, dass möglicherweise die Bewertung von
ethischen Aspekten ausführlichen HTA-Berichten (im Gegensatz zum Kurz-Bericht) vorbehalten sei.
Andererseits könnte das von Droste et al. beschriebene Defizit auch an der fehlenden thematischen
Selektion der analysierten Kurz-HTA-Berichte liegen. Nicht bei allen medizinischen Technologien
359u
H TA - B e r i c h t e
gesamt 282 verfügbaren Assessments weniger als 10% der Berichte ethische
Aspekte explizit in die Bewertung einbezogen haben. Weitere 10% befassten
sich zumindest implizit mit der Thematik. Eine systematische Methodik zur
Bewertung ethischer Implikationen wurde auch in diesen Berichten nicht
erkennbar. Die Autoren stellten fest, dass möglicherweise die Bewertung
von ethischen Aspekten ausführlichen HTA-Berichten (im Gegensatz zum
Kurz-Bericht) vorbehalten sei.
Andererseits könnte das von Droste et al. beschriebene Defizit auch an der
fehlenden thematischen Selektion der analysierten Kurz-HTA-Berichte liegen. Nicht bei allen medizinischen Technologien spielt die Bewertung von
ethischen Aspekten eine gleichermaßen wichtige Rolle. Im Zusammenhang
mit der Einführung von genetischen Testverfahren, insbesondere im Kontext
von Screeningprogrammen, sind sie jedoch wesentlich. Die folgende Analyse
soll daher feststellen, in wieweit HTA-Berichte zu genetischen Testverfahren
ethische Aspekte bei der Verfahrensbewertung berücksichtigen und mit welchen Methoden dies erreicht wird.
3. Methoden
3.1.Recherchen
Die Beantwortung der oben skizzierten Fragestellungen wurde an HTABerichten zu zwei exemplarisch ausgewählten Themen vorgenommen. Die
Auswahl der Themen erfolgte nach folgenden Kriterien:
n monogenetische Störung, mit DNA-basierten Testverfahren zu diagnostizieren;
n mehrere ausführliche, im Volltext verfügbare HTA-Berichte (keine „Rapid
Assessments“, keine „Technology Briefs“) aus unterschiedlichen Ländern
zum Thema zugänglich;
n spezifische, entscheidungsrelevante Fragestellung (kein PTA mit übergreifender Perspektive)
Eine Recherche nach HTA-Berichten wurde in der HTA-Database des
„Center for Reviews and Dissemination“, York, UK (CRD) und im (inzwischen abgeschafften) Recherchesystem „NLM-Gateway“ der National
Library of Medicine durchgeführt.
Neben der kostenpflichtigen (und von uns nicht recherchierten) ECRIDatenbank ist die HTA-Datenbank des CRD die umfassendste Quelle
für HTA-Berichte. In sie werden regelmäßig vollständige HTA-Berichte,
t360
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Kurzberichte, Systematische Literaturübersichten und Protokolle aus 56
verschiedenen, öffentlich finanzierten HTA-Institutionen, darunter die
Mitgliederorganisationen des INAHTA (International Network of Agencies
for Health Technology Assessment), gestellt.
Es wurde eine bewusst einfache Suchstrategie verwendet, um eine hochsensitive Suche zu erhalten. Als Stichworte für die Datenbankrecherchen
wurden die Begriffe „genetic OR genom*/All fields OR chromosome OR
chromosomal/All fields AND screening OR diagnostic test /All fields“ eingesetzt.
Die Recherche erzielte 77 Treffer, von denen 41 auf den ersten Blick
ausgeschlossen werden konnten (13 Hinweise auf laufende Projekte; 28
Referenzen zu Gentherapie, rein technischen Verfahrensbewertungen oder
themenfremde Arbeiten). So kamen 36 Arbeiten in die engere Auswahl (s.
Anhang 1). Insgesamt wurden 19 unterschiedliche Themen in den 36 HTA
Reports angesprochen:
Thema
n Berichte*
aus n Institutionen
Ewing Sarkom
1
1
Neuroblastom
1
1
Zystische Fibrose
2
2
Down Syndrom
1
1
"Fetale Chromosomenanomalien"
5
5
Fragile-X-Syndrom
5
3
"Erbliche Krebserkrankungen"
1
1
Kolorektales Karzinom
2
2
Mamma-Karzinom
2
2
Prostatakarzinom
1
1
"Erbkrankheiten"
1
1
Hereditäre Thrombophilie
1
1
Hämochromatose
4
3
Familiäre Tyrosinämie
1
1
"Genetisches Screening";
DNA-Diagnostik
4
2
Ovarialkarzinom
2
2
Muskeldystrophie Duchenne-Becker
1
1
Myotone Dystonie
1
1
Tabelle 1:
HTA-Berichte zu
genetischen Testverfahren.
* Die Zahl der
gelisteten Themen
stimmt nicht mit
der oben genannten
Referenzzahl überein,
da einige Berichte
mehr als ein Thema
behandeln.
Tabelle 1: HTA-Berichte zu genetischen Testverfahren. * Die Zahl der gelisteten Themen stimmt nicht mit
der oben genannten Referenzzahl überein, da einige Berichte mehr als ein Thema behandeln.
Die Ergebnisse der NLM-Gateway-Recherche lieferten zwar eine große
Menge an Hintergrundliteratur und Einzelstudien, Hinweise auf weitere
Die Ergebnisse derHTA-Berichte
NLM-Gateway-Recherche
lieferten
eine große Menge
an Hintergrundliterakonnten ihr
nichtzwar
entnommen
werden.
Da das Gatewaytur und Einzelstudien, Hinweise auf weitere HTA-Berichte konnten ihr nicht entnommen werden. Da
das Gateway-System inzwischen nicht mehr angeboten wird, haben wir auf eine detaillierte Darstellung der Recherche verzichtet.
Unsere Rechercheergebnisse können nicht als "repräsentativ" für die Gesamtzahl der publizierten
HTA-Berichte zu genetischen Testverfahren angesehen werden. Wir haben auf eine Recherche nach
kommerziell erstellten HTA-Berichten verzichtet und außerdem keinen Versuch unternommen, PTABerichte zu genetischen Testverfahren aufzufinden. Kommerzielle HTA-Berichte werden häufig mit
361u
H TA - B e r i c h t e
System inzwischen nicht mehr angeboten wird, haben wir auf eine detaillierte Darstellung der Recherche verzichtet.
Unsere Rechercheergebnisse können nicht als „repräsentativ“ für die
Gesamtzahl der publizierten HTA-Berichte zu genetischen Testverfahren
angesehen werden. Wir haben auf eine Recherche nach kommerziell erstellten HTA-Berichten verzichtet und außerdem keinen Versuch unternommen,
PTA-Berichte zu genetischen Testverfahren aufzufinden. Kommerzielle
HTA-Berichte werden häufig mit einer sehr speziellen Fragestellung für
den Auftraggeber erstellt, so dass die Public Health Perspektive nur einen
untergeordneten Stellenwert einnimmt. In der Regel sind diese Berichte
auch nicht kostenfrei zugänglich. Auf die Recherche nach PTA wurde verzichtet, weil ihre Fragestellungen selten auf die Information von konkreten
Entscheidungen zugeschnitten sind. Sie beschäftigen sich zwar häufig mit
ethischen und gesellschaftlichen Technikfolgen, räumen aber konkreten
Aussagen zu Sicherheit und Wirksamkeit eines Technologieeinsatzes eher
wenig Raum ein (Hennen 2001).
Zur exemplarischen Analyse wurden die Themen „Fragile-X-Syndrom“ und
„Mamma-Karzinom“ ausgewählt. Für „Fetale Chromosomenanomalien“
lagen zwar mehr Berichte vor, allerdings waren die zum Screening verwendeten Verfahren so heterogen (zytogenetische Methoden, DNA-basierte
Methoden, Nachweis von Stoffwechselprodukten), dass uns eine vergleichende Analyse der ethischen Implikationen nicht zielführend erschien.
Alle ausgewählten Berichte zu den beiden Beispielthemen konnten im
Volltext von den Internetseiten der erstellenden Institutionen heruntergeladen werden.
Die strukturierte Erfassung der ethischen Aspekte in den genannten HTABerichten wurde mithilfe eines Leitfadens durchgeführt.
3.2.Der Leitfaden
Als Hilfsmittel für die Analyse der HTA-Berichte wurde ein Leitfaden
entworfen, der für jeden Bericht einzeln zur Dokumentation folgender
Aussagen eingesetzt wurde:
n Policy Question
n Beschreibung der zu bewertenden Technologie (Test und Substrat; analytische Testcharakteristika)
n Beschreibung der Erkrankung bzw. des Erkrankungsrisikos, zu deren
Erkennung der Test eingesetzt wird;
t362
der erstellenden Institutionen heruntergeladen werden.
Die strukturierte Erfassung der ethischen Aspekte in den genannten HTA-Berichten wurde mithilfe
eines Leitfadens durchgeführt.
3.2
Der Leitfaden
G e n e tder
i k füri njeden
P uBeblic Health
Als Hilfsmittel für die Analyse der HTA-Berichte wurde ein Leitfaden entworfen,
richt einzeln zur Dokumentation
folgender Aussagen eingesetzt
Te i l 2 :wurde:
Integration von Genetik in Public Health
•
Policy Question
•
Beschreibung der zu bewertenden Technologie (Test und Substrat; analytische Testcharakten Indikationsstellung für den Testeinsatz (Screening oder diagnostische
ristika)
•
Beschreibung der Erkrankung bzw. des Erkrankungsrisikos, zu deren Erkennung der Test
n im HTA-Bericht diskutierte Folgen des Technologieeinsatzes (physisch,
eingesetzt wird;
•
Indikationsstellung für den Testeinsatz (Screening oder diagnostische Maßnahme)
•
im HTA-Bericht diskutierte Folgen des Technologieeinsatzes (physisch, psychisch, sozial,
ökonomisch für die Zielperson, das familiäre und weitere soziale Umfeld und für die GesellAbschließend erfolgt die Einordnung der angesprochenen ethischen Aspekte
schaft).
Maßnahme)
psychisch, sozial, ökonomisch für die Zielperson, das familiäre und weitere
soziale Umfeld und für die Gesellschaft).
nach den Prinzipien von Beauchamp und Childress, die Feststellung, ob
eine Diskussion der ethischen Implikationen vorgenommen wurde und
Abschließend erfolgt die Einordnung der angesprochenen ethischen Aspekte nach den Prinzipien von
welche Auswirkungen diese Diskussion auf die Schlussfolgerung der HTABeauchamp und Childress, die Feststellung, ob eine Diskussion der ethischen Implikationen vorgeBerichte, d.h. auf die Beantwortung der Policy Question hat.
nommen wurde und welche Auswirkungen diese Diskussion auf die Schlussfolgerung der HTABerichte, d.h. auf die Beantwortung der Policy Question hat.
4. Ergebnisse
4
Ergebnisse
4.1
4.1.Fragile-X-Syndrom
Fragile-X-Syndrom
Zum Thema Fragile-X-Syndrom waren fünf HTA-Berichte aus drei ver-
schiedenen Institutionen
unserem Rechercheergebnis
enthalten.
Dabeiinist
Zum Thema Fragile-X-Syndrom
waren fünfinHTA-Berichte
aus drei verschiedenen
Institutionen
unserem Rechercheergebnis
enthalten. Dabei
besonders
interessant,
drei Berichte
aus dem
besonders interessant,
dassistdrei
Berichte
aus demdass
gleichen
HTA-Programm
gleichen HTA-Programm
aus Großbritannien
stammen
aufeinander aufbauen.
aufbauen.
aus Großbritannien
stammen
und und
zumzum
TeilTeil
aufeinander
Titel
Jahr
Land
Institution
Umfang
Screening for fragile X syndrome
1997
GB
NCCHTA
84 S.
An assessment of screening strategies for fragile X syndrome in
the UK
2001
GB
NCCHTA
101 S.
Screening for fragile X syndrome: a literature review and modelling study
2003
GB
NCCHTA
132 S.
Le Syndrome du X-Fragile: La Place du diagnostic moléculaire
et du dépistage dans une Approche intégrée des Services.
2001
CA
AETMIS
244 S.
Tabelle 2:
HTA-Berichte
zum Fragile-XSyndrom
(Fragile X Syndrome: The role of molecular diagnosis and
screening in an integrated approach to services.)
Genetic tests for fragile X syndrome
2002
Aus
MSAC
60 S.
Tabelle 2: HTA-Berichte zum Fragile-X-Syndrom
Legende: + Informationen direkt angegeben; (+) Information indirekt berichtet; - keine
Information angegeben
Methoden
1 Murray, Cuckle, Taylor, et al. (1997)
11
2 Pembrey, Barnicoat, Carmicheal, et al. (2001)
3 Song, Barton, Sleightholme, et al. (2003)
4 Medical Services Advisory Committe (2002)
5 Blancquaert, Caron (2002)
363u
H TA - B e r i c h t e
4.1.1. Policy Question
4.1.1.1. Policy Question
Folgt man der Definition von HTA von Liberati (1997), dann sind alle
vorliegenden fünf Berichte zum Fragile-X-Syndrom eindeutig „pragma4.1.1 HTA-Berichte.
Policy QuestionSie
/ Beschreibung
derder
Krankheit
/Beschreibung
Technologie
tische“
wurden mit
Zielsetzung
erstellt, der
gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern valide Informationen zum Nutzen
4.1.1.1 Policy Question
genetischer Screeningstrategien nach Fragile-X-Mutationen zu liefern. Für
man der
von HTA von
Liberatilässt
(1997),
sind alle vorliegenden fünf Berichte zum
denFolgt
Kontext
derDefinition
fünf vorliegenden
Berichte
sichdann
„Entscheidungsträger“
Fragile-X-Syndrom eindeutig "pragmatische" HTA-Berichte. Sie wurden mit der Zielsetzung erstellt,
mit „Kostenträger“ gleichsetzen, da alle Berichte aus Ländern mit staatlich
gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern valide Informationen zum Nutzen genetischer Screefinanzierten Gesundheitssystemen stammen.
ningstrategien nach Fragile-X-Mutationen zu liefern. Für den Kontext der fünf vorliegenden Berichte
lässt sich "Entscheidungsträger" mit "Kostenträger" gleichsetzen, da alle Berichte aus Ländern mit
Diestaatlich
Differenziertheit
eigentlichen gesundheitspolitischen
Fragestellungen
finanziertender
Gesundheitssystemen
stammen.
(Policy
Questions) ist dabei unterschiedlich. Legt man die Anforderungen an
Die Differenziertheit der eigentlichen gesundheitspolitischen Fragestellungen (Policy Questions) ist
dendabei
Informationsgehalt
einer
Question“ander
Group 4einer
des "Policy Question"
unterschiedlich. Legt
man„Policy
die Anforderungen
denWorking
Informationsgehalt
ECAHI
Projektes
zugrunde,
nur die drei
Berichte
aus dem
der Working
Group
4 des erfüllen
ECAHI Projektes
zugrunde,
erfüllen
nurNCCHTA
die drei Berichte aus dem
alleNCCHTA
Anforderungen:
alle Anforderungen:
T
Frage
Tabelle 3:
Policy Questions,
Fragile-X-Syndrom:
NCCHTA
19971
NCCHTA
20012
NCCHTA
20033
MSAC4
AETMIS5
Wer initiierte den Report?
(+)
(+)
(+)
(+)
(+)
Wer finanzierte den Report?
(+)
(+)
(+)
(+)
(+)
Warum wird die Bewertung jetzt
gebraucht?
+
+
+
-
+
Welche Entscheidung soll unterstützt werden?
+
+
+
+
-
Wer sind die Adressaten?
+
+
+
+
-
A
u
e
v
Tabelle 3: Policy Questions, Fragile-X-Syndrom:
Legende:
+ Informationen
direkt
angegeben;
(+)(+)
Information
indirekt
berichtet;
- keine
Legende:
+ Informationen
direkt
angegeben;
Information
indirekt
berichtet;
- keine Information angegeben
Information angegeben
1 Murray, Cuckle, Taylor, et al. (1997)
4
D
d
T
w
1 Murray, Cuckle, Taylor, et al. (1997)
2 Pembrey, Barnicoat, Carmicheal, et al. (2001)
2 Pembrey, Barnicoat, Carmicheal, et al. (2001)
3 Song, Barton, Sleightholme, et al. (2003)
3 Song,
Barton,
Sleightholme,
et al. (2003)
4 Medical
Services
Advisory Committe
(2002)
5 Blancquaert,
Caron
(2002) Committe (2002)
4 Medical
Services
Advisory
t364
F
d
D
z
5 Blancquaert, Caron (2002)
Die Fragen nach Auftraggeber und Geldgeber für die Assessments werden in den Berichten, mit Ausnahme des AETMIS Berichtes, nicht explizit erwähnt. Bei den herausgebenden Einrichtungen handelt
Die Fragen nach Auftraggeber und Geldgeber für die Assessments werden in
es sich jedoch durchweg um Behörden, die zumindest mittelbar an die staatlichen Gesundheitssysteme
den Berichten, mit Ausnahme des AETMIS Berichtes, nicht explizit erwähnt.
angebunden sind, und daher die Projekte aus öffentlichen Mitteln finanzieren. Die Berichte aus dem
BeiNCCHTA
den herausgebenden
Einrichtungen
handelt
sich
jedoch durchweg
um als Auftragsforund der australische
Bericht wurden
vones
den
herausgebenden
Institutionen
Behörden,
die zumindest
mittelbar an dievergeben.
staatlichen
Gesundheitssysteme
schungsprojekte
an Universitätsabteilungen
Der AETMIS
Bericht entstand innerhalb eines
angebunden
sind, und daher
die Projekte
aus öffentlichen
Mitteln
finanzieForschungsprogramms
zur Evaluation
genetischer
Testverfahren
durch
eine agentureigene Forren.schungsabteilung.
Die Berichte aus dem NCCHTA und der australische Bericht wurden
•
vonAETMIS
den herausgebenden
alsdie
Auftragsforschungsprojekte
an
gibt keine präziseInstitutionen
Entscheidung an,
durch den Report vorbereitet werden
soll. Die übri-
V
b
w
H
gen Berichte sollten Entscheidungsträger informieren, ob, und wenn ja, in welcher Form staatlich finanzierte Screeningprogramme für das Fragile-X-Syndrom eingeführt werden sollen. Dabei wird
schon in der "Policy Question" angedeutet, welche Dimensionen von Technologiefolgen dabei angesprochen werden sollen.
Ergebnisse
12
•
•
•
•
•
(
"
F
s
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Universitätsabteilungen vergeben. Der AETMIS Bericht entstand innerhalb
eines Forschungsprogramms zur Evaluation genetischer Testverfahren durch
eine agentureigene Forschungsabteilung.
AETMIS gibt keine präzise Entscheidung an, die durch den Report vorbereitet werden soll. Die übrigen Berichte sollten Entscheidungsträger
informieren, ob, und wenn ja, in welcher Form staatlich finanzierte
Screeningprogramme für das Fragile-X-Syndrom eingeführt werden sollen.
Dabei wird schon in der „Policy Question“ angedeutet, welche Dimensionen
von Technologiefolgen dabei angesprochen werden sollen.
NCCHTA, 1997
Effizienz: Senkung der Prävalenz und Auffinden von Fällen im Verhältnis zu finanziellen
und "humanen" Kosten.
NCCHTA, 2001
Umsetzbarkeit und Akzeptanz von Screeningstrategien, in der sehr knapp gehaltenen
Policy Question keine weiteren Angaben zu den Dimensionen der Bewertung.
NCCHTA, 2003
Bezieht sich auf die beiden vorangegangenen Berichte; Kostenwirksamkeit.
MSAC, 2002
Sicherheit, Wirksamkeit (gesundheitliche und psychosoziale Ergebnisse), Kostenwirksamkeit.
Tabelle 4:
Intensionen der
HTA Bericht zum
Fragile-X-Syndrom
Tabelle 4: Intensionen der HTA Bericht zum Fragile-X-Syndrom
AETMIS erwähnt in der Policy Question keine Zielgrößen, anhand derer
der Nutzen von Screening- und / oder Diagnosemaßnahmen bewertet
AETMIS erwähnt in der Policy Question keine Zielgrößen, anhand derer der Nutzen von Screeningwerden soll. Es wird aber angeführt, dass „many social and ethical issues
und / oder Diagnosemaßnahmen bewertet werden soll. Es wird aber angeführt, dass "many social and
surrounding
the identification
of the
…“ inunddie
Planungs- und
ethical issues surrounding
the identification
of the syndrome
…"syndrome
in die PlanungsOrganisationsOrganisationsvorschläge
eingehen
sollen,
die
dem
Bedarf
betroffener
vorschläge eingehen sollen, die dem Bedarf betroffener Individuen und ihrer Familien gerecht werden.
ihrer Familien gerecht
werden.
Fazit: Drei der fünf Individuen
Berichte zumund
Fragile-X-Syndrom
deuten bereits
in der Policy Question an, dass
die Bewertung der Technologie über die Bewertung des rein medizinischen Nutzens hinausgehen soll.
Fazit:"Ethik"
Drei der
fünf
Berichte
zum allerdings
Fragile-X-Syndrom
deuten
bereits
in der
Dabei wird der Terminus
in der
"Policy
Question"
nur in einem der
Berichte
expliPolicy
Question an, dass die Bewertung der Technologie über die Bewertung
zit verwendet (AETMIS
2002).
des rein medizinischen Nutzens hinausgehen soll. Dabei wird der Terminus
4.1.1.2
Beschreibung
der Krankheit
„Ethik“
in der „Policy Question“ allerdings nur in einem der Berichte expliDie Beschreibung der
HTA-Berichten
soll (neben der Beschreibung der Technologie)
zit Krankheit
verwendetin (AETMIS
2002).
den Entscheidungsträger befähigen, das Gesundheitsproblem und die im HTA ermittelten Folgen des
Technologieeinsatzes
adäquat Beschreibung
beurteilen zu können.
Dabei sollen folgende Aspekte angesprochen
4.1.1.2.
der Krankheit
werden:
Die Beschreibung der Krankheit in HTA-Berichten soll (neben der
•
"Krankheitsmechanismus"
Pathologie)
Beschreibung(Ursachen,
der Technologie)
•
gen, das Gesundheitsproblem
"Klinik" (Erscheinungsbild,
Verläufe, Prognose) und die im HTA ermittelten Folgen des
den
Entscheidungsträger
befähi-
•
adäquat beurteilen zu können. Dabei sollen folgende
"Outcomes"Technologieeinsatzes
(Konsequenzen, Endzustände)
•
Aspekte angesprochen
werden:
"Behandlungsmöglichkeiten"
(Status Quo,
Alternativen, Versorgungsstand)
•
"Epidemiologie" (Inzidenz, Prävalenz)
•
"Zielgruppe" (Alter, Geschlecht, Risikofaktoren)
n „Krankheitsmechanismus“ (Ursachen, Pathologie)
n „Klinik“ (Erscheinungsbild, Verläufe, Prognose)
(nach Busse & Orvain
n2002)
„Outcomes“ (Konsequenzen, Endzustände)
Von allen vorliegenden HTA-Berichten werden diese Aspekte in unterschiedlicher Ausführlichkeit
behandelt. Im Folgenden wird daher auf die Wiedergabe der Inhalte verzichtet sondern nur angemerkt,
wenn sich in den einzelnen Abschnitten inhaltlich relevante Unterschiede in den Darstellungen der
HTA-Berichte fanden.
365u
"Krankheitsmechanismus"
Für die Folgenabschätzung der weiter unten angeführten Screeningansätze ist ein grundlegendes Verständnis für die genetischen Grundlagen und den Erbgang der Störung erforderlich. Die ausführlichste
H TA - B e r i c h t e
n „Behandlungsmöglichkeiten“
(Status
Quo,
Versorgungsstand)
n „Epidemiologie“ (Inzidenz, Prävalenz)
n „Zielgruppe“ (Alter, Geschlecht, Risikofaktoren)
(nach Busse & Orvain 2002)
Alternativen,
Von allen vorliegenden HTA-Berichten werden diese Aspekte in unterschiedlicher Ausführlichkeit behandelt. Im Folgenden wird daher auf die
Wiedergabe der Inhalte verzichtet sondern nur angemerkt, wenn sich in den
einzelnen Abschnitten inhaltlich relevante Unterschiede in den Darstellungen
der HTA-Berichte fanden.
„Krankheitsmechanismus“
Für die Folgenabschätzung der weiter unten angeführten Screeningansätze
ist ein grundlegendes Verständnis für die genetischen Grundlagen und den
Erbgang der Störung erforderlich. Die ausführlichste Beschreibung dieser
Hintergründe erfolgt im NCCHTA-Bericht von 1997, die folgenden britischen und der australische Bericht nehmen direkt auf diese Publikation
Bezug. Der grundlegende genetische Defekt liegt in einer als zytogenetisch
„fragil“ imponierenden Region auf dem FRM-I Gen (Xq27.3). Dort findet
sich ein Abschnitt mit einer variablen Anzahl von CGG-Repeats, in der
Regel 29 oder 30.
Die pathologische Veränderung beim Fragile-X-Syndrom besteht in einer
Erhöhung der Anzahl der Repeats. Das FMR-I Gen transkribiert normalerweise ein zytoplasmatisches Protein, FMRP, welches in allen Zellen in niedriger Konzentration, in Hoden- und in Gehirnzellen in höherer Konzentration
anzutreffen ist. Überschreitet die CGG-Repeatzahl etwa 200, findet keine
Transkription statt – es kommt zur Ausprägung des Fragile-X-Syndroms.
Es besteht Konsens, eine Repeatzahl von ≥ 200 als „Vollmutation“ zu
bezeichnen. Charakteristisch für das Fragile-X-Syndrom ist jedoch der
dynamische Charakter der Mutation, in betroffenen Familien kann sich
bei Weitervererbung des betroffenen Allels die CGG-Repeatzahl von
Generation zu Generation erhöhen (Expansion), bis es zur Ausprägung
der Vollmutation kommt. Wiederholungsfrequenzen, von denen aus die
Entwicklung einer Vollmutation innerhalb einer Generation beobachtet
wurde, werden als „Prämutation“ bezeichnet. Die Grenzwerte zwischen
„normal“, „Prämutation“ und „Vollmutation“ sind kritisch, wenn die
Prävalenz der Veränderungen bestimmt werden soll und wenn, z.B. in einer
Beratungssituation, das Risiko ein betroffenes Kind zu haben, geschätzt
werden soll. In den HTA-Berichten werden hier leicht abweichende Werte
t366
kommt zur Ausprägung des Fragile-X-Syndroms.
Es besteht Konsens, eine Repeatzahl von ! 200 als "Vollmutation" zu bezeichnen. Charakteristisch für
das Fragile-X-Syndrom ist jedoch der dynamische Charakter der Mutation, in betroffenen Familien
kann sich bei Weitervererbung des betroffenen Allels die CGG-Repeatzahl von Generation zu Generation erhöhen (Expansion), bis es zur Ausprägung der Vollmutation kommt. Wiederholungsfrequenzen,
von denen aus die Entwicklung einer Vollmutation innerhalb einer Generation
G ebeobachtet
n e t i k wurde,
i n P werublic Health
den als "Prämutation" bezeichnet. Die Grenzwerte zwischen "normal", "Prämutation" und "Vollmuta
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
tion" sind kritisch, wenn die Prävalenz der Veränderungen bestimmt werden soll und wenn, z.B. in
einer Beratungssituation, das Risiko ein betroffenes Kind zu haben, geschätzt werden soll. In den
HTA-Berichten werden
hier leicht
abweichende
sie betreffen
vor allemnormalen
eine "Grauangegeben,
sie betreffen
vorWerte
allemangegeben,
eine „Grauzone“
zwischen
und
zone" zwischen normalen und Prämutationsallelen:
Prämutationsallelen:
NCCHTA 1997
NCCHTA 2001
NCCHTA 2003
MSAC
AETMIS
Vollmutation
! 200
> 200
! 200
! 200-230
! 200
Prämutation
55-199
61-200
55-199
55-200
55-200
Grauzone
"um 55"
41-60
40-60
-
-
Normal
< 55
< 41
< 55
5-55
6-54
Tabelle 5:
Allelgröße und
Mutationsdefinition,
Fragile-X-Syndrom
Tabelle 5: Allelgröße und Mutationsdefinition, Fragile-X-Syndrom
Eine entscheidende Rolle spielen weiterhin bei der Risikobestimmung die
Expansionswahrscheinlichkeiten von Prämutationen zu Vollmutationen.
Eine entscheidende Rolle spielen weiterhin bei der Risikobestimmung die ExpansionswahrscheinlichHierauf gehen
die BerichteHierauf
von MSAC
undBerichte
AETMIS
den drei
keiten von Prämutationen
zu Vollmutationen.
gehen die
von nicht
MSACein.
undInAETMIS
britischen
Berichten
wurden,
vor
dem
Hintergrund
fehlender
belastbarer
nicht ein. In den drei britischen Berichten wurden, vor dem Hintergrund fehlender belastbarer empiriempirischer
Daten, statistische
eingesetzt.Daten
Diewurden
in das
scher Daten, statistische
Modellierungen
eingesetzt. DieModellierungen
in das Modell einfließenden
aus systematischen
Literaturübersichten
Prävalenz
vonaus
CGG-Frequenzen,
Prävalenz
von VollmuModell
einfließendenzur
Daten
wurden
systematischen
Literaturübersichten
tations- und Prämutationsträger/innen
der Bevölkerung und betroffenen
erhalten. Die Mozur Prävalenz vonin CGG-Frequenzen,
Prävalenz Familien
von Vollmutationsund
dellierungen zeigten,
dass die Expansionswahrscheinlichkeit
abhängig istund
von der
CGG-Frequenz
der
Prämutationsträger/innen
in der Bevölkerung
betroffenen
Familien
Prämutation. Der erhalten.
NCCHTA Die
Report
von 2003 berücksichtigt
diedass
beiden
Berichte und
Modellierungen
zeigten,
dievorangegangenen
Expansionswahrscheinlich
ermittelt eine mittlere Übergangswahrscheinlichkeit von Prämutation zur Vollmutation innerhalb von
keit abhängig ist von der CGG-Frequenz der Prämutation. Der NCCHTA
Fragile-X-Familien von 63% (95% KI: 60-66%), für in der Allgemeinbevölkerung angetroffene PräReport von 2003 berücksichtigt die beiden vorangegangenen Berichte und
mutationen beträgt die Expansionswahrscheinlichkeit im Mittel ca. 10% (95% KI: 5,5-14%).
ermittelt eine mittlere Übergangswahrscheinlichkeit von Prämutation zur
Vollmutation innerhalb von Fragile-X-Familien von 63% (95% KI: 60"Klinik"
66%), für in der Allgemeinbevölkerung angetroffene Prämutationen beträgt
Zentrales Symptom,
den "Krankheitswert" des Fragile-X-Syndroms
ist5,5-14%).
eine geistidie welches
Expansionswahrscheinlichkeit
im Mittel ca. 10%bestimmt,
(95% KI:
ge Retardierung, die mit zunehmendem Alter zunimmt. Dysmorphien, Verhaltensauffälligkeiten und
Makroorchidismus bei Jungen können ebenfalls vorhanden sein, haben jedoch per se keinen Krank„Klinik“
heitswert.
Zentrales Symptom, welches den „Krankheitswert“ des Fragile-X-Syndroms
Häufigkeit und Ausprägung des Phänotyps unter Träger/innen der Vollmutation sind wichtige Angabestimmt, ist eine geistige Retardierung, die mit zunehmendem Alter
ben, die bei der Bewertung von Diagnostik- und Screeningstrategien eine zentrale Rolle spielen. Zu
zunimmt. Dysmorphien, Verhaltensauffälligkeiten und Makroorchidismus
diesem Punkt werden durchaus differente Angaben in den HTA-Berichten gefunden:
bei Jungen können ebenfalls vorhanden sein, haben jedoch per se keinen
Krankheitswert.
Ergebnisse
14
Häufigkeit und Ausprägung des Phänotyps unter Träger/innen der
Vollmutation sind wichtige Angaben, die bei der Bewertung von Diagnostikund Screeningstrategien eine zentrale Rolle spielen. Zu diesem Punkt werden durchaus differente Angaben in den HTA-Berichten gefunden:
Während die Angaben zu den Schweregraden der Beeinträchtigung homogen sind, liegen die geschätzten Anteile von beeinträchtigten Individuen an
der Gesamtheit der Mutationsträger (und damit das Risiko, dass ein Kind
mit nachgewiesener Mutation eine relevante Beeinträchtigung aufweist) für
Männer zwischen 100% und 80% und für Frauen zwischen 55% und 33%.
367u
H TA - B e r i c h t e
NCCHTA 1997
NCCHTA 2001
NCCHTA 2003
MSAC
AETMIS
Männer
" .. Approximately 80% of
affected males
are moderately
to profoundly
mentally impaired, with an
IQ of less than
50.”
"..The degree of
impairment can
vary from profound handicap
to isolated learning problems but
most affected
males have a
severe to moderate degree of
impairment with
IQs in the range
of 35-49."
"…Affected
males are generally unable to
live alone…"
"… male foetuses with FM
are certainly
affected…"
"..in males an
FM or mosaic
mutation will
usually result in
the characteristic
features of the FX-Syndrome
(intellectual
disability), some
FM and mosaic
males will be
clinically normal…"
"… most affected boys present with moderate to severe
mental retardation…"
Frauen
"…. Females
with a F-XSyndrome usually display a
milder phenotype, the majority having a
borderline low
IQ of 70-85…"
"…about a third
of female gene
carriers are intellectually impaired, but ususally less than
males."
"..while affected
females may
have learning
difficulties, but
may live independently…."
"… only about
half of female
foetuses with
FM will be affected…"
"… Females will
have a varying
phenotype, with
approximately
50% having
mental disability…."
"… while only
55% of affected
girls will have
mental retardation, generally
mild to moderate…."
Tabelle 6:
Penetranz des
Fragile-X-Syndroms (Hervorhebungen DL)
In females only
half of the FM
Carriers are
affected.
Tabelle 6: Penetranz des Fragile-X-Syndroms (Hervorhebungen DL)
„Outcomes“
Für den Betroffenen: Die Folgen (Outcomes) des Fragile-X-Syndroms für
die Angaben
Schweregraden
homogenund
sind, liegen die gedieWährend
Betroffenen
werdenzuin den
erster
Linie durchder
dasBeeinträchtigung
intellektuelle Defizit
schätzten
Anteile
von
beeinträchtigten
Individuen
an
der
Gesamtheit
der
Mutationsträger
(und damit
assoziierte Verhaltensstörungen bestimmt. Dabei sind männliche Betroffene
das
Risiko,
dass
ein
Kind
mit
nachgewiesener
Mutation
eine
relevante
Beeinträchtigung
aufweist)
für
mit durchschnittlichen IQs von unter 50 meistens nicht in der Lage, ein
Männer zwischen 100% und 80% und für Frauen zwischen 55% und 33%.
eigenständiges Leben zu führen. Obwohl auch kardiale, endokrine, orthopädische und neurologische Dysfunktionen bei den Betroffenen beobachtet
"Outcomes"
wurden,
wird von allen HTA-Berichten eine relevante Beeinträchtigung
den Betroffenen:
Die Folgenverneint.
(Outcomes)Bei
des betroffenen
Fragile-X-Syndroms
für die
werden in
derFürphysischen
Gesundheit
Frauen
ist Betroffenen
der
erster Linie durch das
und assoziierte
Verhaltensstörungen
bestimmt. Dabei sind
Symptomkomplex
im intellektuelle
Vergleich zuDefizit
den Männern
weniger
stark ausgeprägt
Betroffene mitder
durchschnittlichen
IQs von
unter 50 meistens
der Lage, ein eigen(s. männliche
o.). Bei Trägerinnen
Prämutation wird
überzufällig
häufig nicht
eine in
vorständiges
Leben zubeobachtet
führen. Obwohl
auch kardiale,
orthopädische und neurologische Dyszeitige
Menopause
(NCCHTA
2001;endokrine,
AETMIS).
funktionen bei den Betroffenen beobachtet wurden, wird von allen HTA-Berichten eine relevante Beeinträchtigung der physischen Gesundheit verneint. Bei betroffenen Frauen ist der Symptomkomplex
Für die Familie: Auf die Folgen des Fragile-X-Syndrom für Familien
im Vergleich zu den Männern weniger stark ausgeprägt (s. o.). Bei Trägerinnen der Prämutation wird
mitüberzufällig
betroffenen
Kindern gehen vor allem die Berichte von AETMIS und
häufig eine vorzeitige Menopause beobachtet (NCCHTA 2001; AETMIS).
NCCHTA 1997 und 2001 ein. Dabei werden besonders soziale und finanzielle Probleme im Zusammenhang mit der Versorgung von geistig behinderten Familienangehörigen genannt, sowohl vor als auch nach Kenntnis der
Diagnose. Zu psychischen und intrafamiliären sozialen Belastungen führt
darüber hinaus die unsichere Prognose für weitere Nachkommen bzw. der
Verzicht auf (weitere) Kinder.
Ergebnisse
t368
15
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Für die Gesellschaft: Aus gesellschaftlicher Perspektive werden in den
Berichten des NCCHTA in erster Linie die finanziellen Folgen des FragileX-Syndrom angesprochen, als Kosten pro zu versorgendem Fall / Jahr
(20.000 Pfund) und Kosten für das NHS von England und Wales / Jahr (200
Mio. Pfund) (NCCHTA, 2003).
„Behandlungsmöglichkeiten“
Das Fragile-X-Syndrom ist nicht heilbar. Inwieweit der Verlauf und die
Ausprägung des intellektuellen Defizits mit seinen psychischen und sozialen
Folgen für Individuum, Familie und Gesellschaft beeinflussbar sind, wird in
den fünf HTA-Berichten unterschiedlich beurteilt. Die Berichte des MSAC
und NCCHTA sparen die Frage nach der Behandelbarkeit des Fragile-XSyndrom komplett aus, der Bericht NCCHTA 2003 konstatiert ein Defizit an
wirkungsvollen Behandlungsmöglichkeiten. Die Berichte NCCHTA, 1997
und AETMIS dagegen nehmen ausführlich Stellung zu symptomatischen
Therapie- und Fördermöglichkeiten für betroffene Kinder. Dabei wird vor
allem im AETMIS Bericht auf die Notwendigkeit von Frühförderung in
einem multidisziplinären Programm hingewiesen, da zu einem späteren
Zeitpunkt (nach dem 3. Lebensjahr) vor allem die Verhaltensstörungen nicht
mehr aufzufangen seien (Evidenz?). In beiden Berichten wird festgehalten,
dass die Wirksamkeit der (häufig vorgeschlagenen) Folsäurebehandlung auf
die kognitiven Defizite bisher nicht erwiesen werden konnte.
„Epidemiologie“
Die Angaben zur Häufigkeit der Fragile-X-Mutation in verschiedenen
Bevölkerungsgruppen werden in allen Berichten durch mehr oder weniger
systematische Übersichten über die Ergebnisse epidemiologischer Studien
gegeben. Die umfangreichste (da zuletzt veröffentlichte) Übersicht findet
sich bei NCCHTA 2003. Es werden Häufigkeiten der Vollmutation und der
Prämutation unter lernbehinderten Personen und in der Allgemeinbevölkerung
angegeben, jeweils differenziert nach Geschlecht.
Daraus lässt sich eine Häufigkeit für das Fragile-X-Syndrom in der männlichen Allgemeinbevölkerung von etwa 1:4000 ableiten. Die Autoren gehen
von der Annahme aus, dass das Allel mit der gleichen Häufigkeit in der
weiblichen Allgemeinbevölkerung vorkommt, diese aber nur zu 50% von
einer klinischen Manifestation betroffen ist. Die Häufigkeit wird damit auf
ca. 1:8000 in der weiblichen Allgemeinbevölkerung geschätzt.
369u
H TA - B e r i c h t e
Häufigkeit der Vollmutation bei Männern mit Lernbehinderung unklarer Ätiologie
Anzahl der Studien
Mutationsträger/innen
Untersuchte Personen
%
21
3,52
180
5107
Häufigkeit der Vollmutation bei Männern mit Lernbehinderung,
inklusive bekannte Ätiologie
21
187
10899
1,72
16006
2,29
Alle Männer mit Lernbehinderung
42
367
Häufigkeit der Vollmutation bei Frauen mit Lernbehinderung unklarer Ätiologie
11
9
1462
0,62
Häufigkeit der Vollmutation bei Frauen mit Lernbehinderung,
inklusive bekannte Ätiologie
11
48
7215
0,67
8677
0,66
Alle Frauen mit Lernbehinderung
22
57
Vollmutation (Fragile-X-Syndrom) in der männlichen Allgemeinbevölkerung [als Rate]
Tabelle 7:
Häufigkeit der
Fragile-XMutationen
Anzahl der Studien
Mutationsträger/innen
Untersuchte Personen
/10000
8
137
8701
2,42
4186
0
45817
1,53
Prämutation in der männlichen Allgemeinbevölkerung
3
0
Prämutation in der weiblichen Allgemeinbevölkerung
7
7
Tabelle 7: Häufigkeit der Fragile-X-Mutationen
„Zielgruppe“
In Daraus
den HTA-Berichten
werden drei
Zielgruppen
für genetische
Tests aufAllgemeinbevölkelässt sich eine Häufigkeit
für das
Fragile-X-Syndrom
in der männlichen
Fragile-X
und Prämutationen
genannt:
rung vonMutationen
etwa 1:4000 ableiten.
Die Autoren gehen
von der Annahme aus, dass das Allel mit der gleichen Häufigkeit in der weiblichen Allgemeinbevölkerung vorkommt, diese aber nur zu 50% von einer
• klinischen
Klinisch Manifestation
auffällige (lernbehinderte)
zur damit
Diagnostik
als in der weiblichen
betroffen ist. DieIndividuen:
Häufigkeit wird
auf ca. und
1:8000
Allgemeinbevölkerung
geschätzt.
„Case Finding“ für Kaskadenscreening-Strategien.
• Familien von Fragile-X-Betroffenen als Hochrisikogruppe
• "Zielgruppe"
Die Allgemeinbevölkerung, im Rahmen von Neugeborenenscreeningprog
bzw. nur Frauen
Rahmen
von präkonzeptionellen
präna- Mutationen und
Inrammen
den HTA-Berichten
werdenimdrei
Zielgruppen
für genetische Tests oder
auf Fragile-X
talen Screeningstrategien.
Prämutationen
genannt:
•
Klinisch auffällige (lernbehinderte) Individuen: zur Diagnostik und als "Case Finding" für
4.1.1.3. Beschreibung
der Technologie
Kaskadenscreening-Strategien.
In •den Berichten
unterschiedlicheals
Testverfahren
zu Diagnostik von
Familien werden
von Fragile-X-Betroffenen
Hochrisikogruppe
und• Screening
auf
Fragile-X-Syndrom
Mutationsund
Prämutationsträgern
Die Allgemeinbevölkerung, im Rahmen von Neugeborenenscreeningprogrammen bzw. nur
beschrieben.
Frauen im Rahmen von präkonzeptionellen oder pränatalen Screeningstrategien.
Die4.1.1.3
Ausführungen
zur der
analytischen
Beschreibung
TechnologieTestqualität beruhen in zwei der fünf
Berichte
auf systematischen
Literaturanalysen,
in einem
Bericht von
auf und
„intrinIn den Berichten
werden unterschiedliche
Testverfahren
zu Diagnostik
Screening auf Fragilesischen“
Kenntnissen,
Berichten ist die
Herkunft der Informationen
X-Syndrom
Mutations-bei
undzwei
Prämutationsträgern
beschrieben.
zu den Testcharakteristika unklar.
Ergebnisse
t370
17
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
NCCHTA,
1997
NCCHTA,
2001
NCCHTA,
2003
MSAC
Zytogenetik
+
PCR
+
Southern Blot
Blotting von PCR
Produkten
+
-
+
-
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
-
-
-
-
PCR + selektiver
Southern Blot
+
+
+
+
-
Southern Blot +
selektive PCR
-
-
-
-
+
FMRP Proteinnachweis
+
+
-
-
+
PCR basierter Methylierungsnachweis
+
-
-
-
-
Sequenzierung
-
+
-
-
-
systematischer Review
+
unklar
-
+
AETMIS
Tabelle 8:
Genetische Testmethoden zum
Fragile-X-Syndrom
unklar
Tabelle 8: Genetische Testmethoden zum Fragile-X-Syndrom
Analytische Testcharakteristika
Während
der Southern
Blot geeignet
dender
Nachweis
von auf
vollen
Mutationen
Die Ausführungen
zur analytischen
Testqualität
beruhen inist,
zwei
fünf Berichte
systematischen
Literaturanalysen,und
in einem
Bericht
auf "intrinsischen"
Kenntnissen,istbeidie
zwei
Berichten
ist die
Her„großen“
Prämutationen
zu erbringen,
PCR
geeignet,
normale
kunft der Informationen
den„kleine“
Testcharakteristika
unklar. korrekt zu erfassen. Mit Ausnahme des
Allele zu
und
Prämutationen
australischen HTA-Berichtes sind die Autoren sehr zurückhaltend bei der
Angabe von quantitativen Daten zur analytischen Sensitivität und Spezifität
Analytische Testcharakteristika
der DNA-basierten
Dievollen
Testgüte
der Kombination
von PCR
Während der Southern
Blot geeignet ist,Testverfahren.
den Nachweis von
Mutationen
und "großen" Prämutaund,
unklaren
Fällen,
anschließendem
Southern
Blot wird in
einem
tionen zu erbringen,
istindie
PCR geeignet,
normale
Allele und "kleine"
Prämutationen
korrekt
zuBericht
erfasalsdes
„…australischen
almost 100%
Accuracy...“
bezeichnet,
zwei
weiteren Berichten
sen. Mit Ausnahme
HTA-Berichtes
sind
die Autoreninsehr
zurückhaltend
bei der An-als
gabe von quantitativen
Daten
analytischen
Sensitivität
Spezifität identifizieren
der DNA-basierten
„high“.
Mitzur
Ausnahme
des
AETMISund
Berichtes
alleTestverReports
fahren. Die Testgüte
der
Kombination
von
PCR
und,
in
unklaren
Fällen,
anschließendem
Southern
die Kombination von PCR + selektivem Southern Blot als das Verfahren der
Blot wird in einem
Bericht
"… almostnach
100%Fragile-X-Mutationen
Accuracy..." bezeichnet, in
zwei
weiteren Berichten
Wahl
zumalsScreening
und
-Prämutationen.
Der
als "high". Mit Ausnahme des AETMIS Berichtes identifizieren alle Reports die Kombination von
AETMIS Bericht wählt die umgekehrte Reihenfolge.
PCR + selektivem Southern Blot als das Verfahren der Wahl zum Screening nach Fragile-XMutationen und -Prämutationen. Der AETMIS Bericht wählt die umgekehrte Reihenfolge.
Der australische Bericht unternimmt den Versuch für zytogenetische
Der australische Bericht unternimmt den Versuch für zytogenetische Methoden, PCR und Southern
Methoden, PCR und Southern Blot die analytische Sensitivität und Spezifität
Blot die analytische Sensitivität und Spezifität zu ermitteln. Für die Zytogenetik, unter Verwendung
zu ermitteln. Für die Zytogenetik, unter Verwendung der DNA basierten
der DNA basierten Verfahren als "Goldstandard", wurde die analytische Sensitivität zwischen 15%
Verfahren als „Goldstandard“, wurde die analytische Sensitivität zwischen
und 77% (je nach verwendetem Cut-off an positiven Zellen) und die Spezifität zwischen 93% und
und 77% Werte
(je nach
verwendetem
Cut-off
an positiven
und die
100% angegeben.15%
Die berichteten
für die
DNA-basierten
Verfahren
sind schwerZellen)
zu interpretiezwischen
93% und 100%
angegeben.
berichteten Werte
die
ren, da sie sich Spezifität
wechselseitig
als "Goldstandard"
einsetzten,
obwohl Die
sie bekanntermaßen
nichtfür
das
DNA-basierten Verfahren sind schwer zu interpretieren, da sie sich wechselgleiche Substrat messen.
seitig als „Goldstandard“ einsetzten, obwohl sie bekanntermaßen nicht das
gleiche Substrat messen.
Ergebnisse
18
371u
H TA - B e r i c h t e
Die Berichte aus Australien und Kanada weisen darauf hin, dass in ihren
Ländern keine käuflichen, nach den gängigen Normen (?) qualitätsgesicherte, Testkits zur Verfügung stehen.
Lediglich einer der Berichte geht ausführlich auf Probleme bei der
Materialgewinnung
ein. Dabei werden technische Aspekte angesproDie Berichte aus Australien und Kanada weisen darauf hin, dass in ihren Ländern keine käuflichen,
chen
(Versagen
der
PCR
des SouthernTestkits
Blot aufgrund
mangelhafter
nach den gängigen Normen (?)und
qualitätsgesicherte,
zur Verfügung
stehen.
Materialqualität,
Notwendigkeit
neuer
Abstriche
oder
Blutentnahmen)
Lediglich einer der Berichte geht ausführlich auf Probleme bei der Materialgewinnung ein. Dabei
aber
auch
rechtliche
und
psychologischen
(Zulässigkeit
werden
technische
Aspekte
angesprochen
(Versagen Aspekte
der PCR und
des Southern von
Blot aufgrund manBlutentnahmen
bei
geistig
behinderten
Erwachsenen,
von
denen
kein „inforgelhafter Materialqualität, Notwendigkeit neuer Abstriche oder Blutentnahmen)
aber auch rechtliche
med
consent“ zu erhalten
Zulässigkeit
Blutentnahmen
zumbehinderten
Zwecke Erwachsenen,
und psychologischen
Aspekteist?
(Zulässigkeit
von von
Blutentnahmen
bei geistig
des
von lernbehinderten
Kindern,von
fürBlutentnahmen
die keinerleizum Zwecke des
von Fragile-X-Screenings
denen kein "informed consent"
zu erhalten ist? Zulässigkeit
Fragile-X-Screenings
von lernbehinderten
Kindern, für die keinerlei therapeutische Konsequenzen
therapeutische
Konsequenzen
entstehen?).
entstehen?).
Diagnostische Testcharakteristika
Die
Eignung Testcharakteristika
der molekulargenetischen Testverfahren zur Diagnostik eines
Diagnostische
Fragile-X-Syndroms
bzw. zur Bestimmung
des zur
Risikos
für ein
Fragile-XDie Eignung der molekulargenetischen
Testverfahren
Diagnostik
eines
Fragile-X-Syndroms bzw.
Syndrom
unter den
Nachkommen
der getesteten Person
hängt
weniger der
vongetesteten Person
zur Bestimmung
des Risikos
für ein Fragile-X-Syndrom
unter den
Nachkommen
hängtanalytischen
weniger von den
analytischen Testcharakteristika
sondern von
vielmehr
der Genotyp-Phänotyp
den
Testcharakteristika
sondern vielmehr
der von
GenotypAssoziation
der Störung der
und Störung
den Übergangswahrscheinlichkeiten
einer Prämutation zur vollen MutaPhänotyp
Assoziation
und den Übergangswahrscheinlichkeiten
tion
ab
(vergl.
Abschnitt
4.1.1.2).
einer Prämutation zur vollen Mutation ab (vergl. Abschnitt 4.1.1.2).
Australien
DNA-basierte Testverfahren nicht kommerziell verfügbar; für zytogenetische Testverfahren
sind Abrechnungsnummern vorhanden. Der Bericht enthält keine Angaben zum infrastrukturellen / organisatorischen Kontext für Fragile-X Diagnostik oder Screening.
Kanada
DNA-basierte Testverfahren werden in ausgewählten (3) Laboratorien durchgeführt. Die
Zuweisung von Verdachtsfällen zur Diagnostik erfolgt auf unterschiedlichen Wegen (Schulen, Kindergärten, Hausärzte etc.), es gibt keine standardisierte diagnostische Aufarbeitung
von Verdachtsfällen. Die Versorgung und Förderung von betroffenen Individuen und Familien erfolgt eher unkoordiniert.
(Quebec)
Großbritannien
Tabelle 9:
Infrastruktureller
Kontext, FragileX-Syndrom
DNA-basierte Testverfahren stehen zur Verfügung. Es gibt kein reguläres Screeningprogramm, aber Neonatalscreening und Kaskadenscreening in betroffenen Familien
werden, wenn machbar und akzeptabel, durchgeführt. Die genetische Beratung erfolgt in
speziellen humangenetischen Zentren, zu denen Patienten bzw. Familien meist nach Diagnosestellung durch niedergelassene Kinderärzte zugewiesen werden. In etwa der Hälfte der
Zentren werden spezielle Fragile-X-Register geführt.
Tabelle 9: Infrastruktureller Kontext, Fragile-X-Syndrom
4.1.2 Indikationen
4.1.2.
Indikationen
InInallen
fünf
wirdderderEinsatz
Einsatz
genetischen
Testverfahren
allen fünf HTA-Berichten
HTA-Berichten wird
derder
genetischen
Testverfahren
für Screeningzwecke
für
Screeningzwecke
auch
implizit die Test
Bewertung
diskutiert,
obwohl auch diskutiert,
implizit die obwohl
Bewertung
als diagnostischer
enthaltenals
ist – das "Kaskadenscreening" (Screening
unter Verwandten
Patienten) erfordert beispielsweise
eine Strategie des
diagnostischer
Test enthalten
ist – dasvon„Kaskadenscreening“
(Screening
"Case Verwandten
Finding". Dabei
ist schon
die übergeordnete
Zielsetzung für Screeningstrategien
unter
von
Patienten)
erfordert beispielsweise
eine Strategie nicht einheitlich. „Case
Im MSAC
Bericht wird
keineistallgemeine
Zielsetzung
für die vorgeschlagenen
des
Finding“.
Dabei
schon die
übergeordnete
Zielsetzung Screeningmaßnahmen angegeben. Der Bericht des NCCHTA, 1997 definiert zwei übergeordnete Zielsetzungen für
für Screeningstrategien nicht einheitlich. Im MSAC Bericht wird keine
t372
mögliche Screeningprogramme: die Senkung der Geburtenrate von Fragile-X-Kindern und die Erkennnung von betroffenen Individuen. Im Bericht aus dem NCCHTA von 2001 wird die übergeordnete Bestimmung von Screeningmaßnahmen breiter gefasst: aus Public Health Sicht kann es nicht Ziel
einer Screeningmaßnahme sein, die Inzidenz von betroffenen Geburten zu senken. Dies sei vielmehr
das Ergebnis, wenn das primäre Ziel erreicht ist: die Erkennung von betroffenen Familien und Indivi-
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
allgemeine Zielsetzung für die vorgeschlagenen Screeningmaßnahmen
angegeben. Der Bericht des NCCHTA, 1997 definiert zwei übergeordnete Zielsetzungen für mögliche Screeningprogramme: die Senkung der
Geburtenrate von Fragile-X-Kindern und die Erkennnung von betroffenen
Individuen. Im Bericht aus dem NCCHTA von 2001 wird die übergeordnete
Bestimmung von Screeningmaßnahmen breiter gefasst: aus Public Health
Sicht kann es nicht Ziel einer Screeningmaßnahme sein, die Inzidenz von
betroffenen Geburten zu senken. Dies sei vielmehr das Ergebnis, wenn
das primäre Ziel erreicht ist: die Erkennung von betroffenen Familien und
Individuuen und die Durchführung adäquater Beratungsmaßnahmen, die zu
einer informierten Familienplanung führen. Der Bericht von 2003 schließt
sich dieser Zielsetzung an, greift zusätzlich aber das 1997 formulierte Ziel,
der frühen Erkennung von betroffenen Individuen wieder auf. Die gleichen
Ziele werden auch im AETMIS Bericht vertreten.
duuen und die Durchführung adäquater Beratungsmaßnahmen, die zu einer informierten Familienplazweivonder
britischen
HTA-Berichte
durchgeführte
Modellrechnungen
nung führen. Der In
Bericht
2003
schließt sich
dieser Zielsetzung
an, greift zusätzlich
aber das 1997
kamen
zu
der
Schlussfolgerung,
dass
aus
rein
monetärer
SichtZiele
alle
formulierte Ziel, der frühen Erkennung von betroffenen Individuen wieder auf. Die gleichen
betrachteten
Screeningstrategien
(populationsbezogen
oder
Hochrisiko)
als
werden auch im AETMIS Bericht vertreten.
„effizient“
einzustufen
sind. D.h.
die finanziellen
Aufwendungen
für das
In zwei der britischen
HTA-Berichte
durchgeführte
Modellrechnungen
kamen
zu der SchlussfolgeScreeningprogramm
geringerScreeningstrategien
als die Mittel, die(populationsbezogen
für die Versorgung
von
rung, dass aus rein
monetärer Sicht allesind
betrachteten
oder
„nicht-verhinderten“
FällenD.h.
aufgewendet
werden
müssten. für das ScreeHochrisiko) als "effizient"
einzustufen sind.
die finanziellen
Aufwendungen
ningprogramm sind geringer als die Mittel, die für die Versorgung von "nicht-verhinderten" Fällen
aufgewendet werden
müssten.
Nicht
in allen HTA-Berichten werden alle möglichen Screeningstrategien
Nicht in allen HTA-Berichten
werden
alle möglichen
Screeningstrategien
bewertet,
Übersicht istIm
bewertet, eine
Übersicht
ist der
folgenden Tabelle
zueine
entnehmen.
der folgenden Tabelle
zu
entnehmen.
Im
Anschluss
erfolgt
die
Darstellung
der
eigentlichen
TechnikAnschluss erfolgt die Darstellung der eigentlichen Technikfolgenabschätz
folgenabschätzung,
einzeln
für
jede
Screeningstrategien
und
gegliedert
nach
betrachteten
Folgedimenung, einzeln für jede Screeningstrategien und gegliedert nach betrachteten
sionen.
Folgedimensionen.
NCCHTA NCCHTA NCCHTA
1997
2001
2003
Screeningziel: Identifikation von betroffenen Individuen
MSAC
AETMIS
Neonatales Screening
(alle Neugeborenen)
+
+
-
-
+
"Case Finding"
(lernbehinderte Kinder od. Erwachsene)
+
-
-
-
-
+
+
-
-
+
+
+
+
+
+
Kaskadenscreening mit systematischem "Case
Finding"
-
+
+
-
+
Pränatales Screening
(Schwangere bzw. Feten)
+
+
+
-
+
Screeningziel: Identifikation von Carriern
Präkonzeptionelles Screening
(Frauen vor der ersten Schwangerschaft)
Kaskadenscreening
(Familien von Betroffenen)
Tabelle 10:
Screeningstrategien,
Fragile-XSyndrom
Tabelle 10:Screeningstrategien, Fragile-X-Syndrom
373u
H TA - B e r i c h t e
Neonatales Screening
Neonatales Screening auf Fragile-X-Mutationen und Prämutationen ist
eine typische bevölkerungsbezogene Low-Risk Screeningstrategie. Ihr
Ziel
ist einerseits
Neonatales
Screeningdie Erkennung von betroffenen Kindern, um diese einer
Frühförderung
zuzuführen
bzw. diese „Fälle“und
oder
Kinder mitist
Prämutationen
Neonatales Screening
auf Fragile-X-Mutationen
Prämutationen
eine typische bevölkerungsbeals
Ausgangspunkt
für „Kaskadenscreeningprogramme“
verwenden.
zogene
Low-Risk Screeningstrategie.
Ihr Ziel ist einerseits die zu
Erkennung
von betroffenen Kindern,
um diese einer Frühförderung zuzuführen bzw. diese "Fälle" oder Kinder mit Prämutationen als Aus"Kaskadenscreeningprogramme"
zu verwenden.
Ingangspunkt
den dreifürBerichten,
die eine Bewertung
von Neonatalen Screeningprogrammen
vornehmen,
desScreeningprogrammen
Technologieeinsatzes
In den drei Berichten,
die eine werden
Bewertungdie
vonFolgen
Neonatalen
vornehmen, werden
die die
Folgen
des Technologieeinsatzes
fürdas
die übrige
Zielperson,
für die
Familie,
dasfür
übrige
für
Zielperson,
für die Familie,
soziale
Umfeld
und
die soziale Umfeld
und
für
die
Gesellschaft
benannt:
Gesellschaft benannt:
Folgendimension
medizinisch /
physisch
für die Zielperson
psychisch
für die Zielperson
sozial - privat
(Familie)
Vorteile
Nachteile
Ansatz für
Frühförderung – bei unklarer Evidenz
zur Wirksamkeit (NCCHTA 1997;
NCCHTA 2001; AETMIS)
Bei 30% aller Mädchen: 2. Blutentnahme
erforderlich (NCCHTA 2001)
Stigmatisierung (NCCHTA 2001)
Beratung für künftige Schwangerschaften möglich (NCCHTA 2001)
Beratungsunsicherheit, wenn Prämutation
gefunden wird (AETMIS);
Prognose für Mädchen unsicher, wenn FM
gefunden wird; Stigmatisierung der Familie, Schuldgefühle bei der Mutter, Vernachlässigung der übrigen Kinder, Eheprobleme, (NCCHTA 2001; AETMIS)
sozial - öffentlich
(Institutionen)
Infrastruktur vorhanden (Zugang zur
Zielgruppe, Blutentnahmen)
(NCCHTA 1997)
gesellschaftlich
Tabelle 11:
Technologiefolgen,
Neonatales Screening, Fragile-Xökonomisch
Syndrom
Effektivität (Auffinden von Mutationen
und Prämutationen) größer als bei
Hochrisikostrategien (AETMIS;
NCCHTA 2003)
Betroffenengruppen: Neugeborenenscreening in 85% befürwortet für Jungen, aber
eigentlich "zu spät", ohne das Angebot
eines pränatalen Screenings nicht akzeptabel (NCCHTA 2001)
-
Verständnis der Ursachen für die Retardierung (AETMIS)
Infrastruktur vorhanden (s. o.)
finanzielle Belastungen der Familie
Tabelle 11: Technologiefolgen, Neonatales Screening, Fragile-X-Syndrom
Kaskadenscreening
Diese Screeningstrategie nimmt ihren Ausgang von einem „Fall“ und richtet
sich auf die Erfassung von weiteren Mutations- und Prämutationsträgern
im familiären Umfeld. Ziel ist die Risikoaufklärung und Ermöglichung zu
einer informierten Familienplanung. In der Regel ist das Kaskadenscreening
den Hochrisikostrategien zuzuordnen, einen Bevölkerungsbezug gewinnt
es, wenn es mit einem systematischen „Case Finding“ verbunden ist. Dies
kann die Anbindung an eine neonatale Screeningstrategie bedeuten oder die
t374
Ergebnisse
21
Kaskadenscreening
Diese Screeningstrategie nimmt ihren Ausgang von einem "Fall" und richtet sich auf die Erfassung
G eistndie
e t Risikoaufklärung
ik in Public Health
von weiteren Mutations- und Prämutationsträgern im familiären Umfeld. Ziel
Familienplanung.
und Ermöglichung zu einer informierten
Te iIn
l 2der
: IRegel
n t e g ist
r a tdas
i o nKaskadenscreening
v o n G e n e t i k i den
n Public Health
Hochrisikostrategien zuzuordnen, einen Bevölkerungsbezug gewinnt es, wenn es mit einem systematischen "Case Finding" verbunden ist. Dies kann die Anbindung an eine neonatale Screeningstrategie
bedeuten oder die
systematische Suche
Suche nach
bei klinisch
auffälligen
Kindern
systematische
nachFragile-X-Mutationen
Fragile-X-Mutationen
bei klinisch
auffälligen
oder Erwachsenen.
Kindern oder Erwachsenen.
Folgedimension
medizinisch /
physisch
für die Zielperson
"Vorteile"
psychisch
für die Zielperson
Erleichterung durch Ausschluss des
Carrierstatus, "normale" Fortpflanzung
(NCCHTA 2001);
Informierte Familienplanung nach Bestimmung des Carrierstatus und Beratung (NCCHTA, alle; MSAC)
sozial - privat
(Familie)
"Probleme"
Cases: keine unmittelbaren Konsequenzen
(im Sinne einer Behandlung) für die Person
(NCCHTA, alle)
Carrier: Entscheidung zur Sterilisation?
(MSAC)
Cases: psychische Irritation durch notwendige Blutentnahme bei Erwachsenen /
Kinder in Case-Finding Strategien; Informed Consent bei geistig Behinderten?
(NCCHTA. 2001)
Carrier: asymptomatische Personen werden
zu "Hochrisikopersonen" – mit folgender
psychischer Belastung. Beratung limitiert
evtl. Lebens- und Reproduktionsplanung
Oftmals Vorkenntnisse in der Familie
Kontakt der Zielgruppe nur durch primäre
(durch den "Fall") – erleichtert Beratung Angehörige des "Falls" (Cave: Schuldgefühle, Stigmatisierung könnten dies beein(NCCHTA 2001)
trächtigen) NCCHTA, 1997
sozial - öffentlich
(Institutionen)
Beratung von Frauen mit FM kann aus
intellektuellen Gründen problematisch sein
(NCCHTA 2001)
In Australien: Kinder unter 18 dürfen nur
getestet werden, wenn es für sie unmittelbare Konsequenzen hat (MSAC)
gesellschaftlich
Hohe Prätestwahrscheinlichkeit in der
Zielgruppe; damit hohe prädiktive
Werte (NCCHTA 2003)
Geringere "Effektivität" (Zielgröße:
aufgefundene Mutationen und Prämutationen) im Vergleich zu bevölkerungsbezogenen Strategien (NCCHTA 2003)
ökonomisch
Kein Benefit, wenn Personen nicht bereit
sind zur Geburtenkontrolle; Infrastruktur
zum Kontakt der Zielgruppe nicht gegeben
(NCCHTA 2003)
Carrier ohne "Fall" werden nicht erkannt;
ungleiche Zugangschancen (AETMIS)
"Teurer" als neonatales Screening und als
pädiatrisches Screening; Aufbau einheitlicher Infrastruktur erforderlich (AETMIS)
Tabelle 12:
Technologiefolgen, Kaskadenscreening, FragileX-Syndrom
Tabelle 12: Technologiefolgen, Kaskadenscreening, Fragile-X-Syndrom
Ergebnisse
Pränatales Screening
Das Pränatalscreening wird in den HTA-Berichten sowohl als bevölkerungs­
bezogene Strategie als auch als Hochrisikostrategie im Rahmen von Kaska
denscreeningprogrammen diskutiert. Primäre Zielgruppe sind schwangere
Frauen, zur Bestimmung des Carrierstatus. Im Falle eines positiven mütterlichen Befundes besteht die Möglichkeit der vorgeburtlichen Diagnostik
beim Feten.
22
375u
Pränatales Screening
Das Pränatalscreening wird in den HTA-Berichten sowohl als bevölkerungsbezogene Strategie als
H TA - B e r i c hauch
t e als Hochrisikostrategie im Rahmen von Kaskadenscreeningprogrammen diskutiert. Primäre Ziel-
gruppe sind schwangere Frauen, zur Bestimmung des Carrierstatus. Im Falle eines positiven mütterlichen Befundes besteht die Möglichkeit der vorgeburtlichen Diagnostik beim Feten.
Folgedimension
medizinisch /
physisch
für die Zielperson
"Vorteile"
psychisch
für die Zielperson
Erleichterung bei negativem Befund
"Probleme"
Amniozenteserisiko 1% für Abort / Chorionzottenbiopsie; Risiko des Abbruchs
(NCCHTA 2001, AETMIS)
Emotionale Belastung (MSAC); Psychologische Reaktionen auf Feststellung einer
„Normabweichung“ unklar;
hohe Menge an Informationen zu verarbeiten; Kommunikation von komplizierten
Risikozusammenhängen bei Personen mit
Allel mit grenzwertiger Repeatzahl
NCCHTA 2001)
Dilemma, wenn Fötus weiblich ist und eine
komplette Mutation aufweist (AETMIS)
sozial - privat
(Familie)
sozial - öffentlich
(Institutionen)
gesellschaftlich
Erleichterung bei negativem Befund
Teilnahme am pränatalen Screening keine
Option für Personen die Schwangerschaftsabbrüche generell ablehnen (NCCHTA
2003)
Hoher Bedarf an Aufklärungsgesprächen
und allgemeiner Aufklärung (NCCHTA
2001; AETMIS)
Tabelle 13:
Technologiefolgen,
Pränatales Screening,
Fragile-X-Syndrom
ökonomisch
Wenn kostenpflichtiger Test, Uptake niedrig, wenn frei, Uptake hoch (NCCHTA
2001)
Tabelle 13: Technologiefolgen, Pränatales Screening, Fragile-X-Syndrom
Präkonzeptionelles Screening
Adressaten
einer
präkonzeptionellen
bevölkerungsbezogenen
Screeningstrategie sind alle Frauen vor Eintritt einer ersten
Schwangerschaft. Zielsetzung wäre erneut die Erkennung von Mutationsund Prämutationsträgerinnen und das Ermöglichen einer informierten
Familienplanung. Die Überlegungen der HTA-Berichte von NCCHTA 1997,
2001 und AETMIS zu diesem Modell sind rein hypothetisch, eine solche
Fragile-X-Screeningstrategie wurde noch nie erprobt.
Die Auflistung der in den HTA-Berichten angesprochen Technologiefolgen
zeigt, dass eine ganze Reihe von Problemen berührt wird, die im weitesten
Sinne der oben eingeführten Arbeitsdefinition von „ethischen Aspekten“
entspricht („…Bestandteile eines Kurz-HTA-Berichtes ….., die sich auf die
Bewertung medizinischen Handelns beziehen und die explizit oder implizit
auf ethische Prinzipien und/oder auf Begriffe und Kategorien Bezug nehmen,
Ergebnisse
die von diesen Prinzipien abgeleitet sind oder ihnen zugrunde liegen.“)
t376
23
Präkonzeptionelles Screening
Adressaten einer präkonzeptionellen bevölkerungsbezogenen Screeningstrategie sind alle Frauen vor
Eintritt einer ersten Schwangerschaft. Zielsetzung wäre erneut die Erkennung von Mutations- und
Genetik in Public Health
Prämutationsträgerinnen und das Ermöglichen einer informierten Familienplanung. Die Überlegungen
der HTA-Berichte von NCCHTA
Te i lzu2diesem
: I n t e gModell
r a t i o nsind
v orein
n Ghypothetisch,
enetik in Public Health
1997, 2001 und AETMIS
eine solche Fragile-X-Screeningstrategie wurde noch nie erprobt.
Folgedimension
"Vorteile"
"Probleme"
Beratung vor Eintritt einer Schwangerschaft möglich; alle reproduktiven Entscheidungen stehen offen (NCCHTA
2001)
Beratungsunsicherheit bei "Grauzonenallelen"
medizinisch /
physisch
psychisch
Daten zur Akzeptanz eines möglichen präkonzeptionellen Screenings fehlen
(NCCHTA 1997)
sozial - privat
Cave: Datenschutz, Gruppenzwang, Stigmatisierung; breite Aufklärung notwendig
(NCCHTA 2001)
sozial - öffentlich
gesellschaftlich
ökonomisch
Organisatorische Infrastruktur vorhanden (Schulen)
Hohe Kosten für Gesundheitswesen
Tabelle 14:
Technologiefolgen,
Präkonzeptionelles
Screening,
Fragile-X-Syndrom
Tabelle 14: Technologiefolgen, Präkonzeptionelles Screening, Fragile-X-Syndrom
Im Folgenden soll versucht werden, die diskutierten Aspekte den vier
ethischen Grundprinzipien nach Beauchamp und Childress bzw. den ergänDie Auflistung der in den HTA-Berichten angesprochen Technologiefolgen zeigt, dass eine ganze
zenden
Prinzipien
fürimPublic
Health
zuzuordnen.
Reihe von Problemen
berührt
wird, die
weitesten
SinneMaßnahmen
der oben eingeführten
Arbeitsdefinition
von "ethischen Aspekten" entspricht ("…Bestandteile eines Kurz-HTA-Berichtes ….., die sich auf die
4.3.1.Handelns
Ordnung
derund
diskutierten
ethischen
nach
Bewertung medizinischen
beziehen
die explizit oder
implizit auf Aspekte
ethische Prinzipien
und/oder auf Begriffe und
Kategorien
Bezug
nehmen,
die
von
diesen
Prinzipien
abgeleitet
sind
oder
Beauchamp und Childress
ihnen zugrunde liegen.")
Autonomie
Im Folgenden soll4.1.3.1.
versucht werden,
die diskutierten Aspekte den vier ethischen Grundprinzipien nach
Beauchamp und Childress
bzw. den ergänzenden
Prinzipien
für Public Health Maßnahmen zuzuordAlle HTA-Berichte
sehen durch
Fragile-X-Screeningmaßnahmen
einernen.
seits das Recht auf Autonomie der Zielgruppe gefährdet, andererseits wird
4.1.3
4.1.3.1
aber festgestellt, dass bestimmte Personengruppen erst durch Mitteilung
der Testergebnisse (eingebettet in Beratungsmaßnahmen) zur autonomen
Entscheidungsfindung befähigt werden.
Autonomie
Ordnung der diskutierten ethischen Aspekte nach Beauchamp und Childress
Alle HTA-Berichte sehen durch Fragile-X-Screeningmaßnahmen einerseits das Recht auf Autonomie
Situationen, in denen die autonome Entscheidung von Einzelpersonen
der Zielgruppe gefährdet, andererseits wird aber festgestellt, dass bestimmte Personengruppen erst
ist, sind(eingebettet
gegeben wenn:
durch Mitteilung gefährdet
der Testergebnisse
in Beratungsmaßnahmen) zur autonomen Entscheidungsfindung befähigt werden.
Ergebnisse
n die Probenentnahme für den DNA-Test von geistig retardierten Erwachsene
verweigert wird bzw. sich diese aktiv gegen eine Probenentnahme wehren,
24
n der Carrierstatus von noch nicht einwilligungsfähigen Kindern bestimmt
werden soll (im Zusammenhang mit einem Kaskadenscreeningprogramm),
n sich ein Gruppendruck (Familie, soziales Umfeld, Gesellschaft) zur
Teilnahme am Screening aufbaut. Der Gruppendruck kann im Widerspruch
stehen zum individuellen „Nicht-wissen-wollen“, zur Absicht eine
377u
H TA - B e r i c h t e
Schwangerschaft mit einem betroffenen Kind auszutragen oder mit der
Absicht den vermeintlichen „Makel“ vor der weiteren Familie geheim zu
halten.
Eine Befähigung zur autonomen Entscheidungen wird dann gesehen,
wenn durch die Kenntnis des genetischen Befundes in Zusammenhang
mit adäquaten Beratungsmaßnahmen eine informierte Entscheidung zur
Familienplanung getroffen werden kann.
4.1.3.2 Schadensvermeidung
Im Zusammenhang mit dem Fragile-X-Screening wird eine Reihe von möglichen Schäden als Folge des Technologieeinsatzes genannt. Dabei betreffen
die Schäden sowohl die Zielperson, als auch die Familie und das weitere
soziale Umfeld.
Für die Zielperson stehen im Falle des „Case Finding“ neben geringfügigen
Schäden durch die Probenentnahme vor allem psychische Folgen im Sinne
von Stigmatisierungen im Vordergrund.
Im Zusammenhang mit dem Pränatalscreening / der Pränataldiagnostik
werden physische Schäden für Mutter und Kind durch die Probenentnahme
(Amniozentese, Chorionzottenbiopsie) und durch den möglicherweise folgenden Schwangerschaftsabbruch angeführt. Auch in dieser Situation sind,
folgt man den HTA-Berichten, allerdings die psychischen Schäden höher zu
bewerten. Hierzu gehören Angst und Anspannung während der Testsituation
und der Wartezeit auf das Ergebnis. Außerdem die Belastung durch einen
positiven oder unsicheren Befund mit den möglicherweise resultierenden
Konsequenzen, nämlich der Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch
oder einer zu ändernden Familienplanung. An Schädigungen des sozialen
Umfeldes werden wieder Stigmatisierung (der Familie), Partnerprobleme
und mögliche versicherungsrechtliche Konsequenzen diskutiert.
4.1.3.3 Wohltun
Dem Prinzip der Schadensvermeidung steht das Prinzip der Fürsorge, des
Wohltuns (Beneficience) gegenüber. Ein Aspekt in mehreren Berichten
ist die Möglichkeit, Betroffene schon früh gezielten Fördermaßnahmen
zuzuführen, die eine bestmögliche Entwicklung der Kinder unterstützen
sollen. Dabei ist nicht klar, ob durch spezifische Frühfördermaßnahmen
im Vergleich zu den regulären Fördermaßnahmen für Kinder mit mentalen
Retardierungen tatsächlich Vorteile erzielt werden können. Weiterhin wird
postuliert, dass in Kenntnis des genetischen Befundes das Verständnis der
t378
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Familie und des sozialen Umfeldes für die Symptome und Auffälligkeiten
des Betroffenen größer sei.
Von allen HTA-Berichten wird als positiver Effekt jeder Screeningstrategie
die emotionale Erleichterung bei negativen Testergebnissen genannt.
4.1.3.4 Gerechtigkeit
Aspekte der Gerechtigkeit werden vor allem im Zusammenhang mit dem
Zugang zu den Screeningmaßnahmen diskutiert. Dabei wird festgestellt,
dass vor allem die bevölkerungsbezogenen Screeningstrategien eine sorgfältige Aufklärung der Allgemeinbevölkerung, insbesondere aber auch von
Berufsgruppen, die unmittelbaren Kontakt mit der jeweiligen Zielpopulation
haben (Erzieher, Lehrer, Gynäkologen, Geburtshelfer) erfordern.
Der Zugang wird weiterhin von der zur Abwicklung eines Screeningprogramms
erforderlichen Infrastruktur (Zugang zur Zielgruppe, Beratungsangebote,
Kommunikation von Schul- und Gesundheitssystem, Verfügbarkeit von
qualitativ hochwertigen Testkits) beeinflusst. Diese ist je nach Land und
vorgeschlagener Screeningstrategie in unterschiedlichem Maße vorhanden.
Für die Hochrisikostrategien gilt, dass Prämutationsträger(innen), in deren
Familie bisher kein Indexfall aufgetreten ist, prinzipiell keinen Zugang zum
Screeningsystem haben.
4.1.4. Ordnung der diskutierten ethischen Aspekte aus
Public Health Sicht
4.1.4.1. Verhältnismäßigkeit
Eine Abwägung von erzielbarem Nutzen und in Kauf zu nehmendem
Schaden wird in den Berichten NCCHTA, 2001 und AETMIS ausdrücklich,
in den übrigen Berichten implizit vorgenommen. Dabei werden drei unterschiedliche Gruppen von Betrachtungen angestellt:
n die Nutzen- / Schadenabwägung auf individueller Ebene (für die
Zielpersonen und Familie);
n die Gegenüberstellung des „Nutzen“ (Anzahl / Anteil aufgefundener Fälle
/ Carrier) aus gesellschaftlicher Perspektive gegen den „Schaden“ auf individueller Ebene (psychosoziale Konsequenzen des genetischen Befundes);
n die Abwägung von Nutzen und Schaden aus gesellschaftlicher Perspektive,
dies allerdings nur aus rein monetärer Sicht.
379u
H TA - B e r i c h t e
4.1.4.2 Befähigungsgerechtigkeit
Befähigung meint die „… Bereitstellung tragfähiger Bedingungen zum
Zweck der Teilnahmemöglichkeit an interpersoneller Kommunikation. Es
geht um die Befähigung zu einer längerfristig integral-eigenverantwortlichen Lebensführung unter den gegebenen leiblichen und altersspezifischen
Möglichkeiten….“ (Dabrock 2001). Dieser Aspekt wird in mehreren HTABerichten implizit angesprochen:
n Betonung der Notwendigkeit von Aufklärungsmaßnahmen im Kontext aller
Screeningprogramme;
n im Kontext mit Zugangsgerechtigkeit (Problem der Unterdiagnostik);
n der Notwendigkeit einer umfassenden, verständlichen Beratung als
Voraussetzung für informed consent / informed refusal zur Teilnahme
an Screeningmaßnahmen. Verschärft wird das Problem bei Personen mit
grenzwertigen intellektuellen Fähigkeiten.
Bei der Formulierung des generellen Screeningziels in den Berichten des
NCCHTA von 1997 und 2001 wird ein Paradigmenwechsel zugunsten der
Herstellung von Befähigungsgerechtigkeit im oben genannten Sinne deutlich. 1997 war klar das oberstes Screeningziel die Reduktion der Geburten
von Kindern mit Fragile-X-Syndrom („The principal aim of screening for
fragile X syndrome is to reduce the birth prevalence of the disorder, by prenatal diagnosis and selective termination of pregnancy, or by reducing the
number of pregnancies in women who have the FM or PM alleles.“). Die
Autoren des Berichtes von 2001 definieren dagegen als Ziel (nicht nur für
Screeningmaßnahmen, sondern für die Humangenetik allgemein) Familien
mit genetisch bedingten Beeinträchtigungen Hilfestellung zu einem so weit
wie möglich „normalen“ Leben und Fortpflanzungsverhalten zu geben
(„.. to help those families with a genetic disadvantage live and reproduce
as normally as possible“). Zentrale Bedeutung bei der Umsetzung dieses
Ziels kommt dabei den Risikoaufklärungs- und Beratungsmaßnahmen zu,
die informierte Entscheidungen zum Reproduktionsverhalten ermöglichen
sollen. Eine Folge könnte möglicherweise die Senkung der Inzidenz von
betroffenen Geburten sein.
4.1.4.3. Verantwortlichkeit des Einzelnen im gesellschaftlichen Kontext
Die Verantwortlichkeit von Einzelnen kann im Zusammenhang mit
Screeninginterventionen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Verantwortung kann sich auf Individuen (Kinder, Familienangehörige,
zukünftige Nachkommen) beziehen oder das soziale Umfeld, die Gesellschaft
betreffen. In den HTA-Berichten wird der Anspruch auf Übernahme von
t380
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Verantwortung für die Effektivität der Screeningmaßnahmen als gegenläufiges Prinzip zum Recht auf Autonomie thematisiert.
4.1.4.4. (Bürger-)Partizipation in Entscheidungsprozessen
Die Forderung nach Bürgerpartizipation in Entscheidungsprozessen, soweit
es die Allgemeinbevölkerung betrifft, wird in den HTA-Berichten nicht
nachgekommen. Allerdings waren zumindest betroffene Laiengruppen
(Selbsthilfeorganisationen, nicht-medizinische Professionen, die mit dem
Problem Fragile-X-Syndrom konfrontiert sind,) an drei der fünf HTABerichte beteiligt. Die Autoren des NCCHTA-Berichtes 2001 führten eine
Anhörung von Betroffenenfamilien im Rahmen der Nutzen-SchadenAbwägung von Screeningstrategien durch. Zwei weitere Institutionen
gewährleisten ein Minimum von Partizipation durch multidisziplinär (incl.
Betroffenenvertreter) zusammengesetzte „Beiräte“ (AETMIS, MSAC).
4.1.4.5. Umfassende Sicherung der Gesundheitsversorgung
Unter diesem Aspekt wird insbesondere in den Berichten von AETMIS und
NCCHTA, 2001 die Verantwortung des (staatlichen) Gesundheitssystems
für die Finanzierung einer gleichmäßigen, für die Betroffenen akzeptablen Infrastruktur (Betreuung betroffener Patienten, Beratungen, Schwa
ngerschaftsbegleitung, Monitoring, Register) im Rahmen von Fragile-XScreeningkonzepten angesprochen.
4.1.5. Bewertung
In vier von fünf Berichten zum Fragile-X-Screening wird die
Berücksichtung von ethischen Erwägungen bei der Entscheidung für oder
gegen eine Screeningstrategie für essentiell relevant gehalten. Es werden Gefährdungen der Autonomie, mögliche Schäden, möglicher Nutzen
und Gerechtigkeitsprobleme angesprochen. Werden die unterschiedlichen Perspektiven eingebracht (Individuum, soziales Umfeld - privat,
Professionen, Gesellschaft) lassen sich die Konfliktbereiche unschwer
erkennen. Die Notwendigkeit zur Differenzierung zwischen „ethischen
Aspekten“ und „Public Health relevanten Aspekten“ wird überflüssig (vergl.
Abschnitt 5.5).
Es wird nicht klar, welche ethische Theorie oder welches ethische Konzept
die Berichtsautoren zu den genannten Betrachtungen motiviert hat. Eine
Gewichtung und Bewertung der Probleme (im Sinne einer ethischen
Diskussion) erfolgt in keinem der HTA-Berichte. Lediglich im AETMIS
Bericht ist ein eigenes Kapitel sozialen und ethischen Aspekten gewidmet,
in den übrigen finden sich die Überlegungen verteilt auf unterschiedliche
Berichtsteile (Hintergrund, Bewertung der Strategien, Diskussion).
381u
t382
Befähigung zur informierten Familienund Lebensplanung durch Beratung
(alle Strategien)
Befähigung zum "informed consent"
durch Beratung
Befähigung zur informierten Familienund Lebensplanung durch Beratung.
Autonomie - Chancen
Prämutationsträger(innen) ohne Indexfall
in der Familie haben keinen Zugang zum
System (Hochrisikostrategien)
Ergebnisse
Tabelle 15:
„Ethische“ Probleme im
Zusammenhang mit dem
Fragile-X-Screening
Fortsetzung Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.
Gerechtigkeit - Gefährdung
Gerechtigkeit - Chancen
Psychische Belastung durch Konsequenzen für Lebensplanung (alle Strategien);
physische / psychische Belastungen durch
Folgemaßnahmen (Pränatalscreening:
invasive Pränataldiagnostik, Interruptio)
bei positivem Test:
Stigmatisierung, Diskriminierung
Psychische / emotionale Entlastung (alle
Strategien)
(alle Strategien)
finanzielle Belastungen durch ein behindertes Kind (Case Finding, Neonatalscreening)
Schuldgefühle
Partnerschaftsprobleme
Stigmatisierung
Gezielte Frühförderung (Case finding)
SchadensBelastungs(potential)
Psychische / emotionale Entlastung (alle
Strategien)
Bei Erkrankung:
Nutzen(potential)
bei negativem Test:
bei negativem Test:
Recht auf "Nicht-wissen-wollen" vs.
Verantwortung für Familie/Gesellschaft.
"consent" bei geistig retardierten Personen
und Kindern?
(alle Strategien)
Autonomie - Gefährdung
(alle Strategien)
soziales Umfeld
Individuum
Einführung
29
Aufbau und Sicherstellung bedarfsgerechter, gleichmäßiger Infrastruktur für Beratungen, Testungen, Nachsorge steht aus
(alle Strategien)
(bevölkerungsbezogene Strategien)
Zugang zur Zielgruppe vorhanden
(alle Strategien)
Effizienz im Vergleich zu anderen Maßnahmen der Gesundheitsversorgung?
Effizienz der Screeningstrategien im
Vergleich?
(alle Strategien)
Senkung der Inzidenz von "betroffenen
Geburten"
(alle Strategien)
"verborgene" Eugenik?
(alle Strategien)
(alle Strategien)
Beratungsunsicherheit bei Prämutation;
FM bei Mädchen / weiblichen Feten
Senkung der Inzidenz von "betroffenen
Geburten"
Akzeptanz der Konsequenzen muss
geklärt werden (Schwangerschaftsabbruch, Familienplanung)
(alle Strategien)
Befähigungsgerechtigkeit durch Aufklärung, Bürgerpartizipation zu erreichen?
Gesellschaft
Ärztliches Berufsethos verpflichtet zum
Wohltun
(alle Strategien)
Ärztliche Entscheidungsfreiheit bei "verordneten" Strategien eingeschränkt –
moralische Bewertung der Konsequenzen
(Schwangerschaftsabbruch, Familienplanung)
Professionen
H TA - B e r i c h t e
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Viele der angeführten ethischen Probleme werden mit Daten aus empirischen
Studien belegt, eine systematische Aufarbeitung der Literatur (vollständiges
Auffinden, Qualitätsbewertung) erfolgt allerdings nicht.
4.2. Das hereditäre Mammakarzinom
In den Rechercheergebnissen waren zwei HTA-Berichte enthalten, die
Bewertungen des Einsatzes von prädiktiven genetischen Testverfahren
4.2 Das hereditäre
zur Mammakarzinom
Risikobestimmung für das hereditäre Mammakarzinom vornahmen.
In den Rechercheergebnissen
zwei aus
HTA-Berichte
enthalten,Coordinating
die BewertungenOffice
des Einsatzes
von
Der erste waren
stammt
dem Canadian
for Health
prädiktiven genetischen
Testverfahren
zur Risikobestimmung
für das
Technology
Assessment
(CCOHTA 1999),
derhereditäre
zweite Mammakarzinom
aus dem Institut
vornahmen. Der erste
aus dem Canadian Coordinating
for Health Technology
Assess-der
für stammt
Technikfolgenabschätzung
der Office
österreichischen
Akademie
ment (CCOHTA Wissenschaften
1999), der zweite (ITA
aus dem
Institut
für
Technikfolgenabschätzung
der
österreichi2002). Beide Berichte beschäftigen sich außerdem
schen Akademie der Wissenschaften (ITA 2002). Beide Berichte beschäftigen sich außerdem mit weimit weiteren hereditären Karzinomen (Prostata, Ovarien, Kolon), die im
teren hereditären Karzinomen (Prostata, Ovarien, Kolon), die im Folgenden aber außer Acht bleiben.
Folgenden aber außer Acht bleiben.
Titel
Jahr
Land
Institution
Umfang
Noorani H. Z. et McGahan L.
1999
Kanada
CCOHTA
85 S.
2002
Österreich
ITA
90 S.
Technical report
Predictive genetic testing for breast and prostate
cancer
Jonas S., Schamberger C. et Wild C.
Prädiktive Humangenetische Diagnostik bei hereditärem Mamma- und Kolorektal-karzinom – ein
Assessment
Tabelle 16:
HTA-Berichte
zum hereditären
Mammakarzinom
Tabelle 16: HTA-Berichte zum hereditären Mammakarzinom
4.2.1
4.2.1.1
4.2.1. Policy Question / Beschreibung der Krankheit /
Beschreibung der Technologie
Policy Question / Beschreibung der Krankheit / Beschreibung der Technologie
Policy Question
4.2.1.1. Policy Question
Die „Policy Question“ des CCOHTA-Berichtes beschäftigt sich mit der aktuellen Situation der genetiDie „Policy
Question“
desderCCOHTA-Berichtes
mit der
schen Tests bei Brustkrebs
in Kanada,
fragt nach
potenziellen klinischenbeschäftigt
Relevanz der sich
genetischen
der genetischen
Tests bei und
Brustkrebs
Kanada, fragt
Suszeptibilität füraktuellen
BrustkrebsSituation
und untersucht
ethische, psychosoziale
politischeinAuswirkungen,
der potenziellen
klinischen
der genetischen
die sich durch dienach
augenblicklich
verfügbaren
und noch Relevanz
zu entwickelnden
TechnologienSuszeptibilität
ergeben. Es
soll der Bedarf zur
von klinischen
Leitlinienethische,
abgeschätztpsychosoziale
werden. Der ITA-Bericht
fragt
fürErstellung
Brustkrebs
und untersucht
und politische
nach der aktuellenAuswirkungen,
und künftigen Bedeutung
genetischer
Tests für verfügbaren
Individuen undund
die Gedie sichprädiktiver
durch die
augenblicklich
noch
sellschaft. Die Validität
und
der
gesellschaftliche
Nutzen
der
Testverfahren
werden
hinterfragt,
insbezu entwickelnden Technologien ergeben. Es soll der Bedarf zur Erstellung
sondere weil die Finanzierung
in einem
solidarischabgeschätzt
organisierten werden.
Gesundheitssystem
geregelt werden
von klinischen
Leitlinien
Der ITA-Bericht
fragt
muss. Der ITA-Bericht fokussiert zum Thema „hereditäres Mammakarzinom“ auf die Erkennung von
nach der aktuellen und künftigen Bedeutung prädiktiver genetischer Tests
Mutationen der BRCA1- und BRCA2-Gene.
für Individuen und die Gesellschaft. Die Validität und der gesellschaft-
Wie unter 4.1 wird auch hier die Forderung der Working Group 4 des ECAHI an den Informationsgeliche Nutzen der Testverfahren werden hinterfragt, insbesondere weil die
halt einer Policy Question zugrunde gelegt:
Finanzierung in einem solidarisch organisierten Gesundheitssystem geregelt werden muss. Der ITA-Bericht fokussiert zum Thema „hereditäres
Frage
CCOHTA
Mammakarzinom“ auf die Erkennung von
Mutationen ITA
der BRCA1- und
Wer initiierte den Report?
BRCA2-Gene.
Wer finanzierte den Report?
-
+
Warum wird die Bewertung jetzt gebraucht?
+
+
Welche Entscheidung soll unterstützt werden?
+
+
Wer sind die Adressaten?
+
+
Tabelle 15: Policy Questions, Hereditäres Mammakarzinom
383u
Die „Policy Question“ des CCOHTA-Berichtes beschäftigt sich mit der aktuellen Situation der genetischen Tests bei Brustkrebs in Kanada, fragt nach der potenziellen klinischen Relevanz der genetischen
Suszeptibilität für Brustkrebs und untersucht ethische, psychosoziale und politische Auswirkungen,
die sich durch die augenblicklich verfügbaren und noch zu entwickelnden Technologien ergeben. Es
soll der Bedarf zur Erstellung von klinischen Leitlinien abgeschätzt werden. Der ITA-Bericht fragt
H TA - B e r i cnach
h t eder aktuellen und künftigen Bedeutung prädiktiver genetischer Tests für Individuen und die Gesellschaft. Die Validität und der gesellschaftliche Nutzen der Testverfahren werden hinterfragt, insbesondere weil die Finanzierung in einem solidarisch organisierten Gesundheitssystem geregelt werden
muss. Der ITA-Bericht fokussiert zum Thema „hereditäres Mammakarzinom“ auf die Erkennung von
Mutationen der BRCA1- und BRCA2-Gene.
Wie unter 4.1 wird auch hier die Forderung der Working Group 4 des ECAHI
4.1 wird auch hiereiner
die Forderung
der Working
Group 4gelegt:
des ECAHI an den InformationsgeanWie
denunter
Informationsgehalt
Policy Question
zugrunde
halt einer Policy Question zugrunde gelegt:
Tabelle 17:
Policy Questions,
Hereditäres
Mammakarzinom
Frage
CCOHTA
ITA
Wer initiierte den Report?
-
-
Wer finanzierte den Report?
-
+
Warum wird die Bewertung jetzt gebraucht?
+
+
Welche Entscheidung soll unterstützt werden?
+
+
Wer sind die Adressaten?
+
+
Tabelle 15: Policy Questions, Hereditäres Mammakarzinom
Die Frage nach den Auftraggebern bleibt in beiden Berichten unbeantwortet.
Das ITA weist auf die Teilfinanzierung durch den Fonds Gesundes Österreich
Ergebnisse
30
hin,
der kanadische Bericht wurde im staatlich finanzierten Canadian
Coordinating Office for Health Technology Assessment erstellt. Da man
Die Frage nach den Auftraggebern bleibt in beiden Berichten unbeantwortet. Das ITA weist auf die
sowohl
in Kanada als auch in Österreich mit einer rasanten Entwicklung der
Teilfinanzierung durch den Fonds Gesundes Österreich hin, der kanadische Bericht wurde im staatlich
Genetik
undCanadian
einer Kommerzialisierung
prädiktiven
Tests Da man sowohl
finanzierten
Coordinating Office forvon
Health
Technologygenetischen
Assessment erstellt.
rechnet,
wird
eine
Bewertung
der
aktuellen
und
künftigen
Situation
in Kanada als auch in Österreich mit einer rasanten Entwicklung der Genetik und für
einer Kommerzialiunerlässlich
gehalten. Der
BerichtTests
des ITA
sollwird
die eine
Öffentlichkeit
allgemein
sierung von prädiktiven
genetischen
rechnet,
Bewertung der
aktuellen und künftigen
informieren,
der kanadische
Bericht
wendetdes
sich
diedie
Entscheidungsträger
Situation für unerlässlich
gehalten.
Der Bericht
ITAansoll
Öffentlichkeit allgemein informieren,
der staatlich
kanadische
Bericht wendet
sich an die Entscheidungsträger des staatlich organisierten Gesunddes
organisierten
Gesundheitswesens.
heitswesens.
derPolicy
PolicyQuestion
Questionwird
wirdangegeben,
angegeben, welche
welche Folgen
in den beiden BeInInder
Folgendes
des Technologieeinsatzes
Technologieeinsatzes
richten
betrachtet
werden
sollen:
in den beiden Berichten betrachtet werden sollen:
Tabelle 18:
Intensionen
der HTA
Bericht zum
Hereditären
Mammakarzinom
ITA 2002
Frage der Finanzierung genetischer Tests: durch die Solidargemeinschaft?
Klinische Relevanz der prädiktiven genetischen Tests (Prävention möglich?), ethische,
soziale und gesellschaftliche Auswirkungen der Tests
CCOHTA 1999
Klinische Relevanz der genetischen „Anfälligkeit“, ethische, psychosoziale und politische Auswirkungen der genetischen Suszeptibilität und der prädiktiven genetischen Test
Tabelle 16:Intensionen der HTA Bericht zum Hereditären Mammakarzinom
4.2.1.2. Beschreibung der Krankheit
4.2.1.2
Beschreibung der Krankheit
„Krankheitsmechanismus“
„Krankheitsmechanismus“
beiden Berichten wird ausführlich über die Pathomechanismen des hereditären Mammakarzinoms
InIn beiden
Berichten wird ausführlich über die Pathomechanismen des
berichtet. Dabei liegt ein besonderes Gewicht auf den Mutationen in den Tumorsuppressorgenen
hereditären Mammakarzinoms berichtet. Dabei liegt ein besonderes
BRCA1 und BRCA2. Für das 1994 entdeckte BRCA1-Gen, das auf dem langen Arm des Chromosoms
Gewicht auf den Mutationen in den Tumorsuppressorgenen BRCA1 und
17 lokalisiert ist, sind 450 Mutationen und für das BRCA2-Gen 250 bekannt. Letzteres befindet sich
BRCA2.
Für das
entdeckte13BRCA1-Gen,
auf beschrieben.
dem langen
auf dem langen
Arm 1994
des Chromosoms
und wurde 1995das
erstmals
Die Vererbung erArm
des
Chromosoms
17
lokalisiert
ist,
sind
450
Mutationen
und fürTabelle sind die
folgt autosomal-dominant, allerdings mit variabler Penetranz. In der nachfolgenden
das
BRCA2-Gen
250
bekannt. Letzteres befindet sich auf dem langen
bekannten
Mutationen
aufgeführt:
Arm des Chromosoms 13 und wurde 1995 erstmals beschrieben. Die
Bekannte Art der Mutation
Anzahl der
Deletion
Insertion
Mutationen
t384
Gen
BRCA1 318
BRCA2 154
143
45%
81
44
13,8%
29
Stopcodon
Splicedefekt
Punktmutation
61
19,2%
17
26
8,2%
26
44
13,8%
5
Tabelle 16:Intensionen der HTA Bericht zum Hereditären Mammakarzinom
4.2.1.2
Beschreibung der Krankheit
„Krankheitsmechanismus“
In beiden Berichten wird ausführlich über die Pathomechanismen des hereditären Mammakarzinoms
Genetik in Public Health
berichtet. Dabei liegt ein besonderes Gewicht auf den Mutationen in den Tumorsuppressorgenen
BRCA1 und BRCA2. Für das 1994 entdeckte BRCA1-Gen,
Te i ldas
2 :auf
I n dem
t e g rlangen
a t i o n Arm
v o ndes
G Chromosoms
enetik in Public Health
17 lokalisiert ist, sind 450 Mutationen und für das BRCA2-Gen 250 bekannt. Letzteres befindet sich
auf dem langen Arm des Chromosoms 13 und wurde 1995 erstmals beschrieben. Die Vererbung erVererbung
erfolgt mit
autosomal-dominant,
allerdings
mit variabler
folgt autosomal-dominant,
allerdings
variabler Penetranz. In
der nachfolgenden
TabellePenetranz.
sind die
In der
nachfolgenden Tabelle sind die bekannten Mutationen aufgeführt:
bekannten Mutationen
aufgeführt:
Bekannte Art der Mutation
Anzahl der
Deletion
Insertion
Mutationen
Gen
BRCA1 318
BRCA2 154
143
45%
81
52,6%
44
13,8%
29
18,8%
Stopcodon
Splicedefekt
Punktmutation
61
19,2%
17
11,0%
26
8,2%
26
8,2%
44
13,8%
5
4,0%
Tabelle 19:
Mutationen beim
Hereditären
Mammakarzinom.
Tabelle 17:Mutationen beim Hereditären Mammakarzinom. Quelle: Mutationsdatenbank
(www.nhgri.nih.gov/Intramural_research/Lab_Transfer/Bic/); zitiert nach Jonas et al.
Quelle: Mutationsdatenbank (www.nhgri.nih.gov/Intramural_research/Lab_Transfer/Bic/);
„Klinik“
zitiert nach Jonas et al.
Der österreichische Bericht als auch der kanadische stellen die Klinik des Tumors gleichartig dar: Das
„Klinik“ zeichnet sich dadurch aus, dass es bereits in jüngeren Jahren (prämenohereditäre Mammakarzinom
Der österreichische
auchalsder
stellen die Klinik
des
pausal) diagnostiziert
wird und häufigerBericht
bilateral als
auftritt
daskanadische
sporadische Mammakarzinom.
ITA
Tumors gleichartig dar: Das hereditäre Mammakarzinom zeichnet sich
dadurch aus, dass es bereits in jüngeren Jahren (prämenopausal) diagnostiErgebnisse
31
ziert wird und häufiger bilateral auftritt als das sporadische Mammakarzinom.
ITA gibt an, dass Histologie, Metastasierungsmuster und Überlebenszeiten
gibt an, dass Histologie,
Überlebenszeiten
ähnlich sind wie bei einem spoähnlichMetastasierungsmuster
sind wie bei einem und
sporadischen
Mammakarzinom.
radischen Mammakarzinom.
CCOHTA dagegen weist darauf hin, dass BRCA1-asssoziierte
CCOHTA dagegen
weist darauf
hin, dass
BRCA1-asssoziierte
häufiger
schlecht differenTumoren
häufiger
schlecht
differenziertTumoren
sind, p53
überexprimieren
und
ziert sind, p53 überexprimieren
und
Östrogenrezeptornegativ
sind,
was
mit
einer
ungünstigeren
ProgÖstrogenrezeptornegativ sind, was mit einer ungünstigeren Prognose
einnose einhergeht. hergeht.
Zu den Erkrankungswahrscheinlichkeiten
bei einer Mutation in den
äußern
sichBRCAbeide
Zu den Erkrankungswahrscheinlichkeiten
bei BRCA-Genen
einer Mutation
in den
Berichte: Die Lebenszeit-Inzidenz
wird
mit
mehr
als
80%
für
das
BRCA1-Gen
und
bis
zu
85%
für
Genen äußern sich beide Berichte: Die Lebenszeit-Inzidenz wird das
mit
BRCA2-Gen angegeben. Diese Schätzungen stammen allerdings aus Untersuchungen von Hochrisikomehr als 80% für das BRCA1-Gen und bis zu 85% für das BRCA2-Gen
familien und können nicht ohne weiteres auf andere Personengruppen übertragen werden.
angegeben. Diese Schätzungen stammen allerdings aus Untersuchungen
So finden sich in den HTA-Berichten auch differierende Angaben wegen der unterschiedlichen Bevon Hochrisikofamilien und können nicht ohne weiteres auf andere
zugsgrößen:
Personengruppen übertragen werden.
Frauen
Männer
CCOHTA, 1999
ITA, 2002
".. Overall, disease [Brustkrebs*] was
linked to BRCA1 in an estimated 52% of
families [mit familiärem Brustkrebs], to
BRCA2 in 32% of families, and to neither
gene in 16%...."
Für Frauen in der Allgemeinbevölkerung
wird die Häufigkeit der BRCA1-Mutation
auf 1:500 geschätzt.
"…dass in maximal 50% der Hochrisikofamilien
BRCA1 und BRCA2 nachweisbar sind…"
"… die autosomal-dominante Vererbung betrifft
1-6/1000 Individuen und bietet ein Lebenszeitrisiko von über 80% …"
"…The cumulative risk of breast cancer
in female BRCA2 gene carrier is estimated to be…79.5% by age of 70, while
that for male carriers is 6.3% by age 70."
"..BRCA2 Mutationen werden …… mit einigen
männlichen Mammakarzinomen assoziiert…."
Tabelle 20:
Penetranz der
BRAC1 und
BRCA2 Gene;
* [Erläuterung
durch CB]
Tabelle 18:Penetranz der BRAC1 und BRCA2 Gene; * [Erläuterung durch CB]
„Prävention“
Die Präventionsmöglichkeiten des Erkrankungsausbruchs werden als limitiert angegeben. Eine prophylaktische Antiöstrogentherapie wird laut ITA in der Literatur kontrovers diskutiert. Des weiteren
wird berichtet, dass in Europa eine prophylaktische Mastektomie von den betroffenen Frauen über-
385u
H TA - B e r i c h t e
So finden sich in den HTA-Berichten auch differierende Angaben wegen der
unterschiedlichen Bezugsgrößen:
„Prävention“
Die Präventionsmöglichkeiten des Erkrankungsausbruchs werden als limitiert angegeben. Eine prophylaktische Antiöstrogentherapie wird laut ITA
in der Literatur kontrovers diskutiert. Des weiteren wird berichtet, dass
in Europa eine prophylaktische Mastektomie von den betroffenen Frauen
überwiegend abgelehnt wird. Engmaschige Früherkennungsuntersuchungen
werden als sekundärpräventive Maßnahme in den Mittelpunkt gestellt, der
prädiktive genetische Test soll bei positivem Befund helfen, sich für die
Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen zu entscheiden.
Auch CCOHTA betont, dass eine prädiktive Testung hilfreich sein kann bei
der Entscheidung für eine engmaschige Überwachung oder vorbeugende
Behandlung (z. B.: prophylaktische Mastektomie), die in Amerika – anders
als in Europa – eher akzeptiert wird. Sie fügen allerdings noch die gezielte
Familienplanung (zur Verhinderung der Genweitergabe) als Grund für
einen prädiktiven genetischen Test im Zusammenhang mit dem hereditären
Mammakarzinom hinzu.
„Epidemiologie (Inzidenz, Prävalenz)“
Beide Berichte geben an, dass das Mammakarzinom der häufigste bösartige
Tumor der Frau ist. CCOHTA weist darauf hin, dass in Kanada ca. 19.300
Frauen jährlich an Brustkrebs erkranken und dass 5.300 jedes Jahr daran sterben (Gesamtpopulation etwa 30 Mio. Einwohner). In Österreich erkranken
jährlich etwa 4.553 Frauen und 46 Männer an Brustkrebs (Gesamtpopulation
etwa 8 Mio. Einwohner). Schätzungen nach sind 250 bis 400 Frauen pro Jahr
vom hereditären Mammakarzinom betroffen. Das entspricht ungefähr 5-10%
aller Brustkrebsfälle (ITA, 2002).
„Zielgruppe (Alter, Geschlecht, Risikofaktoren)“
Der Bericht aus dem ITA nennt als Zielgruppe einer möglichen
Screeningintervention Personen (in erster Linie Frauen) aus Risikofamilien.
Der Status „Risikofamilie“ ist dann gegeben, wenn eine Frau zwei oder
mehr erstgradige Angehörige (Mutter, Schwester, Tochter) mit prämenopausal diagnostiziertem Brustkrebs hat. Der prädiktive genetische Test wird
zentral in Wien durchgeführt, die begleitende genetische Beratung erfolgt
wohnortnah.
CCOHTA legt dar, dass eine genetische Beratung im Zusammenhang mit
erblichen Krebserkrankungen hauptsächlich in US amerikanische Studien
t386
Einwohner). Schätzungen nach sind 250 bis 400 Frauen pro Jahr vom hereditären Mammakarzinom
betroffen. Das entspricht ungefähr 5-10% aller Brustkrebsfälle (ITA, 2002).
„Zielgruppe (Alter, Geschlecht, Risikofaktoren)“
Der Bericht aus dem ITA nennt als Zielgruppe einer möglichen Screeningintervention Personen (in
Ggegeben,
e n e t i wenn
k i neineP uFrau
blic Health
erster Linie Frauen) aus Risikofamilien. Der Status "Risikofamilie" ist dann
zwei
oder
mehr
erstgradige
Angehörige
(Mutter,
Schwester,
Tochter)
mit
prämenopausal
diagnosti
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
ziertem Brustkrebs hat. Der prädiktive genetische Test wird zentral in Wien durchgeführt, die begleitende genetische Beratung erfolgt wohnortnah.
CCOHTA legt dar,
eine genetische
Beratung im
Zusammenhang
mit erblichen
Krebserkrankunmitdass
erstgradigen
Verwandten
von
Krebspatientinnen
und -patienten
in der
gen hauptsächlichLiteratur
in US amerikanische
Studien
mit
erstgradigen
Verwandten
von
Krebspatientinnen
beschrieben ist. In Kanada wurden (zum Berichtszeitpunkt 1999)
und -patienten inprädiktive
der Literaturgenetische
beschriebenTests
ist. In auf
Kanada
wurden (zum
Berichtszeitpunkt 1999)nur
prä-im
hereditäre
Karzinomerkrankungen
diktive genetischeRahmen
Tests aufvon
hereditäre
Karzinomerkrankungen
nur
im
Rahmen
von
wissenschaftlichen
wissenschaftlichen Untersuchungen eingesetzt.
Untersuchungen eingesetzt.
4.2.1.3
4.2.1.3. Beschreibung der Technologie
Beschreibung der Technologie
Analytische Testcharakteristika
Analytische Testcharakteristika
In den Berichten werden unterschiedliche Testverfahren zu Diagnostik und Screening bei hereditärem
In den Berichten werden unterschiedliche Testverfahren zu Diagnostik und
Brustkrebs beschrieben:
Screening bei hereditärem Brustkrebs beschrieben:
CCOHTA, 1999
ITA, 2002
Sequenzanalyse
+
+
Denaturing High Performance Liquid Chromatography DHPLC
-
+
Multiplex Heteroduplex Analysis MHX
+
-
Single-Strand Conformation Polymorphism SSCP
+
-
Protein-Trunkationstest PTT
+
+
Fluorescence in situ Hybridization FISH
+
-
Dideoxy Fingerprinting DDF
+
-
PCR SSCP MHX
+
-
Southern Blot
+
-
serologische Tests
-
-
Chip-Technologie
-
(+)
Tabelle 21:
Genetische Testmethoden zum
Hereditären
Mammakarzinom
Tabelle 19: Genetische Testmethoden zum Hereditären Mammakarzinom
Beide Berichte werten die Gensequenzierung als „Goldstandard“. ITA gibt
die DHPLC mit einer Sensitivität bis zu 100% als alternative Möglichkeit
Beide Berichte werten
die Gensequenzierung
„Goldstandard“. ITA gibt(PTT)
die DHPLC
Senan. Die
Sensitivität des als
Protein-Trunkationstest
wird mit
bei einer
CCOHTA
sitivität bis zu 100% als alternative Möglichkeit an. Die Sensitivität des Protein-Trunkationstest (PTT)
mit 70-90% bzw. von ITA mit 65-90% beziffert. Die Sensitivität von
wird bei CCOHTA mit 70-90% bzw. von ITA mit 65-90% beziffert. Die Sensitivität von Verfahren
Verfahren wie Multiplex Heteroduplex Analysis (MHX) oder Single-Strand
wie Multiplex Heteroduplex Analysis (MHX) oder Single-Strand Conformation Polymorphism
Conformation Polymorphism (SSCP) wird bei CCOHTA als variabel
(SSCP) wird bei CCOHTA als variabel bezeichnet. Die Kanadier weisen zwar daraufhin, dass für
bezeichnet.
Die Kanadier
weisen zwar
daraufhin,
dass für
DNA-basierte
DNA-basierte Tests
optimale Schätzungen
der Sensitivität
und Spezifität
vorliegen
müssen,
damit sie
Tests
optimale
Schätzungen
der
Sensitivität
und
Spezifität
vorliegen
müsin die klinische Diagnostik eingeführt werden können, geben allerdings für keinen Test an, wie hoch
sen,
damit
sie
in
die
klinische
Diagnostik
eingeführt
werden
können,
geben
die Spezifität ist. Auch die Autoren des ITA äußern sich nicht zur Spezifität. Beide Berichte geben
für keinen Test an.
an, wie hoch die Spezifität ist. Auch die Autoren
aber für einzelne allerdings
Studien Falsch-Positiv-Raten
des ITA äußern sich nicht zur Spezifität. Beide Berichte geben aber für einErgebnisse
33
zelne Studien Falsch-Positiv-Raten an.
Diagnostische Testcharakteristika
Die analytische Validität eines genetischen Tests ist abhängig von der
Genauigkeit, der Zuverlässigkeit als auch von der Qualität, mit der das
Labor arbeitet (Lagerung und Aufarbeitung der Proben, z.B.) (ITA).
387u
H TA - B e r i c h t e
Diagnostische Testcharakteristika
Testcharakteristika
Diagnostische
DerDie
Vorhersagewert
des prädiktiven
Tests hängt
von
der klinischen
Validität der Zuverlässiganalytische Validität
Validität
eines genetischen
genetischen
Tests ist
ist
abhängig
von der
der Genauigkeit,
Genauigkeit,
Die analytische
eines
Tests
abhängig
von
der Zuverlässig(vgl.keitBurke
et
al.
2002),
der
Prävalenz
der
Störung
in
der
Zielpopulation
als auch
auch von
von der
der Qualität,
Qualität, mit
mit der
der das
das Labor
Labor arbeitet
arbeitet (Lagerung
(Lagerung und
und Aufarbeitung
Aufarbeitung der
der Proben,
Proben,
keit als
undz.B.)
der(ITA).
Penetranz des genetischen Defekts (Genotyp-Phänotypz.B.) (ITA).
Korrelation)
ab. Unter
nahezu
Sensitivität
der Burke et al. 2002),
Der Vorhersagewert
Vorhersagewert
desAnnahme
prädiktiveneiner
Tests hängt
hängt von
von100%igen
der klinischen
klinischen
Validität (vgl.
(vgl.
Der
des
prädiktiven
Tests
der
Validität
Burke et al. 2002),
Sequenzierungsanalysen
liegen
die
positiv
prädiktiven
Werte
in
betroffenen
der Prävalenz
Prävalenz der
der Störung
Störung in
in der
der Zielpopulation
Zielpopulation und
und der
der Penetranz
Penetranz des
des genetischen
genetischen Defekts
Defekts (Genotyp(Genotypder
Familien
zwischen
50%
und
80%.
Phänotyp-Korrelation)
ab.
Unter
Annahme
einer
nahezu
100%igen
Sensitivität
der
SequenzierungsaPhänotyp-Korrelation) ab. Unter Annahme einer nahezu 100%igen Sensitivität der Sequenzierungsanalysen liegen
liegen die
diepositiv
positiv prädiktiven
prädiktiven Werte
Wertein
in betroffenen
betroffenen Familien
Familien zwischen
zwischen 50%
50%und
und 80%.
80%.
nalysen
Infrastruktureller und organisatorischer Kontext
Infrastruktureller
und organisatorischer
organisatorischer
Kontext
DieInfrastruktureller
berichteten infrastrukturellen
undKontext
organisatorischen Voraussetzungen in
und
Die
berichteten
infrastrukturellen
und
organisatorischen
Voraussetzungen
in Kanada
Kanada und
und Österreich
Österreich
Kanada
und
Österreich
sind
sehr
verschieden,
was auf
die grundlegenden
Die berichteten infrastrukturellen und organisatorischen
Voraussetzungen
in
sind
sehr
verschieden,
was
auf
die
grundlegenden
Differenzen
der
beiden
Gesundheitssysteme
oder
Differenzen
der beiden was
Gesundheitssysteme
oderDifferenzen
auch auf der
die beiden
unterschiedsind sehr verschieden,
auf die grundlegenden
Gesundheitssysteme oder
auch
auf
die
unterschiedlichen
Zeitpunkte
der
Veröffentlichung
der
HTA-Berichte
zurückzuführen
auchZeitpunkte
auf die unterschiedlichen
Zeitpunkteder
der HTA-Berichte
Veröffentlichungzurückzuführen
der HTA-Berichte zurückzuführen
lichen
der Veröffentlichung
sein könnte.
könnte.
seinsein
könnte.
Artdes
desGesundheitssystems
Gesundheitssystems
Art
Prädiktive
genetischeTests
Testsbereits
bereitsimpleimplePrädiktive genetische
mentiert
mentiert
Tabelle 22:
Infrastruktureller
Kontext, Hereditäres
Mammakarzinom
Kanada(CCOHTA)
(CCOHTA)
Kanada
staatlich
staatlich
Österreich(ITA)
(ITA)
Österreich
Sozialversicherungssystem
Sozialversicherungssystem
Nurinnerhalb
innerhalbvon
von
Nur
Forschungsprojekten
Forschungsprojekten
Ja,mit
mitIndikation,
Indikation,z.B.:
z.B.:FrauFrauJa,
enaus
ausBrustkrebs-belasteten
Brustkrebs-belasteten
en
Familien
Familien
BestehendeGesetzliche
GesetzlicheRegelungen
Regelungen zu
zu(prä(prä- Verbot medizinischer Tests
Bestehende
Verbot medizinischer Tests
diktiven)genetischen
genetischen Tests/
Tests/medizinischen
medizinischen
durchArbeitgeber
Arbeitgeber vor
vorEinEindiktiven)
durch
Tests
stellung
Tests
stellung
Ja,Gentechnik-Gesetz
Gentechnik-Gesetz
Ja,
Tabelle20:Infrastruktureller
20:InfrastrukturellerKontext,
Kontext,Hereditäres
HereditäresMammakarzinom
Mammakarzinom
Tabelle
4.2.2. Indikationen
4.2.2 Indikationen
Indikationen
Im 4.2.2
folgenden Abschnitt werden die in den HTA-Berichten genannten
Im
folgenden
Abschnitt werden
werden die
die in
in den
den HTA-Berichten
HTA-Berichten genannten
genannten Indikationen
Indikationen für
für eine genetische
Im folgendenfür
Abschnitt
Indikationen
eineoder
genetische
Testung
aufbesprochen.
BRCA1- oder
BRCA2- eine genetische
Testung
auf
BRCA1BRCA2-Genmutationen
Testung auf BRCA1- oder BRCA2-Genmutationen besprochen.
Genmutationen besprochen.
Tabelle 23:
Screeningstrategien,
Hereditäres
Mammakarzinom
CCOHTA 1999
1999
CCOHTA
ITA 2002
2002
ITA
+
++
++
++
Screeningziel: Identifikation
Identifikationvon
von betroffenen
betroffenen Individuen
Individuen
Screeningziel:
Individuelle
Risikobestimmung
+
Individuelle Risikobestimmung
Screeningziel: Identifikation
Identifikationvon
vonCarriern
Carriern
Screeningziel:
Kaskadenscreening
Kaskadenscreening
Tabelle21:
21:Screeningstrategien,
Screeningstrategien,Hereditäres
Hereditäres Mammakarzinom
Mammakarzinom
Tabelle
4.2.2.1. Individuelle Risikobestimmung
4.2.2.1 Individuelle
IndividuelleRisikobestimmung
Risikobestimmung
Als4.2.2.1
Indikation für eine
prädiktive genetische Testung auf BRCA1Als
Indikation
für
eine
prädiktive genetische
genetische Testung auf
auf BRCA1- und
und BRCA2-Mutationen
BRCA2-Mutationen wird
wird in
in
Indikation für eine prädiktive
undAlsBRCA2-Mutationen
wird in beiden Testung
Berichten BRCA1die Feststellung
des
beiden
Berichten
die
Feststellung
des
Brustkrebsrisikos
von
Frauen
aus
Hochrisikofamilien
genannt.
beiden Berichten von
die Feststellung
desHochrisikofamilien
Brustkrebsrisikos vongenannt.
Frauen ausDer
Hochrisikofamilien
genannt.
Brustkrebsrisikos
Frauen
aus
gene-und/ oder sekundärDer genetische
genetische Befund
Befund soll
soll die
die informierte
informierte Entscheidung
Entscheidung für
für oder
oder gegen
gegen primärprimär- und/
Der
oder sekundärtische
BefundMaßnahmen
soll die informierte
Entscheidung für oderggf.
gegen
primär- und/
präventive
(Früherkennungsuntersuchungen,
prophylaktische
Operation, FamilienFamilienpräventive
Maßnahmen (Früherkennungsuntersuchungen,
ggf. prophylaktische
Operation,
oderplanung)
sekundärpräventive
Maßnahmen
(Früherkennungsuntersuchungen,
ggf.
unterstützen.
BRCA1und
BRCA2-Testungen
werden
auch
als
"Kaskadenscreening"
planung) unterstützen. BRCA1- und BRCA2-Testungen werden auch als "Kaskadenscreening"
prophylaktische Operation, Familienplanung) unterstützen. BRCA1- und
BRCA2-Testungen werden auch als „Kaskadenscreening“
Ergebnisse
Ergebnisse
t388
34
34
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
(vergl. 4.1.2.2) im familiären Umfeld von betroffenen Patientinnen (bzw. in
Ausnahmefällen auch Patienten) eingesetzt.
In Österreich
genetische
Beratungen
vor (bzw.
und nach
der Untersuchung
(vergl. 4.1.2.2)
im familiärensind
Umfeld
von betroffenen
Patientinnen
in Ausnahmefällen
auch
Patienten) eingesetzt.
gesetzlich vorgeschrieben.
In ÖsterreichDie
sindFolgen
genetische
vor und nach der Untersuchung
gesetzlich
vorgeschrieben.
desBeratungen
Technologieeinsatzes
werden in beiden
Berichten
ganz ähnDie Folgen des
werden in beiden Berichten ganz ähnlich gesehen.
lichTechnologieeinsatzes
gesehen.
Folgedimension
medizinisch /
physisch
für die Zielperson
"Vorteile"
"Probleme"
Prophylaktische Mastektomie senkt das
Risiko relativ um 90% (ITA)
Eine in jungen Jahren beginnende regelmäßige Mammographie bei Frauen
aus Hochrisikogruppen hat das Potenzial
selbst Schaden auszulösen. Man schätzt,
dass ein zusätzlicher strahleninduzierter
Tod bei 10.000 gescreenten Frauen im
Verlauf von 10 Jahren auftritt (ITA).
Prophylaktische Tamoxifengabe (USA)
senkt das Risiko relativ um 45% (ITA)
Wenn eine prophylaktische Mastektomie
in Anspruch genommen wird, dann ist
mit einer Narbenbildung und den entsprechenden Folgen sowie mit der Beeinträchtigung der sexuellen Identität zu
rechnen (CCOHTA).
psychisch
für die Zielperson
sozial
Familie
Ausschluss des Trägerstatus in belasteten Familien kann entlastend wirken
(„… the psychological benefit of relief
from uncertainty…“ (ITA)
Die Familie kann durch das Wissen um Die Familie kann durch das Wissen um
den Träger-/ Nicht-Trägerstatus entlastet den Träger-/ Nicht-Trägerstatus belastet
werden (CCOHTA).
werden (CCOHTA).
sozial
Konfliktpotenzial, falls die getestete
Person Informationen zum Carrierstatus
weiteren gefährdeten Familienangehörigen nicht preisgeben möchte, obwohl für
diese Personen Prävention sinnvoll und
möglich wären (CCOHTA).
Arzt-Patienten-Beziehung
sozial
Stigmatisierungspotenzial in Familie
sowie unter Freunden, Kollegen
Freunde, Kollegen,
Nachbarn
gesellschaftlich
Arbeitswelt,
Versicherungen,
Die Belastung einer Frau, die ihren Trägerstatus kennt, kann erheblich sein,
insbesondere bei den bekannten Grenzen
der präventiven Möglichkeiten (CCOHTA).
Bestehende gesetzliche Regelung in
Österreich in Bezug auf Versicherungen
und genetische Tests (ITA)
Der kanadische HTA-Bericht fragt nach
dem möglichen Verlust des Versicherungsschutzes oder des Arbeitsplatzes.
Gesundheitswesen
mögliche versicherungsrechtlichen Konsequenzen eines positiven Testergebnisses (ITA)
kulturell
Personen (z. B.: Ashkenazi, USA) aus
Hochrisikogruppen könnten einem moralischen Zwang zum Test mit seinen
unerwünschten Handlungskonsequenzen
unterliegen (CCOHTA).
Gesellschaft
„Kranke ohne Symptome“ nach positivem genetischem Test (ITA)
ökonomisch
Entsolidarisierung öffentlicher Gesundheitssysteme (ITA)
Tabelle 24:
Technologiefolgen,
Risikoscreening,
Hereditäres Mammakarzinom
Tabelle 22: Technologiefolgen, Risikoscreening, Hereditäres Mammakarzinom
Ergebnisse
35
389u
H TA - B e r i c h t e
4.2.3.Ordnung der diskutierten ethischen Aspekte nach Beauchamp
und Childress
Auch in den HTA-Berichten zum hereditären Brustkrebs werden
Technologiefolgen angesprochen, die im weitesten Sinne der oben eingeführten Arbeitsdefinition von „ethischen Aspekten“ entsprechen. Sie
werden, soweit möglich, im Folgenden den vier ethischen Grundprinzipien
nach Beauchamp und Childress bzw. den ergänzenden Prinzipien für Public
Health-Maßnahmen zugeordnet.
4.2.3.1. Autonomie
Zu diesem Punkt nehmen beiden Berichte Stellung. Das Recht auf
Selbstbestimmung (informed consent/ informed refusal zur Testteilnahme)
sowie das Recht auf Wissen bzw. Nicht-Wissen werden angesprochen. Die
Notwendigkeit einer begleitenden genetischen Beratung wird betont. ITA
weist darauf hin, wie wichtig die Art und Weise ist, in der das Testergebnis
an die entsprechende Person weitergegeben wird (non-direktive Beratung
vor und nach Testdurchführung, verständliche Risikokommunikation).
Die Privatsphäre des Ratsuchenden muss geschützt werden (CCOHTA). Die
Vertraulichkeit der Testergebnisse darf nicht außer Acht gelassen werden,
was laut CCOHTA angesichts der Besonderheit der genetischen Information
im Widerspruch zu den Bedürfnissen der Familie stehen kann.
Die Befähigung zu einer autonomen Entscheidung bedarf der Information.
ITA fordert: „Mitbestimmen setzt ein gewisses Maß an Mitwissen voraus!“
CCOHTA thematisiert darüber hinaus den Besitzstand genetischer Proben
und ihre Verwahrung sowie datenschutzrechtliche Aspekte.
4.2.3.2. Schadensvermeidung
CCOHTA betont die Verpflichtung gegenüber der zu testenden Person,
Risiken und Belastungen zu verhindern, abzuwenden oder zu minimieren.
Hierzu gehöre, zum Beispiel, Frauen durch die Unterstützung des betreuenden Arztes Angst und Depressivität zu nehmen.
ITA sieht in der Unsicherheit und fraglichen Qualität der angebotenen
genetischen Tests und der Beratung ebenso ein Schadenspotenzial wie im
fraglichen Nutzen eines Tests, wenn keine Therapiemöglichkeit existiert.
Generell besteht die Gefahr einer Stigmatisierung durch die „Etikettierung“
der testpositiven Personen als „Kranke ohne Symptome“.
t390
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
In beiden HTA-Berichten wird angenommen, dass es zu einer
Kommerzialisierung des Marktes genetischer Tests kommt. ITA befürchtet,
dass wenig aussagekräftige Tests auf den Markt kommen und in Anspruch
genommen werden. Darüber hinaus könnten Testung und qualifizierte Beratung
aus monetären Gründen entkoppelt werden. Finanzierungsmodalitäten
sind für prädiktive genetische Tests noch zu klären. ITA fordert deshalb
Regulierungsmaßnahmen auf europäischer Ebene für Testqualität und
Rahmenbedingungen. CCOHTA schlägt zu diesem Zweck die Erstellung
von (nationalen) Leitlinien vor. CCOHTA empfiehlt einen prädiktiven genetischen Test „Personen unter Risiko“ anzubieten, was darunter zu verstehen
ist, wird nicht weiter spezifiziert. Schadenspotenzial besteht durch die als
Konsequenz eines positiven Testergebnisses eingeleiteten prophylaktischen
Maßnahmen (psychologische Belastung durch häufige Früherkennungsunte
rsuchungen mit Warten auf Ergebnisse; Strahlenbelastungen durch häufige
und frühzeitig initiiertes Mammographien; physische, psychische und soziale Belastungen durch prophylaktische Mastektomie) (CCOHTA, ITA). Die
Autorinnen des ITA stellen die prophylaktische Mastektomie als präventive
Maßnahme in Frage, und zwar nicht unbegründet:
Die Organ erhaltende Operation ist heute therapeutischer Standard, eine
prophylaktische Mastektomie wäre somit ein radikaleres Vorgehen als die
kurative Behandlung einer erkrankten Person.
Die prophylaktische Mastektomie ist zwar in der Lage, das Risiko an Brustkrebs
zu erkranken, zu verringern, kann es aber nicht aufheben. Außerdem, so
berichten Jonas et al., sei der Überlebensvorteil eines solchen Eingriffes
fraglich. Auch für die Mammographie als Früherkennungsmaßnahme ist ein
Schadenspotenzial anzunehmen: ITA gibt Schätzun-gen an, nach denen auf
10.000 mammographierte Frauen innerhalb von 10 Jahren mit einem zusätzlichen Todesfall zu rechnen ist.
4.2.3.3. Wohltun
Das Prinzip der Schadensvermeidung wird ergänzt durch das Prinzip des
Nutzens, des Wohltuns. CCHOTA und ITA führen die potenzielle psychische Entlastung (Wohlergehen) von Personen aus Hochrisikofamilien
bei Kenntnis des Trägerstatus, unabhängig vom Ausfall des Testergebnisses,
an.
Vor allem von CCOHTA, aber auch von ITA werden unter der
Vorgabe „Wohltun“ die möglichen Effekte der wenigen verfügbaren
Prophylaxemaßnahmen angeführt, auch wenn die Studienergebnisse nicht
immer eindeutig sind. Dazu gehören die Verbesserung der Lebenserwartung
391u
H TA - B e r i c h t e
durch Früherkennungsmaßnahmen und frühzeitige Therapie, aber auch mögliche positive Aspekte der prophylaktischen Operation („einzige effektive
Möglichkeit zur Risikoreduktion“ und „psychological peace of mind“).
4.2.3.4. Gerechtigkeit
Die Autoren des ITA thematisieren unter dem Aspekt der Gerechtigkeit den
Anspruch auf gleichen Zugang zu medizinischen Leistungen. Dabei sei es
vor allem erforderlich, die Verantwortlichkeit der Solidargemeinschaft bei
prädiktiven genetischen Tests genau zu definieren und die Finanzierung im
solidarisch organisierten Gesundheitssystem zu organisieren.
4.2.4.Ordnung der diskutierten ethischen Aspekte aus Public
Health Sicht
4.2.4.1. Verhältnismäßigkeit
Der Aspekt der „Verhältnismäßigkeit“, d.h. eine direkte Gegenüberstellung
von Nutzen und Schaden des prädiktiven Tests wurde in den Berichten nicht
explizit bearbeitet. Bei ITA findet sich allerdings eine direkte Nutzen- und
Schadenabwägung der Testkonsequenzen. Es werden Studiendaten zum
Nutzen (angegeben in QALYs) von intensiven Früherkennungsprogrammen,
prophylaktischer Mastektomie, medikamentöser Prophylaxe allein oder in
Kombination vorgestellt, nachdem zuvor ihr Schadenspotential beschrieben
wurde.
4.2.4.2. Befähigungsgerechtigkeit
Der Aspekt Befähigungsgerechtigkeit (vergl. 4.1.4.2) wird in den HTABerichten implizit angesprochen:
n im Kontext mit Zugangsgerechtigkeit (ITA);
n im Zusammhang mit der Notwendigkeit einer non-direktiven, umfassenden,
verständlichen Beratung als Voraussetzung für informed consent / informed
refusal zur Teilnahme an diagnostischen Maßnahmen (ITA, CCOHTA)
4.2.4.3. Verantwortlichkeit des Einzelnen
Im kanadischen HTA-Bericht wird die Verantwortlichkeit des Einzelnen
gegenüber der Familie bei positivem Testergebnis angesprochen, z.B. die
Verantwortung einer jüdischen Frau (Ashkenazi) ihren Angehörigen gegenüber.
Wie weiter oben unter „Folgen des Technologieeinsatzes auf die ArztPatienten-Beziehung“ angedeutet, wird von CCOHTA angesprochen, dass
für den Arzt eine „ethische“ Verpflichtung bestehen könnte, das erhöhte
t392
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
familiäre Krebsrisiko auch ohne Einwilligung des getesteten Probanden
mitzuteilen. Das Vorgehen soll den Familienmitgliedern die Möglichkeit zur
wirksamen Prophylaxe und / oder Frühtherapie geben und eine informierte
Familienplanung erlauben.
4.2.4.4. (Bürger-)Partizipation in Entscheidungsprozessen
Bei beiden HTA-Berichten bleibt unklar, ob und in welchem Maße
die Perspektiven von Betroffenen und der Allgemeinbevölkerung in die
Bewertungen integriert worden sind. Der Aspekt „Bürgerpartizipation“
wird bei CCOHTA nicht thematisiert. Bei ITA wird zumindest als beratende „Expertin“ eine Mitarbeiterin eines Frauengesundheitszentrums
genannt, ihre Rolle im Rahmen der Berichterstellung wird allerdings
nicht näher erläutert. ITA fordert in seinen Schlussfolgerungen eine
Verbesserung der Informationslage für die Bevölkerung zu prädiktiven genetischen Testverfahren und die Schaffung von Strukturen zur partizipativen
Prioritätensetzung nach dem Muster der „Bürgerkonferenz“ in Deutschland
bzw. den „Publiforen“ der Schweiz. Diese Empfehlung betrifft allerdings
den ganzen Bereich prädiktive genetische Testung, nicht allein das hereditäres Mammakarzinom.
4.2.4.5. Umfassende Sicherung der Gesundheitsversorgung
Der HTA-Bericht aus Österreich spricht die Finanzierung prädiktiver genetischer Test auf dem Hintergrund einer drohenden Kommerzialisierung und
eines möglichen Angebots unsinniger Tests an. Eine Regelung wird für die
Solidargemeinschaft gefordert.
Im staatlich organisierten Gesundheitssystem Kanadas fordert
CCOHTA Leitlinien für die Implementierung genetischer Tests in die
Regelversorgung.
4.2.5.Bewertung
CCOHTA weist auf begrenzte Präventionsmöglichkeiten (inkomplette
Penetranz der BRCA1- bzw. BRCA2-Mutation, Unsicherheiten im Rahmen
der konventionellen klinischen Diagnostik, eingeschränkte Möglichkeit
einer prophylaktischen Therapie) hin. Ihr qualitativer HTA-Bericht fordert
genetische Tests zur Senkung von Morbidität und Mortalität bei hereditärem
Brustkrebs. Dabei wird betont, dass die herkömmlichen klinischen Verfahren
wie klinische Brustuntersuchung und Mammographie dazu nicht unbedingt
geeignet sind. Zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wurde in Kanada nur
innerhalb klinischer Forschung eine prädiktive genetische Testung durchgeführt. Noorani et al. (1999) fordern, die Entwicklung von Leitlinien zum
Umgang mit prädiktiven genetischen Tests.
393u
H TA - B e r i c h t e
ITA gibt folgendes zu bedenken: Es handelt sich bei dem hereditären
Mammakarzinom um ein schweres Krankheitsbild, die Behandlung ist aufwendig und langwierig. Die Autoren erörtern die Aussagekraft und Validität
der angebotenen Tests als auch die begrenzte Möglichkeit zu Prävention,
Früherkennung und Therapie. Sie bezeichnen das Bevölkerungsbezogene
Risiko an Brustkrebs zu erkranken als hoch. Aus den Erörterungen epidemiologischer und ethischer Aspekte in ihrer Bewertung schlussfolgern sie, dass
es eine Partizipation der Bevölkerung an Entscheidungen zu prädiktiven
genetischen Tests geben muss. Dazu ist die Öffentlichkeit möglichst umfassend zu informieren. Inwieweit genetische Tests von der Solidargemeinschaft
getragen werden sollen, soll geklärt werden. Da nur 5% aller Frauen, die an
Brustkrebs erkranken, ein hereditäres Leiden haben, wird ein prädiktiver
genetischer Test bisher nur der entsprechenden Risikogruppe angeboten.
Notwendig ist eine verständliche Risikokommunikation auf dem Boden
einer qualifizierten genetischen Beratung.
Nach unterschiedlichen Perspektiven (Individuum, Familie, Profession,
Gesellschaft) differenzierte Ansätze für eine ethische Diskussion können
Tabelle 25 entnommen werden.
t394
"Indexfall" schafft Zugang zum Versorgungssystem für Verwandte?
Positive Testergebnisse führen zu Folgen,
die psychisch und sozial als negativ
wahrgenommen werden (Angst, Stigmatisierung, Diskriminierung)?
Ergebnisse
Tabelle
25:23: "Ethische" Probleme im Zusammenhang mit der BRCA1 und BRCA2 Testung
Tabelle
„Ethische“ Probleme
im Zusammenhang
mit der BRCA1
und BRCA2 Testung
Gerechtigkeit - Gefährdung
Gerechtigkeit - Chancen
Positive Testergebnisse und ihre Konsequenzen können zu psychischem und
physischem Schaden führen (prophylaktische Mastektomie, Tamoxifeneinnahme,
Strahlenbelastung durch Mammographie)
Präventionsmaßnahmen werden möglicherweise gezielt in Anspruch genommen
Korrekte Informationen durch richtig
positive / richtig negative Testergebnisse
können zur psychischen Entlastung führen
Widerspruch zwischen dem Recht auf
Datenschutz seitens des Getesteten und
dem Informationsbedarf der Familie.
40
Sicherstellung eines gleichmäßigen,
qualitativ hochwertigen Test- und Beratungsangebotes durch Leitlinien.
Non-direktive Beratung als Instrument für
eine informierte, tragfähige Arzt-PatientBeziehung?
Professionen
Kommerzialisierungstendenz
schafft ungleiche Zugangsvoraussetzungen
Gleichmäßigkeit des Zugangs und
der Versorgung?
Menschlicher und monetärer
Aufwand für Testdurchführung
und Beratung im Falle der Testeinführung zulasten der Solidargemeinschaft. (Allokation knapper Ressourcen)
Fraglich: Verminderung der
Krankheitslast durch Prävention
des Krankheitsausbruchs?
Druck durch Versicherungswirtschaft (Lebens- und Krankenversicherungen)
Partizipative Entscheidungsprozesse vor dem Hintergrund eines
wachsenden Marktes für genetische Testverfahren (ökonomischer Druck),
Partizipationsmöglichkeiten der
Bürger beim Entscheidungsprozess?
Befähigung der Gesellschaft zur
informierten Entscheidung für
oder gegen die Einführung des
Testverfahrens?
Befähigung der Gesellschaft zur
Konsentierung von erwünschten
Testfolgen?
Gesellschaft
Schadens- und
Belastungspotenzial
Nutzen(potenzial)
Gefahr, wenn der Besitzstand genetischer
Proben nicht klar ist.
Verantwortungsgefühl für Familie, Gesellschaft beeinflusst die eigene freie
Entscheidung Gruppendruck, -zwang?
Vertraulichkeit der Daten
Mitteilung von unerwünschten Informationen?
Ausreichend Informationen zur Befähigung eines "informed consent" / "informed refusal", einer informierten Familienund Lebensplanung?
Ausreichend Informationen zur Befähigung eines "informed consent" / "informed refusal" durch qualifizierte, nondirektive genetische Beratung
Informierte Familien- und Lebensplanung?
soziales Umfeld
Individuum
Autonomie - Gefährdung
Einführung
Autonomie - Chancen
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
395u
H TA - B e r i c h t e
5. Diskussion
5.1.Wird in HTA-Berichten zur Bewertung von
genetischen Testverfahren auf die ethischen
Implikationen des Technologieeinsatzes
eingegangen?
Insgesamt wurden sieben HTA-Berichte zu genetischen Testverfahren
analysiert, ob und in wieweit eine Diskussion ethischer Konsequenzen des
Verfahrenseinsatzes vorgenommen wurde und ob diese Ergebnisse Eingang
in die Schlussfolgerungen der Berichte gefunden haben. In zwei von sieben
Berichten wird die Notwendigkeit zu Betrachtung ethischer Konsequenzen
explizit (AETMIS 2001; CCOHTA 1999) in drei weiteren (MSAC 2002;
ITA 2002; Murray 1999) implizit als Gegenstand der Bewertung benannt.
Im Bericht NCCHTA, 2001 folgt die Einführung in ethische Probleme im
Teil „Hintergrund“, der Bericht NCCHTA, 2003 klammert die Beschreibung
ethischer Probleme weitgehend aus und gibt lediglich in der abschließenden
Diskussion ausgewählte Punkte zu bedenken. Allen Berichten gemeinsam ist
jedoch die Tatsache, dass eine Definition bzw. die Nennung eines Konzeptes
als Basis für „ethische“ Bewertungen fehlt. ITA 2002 und NCCHTA 1997
verweisen auf nationale Positionspapiere, ohne dass deren zugrunde liegende Konzepte näher erläutert werden. Weiterhin wird in allen Berichten
die Tendenz erkennbar, ethische mit sozialen, psychologischen und teilweise
rechtlichen Konsequenzen des Verfahrenseinsatzes vermengt zu diskutieren.
Die Angaben aus den Berichten selber lieferten somit kein Gerüst für eine
„Bestandsaufnahme“ der ethischen Diskussion.
Legt man die unter 2.1 angeführte Arbeitsdefinition für ethische Aspekte
(„Unter „Ethischen Aspekten“ werden diejenigen Bestandteile eines HTABerichtes verstanden, die sich auf die Bewertung medizinischen Handelns
beziehen und die explizit oder implizit auf ethische Prinzipien und/oder
auf Begriffe und Kategorien Bezug nehmen, die von diesen Prinzipien
abgeleitet sind oder ihnen zugrunde liegen.“) von Droste et al. zugrunde,
lässt sich feststellen, dass die Autoren aller hier analysierten HTA-Berichte
„ethische“ Betrachtungen in ihre Verfahrensbewertungen einfließen lassen.
Umfang und Stellenwert im Gesamtwerk sind dabei allerdings variabel. Es
werden drei prinzipielle Herangehensweisen an ethische Fragestellungen
erkennbar:
1. Ethische, psychologische und gesellschaftliche Konsequenzen des konkreten
Verfahrenseinsatzes werden in einem separaten Kapitel des Berichtes diskutiert und fließen unmittelbar in die Formulierung der Schlussfolgerungen
ein (AETMIS 2001; CCOHTA 1999). Dabei wird auch zwischen diesen
t396
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
beiden Optionen noch ein Unterschied deutlich: während im AETMIS
Bericht die ethischen Erwägungen modifizierend in den Schlussfolgerungen
berücksichtigt wurden, werden im Bericht von CCOHTA die ethischen
Problembereiche genannt, ohne dass klar wird, ob und wie sie bei der
Formulierung der Schlussfolgerungen Berücksichtigung fanden. Sie stehen
quasi „separat“ neben den Forderungen nach Qualitätssicherung und der
Durchführung weiterer klinischer Studien.
2. Die Autoren stellen allgemeine Ausführungen zu ethischen Implikationen
und Reflexionen zum gesellschaftlichen Diskurs prädiktiver genetischer
Testverfahren voran bzw. ans Ende der Verfahrensbewertung. Implizit
legen diese Ausführungen einen Bezug zu den bewerteten Verfahren nahe
und gehen, ebenfalls implizit, in die Schlussfolgerungen ein (ITA 2002).
3. Die Autoren reflektieren an verschiedenen Stellen der Verfahrensbewertung
ethische, (psychologische und soziale) Konsequenzen des
Verfahrenseinsatzes. Dabei wird dies in einem der Berichte regelmäßig
bei den verschiedenen Einsatzoptionen vorgenommen (NCCHTA 2001), in
anderen nur sporadisch (MSAC 2001; NCCHTA 1997) oder sehr kursorisch
in der Abschlussdiskussion (NCCHTA 2003).
5.2.Welche ethischen und Public Health relevanten
Fragestellungen werden angesprochen?
Die Analyse der HTA-Berichte zum Fragile-X-Syndrom und zum hereditären
Mammakarzinom hat gezeigt, dass einzelne Aspekte, die den Prinzipien von
Beauchamp und Childress zuzuordnen sind, in fast allen Berichten genannt
wurden. Dabei wurden das Recht auf Autonomie und die Verhinderung
von Schaden am häufigsten diskutiert, Wohlergehen und Gerechtigkeit
wurden eher selten thematisiert. Eine systematische Gegenüberstellung
von sich widersprechenden Prinzipien im Sinne einer ethischen Diskussion
und Gewichtung wurde allerdings in keinem der Berichte vorgenommen. Nur in zwei Berichten (NCCHTA 2001 und ITA 2002) wurden die
ethischen Problembereiche aus den verfügbaren klinisch-epidemiologischen
Informationen zum Krankheitsbild und zu den Testverfahren abgeleitet und
vor dem Hintergrund der allgemein akzeptierten Voraussetzungen für die
Einführung von (genetischen) Screeningverfahren (nach NSC modifizierte
Wilson und Jungner Kriterien; Österreichisches Gentechnikgesetz) entwickelt.
Unter den Public Health relevanten Aspekten wurde am häufigsten auf
die Befähigungsgerechtigkeit (im Sinne von erforderlichen Aufklärungsund Beratungsmaßnahmen) und auf die Sicherstellung einer umfassenden
Gesundheitsversorgung (vor allem unter dem Aspekt „erforderliche
Infrastruktur“) eingegangen. Die ausführlichsten und differenziertesten
397u
H TA - B e r i c h t e
Stellungnahmen zu den Public Health relevanten Aspekten finden sich im
Bericht des ITA, allerdings beschäftigen sich viele der Ausführungen mit
den Konsequenzen prädiktiver genetischer Tests allgemein. Konsequente
Analysen der nationalen bzw. regionalen Vorbedingungen, die hinweisend
auf Probleme bei der Sicherstellung der umfassenden Versorgung, der
Zugänglichkeit und Gerechtigkeit geben, finden sich in den Berichten des
NCCHTA, AETMIS, ITA und teilweise bei CCOHTA.
Die Berichte von MSAC, 2001 und NCCHTA, 2003 zum Fragile-X-Syndrom
enthalten ausgesprochen kurze Ausführungen zu ethischen Aspekten. Der
Bericht des NCCHTA ist dabei in der Reihe der Berichte von 1997 und 2001
zu sehen, wobei differenzierte ethische Ausführungen im Bericht von 2001
zu finden sind. MSAC gehört zu den HTA Institutionen, die auf Anforderung
Verfahrensbewertungen zu unterschiedlichen Themen auf dem Boden systematischer Literaturübersichten für die australische Gesundheitsbehörde
erstellt. Im Vordergrund stehen dabei Sicherheit und Wirksamkeit unter
Studien- wie unter Alltagsbedingungen. Für die Bearbeitung ethischer
Implikationen bleibt vor dem Hintergrund stringenter methodischer Vorgaben
wenig Raum.
5.3.Welche Forschungsmethoden werden zur Bewertung
ethischer und sozialer Konsequenzen eingesetzt?
Auswahl der Themen:
Hinweise, mit welchem methodischen Ansatz ethische Fragestellungen in
den Berichten bearbeitet wurden, sind nur in wenigen Berichten ansatzweise zu erkennen. Die Berichte von ITA, 2002 und NCCHTA, 2001 identifizieren die von ihnen besprochenen ethischen Problembereiche aus den
(nicht erfüllten) Kriterien für sinnvolle Screeningmaßnahmen (CancerWeb,
Report of the National Screening Committee). Dabei werden vor allem die
Unsicherheit der Prädiktion von Krankheit bei variabler Penetranz der genetischen Veränderung und das Problem der fehlenden Behandelbarkeit der
vererbten Störung (Fragile-X-Syndrom) bzw. der Belastung durch drastische
Präventionsmaßnahmen (präventive Mastektomie) thematisiert.
CCOHTA, NCCHTA 1997, NCCHTA 2001 und ebenfalls ITA entnehmen
zu diskutierende Punkte den nationalen Gesetzgebungen (Medical Research
Council for Canada, Österreichisches Gentechnikgesetz, National Screening
Committee).
t398
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
In den Berichten von MSAC und NCCHTA 2003 wird nicht klar, wie
die Auswahl der (wenigen) angesprochenen ethischen Aspekte getroffen
wurde.
ITA und NCCHTA, 2001 greifen darüber hinaus auf die aktuelle wissenschaftliche Diskussion um den Stellenwert prädiktiver genetischer
Testverfahren zurück.
AETMIS greift die zu diskutierenden Aspekt aus dem aktuellen gesellschaftlichen Diskurs um prädiktive genetischen Testverfahren auf und stellt einen
engen Bezug zum lokalen / regionalen Kontext her.
Alle Berichte geben weiterhin Kooperationspartner aus den Gebieten
Onkologie (Brustkrebsberichte), Pädiatrie (Fragile-X-Berichte),
Humangenetik, Labordiagnostik und Gynäkologie an. Bei AETMIS
gehörten auch Patientenvertreter, Juristen, Physiotherapeuten, Erzieher und
Lehrer zum Beratungsgremium. Inwieweit diese Kooperationspartner in die
Identifikation von relevanten ethischen Aspekten involviert waren, wird
nicht klar.
Ein theoretisches Konzept, welches die ethischen Diskussionen strukturiert
und leitet, wird in keinem Bericht erkennbar.
Themenbearbeitung:
In keinem der Berichte wird klar, ob eine systematische Bearbeitung
der ethischen Fragestellungen erfolgte. Die Berichte aus dem NCCHTA,
CCOHTA und MSAC geben an, systematische Literaturrecherchen durchgeführt zu haben, nachvollziehbar dokumentiert ist diese allerdings nur bei
CCOHTA. Ob spezifische Stichworte zur Auffindung von mit ethischen
Problemen befassten Artikeln eingesetzt wurden, bleibt unklar, ebenso die
Selektion der Rechercheergebnisse. Den Berichten von ITA und AETMIS
sind keine Angaben zur Informationsrecherche und Selektion zu entnehmen.
Ein einziger Bericht (NCCHTA 2001) integriert eigene Erhebungen zu
Patientenpräferenzen in die ethischen Bewertungen.
Bei ITA und AETMIS werden ethische Argumente zum größten Teil mit
Daten aus publizierten empirischen Untersuchungen untermauert. Die
Berichte des NCCHTA und CCOHTA belegen ihre Aussagen teilweise
mit Studiendaten, teilweise mit Zitaten aus sonstigen Publikationen und
teilweise überhaupt nicht. Im MSAC Bericht werden die Anmerkungen zu
ethischen Aspekten nicht mit Zitaten belegt.
399u
H TA - B e r i c h t e
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in den durchgesehenen HTABerichten keine systematische Methodik zur Bearbeitung von ethischen
Fragestellungen eingesetzt bzw. dokumentiert wurde.
5.4.Wie werden die Ergebnisse der Bewertung von
ethischen und sozialen Implikationen bei der
Generierung von Schlussfolgerungen von HTABerichten umgesetzt?
Beide HTA-Berichte zum hereditären Mammakarzinom lassen Teile der diskutierten ethischen Aspekte in die Schlussfolgerungen einfließen.
Bei ITA liegt hier ein eindeutiger Schwerpunkt auf der Befähigung
sgerechtigkeit. Angesichts sich entwickelnder bzw. zu befürchtender
Kommerzialisierung und Verfügbarmachung von genetischen Tests werden
vor allem adäquate Informationsstrategien für unterschiedliche Zielgruppen
in der Bevölkerung gefordert, so wie Modelle zur aktiven Partizipation
der Bürger an der Prioritätensetzung im Gesundheitswesen. Dabei beziehen sich die Schlussfolgerungen allerdings nicht allein auf das hereditäre
Mammakarzinom, sondern auf prädiktive genetische Testverfahren allgemein.
Der Bericht aus dem CCOHTA sieht vor dem Hintergrund des gleichen
Szenarios Regulationsbedarf zur Sicherung des Zugangs und der Qualität
von Screeningstrategien. Es wird die Erstellung von Leitlinien empfohlen.
Unter den HTA-Berichten zum Fragile-X-Syndrom gehen bei AETMIS
und NCCHTA, 2001 ethische und Public Health relevante Aspekte direkt
in die Schlussfolgerungen ein. Bei AETMIS stehen dabei die Sicherung
einer adäquaten Gesundheitsversorgung und die Zugangsgerechtigkeit
im Vordergrund. NCCHTA, 2001 lehnen eine bevölkerungsbezogene
Screeningstrategie ab, weil aus monetären (begrenzte Ressourcen) und
sachlichen (unsichere Prognose für Frauen mit „intermediate Allelen“)
Gründen die Sicherstellung einer adäquaten Gesundheitsversorgung derzeit
nicht gewährleistet werden kann.
t400
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
5.5.Gibt es Weiterentwicklungs- und / oder
Forschungsbedarf zur Integration von ethischen
Aspekten in Bewertungen genetischer Testverfahren?
Im Gegensatz zu der Analyse von Kurz-HTAs (Droste et al. 2001) konnte für
die kleine Stichprobe von (pragmatischen) HTA-Berichten zu genetischen
Testverfahren gezeigt werden, dass ethische und Public Health relevante
Fragen angesprochen, bearbeitet und teilweise in die Schlussfolgerungen
der Berichte eingeflossen sind. Dabei werden allerdings einige Defizite
erkennbar:
n Es wird nicht deutlich, welches theoretische Konzept der Bewertung von
ethischen Implikationen zugrunde liegt.
n In den HTA-Berichten wird unscharf getrennt, ob die angesprochenen
ethischen Probleme mit dem spezifisch zu bewertenden Testverfahren assoziiert sind oder ob es sich um eine Erörterung von ethischen Implikationen
genetischer Diagnostik allgemein handelt.
n Es wird keine systematische Methodik der Bewertung von ethischen
Aspekten erkennbar.
n Die Umsetzung von ethischen Erwägungen in Schlussfolgerungen scheint
unsystematisch und beliebig.
Die Defizite sind in der internationalen Diskussion um Methoden von
HTA bekannt und nicht auf die Bewertung von genetischen Testverfahren
beschränkt. Gängige, von der wissenschaftlichen Gemeinschaft konsentierte
Methodenpapiere (z.B. Liberati 1997, Busse, Orvain 2002) nennen die
Bewertung ethischer Implikationen als notwendigen Bestandteil von HTA.
Umfang, Methodik und Zuständigkeit (Professionen, Expertise) werden
allerdings nicht weiter spezifiziert. Unklar bleibt auch, welchen Stellenwert
der ethischen Diskussion im Rahmen von HTA zukommt – ist sie ein wichtiger Bestandteil oder eher „Beiwerk“ neben Sicherheits-, Wirksamkeitsund ökonomischen Bewertungen? (Banta, 2004)
Ein weiteres Problem wird offensichtlich, wenn die äußeren
Rahmenbedingungen für das HTA berücksichtigt werden. Einerseits gibt
es HTA-Aufträge, die einen mehr explorativen Charakter tragen und im
Sinne eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes bearbeitet werden können, andere werden vor dem Hintergrund eines konkreten und dringenden
Entscheidungsbedarfs vergeben, was ihren zeitlichen und finanziellen
Rahmen relativ eng fasst (z.B. Projektdauer 6-12 Monate, 1 wissenschaftliche Vollzeitstelle). Auch in den hier bewerteten Berichten werden diese
Unterschiede deutlich: AETMIS und ITA nahmen die Bewertung mehr im
Sinne eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes vor, bei MSAC und
401u
H TA - B e r i c h t e
CCOHTA bestand konkreter Entscheidungsdruck. Die drei Berichte des
NCCHTA nehmen eine Mittelstellung ein – sie wurden vor dem Hintergrund
eines konkreten Entscheidungsbedarfs vergeben, waren aber zeitlich und
von der finanziellen Ausstattung eher großzügig dimensioniert. Methodische
Vorschläge zur ethischen Bewertung müssen so angelegt sein, dass sie in
beiden Modellen von (pragmatischem) HTA anwendbar sind.
[Von diesen HTA Modellen, die die Bewertung einer (oder mehrerer)
Technologien zum Gegenstand haben, sind solche zu unterscheiden, die
die Bewertung einer ganzen Gruppe oder Klasse von Technologien vornehmen (z. B.: „Prädiktive genetische Tests“). Ihre Ergebnisse richten sich
an die Gesellschaft bzw. die Legislative und fließen gegebenenfalls in die
normativen Rahmenbedingungen ein. D. h. es geht hier nicht allein um die
Bewertung von ethischen Implikationen der Technologie, sondern es findet
vielmehr eine Wechselwirkung zwischen Technologie und Gesellschaft
statt. Diese Art von „parlamentarischem“ HTA bzw. TA ist in den folgenden
Ausführungen nicht gemeint.]
In pragmatischen HTAs kann die Zielsetzung einer „ethischen Bewertung“
zunächst das systematische Aufzeigen von Konfliktpotenzial (im Sinne
von widerstreitenden moralischen Einschätzungen/Prinzipien) der
Technologiefolgen sein.
Um zu einer für die zu bewertende Technologie spezifischen Beschreibung
der Technologiefolgen zu gelangen, sind zunächst die Ausgangsbedingungen
zu klären. Hierzu gehören:
n Darstellung des gesundheitspolitischen Entscheidungskontext („Policy
Question“).
n Beschreibung der Zielerkrankung: zugrunde liegender (genetischer) Defekt,
Pathomechanismus, Genotyp-Phänotypassoziation, Klinik, Verlauf, präventive und therapeutische Optionen, Outcomes, Epidemiologie.
n Technologie: technische Charakteristika, analytisches Substrat, analytische
Testcharakteristika (zum Nachweis des Substrats: Validität, Reliabilität,
Sensitivität, Spezifität).
n Technologieeinsatz zur Erkennung der Zielerkrankung: diagnostische
Testcharakteristika (prädiktive Werte in unterschiedlichen Zielpopulationen;
Einbettung in unterschiedliche Untersuchungsstrategien); diagnostische
Testcharakteristika im Kontext infrastruktureller, ökonomischer und rechtlicher Rahmenbedingungen (normativer Hintergrund).
t402
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Für den Bereich genetische Testverfahren wird von der ACCE (Analytical
validity, Clinical validity, Clinical utility, Ethical, legal and social
implications) Arbeitsgruppe des CDC eine Struktur vorgeschlagen. Ein
Gerüst für die Beschreibung der Zielerkrankung, der Krankheitslast,
des Tests mit seinen Testcharakteristika, den Kontextbedingungen und
möglichen (Differential)­indikationen liefern neben ACCE auch fast alle
Methodenhandbücher für HTA – sie ist regulärer Bestand­teil jedes HTA.
Zum Standardmethodenrepertoire des pragmatischen HTA gehören systematische Literaturübersichten, Meta-Analysen, die Analyse von administrativen Daten und Experteninterviews. Für ausgewählte Aspekte werden
bei Bedarf gezielte (quantitative) Erhebungen durchgeführt, qualitative
Methoden kommen eher selten zum Einsatz.
Ein Abgleich mit Kriterien für „sinnvolle“ Screeningprogramme (z.B.
Wilson & Jungner 1968; NSC 2003) kann an dieser Stelle bereits Hinweise
auf (noch) fehlende Informationen oder Problembereiche, in denen gegenläufige Interessen manifest werden, geben.
Die eigentliche Identifikation von moralischem Konfliktpotenzial setzt
eine Struktur voraus, die die Einhaltung grundlegender ethischer Prinzipien
aus der Perspektive aller Beteiligten (Individuen, familiäres und institutionelles Umfeld, Professionen, Gesellschaft) erlaubt. Hierdurch würde
die getrennte Bewertung von „ethischen“ und „Public Health-relevanten“ Technologiefolgen entfallen. Im vorliegenden Bericht wurde eine
Systematik zugrunde gelegt, die die Kriterien von Beauchamp und Childress
(modifiziert) mit Public Health relevanten Diskussionspunkten zusammenführt. Die vorgeschlagenen Kriterien sind mit allgemein formulierten
Fragen (nicht bezogen auf ein bestimmtes Testverfahren) in Tabelle 26 als
„Template“ dargestellt. Unter „Individuum“ wird dabei die Person verstanden, die eine Testdurchführung in Erwägung zieht bzw. für die stellvertretend eine Testdurchführung in Erwägung gezogen wird. Das „Individuum“
ist unmittelbar von den Testergebnissen und ihren Konsequenzen betroffen.
Unter „engem sozialen Umfeld“ soll die Familie, aber auch andere soziale
Gemeinschaften verstanden werden, mit denen das Individuum in direktem
Kontakt steht (z.B. Freundeskreis, Nachbarschaft, Arbeitsumfeld, Schule
etc.). Die Testergebnisse können die Interaktion zwischen Individuum und
Umfeld beeinflussen, bei manchen Teststrategien (z.B. Kaskadenscreening)
können Personen aus dem sozialen Umfeld aber auch zu Betroffenen werden. Unter den „Professionen“ verstehen wir Anbieter und Kostenträger für
alle, mit der Testdurchführung zusammenhängenden Leistungen. In dieser
Gruppe allein werden schon drei, möglicherweise konkurrierende Interessen
zu erkennbar: der Anspruch, eine bestmögliche Versorgung von Individuen
403u
H TA - B e r i c h t e
zu leisten, die Verantwortung für eine optimale und (bedarfs)gerechte
Versorgung der (Versicherten)gruppe und die eigenen, z.B. monetären
Interessen. Mit „Gesellschaft“ sind im Kontext von pragmatischem HTA
alle Personen und Gruppen gemeint, die innerhalb eines Gesundheitssystems
und eines Wirtschaftsgefüges leben, welche durch gesetzliche Regularien
geformt werden. D. h. der Rahmen ist ein äußerer, innerhalb der Gesellschaft
kann es unterschiedlich große Gruppen mit sehr unterschiedlichen Wert- und
Moralvorstellungen geben.
Die direkte Gegenüberstellung von Autonomiechancen und -gefährdungen,
Nutzen- und Schadenspotential sowie Gerechtigkeitschancen und -gefährdungen in einer tabellarischen Übersicht erlaubt die Identifikation von
widerstreitenden Interessen sowohl „zeilenweise“ als auch „spaltenweise“.
Es können beispielsweise den Autonomieinteressen des Individuums und
der Familie gegenläufige Autonomieinteressen der Gesellschaft oder der
Professionen entgegenstehen. Aber auch innerhalb einer „Spalte“ werden
widersprüchliche Interessen offensichtlich. So steht das Nutzenpotential
immer seinem Schadenspotential gegenüber und geht, zumindest auf der
Seite der Professionen und Gesellschaft (vor dem Hintergrund eines solidarisch finanzierten Gesundheitssystems), mit dem Anspruch auf eine bedarfsgerechte, gleichmäßige Versorgung und ihrem Ressourcenaufwand einher.
Die Aufstellung geht von Interessenkonflikten im Falle der „Einführung“
eines genetischen Testverfahrens aus, es kann aber ebenfalls sinnvoll sein,
Konflikt im Falle der „Nicht-Einführung“ zu diskutieren. Werden unterschiedliche Indikationen und Einsatzstrategien (z.B. Hochrisikogruppensc
reening versus bevölkerungsbezogenes Screening) für den Test diskutiert,
sollte für jede Indikation eine eigene Aufstellung vorgenommen werden.
und falsche Informationen durch „falsch positive“ Testergebnisse führen zu
Folgen, die physisch, psychisch und sozial als negativ und/oder inakzeptabel
wahrgenommen werden?
t404
Mitteilung von unerwünschten Informationen?
Verantwortungsgefühl für Familie, Gesellschaft beeinflusst die eigene freie Entscheidung?
Tabelle 26:
Vorschlag:
Ethische DiskussionsDiskussion
punkte in HTAs zur
Einführung von genetischen
Testverfahren
Gerechtigkeit - Gefährdung
Gerechtigkeit - Chancen
Korrekte Informationen durch "richtig
positive" und falsche Informationen durch
"falsch positive" Testergebnisse führen zu
Folgen, die physisch, psychisch und sozial
als negativ und/oder inakzeptabel wahrgenommen werden?
SchadensBelastungs(potential)
48
Unterangebot aus monetären Gründen?
Fehlender Zugang durch hohe Kosten?
Gleichmäßigkeit des Zugangs und der
Versorgung?
Effizienz (Opportunitätskosten)?
Effizienz (Opportunitätskosten)?
Gleichmäßiges, bedarfsgerechtes Risikomanagement / gleichmäßige, bedarfsgerechte
Versorgung sichergestellt?
Ressourcenaufwand für Infrastruktur, Schulungen, Informationskampagnen?
Versteckte Eugenik?
Stärkung des Solidarprinzips?
Verminderung der Krankheitslast?
Versicherungswirtschaftliche Konsequenzen?
Partizipative Entscheidungsprozesse vor dem
Hintergrund wirtschaftlicher Interessen
Einzelner (Firmen) möglich?
Bedarfsgerechter Zugang vorhanden?
Zum Überangebot führender "Moral Hazard"?
"Indexfall" schafft Zugang zum Versorgungssystem für Verwandte?
Ressourcenaufwand für Infrastruktur, Beratungen, Testdurchführung.
Zu Überinanspruchnahme führender "Moral
Hazard"?
Datenmissbrauch?
Unerwünschte Wirkungen bei der Testdurchführung?
Korrekte Informationen durch richtig positive und falsche Informationen durch falsch
positive Testergebnisse führen zu Folgen, die
physisch, psychisch und sozial als negativ
wahrgenommen werden (Stigmatisierung,
Diskriminierung, Partnerschafts- und Familienprobleme, finanzielle Belastungen)?
Verständnisvoller, solidarischer Umgang mit
Betroffenen?
Korrekte Informationen durch richtig positive / richtig negative Testergebnisse unterstützen die weitere Beratungs- / Behandlungsplanung?
Paternalistische Regulationsmechanismen?
Einschränkung der ärztlichen Diagnostikund Therapiefreiheit?
Partizipationsmöglichkeiten der Bürger beim
Entscheidungsprozess?
Befähigung der Gesellschaft zur informierten
Entscheidung für oder gegen die Einführung
des Testverfahrens?
Umgang mit differierenden Entscheidungen
von Individuen?
Befähigung der Gesellschaft zur Konsentierung von erwünschten und unerwünschten
Testfolgen?
Gesellschaft
Falsch negative Informationen führen zu
falscher Sicherheit?
Korrekte Informationen durch richtig positive / richtig negative Testergebnisse führt zu
Folgen (inklusive Präventions- oder Therapieoptionen), die physisch, psychisch und
sozial als positiv wahrgenommen werden?
Nutzen(potential)
Unzureichende oder falsche Vorinformationen zum Nutzen-Risikopotential gefährden /
verhindern "informed consent"?
Korrekte Testergebnisse erlauben die Ausweitung der Nutzen tragenden Zielgruppe?
Respekt vor den Präferenzen und der Entscheidung der Gruppe (Familie)?
Respekt vor den Präferenzen und der Entscheidung des Individuums?
Non-direktive Beratung als Instrument für
eine informierte, tragfähige Arzt-PatientBeziehung?
Professionen
Gruppendruck, -zwang?
Ausreichend Informationen zur Befähigung
eines "informed consent" / "informed refusal", einer informierten Familien- und Lebensplanung?
Ausreichend Informationen zur Befähigung
eines "informed consent" / "informed refusal", einer informierten Familien- und Lebensplanung?
Autonomie - Chancen
Autonomie - Gefährdung
soziales Umfeld
Individuum
Einführung
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
405u
H TA - B e r i c h t e
Resümee
Weitere Arbeiten müssten erweisen, ob diese pragmatische Einteilung sinnvoll ist oder ob andere Kriterien herangezogen werden sollten. In jedem
Fall soll eine kriteriengebundene Reflexion von Technologiefolgen aus
unterschiedlichen Perspektiven Transparenz in den Prozess der ethischen
Diskussion bringen und verhindern, dass die subjektive Sichtweise des
Bewerters in den Vordergrund tritt. Ein valides methodisches Repertoire zur
systematischen Identifikation von Konfliktpotential ist im Kontext von pragmatischem HTA bisher nicht gebräuchlich. In zukünftigen Untersuchungen
wird zu zeigen sein, inwieweit mit den zur Verfügung stehenden Methoden
der Literatur- und Datenanalyse ausreichend Informationen zu gewinnen
sind oder ob in ausgewählten Fällen interaktive bzw. partizipative Methoden
herangezogen werden müssen, um eine vollständige Problembeschreibung
zu erlauben.
Noch deutlicher wird das methodische Defizit bei der Bewertung und
Gewichtung der widersprüchlichen Argumentationen und ihrer Umsetzung
in Schlussfolgerungen. In den gesichteten Berichten wird, mit Ausnahme der
Reflexion auf den normativen Hintergrund und auf die Kriterien für „sinnvolle“ Screeningkriterien, keine systematische Heran­ge­hens­weise erkennbar.
Die Rolle der unterschiedlichen, in den Beiräten vertretenen Professionen
bleibt unklar. Hier fehlt eine Methodik, die eine Gewichtung der Konflikte
unter Beachtung der unterschiedlichen Perspektiven erlaubt und sie transparent in Schluss­folgerungen transferiert. Gerade in diesem Bereich verfügt
das „parlamenta­ri­sche“ TA über ein breites Methodenspektrum, welches den
Entwicklungs­prozess im Be­reich HTA sicher unterstützen könnte (Reuzel
et al. 2004). Gleichzeitig muss sicher ge­stellt sein, dass der zeitliche und
ressourcenabhängige Rahmen von HTA dabei nicht ge­sprengt wird.
t406
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
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t412
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Rechercheergebnisse
ANHANG
Erkrankung
Institution
Genetischer Test
Aussage
Ewing Sarkom,
Neuroblastom
NCCHTA, 2003
Genetische Tumormarker
Prognose
Literatur
Carrierstatus CF
ICSI, 2003
Carriergen
Diagnose Carrierstatus
Down-Syndrom,
Aneuploidien
AETMIS, 2003
Chromosomenanomalien
NCCHTA, 2003
Fragile X Syndrome
NCCHTA, 2003
Erbliche
Krebserkrankungen
CCOHTA, 2003
Fragile X Syndrome
AETMIS, 2002
Mutation auf dem
FMR1 Gen
Diagnostik (Carrierstatus)
Kolon-Ca, Mamma-Ca
ITA, 2002
Genetische Tests
Predictive Genetic
Testing (Risikoschätzung?)
Jonas et al. 2002
"Erbkrankheiten"
Danish Centre for multiple
Evaluation and
Health Technology Assessment,
2002
Präimplantationsdiagnostik
Danish Centre for
Evaluation and
Health Technology Assessment
2002
Fragile X Syndrom
Medical Services
Advisory Committee (MSAC),
Canberra, 2002
NAA, Southern Blot
Diagnostik (bei klinischem Verdacht),
Carrierstatus in der
Familie
Medical Services
Advisory Committee 2002
"Erbkrankheiten"
AETSA, Andalusien, 2002
multiple
Screening*
Agencia e
Evaluacion de
Tecnologias Sanitarias de Andalucia 2002
Hereditäre Thrombophilie
Medical Services
Advisory Committee (MSAC),
Canberra, 2002
Biochemische Tests;
eine genetische Mutation
Pränatales Screening
Medical Services
Advisory Committee 2002
Nonpolypopöses
Kolonkarzinom (HNPCC)
ICSI, 2002
?
Screening
Hämochromatose
Blue Cross Blue
Shield Technology Evaluation
Center, 2002
HFE Gen
Diagnostik bei klinischer Auffälligkeit;
Screening von Familienangehörigen
Fragile X Syndrom
NCCHTA, 2001
Mutation auf dem
FMR1 Gen
Screening
Riley et al. 2003
Bloomington
2003
Pränatale Diagnostik
Framarin 2003
Molekulares Karyotypisieren (FISH and
Q-PCR test)
(Pränatale) Diagnostik
Grimshaw et al.
2003
Mutation auf dem
FMR1 Gen
Präkonzeptionelles,
Pränatales Screening;
Song et al. 2003
Case Finding
Ho et al. 2003
Risikobestimmung
Blancquaert &
Caron 2002
Bloomington
2002
(auch Prognose?)
Literatur
Chicago IL 2002
Pembre et al.
2001
55
413u
H TA - B e r i c h t e
??
Cedit, 2001
DNA Typisierung mit
Beacon Methode ??
??
Comite de
Evaluation et de
Diffusion des
Innovations
Technologiques
1999
Hämochromatose
SBU, 2001
Genetischer Test
Screening
Swedish Council
on Technology
Assessment in
Health Care 2001
??
Wessex Institute
for Health Research and Development, 2001
?
Präimplantationsdiagnostik
McIntyre L 2001
Fetale Chromosomenanomalien; Neuralrohrdefekte
DIMDI, 2001
Biochemische Tests
Screening
Droste, Brand
2001
Fetale Chromosomenanomalien; Neuralrohrdefekte
BCOHTA, 2000
Biochemische Tests
(Triple-Test)
Screening
Bassett 2000
Fetale Chromosomenanomalien; Neuralrohrdefekte
Danish Centre for Biochemische Tests
Evaluation and
(Triple-Test)
Health Technology Assessment,
2000
Screening
Nohr-Jensen 2000
Brustkrebs, Prostatakrebs
CCOHTA, 1999
BRCA1, BRCA2, Bcl- Risikobestimmung,
2, HPC1
Prognose
Mukoviszidose
NCCHTA, 1999
Genetischer Test (?)
Präkonzeptionelles,
Pränatales Screening,
Case Finding bei
Symptomen
??
Cedit, 1999
DNA Typisierung mit
Beacon Methode ??
??
Comite de
Evaluation et de
Diffusion des
Innovations
Technologiques
1999
Hämochromatose
ANAES, 1999
?
Screening
L'Agence Nationale d'Accreditation d'Evaluation
en Sante 1999
BRAC Analyse
AHFMR, 1999
DNA Test
Screening
Alberta Heritage
Foundation for
Medical Research
1999
Genetisches Screening
Gezondheitsraad
Nederlands, 1999
?
Screening
Gezondheidsraad
1999
Familiäre Tyrosinämie 1
CETS, 1998
Molekulare Genanaly- Screening Carrierstatus in betroffenen
se
Familien
Conseil d'Evaluation des Technologies de la
Sante du Quebec
1998
DNA Diagnostik
Gezondheitsraad
Nederlands, 1998
?
Gezondheitsraad
1998
t414
Literatur
?
Noorani &
McGahan 1999
Murray et al.
1999
56
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
"Erbkrankheiten", Chromosomenanomalien
CEDIT, 1998
Spectral cytogenetic
chromosome analyser
(Spectracube)
Pränataldiagnostik
Comite de
Evaluation et de
Diffusion des
Innovations
Technologiques
1998
Ovarialkarzinom
NCCHTA, 1998
u.a. genetische Mutationen
Screening
Bell et al. 1998
Risikobestimmung
Muskeldystrophie Duchenne,
Becker
CETS, 1997
Genetische Mutationen
Screening von betroffenen Familien
Conseil d'Evaluation des Technologies de la
Sante du Quebec
1997
Fragile X Syndrom
NCCHTA, 1997
?
Pränatales Screening,
Screening in betroffenen Familien
Murray et al.
1997
Myotone Dystonie
CETS, 1997
Genetische Mutation
auffinden
Screening in betroffenen Familien, Diagnostik
Conseil d'Evaluation des Technologies de la
Sante du Quebec
1997
Hämochromatose
ANAES, 1995
Genetisches Testen und Beratung
ITA, 1995
verschiedene
Screening / Diagnostik Institute of Technology Assessment 1995
DNA Diagostik
Gezonheitsraad
Nederlands, 1994
?
?
Gezonheitsraad
1994
Bibliographie der Kosten und
Benefits von pränatalen
Screeningprogrammen
CCOHTA, 1991
verschiedene
Screening
Comis & Conlon
1991
Screening
Brasslet 1995
415u
Literatur
57
t416
Genetik in Public Health
III. Genetik
in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Public Health Genetics
Eine Übersicht über die Entwicklung und
aktuelle Aufgaben
Christa Wewetzer, Angela Brand
417u
t418
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Inhalt
III. Genetik in Public Health
Public Health Genetics
Eine Übersicht über die Entwicklung und aktuelle Aufgaben
1.
Ausgangslage............................................................. 420
2. Die Institutionalisierung von Public Health Genetics ........ 423
3. Die Integration von Public Health Genetics in die
universitäre Ausbildung................................................ 426
4.
4.1.
4.2.
Public Health Genetics – Definitionen............................. 430
Abgrenzung zur klinischen patientenzentrierten
Versorgung................................................................. 431
Abgrenzung zu Community Genetics............................. 432
5. Aufgaben und Methoden von Public Health Genetics:
Die Public Health Trias................................................. 436
6. 6.1.
6.2.
6.3.
6.4.
6.5.
6.6.
6.7.
Aktuelle Schwerpunkte von Public Health Genetics........... 441
Überwachung des Gesundheitsstatus: „Surveillance“....... 441
Public Health Genetics – Forschung............................... 446
Evaluation genetischer Tests.......................................... 448
Genetisch-epidemiologische Forschung.......................... 451
Einrichtung und Nutzung genetischer Datenbanken.......... 452
Public Health Genetics – Ethik....................................... 454
Entwicklung von Richtlinien und Entscheidungskriterien:
Health Technology Assessment...................................... 457
7.
Schlussbetrachtung...................................................... 459
Literatur.............................................................................. 462
419u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
In den USA, Kanada und Großbritannien, aber auch in Italien, den
Niederlanden sowie unter der Federführung der WHO in Ländern Südamerikas
und Afrikas findet seit vielen Jahren eine als „Public Health Genetics“ bzw.
„Community Genetics“ etablierte und institutionalisierte Diskussion über
die Auswirkungen der Genetik auf das öffentliche Gesundheitswesen statt.
In diesen Ländern hat Public Health Genetics/Community Genetics die
führende Rolle übernommen, Kriterien für einen verantwortungsvollen
Umgang mit den Möglichkeiten der Genetik im Rahmen des öffentlichen
Gesundheitswesen zu entwickeln.
Dieser Beitrag will einen Einblick in die Entstehung, die Methoden
und Aufgaben von Public Health Genetics vor allem in den USA und
Großbritannien geben und auf die Bedeutung einer solchen Forschungs- und
Diskussions-Plattform für die Bewertung genetischer Technologien hinsichtlich ihres praktischen Nutzens aber auch der mit ihnen einhergehenden
ethischen Probleme hinweisen.
1. Ausgangslage
In einigen wenigen Bereichen der bevölkerungsbezogenen, öffentlichen
Gesundheitsversorgung ist die Genetik bereits etabliert.
Genetisches Screening wird im Rahmen des Neugeborenen-Screenings
seit Beginn der 1960er Jahre angeboten. Darüber hinaus ist in Staaten, in
denen Bevölkerungsgruppen mit einer hohen Prävalenz für bestimmte genetisch bedingte Erkrankungen leben, die Prävention dieser Erkrankungen
zur Aufgabe der öffentlichen Gesundheits-Vorsorge und medizinischen
Versorgung geworden. Nationale Programme zur Prävention wurden unter
anderem 1976 in den USA initiiert für die Sichelzellanämie, die Cooley’s
Anämie und die Tay-Sachs-Krankheit durch „The National Sickle Cell
Anemia, Cooley’s Anemia, Tay-Sachs and Genetic Diseases Act“ (Fineman
et al. 2000) oder für die ß-Thalassämie in verschiedenen Mittelmeerländern
(Cao 2000).
Diese Programme sind ausgerichtet auf monogen bedingte Erkrankungen, die
in der Allgemeinbevölkerung selten vorkommen und daher nur einen geringen Teil der medizinischen Versorgung ausmachen. Ein breiteres Interesse
an genetischen Fragestellungen im Rahmen der Gesundheitsversorgung entstand, nachdem sich seit etwa 30 Jahren die chronischen Erkrankungen wie
Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs, Diabetes oder die Alzheimer Krankheit
zu den häufigsten Krankheiten der Bevölkerung in den Industrienationen
t420
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
entwickelt haben (WHO 2003) und die neueren genetischen Erkenntnisse
belegen, dass an der Entstehung dieser Krankheiten neben äußeren, umweltund verhaltensabhängigen Faktoren auch sogenannte „wirtsinterne“, genetische Bedingungen beteiligt sind (Khoury et al. 1993).
Die führenden Wissenschaften der Public Health Forschung haben sich,
wie unter anderem an dem 1995 veröffentlichten Bericht der Europäischen
Union über den Gesundheitsstatus in Europa ersichtlich ist, bis vor etwa
zehn Jahren bei der Suche und Erforschung krankheitsauslösender Ursachen
auf diejenigen Risikofaktoren konzentriert, die außerhalb des menschlichen
Körpers liegen. So richtet der Bericht sein Augenmerk auf die gesundheitsbeeinflussenden Faktoren Verhalten, Umwelt und sozialer Status.1
Die Konzentration auf die Einflüsse dieser „äußeren“ Faktoren auf
die Gesundheit der Bevölkerung wurde zum einen gefördert durch die
Identifizierung entsprechender Risiken, wie z.B. der Tabakkonsum, körperliche Inaktivität oder falsche Ernährung, durch den Nachweis von
Zusammenhängen zwischen sozialen, ökologischen und ökonomischen
Lebensbedingungen und bestimmten Erkrankungsrisiken und der in wissenschaftlichen Studien nachgewiesenen präventiven Wirksamkeit durch
Vermeidung dieser Risiken.
Zum anderen fehlten wissenschaftliche und technologische Möglichkeiten,
„wirtsspezifische“ – hier: genetische – Faktoren zu identifizieren. Daher
wurde der methodischen Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen
internen und außerhalb des Körpers liegenden Faktoren sowie ihrer
Auswirkungen auf die Entstehung von Krankheiten wenig Aufmerksamkeit
beigemessen (Omenn 2000, Beskow et al. 2001a).
Dieses änderte sich jedoch im Verlauf der vergangenen 10 Jahre. Die
raschen Fortschritte der Genetik und vor allem die im Verlauf des
Humangenomprojektes entwickelten Technologien werden zukünftig vermehrt dazu beitragen, die Einflüsse von Umweltfaktoren auf das Genom bzw.
auf die Genfunktion zu untersuchen, und zu neuen Erkenntnissen über den
Einfluss genetischer Mutationen und Suszeptibilitäten auf die Entstehung
der in der Bevölkerung weit verbreiteten chronischen Erkrankungen führen.
Damit wird die Erwartung verbunden, Krankheitsrisiken individuell diagnostizieren und gezieltere Präventionsmaßnahmen entwickeln zu können
(Peltonen und McKusick 2001).
1
Health Status in Europe: Summary of 1995 Report http://europa.eu.int/comm/health/ph_overview/previous_programme/monitoring/monitoring_status_1995_en.htm (30.3.2004)
421u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Obwohl die molekulare Genetik sich im Rahmen der molekular-medizinischen Forschung als bedeutender Baustein etabliert hat, besteht jedoch eine
erhebliche Lücke zwischen der Grundlagenforschung und der Entwicklung
anwendungsfähiger diagnostischer und therapeutischer Werkzeuge (Paul
2003).
So können zwar mit Hilfe von prädiktiven genetischen Tests individuelle
Suszeptibilitäts-Allele identifiziert werden. Es können jedoch, wie im
Genetik-Kapitel zuvor ausführlicher erläutert wurde, für weit verbreitete
komplexe Erkrankungen keine hinreichend genauen Aussagen über die
Assoziation dieser Polymorphismen mit individuellen Krankheitsrisiken
getroffen werden. Es fehlen vor allem Informationen über die Verteilung
bestimmter Genotypen in unterschiedlichen Populationen und darüber
hinaus Untersuchungen und Nachweise über die Effektivität präventiver
Interventionen.2
Daher ist die Einschätzung der zukünftigen Bedeutung der Genetik für
Public Health Aufgaben schwierig.
Holtzman und Marteau vertreten die Position, dass genetische Informationen
ausschließlich im Zusammenhang mit den seltenen, monogenen Erkrankungen
sinnvoll sind. Für multifaktorielle Erkrankungen wie Krebs oder Diabetes
werden die auf prädiktiven Tests beruhende Prävention oder Therapie auch
in Zukunft von geringer Bedeutung sein (Holtzman und Marteau 2000). Die
Centers for Disease Control and Prevention (CDC) hingegen erwarten in den
kommenden Jahren erhebliche Fortschritte der Genetik und sich daraus entwickelnde „endlose Möglichkeiten“ 3 (eigene Übersetzung) der Erkennung
von Krankheiten und der Prävention.
Wie wissenschaftliche Erkenntnisse in sinnvolle Strategien für die
Verwendung genetischer Tests und die Prävention umgesetzt werden können, ist also noch ungewiss. Dennoch stellt sich angesichts des großen
Interesses der Medizin, forcierter Forschungsanstrengungen, genetische
Informationen für eine gezieltere Prävention zu nutzen, und des wachsenden Angebotes genetischer Tests nicht mehr die Frage, „wann“ sondern
„wie“ die genetischen Möglichkeiten in der Medizin und im Rahmen einer
bevölkerungsbezogenen Gesundheitssicherung eingesetzt werden und welche Aufgaben die Public Health Wissenschaften dabei künftig übernehmen
(French und Moore 2003).
2
3
t422
siehe Henn in diesem Band
http://www.cdc.gov/genomics/oldWeb01_16_04/info/factshts/revolution1.htm (30.3.2004)
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Im Folgenden soll am Beispiel der USA und Großbritanniens zunächst
dargestellt werden, wie die Institutionalisierung und die Integration von
Genetik in Aufgaben der öffentlichen Gesundheitsversorgung sowie in die
Aus- und Fortbildung erfolgte. Die Beschreibung dieser Entwicklung führt
gleichzeitig in die sich daran anschließende ausführlichere Darstellung der
Aufgaben und Methoden von Public Health Genetics ein.
2. Die Institutionalisierung von Public Health
Genetics
Als sich die neuen technischen Möglichkeiten und Erkenntnisse der
Genetik für die Untersuchung genetischer Einflüsse auf multifaktorielle
Erkrankungen abzeichneten, begann in den USA und in Großbritannien die
Institutionalisierung von Genetik in bestehende Public Health Einrichtungen
und die Spezialisierung von Ausbildungsangeboten verschiedener Public
Health Institute auf Public Health Genetics. Diese Integration von Public
Health Genetics in die Public Health Ausbildung sollte es den Studierenden
sowie den bereits in Public Health-Bereichen Tätigen ermöglichen, sich
frühzeitig mit den Entwicklungen der Genetik auseinanderzusetzen. Diese
bestanden in der Untersuchung der Implikationen der gentechnischen
Möglichkeiten für die Praxis und ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft.
In den USA wurde die Humangenomforschung bereits frühzeitig durch
Untersuchungen über ihre Auswirkungen auf die Medizin und ihrer ethischen,
rechtlichen und sozialen Implikationen (ELSI) begleitet. Verantwortlich für
diese Forschung war seit Beginn der 90er Jahre die ELSI-Arbeitsgruppe des
Nationalen Humangenom-Forschungsinstitutes National Human Genome
Research Institute (NHGRI). Für die Bildung des Forschungsschwerpunktes
Genetik in Public Health (Public Health Genetics) auf nationaler Ebene
waren jedoch vor allem die Empfehlungen der 1995 vom National Institute
of Health (NIH) und des Department of Energy (DoE) einberufenen ad hoc
Arbeitsgruppe Task Force on Genetics in Disease Prevention ausschlaggebend. Sie hatte die Aufgabe, einen Strategieplan für die künftige Koordination
und Verstärkung der bereits bestehenden zahlreichen Aktivitäten der CDC
von Genetik in Public Health zu entwickeln. Die Arbeitsgruppe empfahl,
bestehende genetische Präventionsaktivitäten zu sichten und zu evaluieren sowie diejenigen Angebote zu identifizieren, die für die öffentliche
Gesundheitsversorgung von besonderer Bedeutung waren. Für diese Aufgabe
wurde 1997 das Office of Genomics and Disease Prevention (OGDP)
gegründet. Diese Einrichtung der CDC sollte der internen Koordination
von Aktivitäten dienen und externe Partner anregen, Maßnahmen im
423u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Zusammenhang mit Genetik, Prävention und Gesundheitsförderung durchzuführen.4 Dazu wurde der Aktionsplan „Translating Advances in Human
Genetics into Public Health Action: A Strategic Plan“ entwickelt. In diesem Plan wurde empfohlen, die Ergebnisse der genetischen Forschung
durch die strategische Zusammenarbeit der CDC mit anderen staatlichen
Behörden sowie mit privaten und öffentlichen Partnern in die bestehenden
Einrichtungen der öffentlichen Gesundheitsversorgung zu integrieren. Das
Ziel dieser Zusammenarbeit sollte sein, die im öffentlichen Gesundheitswesen
Tätigen bei ihrer Aufgabe zu unterstützen, durch Förderung der Gesundheit
und Verhindern von Krankheit und Behinderung die Situation derjenigen
Menschen zu verbessern, bei denen ein erblich bedingtes Risiko vorliegt
(CDC 1997).
Der Aufgabenschwerpunkt liegt seit 1997 in der Verbreitung von
Informationen und der Förderung der Kompetenzen der Public Health
Professionen in Bezug auf die Genetik und ihrer Bedeutung für die öffentliche Gesundheitsversorgung. Darüber hinaus wurde eine Kooperation
mit der Foundation for Blood Research aufgebaut, einer NonprofitForschungsorganisation, um Studien über Verfahren zur Kontrolle der
Qualität und Effektivität genetischer Tests durchzuführen. 1998 wurde
das Human Genome Epidemiology Network (HuGE Net) gegründet. Ihm
gehören Vertreter verschiedener Disziplinen an wie der Epidemiologie, der
Genetik, der Klinischen Medizin, der Politik, Public Health, der Lehre und
der biomedizinischen Wissenschaften. Die Mitglieder von HuGE Net sind
Studenten, Forscher, Lehrende und Anbieter von Gesundheitsdienstleistung
en aus staatlichen, akademischen, privaten und öffentlichen Einrichtungen.
Ihr gemeinsames Ziel ist die Untersuchung der Bedeutung genetischer
Varianten für die Gesundheit der Bevölkerung und für die Aufgaben von
Public Health wie z.B. die Entwicklung von Richtlinien und Strategien oder
die Beurteilung der Eignung genetischer Tests für Screening-Programme
und für die Prävention.
Das OGDP initiert seit seiner Gründung verschiedene Programme:
Unterstützung bestehender und Gründung weiterer Centers for Genomics and
Public Health, die Aufrechterhaltung des Informationszentrums Genomics
and Health Information System, das Erstellen eines jährlichen Berichtes zum
Zweck der Darstellung aktuellen Wissens und Wissensbedarfes über verschiedene genetisch bedingte Erkrankungen („National Report on Genomics
and Health“),5 die Entwicklung einer Forschungsagenda und Förderung von
Studien über bestehende Wissenslücken über Krankheiten und ihre gene4
5
t424
http://www.cdc.gov/genomics/about.htm (30.03.2004)
Der erste Bericht wurde im März 2004 vorgelegt
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
tischen Komponenten („Applied Research“), die Unterstützung von CDCund anderen staatlichen Maßnahmen bei der Integration von Genomik in
ihre Public Health Programme („Public Health Capacity“).6
In Großbritannien wurden seit Beginn der 1990er Jahre Stellungnahmen über
den Nutzen genetischer Techniken und Erkenntnisse für die Medizin und über
soziale und ethische Implikationen sowie Empfehlungen von auf regionaler
Ebene bereits bestehenden Organisationen, Berufsverbänden oder von der
Regierung einberufenen Kommissionen erarbeitet. Ihr Einfluss war jedoch
begrenzt. Von erheblicher Bedeutung für Public Health Genetics war der
1995 veröffentlichte Report des Science and Technology Committee des britischen Unterhauses: „Human Genetics: The Science and Its Consequences“.
Er führte unter anderem zu der Gründung der Human Genetics Advisory
Commission (HGAC) durch die Regierung und des Advisory Committee on
Genetic Testing (ACGT) (Holtzman und Shapiro 1998, Zimmern und Cook
2000).
1997 wurde die Public Health Genetics Unit (Public Health GeneticsU)
gegründet. In den ersten 5 Jahren ihres Bestehen wurde sie unterstützt durch
das Research and Development Directorate des National Health Service
und durch mehrere regionale Gesundheitszentren (Health Authorities). Seit
Oktober 2002 wird die Einrichtung durch das Gesundheitsministerium sowie
durch den Wellcome Trust, einer unabhängigen privaten Stiftung, und das
Department of Trade and Industry finanziert.
Die Public Health GeneticsU ist Teil des National Health Service (NHS).
Ihre Aufgaben sind (Zimmern 2002):
n die Bedeutung der Fortschritte der Humangenetik für Public Health und für
die Gesellschaft zu untersuchen
n die Aufmerksamkeit der in der Gesundheitsversorgung Tätigen und der
Politik für genetische Fragestellungen zu fördern
n die epidemiologische und Public Health-Perspektive in die RichtlinienEntwicklung für genetische Dienstleistungen einzubringen.
Durch die Institutionalisierung von Public Health Genetics auf der Ebene
nationaler Gesundheitsbehörden bzw. politischer Steuerungsebenen
wurde es ermöglicht, die vielfältigen Auswirkungen der Genetik auf
die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu untersuchen und die
6
Ein Überblick über die Aktivitäten des CDC seit 1996 ist zu finden auf der Homepage der CDC
http://www.cdc.gov/genomics/about.htm (30.3.2004)
425u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Entwicklung von Strategien und verbindlicher Richtlinien für eine angemessene Anwendung der Genetik zu unterstützen.
3. Die Integration von Public Health Genetics in die
universitäre Ausbildung
Mit dem raschen Anwachsen genetischer Erkenntnisse und Technologien
und ihrer Verwendung in der medizinischen Versorgung ging ein zunehmender Bedarf an Fortbildung einher. Verschiedene Arbeitsgruppen, z.B.
die American Society of Human Genetics (ASHG 1991), die Task Force on
Genetics in Disease Prevention (CDC 1997), die World Health Organisation
(WHO 1998), und die Association of State and Territorial Health Officials
(ASTHO),7 befassten sich mit den Folgen des Humangenomprojektes und
sprachen sich in ihren Empfehlungen dafür aus, den in Public Health Tätigen
das Wissen und die Fähigkeiten zu vermitteln, die für eine Integration der
Genetik in die Public Health-Aufgaben erforderlich sind.
Vor allem in den USA und in Großbritannien begannen universitäre Public
Health Ausbildungseinrichtungen in der Mitte der 1990er Jahre mit der
Einrichtung spezieller Public Health Genetics Schwerpunkte. Dabei wurden zum einen Public Health Genetics spezifische Kurse eingerichtet und
zum anderen die Entwicklungen der Genomik in bestehende Fachbereiche,
wie z.B. in die Epidemiologie oder in die Public Health Ethik, integriert.
Durch die Integration der Genomik in die bestehende Public Health
Ausbildung sollte die die Public Health Forschung und Praxis kennzeichnende Multidisziplinarität gewährleistet werden.
Als eine der ersten universitären Ausbildungseinrichtungen für Public Health
in den USA gründete die School of Public Health der University of Michigan
1996 einen eigenständigen Fachbereich für Public Health Genetics. Als
Anlass für die Gründung werden die zunehmenden sozialen, rechtlichen und
ethischen Herausforderungen und Implikationen für den Regelungsbedarf
des öffentlichen Gesundheitswesens durch die raschen Fortschritte der
Genetik genannt. Das Ziel der Ausbildung war es, künftigen Public Health
Fachleuten Wissen darüber zu vermitteln, wie Gene, Umwelteinflüsse und
Verhalten die Gesundheit beeinflussen, und wie sie dieses Wissen in ihren
späteren praktischen oder wissenschaftlichen Tätigkeitsbereichen anwenden
können.
7
t426
http://www.astho.org/pubs/consolidatedpolicy.html (3.9.2004)
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Das Kursangebot repräsentiert die Multidisziplinarität von Public Health
(Genetics) durch die Beteiligung der einzelnen Forschungs- und Praxisbereiche
von Public Health wie der Biostatistik, der Epidemiologie, Umwelt
und Gesundheit (Environment Health Science), Gesundheitsmanagement
und Richtlinienentwicklung (Health Management and Policy) sowie
Gesundheitsverhalten und -erziehung (Health Behaviour and Health
Education) beteiligt. Die Studierenden sollen dadurch auf die multidisziplinäre Arbeit in Public Health Genetics vorbereitet werden:
“The Interdepartmental Concentration (IC) is a unique approach in public
health education and is designed to provide students with multidisciplinary
preparation to work in the public health genetics arena. Participating in the
IC is a great opportunity to work and study with faculty and students from
each of the five departments in the School of Public Health.” 8
Neben der Vermittlung der Grundlagen der beteiligten Wissenschaften findet
in den Kursen eine Auseinandersetzung mit ethischen, rechtlichen und sozialen
Implikationen der Genetik statt. Dazu gehören unter anderem: die Vermittlung
und Diskussion des technischen Entwicklungsstandes und des sozialen
Hintergrundes populationsbezogener genetischer Eingriffsmöglichkeiten, der
Kriterien der Entscheidung über die Durchführung genetischer ScreeningProgramme und Gentherapie-Versuche, der Rahmenbedingungen, wie z.B.
Kosten-Nutzen-Analysen, und ethischer Kriterien, die bei der Auswahl und
Gestaltung genetischer Programme und Richtlinien hilfreich sein können.9
1997 etablierte die University of Washington das Institute for Public Health
Genetics (IPHG). Der Auftrag des Institutes besteht darin, eine umfassende,
multidisziplinäre Ausbildung für zukünftige Public Health Fachleute anzubieten, die Forschung in Public Health Genetics zu fördern und eine ständige
berufliche Weiterbildung zur Verfügung zu stellen.
Das IPHG-Programm verbindet die Genetik und die wissenschaftlichen
Public Health Disziplinen Epidemiologie, Pathobiologie und Biostatistik
sowie die Forschung zu Umwelt und Gesundheit und die Forschung
über Gesundheitsangebote mit der Ethik, den Sozialwissenschaften,
den öffentlichen Angelegenheiten (Public Affairs), der Ökonomie und
den Rechtswissenschaften zu einem einheitlichen akademischen
Ausbildungsprogramm. Das IPHG stellt die phänotypische Prävention
in Gemeinden und Populationen in den Mittelpunkt ihres Curriculums.
8
9
http://www.sph.umich.edu/genetics/ (01.02.2005)
University of Michigan: “Issues of Genetics in Public Health”, Course HMP 517, http://www3.
sph.umich.edu/caid/display_course_all_genetics.cfm (20.4.2005)
427u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Es beinhaltet die Vermittlung von Kenntnissen der rechtlichen, ethischen,
finanziellen, regulatorischen und organisatorischen Verantwortungsbereiche
der Gesellschaft, die sich aus dem Angebot genetischer Dienstleistungen und
der Entwicklung von umwelt- und verhaltensbezogenen Maßnahmen zur
bevölkerungsbezogenen Prävention genetisch bedingter Erkrankungen und
Suszeptibilitäten ergeben.
In Ethikkursen im Rahmen der Public Health Genetics-Ausbildung der
University of Washington werden den Studierenden Grundlagen ethischer
Urteilsbildung vermittelt; sie werden in historische ethische Probleme
eingeführt, die sich aus der Anwendungen der Genetik ergeben haben,
wie z.B. eugenische Programme, frühe Screening-Programme und
Beratungspraktiken. Des Weiteren werden die ethischen Voraussetzungen
für Public Health Genetik untersucht. Dazu gehören die Konflikte, die durch
die Wahrung individueller Interessen bei gesellschaftlichen Zielsetzungen
entstehen können.10
Im Jahr 2002 wurden mit Hilfe von Fördergeldern der CDC an drei bereits
bestehenden Schools of Public Health – die oben bereits genannten Public
Health School der Washington University und der University of Michigan
sowie die School of Public Health der University of North Carolina –
Centers for Genomics and Public Health gegründet. Sie haben die Aufgabe,
Kenntnisse über die Zusammenhänge zwischen genetischen und modifizierbaren Risikofaktoren wie der Ernährung, körperlicher Aktivität oder der
Schadstoffexposition zu vermitteln, örtlichen, regionalen und staatlichen
Public Health-Organisationen technische Unterstützung anzubieten sowie
Fortbildungskonzepte für die im Public Health Bereich Tätigen zu entwickeln und anzubieten. Durch die Gründung dieser Zentren sollen bereits
bestehende Aktivitäten gebündelt sowie Synenergie-Effekte erzielt und die
Zusammenarbeit zwischen Public Health Schools und Einrichtungen verbessert werden.11
Das Institute of Medicine (IOM) sieht eine wachsende Notwendigkeit,
Genetik in die Ausbildung zu integrieren, und fasst die zukünftigen
Aufgaben der Public Health Ausbildung wie folgt zusammen:
Neben den weiterhin wichtigen traditionellen Bereichen Epidemiologie,
Biostatistik, Umwelt-Gesundheit, der Verwaltung von Dienstleistungen
des öffentlichen Gesundheitswesens und der Sozialwissenschaften werden
10 University of Washington: “Ethical Frameworks of Public Health Genetics”, Course PHG 522,
Spring 2004 http://depts.washington.edu/phgen/coursewebs/522/522info.html (10.04.2005)
11 http://depts.washington.edu/phgen/AboutPublic Health Genetics/phg.html (30.03.2004)
t428
Genetik in Public Health
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die Public Health Professionen besser auf die neuen Herausforderungen
der Gesellschaft vorbereitet werden müssen: Informatik, Genomik,
Kommunikation, kulturelle Kompetenz, Erforschung von Möglichkeiten
der Bürgerbeteiligung („community-based participatory research“),
Globalisierungsaspekte von Gesundheit, Politik und Recht sowie Public
Health Ethik.
Aus der Perspektive des IOM erwachsen diese Bereiche aus den traditionellen Aufgaben von Public Health und sind die Reaktion auf die sich
ständig verändernden sozialen, ökonomischen, technologischen und demographischen Rahmenbedingungen für die Gesundheit der Bevölkerung
(Institute of Medicine 2005).
In Großbritannien gründete die Public Health Sektion der Sheffield School
of Health and Related Research (ScHARR) im Jahr 2000 das Sheffield
Centre for Integrated Genetics. In einer Stellungnahme anlässlich der
Gründung heißt es:
„… Discussion during early 2000 has identified the new Genetics as an
important development which will have great significance for the health of
the population…” 12
Das Zentrum bietet eine integrierte Ausbildung in Forschung, Beratung und
Lehre für die an den Schnittstellen zwischen Genetik, Molekularbiologie
und Krankenversorgung sowie den in der Public Health Forschung Tätigen
an, um die Implikationen für Patienten, für die Bevölkerung und das
Gesundheitssystem zu untersuchen.
Ein spezieller Forschungsschwerpunkt liegt auf der Untersuchung der
Entwicklung von Datenbanken (Trent Public Health Observatory), einschließlich genetischer Datenbanken. Entscheidungsträger sollen unter
anderem darin unterstützt werden, gesundheits- und krankheitsrelevante
Entwicklungen zu beobachten, Lücken in der Gesundheitsinformation
zu identifizieren, auf Methoden hinzuweisen, die der Untersuchung von
Gleichheit und von Ungleichheiten in der Gesundheit dienen, Informationen
zusammenzutragen, um neue Möglichkeiten der Sicherstellung von
Gesundheit zu entwickeln und die Fortschritte örtlicher Behörden bei der
Sicherstellung von Gesundheit und der Verhinderung von Benachteiligungen
zu evaluieren.
12
s. dazu: ScHARR Strategig Statement 2000-2002. http://www.shef.ac.uk/~scharr/publich/
research/genetics/SCIG.html (30.03.2004)
429u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Mit der Beschreibung der Integration der Genetik in die Public Health
Forschung und Ausbildung in den USA und Großbritannien sollte vor allem
auf den multidisziplinären Ansatz von Public Health Genetics hingewiesen
werden. Durch die Integration von Public Health Genetics in die zahlreichen,
an Public Health beteiligten Disziplinen wird den vielfältigen und komplexen Herausforderungen, die sich durch die Integration der Erkenntnisse der
Genetik in die Gesundheitsversorgung ergeben, Rechnung getragen.
Der Auftrag und die Methoden von Public Health Genetics sollen im folgenden Teil weiter präzisiert werden.
4. Public Health Genetics – Definitionen
Public Health Genetics ist keine eigenständige Wissenschaft und nicht definiert durch eine spezifische Disziplin, sondern fasst die Kompetenzen aller
in der Praxis und der Forschung der Gesundheitsversorgung Tätigen zusammen (Omenn 2000). Daher versteht sich Public Health Genetics als ein
Spezialgebiet von Public Health (Brand 2001) bzw. strebt die Integration der
Genetik in die Aufgaben und Einrichtungen von Public Health an (Beskow
2001b).
Public Health Genetics ist, wie Khoury beschreibt, ein „hybrider
Wissenschaftszweig“ aus Genetik und der öffentlichen Gesundheitsversorgung
(Public Health) (Khoury et al. 2000). Von der School of Public Health der
University of Michigan wurde Public Health Genetics definiert als die
Anwendung der Fortschritte der Genetik und molekularen Biotechnologie
zur Sicherstellung der Gesundheit der Bevölkerung und zur Vorbeugung von
Krankheiten.13
Wylie und Burke erweitern diese Definition um den Aspekt der ethischen
Prüfung von Handlungsstrategien:
„…integrating advances in human genetics and molecular technology into
effective and ethical public health action to promote health and prevent disease and disability.“ 14
Ähnlich definiert das University of Washington Institute for Public Health
Genetics (IPublic HealthGs) Public Health Genetics als die Anwendung der
Fortschritte und Erkenntnisse der Genetik und molekularen Biotechnologie
13 http://www.sph.umich.edu/genetics/ (30.03.2004)
14 http://depts.washington.edu/ceeh/issues/issues.html (30.3.2004)
t430
Genetik in Public Health
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für die bevölkerungsbezogene Sicherstellung der Gesundheit und Prävention,
die sich mit der Frage nach dem gesellschaftlichen Bedarf an spezifischen
genetischen Gesundheitsleistungen befasst. Ziel ist es, zur Verlängerung
des Lebens und Verbesserung der Lebensqualität des Einzelnen und der
Bevölkerung beizutragen. Dazu beschäftigt sich Public Health Genetics
unter anderem mit der Frage, wie die Einrichtungen des öffentlichen
Gesundheitssystems darauf vorbereitet werden sollten, dass die Informationen
über die Gen-Umwelt-Interaktionen angemessen verwendet werden. Dieses
beinhaltet auch die Untersuchung über die Auswirkungen der Genetik auf
das Versorgungssystem.15
Public Health Genetics erbringt sowohl praktische als auch wissenschaftliche Dienstleistungen. Wie auch Community Genetics ist Public Health
Genetics im Rahmen ihrer praktischen Aufgaben bestrebt, genetische
Angebote bevölkerungsnah bzw. gemeindenah anzubieten. Der wissenschaftliche Aufgabenbereich umfasst die für die Entwicklung und Evaluation
genetischer Angebote notwendige Forschung. Public Health Genetics unterscheidet sich von Community Genetics durch den spezifischen Auftrag,
die Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen bei der Sicherstellung
von Bedingungen zu gewährleisten, unter denen Menschen gesund leben
können.16 Damit verbindet Public Health Genetics die „unvermeidliche
Integration neuer genetischer Information in alle Public Health Programme
und in Bezug auf alle Krankheiten, unabhängig davon, ob die Krankheiten als
‚genetisch bedingt’ definiert sind oder Angebote als ‚genetische Angebote’
gekennzeichnet sind.“ (Khoury et al. 2000, eigene Übersetzung).
4.1.Abgrenzung zur klinischen patientenzentrierten
Versorgung
Eine umfassende Übersicht über die Unterschiede zwischen der
Individualmedizin und Public Health stellte Harvey Fineberg von der
Harvard University School of Public Health 1990 zusammen.
Hiernach unterscheidet sich Public Health von der individualmedizinischen
Versorgung im Wesentlichen dadurch, dass sie zahlreiche Disziplinen
umfasst, die sich mit der Überwachung und Diagnose gesundheitlicher
Probleme ganzer Bevölkerungen bzw. Bevölkerungsgruppen befassen.
Public Health hat die Aufgabe, gesunde Lebensbedingungen und gesunderhaltendes Verhalten kontinuierlich zu fördern, während in der individualmedizinischen Versorgung ein zeitlich begrenzter Arzt-Patientenkontakt
15 http://depts.washington.edu/phgen/about/about_intro.shtml (30.3.2004)
16 weitere Differenzierungen zw. PH – und Community s. Principles of the Ethical Practice of PH,
Vers.2.2; © 2002 Public Health Leadership Society
431u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
aus Anlass einer bestimmten Erkrankung oder gesundheitlichen Störung
erfolgt.
Public Health bezieht ein Spektrum von Interventionsmöglichkeiten ein,
das sich auf den Lebensstil, das Verhalten und die Umwelt richtet. Aus
diesem Grund sind die Sozialwissenschaften ein wesentlicher Bestandteil
von Public Health. In der klinischen Medizin haben sie eine untergeordnete Bedeutung, da sich die Perspektive der Medizin an den Bedürfnissen
des einzelnen Patienten orientiert. Public Health Wissenschaftler und Praktiker sind in zahlreichen Bereichen tätig. Ein einheitliches Public Health
Berufsbild existiert vor allem in der Öffentlichkeit nicht – Fineman spricht
von „multiplen Identitäten“ – während das Berufsbild des Arztes/der Ärztin
klar umrissen ist.
Ebenso vielfältig wie die an Public Health beteiligten wissenschaftlichen
Disziplinen und Berufsgruppen sind die Zertifizierungen, wohingegen die
Ausbildung innerhalb der Medizin einheitlich geregelt ist.
Die biologischen Wissenschaften spielen sowohl in Public Health als auch in
der Medizin eine zentrale Rolle. Ausgangspunkt für die biologische Forschung
sind in der Individualmedizin die Bedürfnisse des einzelnen Patienten.
Der Transfer der Erkenntnisse erfolgt „vom Labor zum Krankenbett“.
Public Health nutzt biologische Erkenntnisse, um die Gefährdung der
Gesundheit der Bevölkerung zu verhindern. Die Forschungsinteressen und
die Umsetzung der Erkenntnisse sind das Ergebnis der Wechselwirkung
zwischen dem Labor und dem Anwendungs-„Feld“. 17
4.2.Abgrenzung zu Community Genetics
Der Begriff Public Health Genetics ist vor allem in den angloamerikanischen Ländern gebräuchlich. Der in den europäischen Ländern und im
Sprachgebrauch der WHO verwendete Begriff Community Genetics wird
häufig synomym verwendet. Obwohl es gemeinsame Merkmale gibt, unterscheidet sich Community Genetics vor allem in seinen historischen Wurzeln
und ursprünglichen Zielsetzungen von Public Health Genetics. Diese sollen
im Folgenden dargestellt werden.
Auf internationaler Ebene war die WHO federführend für die Integration
der Genetik in die Gesundheitsversorgung auf der Bevölkerungsebene. Der
Begriff Community Genetics wurde erstmalig 1990 von Bernadette Modell,
Genetikerin bei der WHO, verwendet und bezeichnet seitdem die bevölker17 Association of Schools of Public Health (ASPH) http://www.asph.org/document.cfm?page=724
(30.3.2004)
t432
Genetik in Public Health
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ungsbezogenen Aspekte der medizinischen Genetik und ihrer Umsetzung
auf der Ebene der Grundversorgung der Bevölkerung mit medizinischen
Dienstleistungen (primary care).18
Das Konzept von Community Genetics umfasst die frühestmögliche
Identifikation und Prävention genetisch bedingter Risiken und vereinigt
Fähigkeiten der Medizinischen Genetik und der Sozialmedizin. Ein wesentlicher Bestandteil von Community Genetics ist der Aufbau regionaler, wohnortnaher genetischer Dienste bzw. ihre Integration in die Primärversorgung
durch praktische Ärzte und anderes medizinisches Personal (Modell und
Kuliev 1998).
Der niederländische Genetiker Leo ten Kate führt an, eine der vordringlichsten Aufgaben eines „Community-Genetikers“ sei es dafür zu sorgen,
dass alle Mitglieder einer Community die Möglichkeit haben, klinischgenetische Einrichtungen aufzusuchen. Seine künftigen Aktivitäten bestehen
insbesondere darin, genetische Screenings durchzuführen, Fortbildungen
sowohl für die in der medizinischen Versorgung Tätigen als auch für die
Bevölkerung anzubieten, Genetik in der individuellen Gesundheitsversorgung
anzuwenden, genetische Angebote für benachteiligte Bevölkerungen und
Bevölkerungsgruppen bereitzustellen sowie genetische und angeborene
Behinderungen zu erfassen (ten Kate 2000).
Von der WHO wurden die Herausforderungen der Genetik für Fragestellungen
im Zusammenhang mit Krankheit und Gesundheit der Bevölkerung bereits
vor etwa 40 Jahren erkannt. Sie begann ab 1963 die Bedeutung der
Genetik für die Sicherung der Gesundheit zu untersuchen, nachdem eine
Expertenkommission der WHO befand, dass die Genetik der bevölkerungsbezogenen Gesundheitsversorgung eine neue Dimension hinzufüge: (WHO
1963)
18
Einer Definition des Institute of Medicine zufolge ist primary care gekennzeichnet durch
Erreichbarkeit, Umfang, Koordinierung, Kontinuität und Zuverlässigkeit der medizinischen
Einrichtungen, Angebote und Dienstleistungen. Die Versorgung durch Primary-Care-Ärzte
umfasst Gesundheitsförderung, Prävention, Heilbehandlung und Symptomlinderung. Ihre
Hauptaufgabe besteht jedoch in der Behandlung des kranken Patienten. Primary-Care-Ärzte sind
diejenigen, die zuerst von den Kranken aufgesucht werden, um Beratung und Hilfe zu zu erhalten. Ein weiteres Merkmal von primary care ist das Entstehen dauerhafter Beziehungen zwischen
Arzt und Patienten bzw. deren Familie (Abramson und Kark 1983, zitiert nach: National Nursing
Research Institute: Health Care: Nursing Strategies. National Research Agenda http://ninr.nih.
gov/ninr/research/vol7/ (30.3.2004)
433u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
“...genetic considerations add a new dimension to public health work: a
concern not only for the health and well-being of persons now living, but
also for … generations yet to come”.
Daraufhin wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die der Abteilung für
Biomedizinische Wissenschaften zugeordnet war. Referenzzentren
wurden eingerichtet, um die Verfahren und Methoden für genetische
Populationsstudien zu standardisieren.
Die Einführung erster koordinierter Programme zur Prävention erblich
bedingter Erkrankungen wird von der Genetikerin Bernadette Modell,
Mitinitiatorin dieses Arbeitsbereiches, auf 1981 datiert. In diesem Jahr begann
die WHO, eine Bestandsaufnahme durchzuführen, um einen Überblick über
die Bereiche zu gewinnen, in denen genetische Erkenntnisse bereits in der
Praxis angewandt wurden. Die Ergebnisse wurden 1985 in dem Bericht
„Community approaches on hereditary diseases“ zusammengefasst.
In diesen Bericht gingen die praktischen Erfahrungen der zu diesem
Zweck 1981 gegründeten Arbeitsgruppe über die Prävention genetisch
bedingter Hämoglobinopathien ein. Sie hatte die für eine Umsetzung
von Präventionsprogrammen notwendigen Fragestellungen, Methoden und
Regeln entwickelt. Im Mittelpunkt stand dabei der Aufbau bzw. die Nutzung
bestehender kommunaler und regionaler primary care-Einrichtungen mit
dem Ziel, Menschen mit einer genetisch bedingten Benachteiligung zu helfen und ihnen eine möglichst normale Fortpflanzung zu ermöglichen:
„...to help people with a genetic disadvantage to live and reproduce as normally as possible“.
Die genetischen Dienste stellten Beratungs- und Behandlungsmöglichkeiten
für Betroffene und ihre Familien zur Verfügung und boten pränatale
Diagnostik an.
Es wurden Programme zur Kontrolle und Prävention erblich bedingter
Erkrankungen entwickelt mit dem Ziel, über eine, an die jeweiligen politischen, kulturellen und sozialen Bedingungen der Lebensgemeinschaften
adaptierte Aufklärung und Schulung sowie durch Screening der Bevölkerung,
durch genetische Beratung und des Angebotes einer Pränataldiagnostik die
bestmögliche Prävention und Versorgung für Patienten und Risikopersonen
anzubieten (WHO 1985).
t434
Genetik in Public Health
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Die Erfahrungen dieser Programme haben wesentlich zu einer Etablierung
der Genetik in den Aufgabenbereich der WHO beigetragen. Modell prägte
für diesen Schwerpunkt den Begriff „Community Genetics“.
Der enge Bezug von Community Genetics zu Primary Care ist zurückzuführen auf einen Beschluss der WHO Ende der 1970er Jahre, eine
Infrastruktur für die Gesundheitsversorgung zu entwickeln, die allen
Menschen den bestmöglichen Zugang zu den von der WHO beschlossenen
Gesundheitsprogrammen ermöglicht.
Die für die WHO ausschlaggebenden Merkmale von Primary Care bestehen
darin, dass sie praktische Erfahrungen und wissenschaftliche Grundlagen
vereinigt, auf sozial-akzeptablen Methoden und Technologien der Medizin
basiert und Selbstverantwortung und Selbstbestimmung zugrunde legt.
Sie ist jedem Einzelnen und den Familien einer Gemeinschaft zugänglich.
Die Kosten sollen so bemessen sein, dass sie von der Gemeinschaft, der
Gemeinde, der Region bzw. dem Land zu jeder Zeit aufgebracht werden
können. Einrichtungen von Primary Care sind die erste Kontaktstelle für
Menschen, Familien und Gemeinde bzw. der Gemeinschaft mit dem nationalen Gesundheitssystem. Primary Care Einrichtungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Gesundheitsversorgung in die Lebens- und Arbeitswelt
der Menschen – die Community – integrieren (WHO 1997).
Damit greift das Programm der WHO auf ein weiteres, wesentliches gesundheitskonstituierendes Element zurück – die fördernde Zugehörigkeit zu einer
lebens- und arbeitsweltlichen Gemeinschaft:
„The community development model or the process of empowering and
strengthening community action is important so that people can have greater
control over their lives, develop supportative relationships and skills in decision making and the ability to access resources. The challenge for health
promotion is to work with communities and not for communities.“ 19, 20
Den Einrichtungen der gemeinde- bzw. gemeinschaftsnahen
Gesundheitsversorgung kommt bei der Implementierung von WHO-
19 S. Department of Health and Children (DoHC): The National Health Promotion Strategy 2000
-2005. S.11, 49 http://www.doh.ie/pdfdocs/hpstrat.pdf (30.3.2004)
20 Der Begriff community kann sowohl eine verwaltungstechnische Einheit, z.B. eine politische
Gemeinde oder Stadt, bezeichnen als auch eine durch gemeinsame religiöse oder ethnokulturelle Traditionen verbundene Gruppe von Menschen. Kennzeichen einer „Community“ ist das
gemeinsame Bestreben, Traditionen aufrecht zu erhalten und Bedingungen zu schaffen, die ihren
Mitgliedern gute Lebensbedingungen sichern (Moon 1998).
435u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Programmen, so auch dem Programm zur Prävention genetisch bedingter
Erkrankungen, eine zentrale Bedeutung zu.
Mit einem sich vor allem durch die Fortschritte der Genetik verändernden
Verständnis von der Rolle der Gene bei der Entstehung von Krankheiten
(„new genetics“), der Erweiterung genetischer Testmöglichkeiten und eines
wachsenden Angebotes genetischer Tests sehen sich die im Bereich von
Community Genetics tätigen Mitarbeiter neuen Anforderungen ausgesetzt.
Sollten Ärzte und andere Mitarbeiter der primären Krankenversorgung
zukünftig diese „neue“ Genetik in ihre Arbeit einbeziehen, werden größere
Kompetenzen im Bereich der Untersuchung und Kommunikation genetischer
Risiken erforderlich sein. Es wird sich eine verstärkte multidisziplinäre
Zusammenarbeit mit Humangenetikern entwickeln müssen. Darüber hinaus
sollten sie die Öffentlichkeit und potentielle Patienten in einem frühen Alter
darauf hin informieren und schulen, welche Anforderungen und Entscheidungen
hinsichtlich einer angemessenen Verwendung genetischer Informationen zur
Gesundheitsförderungen und Krankenversorgung sie zu erwarten haben (The
Royal College of General Practitioners 1998, Fry et al 1999, Knottnerus
2003).21
Diese wachsenden Aufgaben stellen eine neue Herausforderung sowohl
für die Community Genetics Praxis als auch für die Forschung dar. In den
Niederlanden ist daher Community Genetics seit Mitte der 1990er Jahre
bestrebt, den Bezug zwischen Community Genetics und Public Health
herzustellen. Die wissenschaftliche Plattform von Public Health soll dazu
dienen, bei der Bewertung der Bedeutung der Genetik für die Medizin die
gesellschaftlichen Perspektiven und Anforderungen einzubeziehen. Dennoch
bleibt es die zentrale Aufgabe von Community Genetics, humangenetische
Dienstleistungen in der Primary Care anzubieten (Ten Kate 1998, ten Kate
2000).
5. Aufgaben und Methoden von Public Health
Genetics: Die Public Health Trias
Die Zielsetzung und die Methoden von Public Health Genetics wurden maßgeblich durch den Report eines Komitees des Institute of Medicine (IOM),
„The Future of Public Health“, beeinflusst (IOM 1988).
21 S. auch Sheffield School of Health and Related Research http://www.shef.ac.uk/~scharr/publich/
research/genetics/oldandne.html (30.03.2004)
t436
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Das Komitee hatte den Auftrag, die zukünftige Entwicklung von Public
Health zu planen. Es formulierte den Auftrag von Public Health als Erfüllung
gesellschaftlicher Interessen bei der Sicherstellung von Bedingungen, unter
denen Menschen gesund leben können. Public Health sucht diesen Auftrag
durch organisierte, interdisziplinäre Bemühungen, die physischen, mentalen
und lebensweltabhängigen Gesundheitsbedingungen von Gemeinschaften
und Population, die besonderen Risiken für Krankheit und gesundheitliche Schäden ausgesetzt sind, zu beeinflussen. Dieser Auftrag wird
erfüllt durch Maßnahmen der Gesundheitsförderung, des Einsatzes von
Technologien der Krankheitsprävention sowie durch Interventionen zur
Sicherung und Verbesserung der Lebensqualität. Die Gesundheitsförderung
und Krankheitsprävention umfasst ein breites Spektrum von Aufgaben und
Expertisen, die in drei zentralen Public Health-Zielen zusammengefasst
werden können:
n Untersuchung (assessment) und Überwachung (surveillance) der Gesundheit
in Gemeinschaften und Bevölkerungen mit einem erhöhten Krankheitsrisiko,
um gesundheitliche Probleme und vorrangige Bedürfnisse zu identifizieren
n Entwicklung von Strategien und Richtlinien (policy development) in
Zusammenarbeit mit Vertretern der Gemeinschaften und Regierungen,
die darauf ausgerichtet sind, die identifizierten regionalen und nationalen
Gesundheitsprobleme nach Dringlichkeit einzustufen und zu lösen
n Sicherstellung (assurance) der Möglichkeit, dass jede Bevölkerung bzw.
jede Bevölkerungsgruppe Zugang zu einer angemessenen und kosteneffektiven Versorgung, zu Angeboten der Gesundheitsförderung und Prävention
erhalten, sowie die Evaluation der Effektivität dieser Versorgung und
Angebote.
Diese Funktionen wurden 1994 konkretisiert durch die Aufstellung von zehn
sogenannten „Essential Public Health Services“ durch das Public Health
Functions Steering Committee “Public Health in America”: 22, 23
22 http://web.health.gov/phfunctions/public.htm (20.3.2004)
23 Die Zusammensetzung des Public Health Functions Steering Committee entspricht dem multidisziplinären Ansatz von Public Health: American Public Health Association, Association of
Schools of Public Health, Association of State and Territorial Health Officials, Environmental
Council of the States, National Association of County and City Health Officials, National
Association of State Alcohol and Drug Abuse Directors, National Association of State Mental
Health Program Directors, Public Health Foundation, U.S. Public Health Service -Agency for
Health Care Policy and Research, Centers for Disease Control and Prevention, Food and Drug
Administration, Health Resources and Services Administration, Indian Health Service, National
Institutes of Health, Office of the Assistant Secretary for Health Substance Abuse and Mental
Health Services Administration
437u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Bewertung (assessment):
n Überwachen des Gesundheitsstatus der Bevölkerung bzw. von
Bevölkerungsgruppen, um Gesundheitsprobleme zu identifizieren
n Aufdecken und untersuchen von Gesundheitsproblemen und -Risiken für
die Gesundheit der Bevölkerung
Entwicklung von Strategien und Richtlinien (policy developmen“):
n Informieren, Erziehen und Befähigen der Bevölkerung in Fragen der
Gesundheit
n Mobilisieren und Festigen von Partnerschaften, um gesundheitliche
Probleme zu identifizieren und zu lösen
n Entwickeln von Richtlinien und Plänen zur Unterstützung individueller
und gemeinschaftlicher Bemühungen um Gesundheit
Sicherstellung (assurance“):
n Durchsetzen von Gesetzen und Regeln, welche die Gesundheit schützen
und die Sicherheit gewährleisten
n Schaffen von notwendigen Gesundheitsdiensten, Sicherstellen der
Versorgung
n Sicherstellen der Kompetenz der in den öffentlichen und individuellen
Gesundheitsdienstleistung Tätigen
n Evaluation der Effektivität, der Erreichbarkeit und der Qualität der individuellen und bevölkerungsbezogenen Gesundheitsdienste
n Erforschung neuer Möglichkeiten und innovativer Lösungen für gesundheitliche Probleme.24
Die drei Grundfunktionen von Public Health und die oben genannten
zehn Forderungen wurden anschließend von Arbeitsgruppen, die sich mit
der Bedeutung der Genetik für Public Health beschäftigten, wie z.B. der
Genetics Working Group at the Centers for Disease Control and Prevention,
übernommen. Sie bildet die Basis für die Entwicklung von Strategien zur
Umsetzung von Public Health Genetics in die Praxis der bevölkerungsbezogenen Gesundheitsversorgung verwendet („Need for public health leadership in genetics“ (CDC 1997).
Beskow et al. adaptierten die Public Health-Funktionen an die Aufgaben der
Genetik in Public Health (Beskow et al. 2001b):
24 Eine ausführlichere Darstellung des Auftrages und der Aufgaben von Public Health in den USA
ist zu finden auf der Homepage der Association of Schools of Public Health (ASPH) http://www.
asph.org/document.cfm?page=300 (30.3.2004)
t438
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Assessment:
Das systematische Sammeln, Aufbauen, Analysieren und Verbreiten
von Informationen, einschließlich humangenetisch-epidemiologischer
Informationen, über die Gesundheit der Gemeinschaft:
Dazu notwendige Dienstleistungen:
n Epidemiologische und Labor-Forschung zur Quantifizierung der Bedeutung
genetischer Varianten für die menschliche Gesundheit und Identifizierung
und Quantifizierung von umweltbedingten Risikofaktoren und ihrer
Wechselwirkung mit genetischen Varianten
n Gesundheitsüberwachung: Überwachung des Gesundheitsstatus, einschließlich genetisch bedingter Erkrankungen, um gesundheitliche Probleme in
der Bevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe zu identifizieren
n Diagnostik und Untersuchung: Untersuchung der Verteilung genetischer
und modifizierbarer Risikofaktoren in der Gemeinschaft, um ihren Beitrag
zu den Gesundheitsproblemen und die Folgen für die Gesundheit zu ermitteln.
Policy Development:
In Zusammenarbeit mit Interessenvertretern die Formulierung von Standards
und Richtlinien, eine angemessene Verwendung genetischer Informationen
und die Kontrolle der Effektivität, die Förderung des Zugangs zu genetischen Tests und Dienstleistungen sowie Sicherstellung ihrer Qualität:
Dazu notwendige Leistungen:
n Politik- und Kommunikationsforschung: Identifizierung und Analyse
ökonomischer, sozialer, ethischer und politischer Implikationen der
Fortschritte der Humangenetik einschließlich des Informations- und
Kommunikationsbedarfs der Interessenvertreter
n Information, Bildung und Befähigung: Fördern der Kommunikation und
Kenntnisse über die Bedeutung der Integration der Genetik in Programme
der Gesundheitsförderung und Prävention
n Fördern von Partnerschaften: Stärken der Zusammenarbeit zwischen
öffentlichen und privaten Einrichtungen und Gruppen, um die effektive
und effiziente Kommunikation und Richtlinienentwicklung in Bezug auf
die Genetik zu fördern
n Entwicklung von Richtlinien: Aufstellen von Standards und Richtlinien
darüber, wie und wann genetische Informationen angewandt werden sollen,
um die Gesundheit zu sichern und Krankheiten vorzubeugen.
439u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Assurance:
Die Sicherstellung, dass genetische Informationen angemessen verwendet
werden und genetische Tests und Dienstleistungen den vereinbarten Zielen
„Effektivität“, „Zugang“ und „Qualität“ dienen:
Dazu notwendige Leistungen:
n Gesundheitsdienstleistungs-Forschung: Identifizierung und Analyse
der Faktoren, welche die Auswirkungen genetischer Informationen, die
Auslieferung, Verwendung und Qualität genetischer Tests und genetischer
Dienstleistungen beeinflussen
n Einfordern von Gesetzen: Die Durchsetzung von Richtlinien und Standards
fördern, die eine angemessenen Verwendung genetischer Informationen,
die Effektivität, den Zugang und die Qualität genetischer Tests und
Dienstleistungen garantieren
n Herstellen der Verbindung von Patienten und Betroffenen zu und Anbieten
von Krankenversorgung: Sicherstellung des Angebotes von und des
Zugangs zu genetischen Tests und Dienstleistungen und den damit verbundenen Interventionen zur Sicherstellung von Gesundheit und Vermeidung
von Krankheit
n Sicherstellen der Kompetenz: Sicherstellen, dass gegenwärtig und zukünftig im Gesundheitswesen Tätige Fortbildung erhalten und Fähigkeiten für
die angemessene Verwendung genetischer Informationen erwerben
n Evaluation: Beurteilung der Auswirkung genetischer Information,
der Effektivität, des Zugangs und der Qualität genetischer Tests und
Dienstleistungen.
System-Management:
n Der Aufbau und die Aufrechterhaltung der Public Health-Infrastruktur
für die Integration der Genomik in die Praxis und Forschung von Public
Health.
Forschung:
Einen besonderen Stellenwert nimmt die Forschung in Public Health
Genetics ein.
Das Potential der unsachgemäßen und voreiligen Anwendung genetischer
Information ohne einen adäquaten Schutz der Vertraulichkeit und der Daten
erfordert sowohl eine wissenschaftlich-technische Begleitforschung als auch
eine Evaluation und Auseinandersetzung mit den zahlreichen ethischen,
rechtlichen und sozialen Fragen, die sich durch die wachsende Zahl genetischer Daten ergeben (Austin et al. 2000). Daher wird die Integration der
Genetik in Public Health begleitet durch eine multidisziplinäre Forschung
t440
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
und Technikfolgenabschätzung hinsichtlich ihrer ethischen, rechtlichen und
sozialen Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft.
Mit der rasch voranschreitenden Entdeckung genetischer Varianten, die
mit weit verbreiteten chronischen Krankheiten assoziiert sind, wurden und
werden die in der öffentlichen Gesundheitsversorgung Tätigen mit einer
Fülle neuer Informationen, Erkenntnissen und Technologien konfrontiert,
die die medizinische Versorgung und Prävention beeinflussen werden. Die
Forschung in Public Health Genetics stellt die wissenschaftliche Basis
für alle von Public Health Genetics entwickelten Dienstleistungen und
Angebote zur Verfügung.
Weiterhin dient die begleitende Forschung wiederum der Validierung
aller Public Health Genetics-Maßnahmen in den Bereichen „Assessment“,
„Policy Development“ und „Assurance“.
Public Health Genetics ist somit ein selbstreflexives System aus Praxis und
wissenschaftlicher Begleitforschung
6. Aktuelle Schwerpunkte von Public Health
Genetics
Angesichts der Erwartungen, dass die Erkenntnisse der Humangenomforschung
rasch zur Verbesserung der Gesundheit beitragen könnten, und der
Bestrebungen vor allem in den angloamerikanischen Länder, die Genetik in
die Public Health Praxis zu integrieren, stellt sich heute die Frage, welche
Schwerpunkte sich für die Public Health Praxis und Forschung ergeben
haben. 25
6.1.Überwachung des Gesundheitsstatus: „Surveillance“
Die Voraussetzung für eine bevölkerungsbezogenen Prävention und
Sicherstellung der Gesundheit ist die Überwachung des Gesundheitsstatus.
Die systematische Gewinnung, Analyse und Veröffentlichung bevölkerungsbezogner Gesundheitsdaten (surveillance bzw. monitoring) gehören daher zu
den Kernaufgaben von Public Health.
Dem 1997 im Auftrag der CDC erarbeiteten Strategieplan zufolge werden
die Ziele von surveillance definiert als Erfassung
25 Ausführlicher dazu: ASTHO (2001)
441u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
n der Verteilung und Ausbreitung genetischer Varianten in der Bevölkerung,
die für bestimmte Krankheiten mit verantwortlich sind. Dazu gehören die
seltenen Erkrankungen ebenso wie die häufig auftretenden Krankheiten
n der Zahl der Erkrankungen und Todesfälle, die durch diese Erkrankungen
verursacht werden
n der Umweltfaktoren, von denen bekannt ist, dass sie durch Interaktion mit
den jeweiligen Genotypen an der Krankheitsentstehung beteiligt sind.
Das System zur Erfassung krankheitsrelevanter Daten soll genetische
Faktoren einbeziehen, die den Gesundheitsstatus einer Population oder
einer Gruppe beeinflussen. Die populationsbezogenen Register sollen die
Verteilung und Häufigkeit genetischer Variationen und modifizierbarer
Risikofaktoren für Krankheit und Behinderung fortlaufend erfassen sowie
die mit genetischen Mutationen assoziierte Morbidität und Mortalität der
Bevölkerung verfolgen. Ein Ziel dieser Überwachung ist unter anderem,
Betroffenengruppen zu identifizieren, die von einer Aufklärung über genetische Risiken und von anderen genetischen Dienstleistungen profitieren
könnten, und ein System zu entwickeln, mit dessen Hilfe die Validität und
der Nutzen genetischer Tests untersucht werden kann. Des Weiteren stellen
die gewonnenen Daten die Basis für die Planung, Implementierung und
Evaluation von Maßnahmen einer bevölkerungsbezogenen Prävention bzw.
Sicherung der Gesundheit dar (Teutsch und Churchill 1994).
Die Daten über die Verteilung und Häufigkeit genetisch bedingter
Erkrankungen und genetischer Suszeptibilitäten für komplexe chronische
Erkrankungen können auf verschiedene Weise gewonnen werden. So kann
auf bereits existierende Daten- und Probensammlungen zurückgegriffen
werden, die den Gesundheitsbehörden aus zurückliegenden ScreeningProgrammen vorliegen. Weiterhin besteht die Möglichkeit, Biomaterial
und Aufzeichnungen von Laboratorien, Krankenhäusern und anderen
medizinischen Versorgungseinrichtungen zu verwenden oder gesundheitsbezogene Informationssammlungen spezieller Bevölkerungsgruppen, wie
z.B. die genealogischen und krankheitsbezogenen Aufzeichnungen der
isländischen Bevölkerung auszuwerten. Darüber hinaus existieren in zahlreichen Ländern, geographischen und kulturellen Regionen Aufzeichnungen
fortlaufend durchgeführter Screening-Programme bzw. krankheitsspezifische Melderegister. Die überwiegende Zahl der in diesen Sammlungen
gespeicherten Proben und Daten werden bzw. wurden ursprünglich nicht
zur Überwachung des Gesundheitsstatus gewonnen, sondern zu anderen
Zwecken (Burris et al. 2000).
t442
Genetik in Public Health
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Die Einrichtung bzw. die Verwendung bestehender genetischer Datenbanken
wirft Fragen nach wissenschaftlichen und ethischen Kriterien auf.
So weist die Association of State and Territorial Health Officials (ASTHO)
darauf hin, dass die Entscheidung darüber, genomische Informationen
zur Untersuchung von Public Health Ereignissen zu sammeln, den wissenschaftlichen Anforderungen entsprechen muss (ASTHO 2001). Diese
bestehen unter anderem in Kenntnissen über die Zusammenhänge zwischen
genetischen Faktoren und der zu untersuchenden Erkrankung. Die verfügbaren Quellen müssen überprüft werden hinsichtlich ihrer Standards zur
Sammlung und Lagerung von Proben, ihrer genomischen Testverfahren und
möglicher Versäumnisse bei der Auswertung von Protokollen oder durch
erhöhte Anforderungen an alle Beteiligten (Lingappa und Lindgren 2003).
Eine breite öffentliche Diskussion ethischer Fragen bei der Einrichtung
genetischer Datenbanken findet erst seit einigen Jahren statt, obwohl bereits
in den 1970er Jahren zahlreiche genetische Datenbanken angelegt wurden.
Diese bezogen sich jedoch vornehmlich auf monogen bedingte Erkrankungen,
erfassten demzufolge überwiegend kleine Bevölkerungsgruppen und
waren von verhältnismäßig geringem Umfang. Die Erfassung genetisch
bedingter Erkrankungen wurde daher ohne bemerkenswerten Widerstand
der Öffentlichkeit durchgeführt. Eine Diskussion über den möglichen
Missbrauch genetischer Daten fand lediglich unter den auf diesem Gebiet
tätigen Fachleuten statt.
Seit einigen Jahren ermöglicht die computergestützte Datenerfassung, -auswertung und -vernetzung die Verarbeitung erheblich größerer Datenmengen und
die Identifizierung von genetischen Polymorphismen, die mit weit verbreiteten
Erkrankungen assoziiert sind. Dadurch wird der Kreis der für die Registrierung
in Frage kommender Risikopersonen und -populationen erheblich erweitert.
Diese Möglichkeiten werfen neue ethische Fragen auf und können Ängste und
Widerstände bei der Einrichtung genetischer Datenbanken und der Erfassung
genetischer Erkrankungen hervorrufen (Chadwick und Berg 2001). 26
Burris et al. identifizieren mögliche soziale Risiken, die mit einem Missbrauch
genetischer Daten verbunden sein können. Konkrete Befürchtungen richten
sich auf eine Bedrohung der Bürgerrechte, des sozialen Status oder auf
ökonomische Interessen Einzelner. Diese Ängste gründen nach Burris
jedoch auf historischen Erfahrungen, einer geringen Zahl an empirischen
26 verschiedene Autoren weisen darauf hin, dass in Deutschland eine besonderer Skepsis gegenüber der Erfassung gesundheitsrelevanter Daten besteht, wie z.B. Eser (1989) und Link (2002).
443u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Untersuchungen und auf den Berichten Einzelner und stellen daher keine
ausreichende empirische Basis für die Bewertung sozialer Risiken im
Zusammenhang mit einem Monitoring genetisch bedingter Erkrankungen
dar (Burris et al. 2000).
Dennoch kann, wie das Washington State Board of Health in seiner
Stellungnahme zum Stand der Richtlinien- und Gesetzeslage zu Fragen
der Diskriminierung und Vertraulichkeit genetischer Daten feststellt, aus
dem Mangel an quantitativen Daten nicht geschlossen werden, dass
Diskriminierung oder ein Missbrauch vertraulicher Daten nicht vorkommt.
Die Ursachen für die fehlenden Daten können daraus resultieren, dass 1)
Opfer von Diskriminierung oder Mitwissende ihre Erfahrungen aus Angst,
Verlegenheit oder in Unkenntnis des erfolgten Missbrauchs nicht berichten, 2)
Verantwortliche diese Vorkommnisse nicht erkennen, da eine systematische
Überwachung und Richtlinien bzw. gesetzliche Regelungen zum Schutz
vor Diskriminierung fehlen oder nicht ausreichen, 3) der Öffentlichkeit,
Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen und Krankenversorgung und
Forschern bestehende Erfassungssysteme und Rückmeldewege nicht bekannt
sind (Washington State Board of Health 2002).
Für eine ethische Abwägung, ob ein surveillance für eine genetische
Suszeptibilität gerechtfertigt ist, schlagen Burris et al. (2000)drei Leitfragen
vor:
1. Wird ein surveillance die Gesundheit der Bevölkerung verbessern?
Eine bevölkerungsweite Untersuchung genetischer Merkmale ist
ethisch gerechtfertigt, wenn sie signifikant zur Reduzierung genetischer
Erkrankungen oder Sterblichkeit bezogen auf die gesamte Gesellschaft
oder einer betroffenen Bevölkerungsgruppe beiträgt. Die Verwendung
von Public Health-Ressourcen ist dagegen nicht zu rechtfertigen, wenn
ein Nutzen lediglich für einzelne Individuen besteht. Ein genetisches surveillance ist folglich auch dann gerechtfertigt, wenn damit für die gesamte
Bevölkerung ein hoher Nutzen, für den einzelnen jedoch lediglich geringe
Vorteile erwartet werden.
2. Ist ein surveillance für bestimmte genetisch Informationen ein kluger und
gerechter Einsatz von Ressourcen?
In Anbetracht knapper Ressourcen unterliegt der Einsatz von Geldern,
die der öffentlichen Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen, der
Verpflichtung, den größten Nutzen für die Gesundheitssicherung der
Bevölkerung zu erzielen. Die Fragen einer gerechten Verteilung knapper
Ressourcen ist ein genuiner Bestandteil von Public Health Ethik, wohinge-
t444
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
gen in der patientenzentrierten Medizin bisher Schwierigkeiten bestehen,
diese Problematik in die medizinisch-ethische Diskussion einzubeziehen.
3. Wird ein surveillance akzeptabel sein für die darin einbezogene
Bevölkerung?
Die Akzeptanz von Public Health Maßnahmen ist von erheblicher
Bedeutung für die Bereitschaft, sich freiwillig zu beteiligen und die mit
den Maßnahmen verbundenen Richtlinien zu befolgen. Eine mangelnde
Compliance kann zusätzliche Kosten verursachen und den Erfolg der
Public Health Maßnahme gefährden. Daher sollte nachvollziehbar zu belegen sein, dass ihr Nutzen die Kosten überwiegt.
Burris et al. ziehen die Schlussfolgerung, dass ein genetisches surveillance
grundsätzlich kostengünstig durchgeführt werden und nützliche Daten für
eine verbesserte Bedarfsplanung gesundheitsfördernder Leistungen liefern
könnte. Damit entspräche es den ethischen Forderungen nach einem effektiven Einsatz von Mitteln der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Dem
stehen jedoch die Ängste und die Skepsis der Bevölkerung in Bezug auf die
Verwendung genetischer Daten und damit das Problem der sozialen Risiken
entgegen.
Als Ursache für diese Zurückhaltung vermuten Burris et al. ein in der
Bevölkerung vorherrschendes Konzept von Krankheit, Gesundheit, Aussehen
und Verhalten, dem die Überzeugung zugrunde liegt, dass „Gesundheit in
den Genen liegt“. Krankheit ist demzufolge ein unveränderliches Merkmal
der einzelnen Betroffenen. Ein genetisches Screening werde als ein weiteres medizinisches Instrumentarium der Bestandsaufnahme individueller
Krankheitsrisiken gesehen und die Sicht des Einzelnen bestärken, für die
eigene Gesundheit allein verantwortlich zu sein. Diese Sicht kann darüber
hinaus durch Schuldzuweisungen verstärkt werden.
Im Anschluss an ihre Analyse empfehlen Burris et al. vor, die Erforschung
sozialer Risiken zu verstärken, und insbesondere die Fälle von sozial schädlichem Verhalten zu erfassen sowie zu untersuchen, wie groß das Vertrauen
von Individuen in gesetzliche Regelungen ist bei gesundheitsrelevanten
Entscheidungen (Burris et al. 2000).
Fazit:
Chronische Krankheiten sind für Public Health von besonderem Interesse,
da sie die derzeit größte gesundheitliche Belastung der Bevölkerung darstellen (WHO 2003).
445u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Wie aus dem bisher Erörterten hervorgeht, ist der Einsatz von Tests
in der Public Health Praxis zur Überwachung des Gesundheitsstatus
der Bevölkerung und zur Beobachtung der Verteilung und Verbreitung
genetischer Risikofaktoren für diese komplexen Erkrankungen in der
Bevölkerung noch nicht anwendungsreif.
Ein bisher noch nicht gelöstes Problem bei der Überwachung der Verteilung
genetisch bedingter Erkrankungen stellt die noch weitgehend ungeklärte
Korrelation krankheitsassoziierter genetischer Polymorphismen mit phänotypischen Ausprägungen komplexer Erkrankungen dar. Wie bereits an
anderer Stelle erläutert, ist ein positiver genetischer Test für eine genetische bedingte Suszeptibilität, z.B. für eine Herz-Kreislauferkrankung,
nicht gleichbedeutend mit dem Ausbrechen der betreffenden Krankheit.
Die derzeitigen epidemiologischen Daten, die Kosten-Nutzen-Analysen
und die Untersuchung möglicher Auswirkungen genetischer Screenings
auf die Gesellschaft reichen aus der Sicht von Vertretern aus Public Health
Genetics, der Humangenetik und der Epidemiologie daher noch nicht aus,
um bevölkerungsbezogene Screenings genetischer Risikofaktoren in die
Überwachung des Gesundheitsstatus einzubeziehen (Dorman und Mattison
2000; Khoury et al. 2003; Henn 2004).
Wie Khoury im Vorwort des ersten Jahresberichtes des Office of Genetics and
Disease Prevention betont, besteht trotz der Verheißungen und Aufregung im
Zusammenhang mit den Entdeckungen im Verlauf der Humangenomforschung
eine erhebliche Lücke zwischen den Forschungsergebnissen und dem Wissen,
das notwendig ist, um diese Ergebnisse zum Nutzen für die Gesundheit der
Bevölkerung einzusetzen.
Für die Durchführung von Untersuchungen der Gesundheit der Bevölkerung
in Zusammenhang mit der Genomik, der Entwicklung wissenschaftlicher
Evidenz hinsichtlich der Bewertung genomischer Informationen und der
Integration genomischer Information in die Praxis und in Programme von
Public Health sind weitere Public Health Genetics-Forschungen notwendig
(Khoury 2003).
6.2.Public Health Genetics – Forschung
Die wissenschaftliche Begleitforschung ist, wie oben bereits genannt,
essentieller Auftrag von Public Health Genetics. Ebenso diente die
Institutionalisierung von Public Health Genetics und Schaffung von
Public Health Genetics Schwerpunkten in der universitären Ausbildung
von Beginn an dazu, eine die Humangenomforschung begleitende interdisziplinäre Bewertungs- und Diskussionsplattform zu schaffen und
t446
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Forschungsprogramme zu entwickeln. So sollen mögliche Public Health
Aufgaben aber auch die Risiken identifiziert werden, die mit dem Einsatz
der Genetik für die Bevölkerung verbunden sein könnten.
Bereits 1997 heißt es im Vorwort eines Strategie-Papiers der CDC (CDC 1997):
„Recent discoveries have associated specific gene variants with the development of disease or chronic conditions, many with affect broad segments
of the population....Simultanous with these advances, genetic tests are
increasingly being developed and made publicly available. Putting this
information to good use to promote health and well-being of all members
of society requires a keen understanding of complex issues. Chief among
these issues are the ethical ramifications of using new genetic technologies,
and variations in personel and cultural views on what constitutes disease
and disability.“
Obwohl nach Abschluss der Sequenzierung des menschlichen Genoms zu
Beginn des 21. Jahrhunderts die Erforschung genetischer Polymorphismen
vor allem durch internationale Forschungsprojekte intensiviert wurde (s.
z.B. das HapMap-Projekt) ist es bisher nicht gelungen, die erhebliche Lücke,
die zwischen den Entdeckung neuer genetischer Polymorphismen und der
Nutzung dieser Entdeckungen für die Medizin besteht, zu schließen. Wie
führende Public Health Wissenschaftler und Praktiker betonen, haben sich
die hohen Erwartungen in Bezug auf die praktische Umsetzung genetischer
Erkenntnisse in die Public Health-Praxis nach wie vor nicht erfüllt.
Gwinn und Khoury schlagen vor, innerhalb des breiten Spektrums von
Forschungsfragen, die sich dadurch für Public Health Genetics ergeben,
folgende Schwerpunkte auszuwählen (Gwinn und Khoury 2002):
n Untersuchung des Einflusses genomischer Faktoren auf die Gesundheit
der
Bevölkerung durch Ausweitung genetisch-epidemiologischer Forschung
von einzelnen Genen auf genomweite Untersuchung, auf die Einbeziehung
von Einflüssen wie Ernährung und anderer gemeinsamer Umweltfaktoren
in Familienstudien, von der Untersuchung einzelner betroffener Familien
auf Bevölkerungsgruppen und umfangreiche Genotypisierungen und
Messungen von Biomarkern.
n Untersuchung des Nutzens genomischer Tests für Screening und
Prävention:
In Anbetracht der Erwartungen der Öffentlichkeit an eine personalisierte
Medizin und des sich rasch entwickelnden Marktes für neue genomische
447u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Tests besteht eine wesentliche Aufgabe der Public Health Wissenschaften
darin, die Aussage und den Nutzen genomischer Tests zu untersuchen.
Diese Untersuchungen erfassen Tests, die nicht nur einzelne Genvarianten
nachweisen, sondern komplexe Genotypen, erworbene Mutationen und
Genexpressionen untersuchen und sowohl DNA-Tests, RNA-Microarrays
und biochemischen Methoden umfassen. An der Untersuchung des Nutzens
dieser Tests sollen nicht nur medizinische und statistische Wissenschaften
sondern auch z.B. die Sozialwissenschaften beteiligt werden.
n Information über die Fortschritte der Genetik und Förderung der
Kommunikation
zwischen Wissenschaft und Öffentlicheit, um eine breite Öffentlichkeit an
der Forschung zu beteiligen. Hierbei sollen die in Public Health Tätigen
ihre besondere Stellung in der Gemeinschaft nutzen, um die Akzeptanz für
die Public Health Forschungsagenda zu fördern und individuelle und soziale Interessen auszugleichen. Die Darstellung der Interessen einer bevölkerungsbezogenen Gesundheitsforschung soll den fortgesetzten Dialog
über Fragen des „informed consent“ und der Vertraulichkeit fördern und
die Vermittlung von Forschungsergebnissen in alle Teile der Bevölkerung
verbessern.
Die Aufgabe von Public Health Genetics besteht zum einen nach wie vor
darin, diese Lücke zwischen den Ergebnissen der Genomforschung und
ihrer Anwendung in der Medizin durch weitere Public Health Forschung zu
schließen und Richtlinien für den angemessenen Umgang mit genetischen
Tests und genetischen Daten zu entwickeln Zum anderen beziehen die
von Khoury und Gwinn benannten Forschungsschwerpunkte bereits die
Erkenntnisfortschritte und neuen Forschungsstrategien der „post genome
era“ ein. Dieser Paradigmenwechsel der Forschung kann zu einem neuen
Verständnis für die Entstehung von Krankheiten beizutragen, in dem genetische Varianten als eine Komponente unter anderen darstellen, die in einem
komplexen Netz von Interaktionen verschiedener Faktoren Krankheit und
Gesundheit beeinflussen. Er stellt daher eine in Bezug auf die Prävention
chronischer Erkrankungen und damit für Public Health Aufgaben einen
vielversprechenden Forschungsansatz dar (Khoury 2003a).27
6.3.Evaluation genetischer Tests
Die Fortschritte bei der Entdeckung weiterer genetischer Krankheitsfaktoren,
die mit den multifaktoriell bedingten Erkrankungen assoziiert sind, können
dazu beitragen, die Vorhersage von Krankheitsrisiken an asymptomatischen
Individuen zu verbessern (Burke 2002). Sind solche Polymorphismen erst
einmal bekannt, werden in der Regel genetische Tests entwickelt und ange27 S. auch: „Der Beitrag der Genetik in Public Health“ in diesem Band.
t448
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
boten. 28 Sie können im Rahmen der klinischen Forschung, der klinisch relevanten, individuellen Diagnostik oder eines Screenings eingesetzt werden
(Khoury et al. 2003).
Die Aussagefähigkeit prädiktiver Tests zum Nachweis genetischer
Suszeptibilitäten für chronische, komplexe Erkrankungen ist jedoch
begrenzt. Trotz einzelner Erfolge, die durch den präsymptomatischen
Nachweis einer genetischen Mutation bei der Prävention und Behandlung
einiger genetisch mitbedingter Erkrankungen erzielt wurden, wie z.B. bei
der Hämochromatose oder bei entzündlichen Darmerkrankungen, sind
bisher kaum spezielle Präventionsstrategien und Behandlungsstrategien
für chronische Erkrankungen entwickelt worden, die eine Kenntnis genetischer Suszeptibilitäten voraussetzen. Negative (normale) Testergebnisse
können ein späteres Auftreten der Erkrankung nicht ausschließen; positive
Testergebnisse bedeuten nicht zwangsläufig, dass die Krankheit ausbricht.
Die Risiken und Chancen der Mehrzahl der bisher angebotenen Tests sind
weitgehend unbekannt (CDC 1997, Henn 2004).
Insbesondere die Tatsache, dass gesunden Individuen angeboten wird, ihre
Anlageträgerschaft für bestimmte erblich bedingte Erkrankungen testen zu
lassen, zeigt die Chancen, aber auch das Dilemma der genetischen, prädiktiven Tests. Das derzeitige Problem besteht darin, dass zwar zusätzliches
genetisches Wissen über Gesundheitsrisiken zur Verfügung gestellt, dieses
Wissen jedoch als belastend empfunden werden kann. Die Human Genetics
Commission führt dazu an (HGC 2003):
„We accept that the right to obtain information about oneself is an important right and the State should not intervene unless there is a risk of harm,
particulary to vulnerable people like children or the elderly.”
Prädiktive genetische Tests sollten nach Einschätzung von Public Health
Genetics Experten im Rahmen von Screening-Programmen gegenwärtig
nicht eingesetzt werden, da die Mehrzahl der angebotenen prädiktiven
Tests für komplexe chronische Erkrankungen bisher keinen Beitrag für die
Prävention dieser Krankheiten leisten können.
Allerdings unterscheiden sich die Einschätzungen hinsichtlich künftiger
Entwicklungen.
28 Aktuelle Informationen über die Anzahl verfügbarer genetischer Tests finden sich auf der
Homepage von GeneTest http://www.genetests.org/ (30.3.2004)
449u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Khoury et al. erwarten, dass angesichts des raschen Erkenntniszuwachses der
Genetik innerhalb der kommenden 10 bis 20 Jahre genetische Screeningtests
in der Bevölkerung oder in Subgruppen durchgeführt werden und einen
sinnvollen Beitrag zur Prävention von komplexen Erkrankungen leisten
können (Khoury et al. 2003). Holtzman und Marteau lehnen die Verwendung
genetischer Tests für ein bevölkerungsweites Screening ab, da auch in
Zukunft keine auf der Kenntnis individueller genetischer Suszeptibilitäten
beruhenden, spezifischen Präventionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen
werden (Holtzman und Marteau 2000).
Trotz dieser Unsicherheiten wächst die Verfügbarkeit und das
Anwendungsspektrum genetischer Tests. Ein wachsender Markt kommerzieller Testanbieter sowie ein zunehmendes Interesse von Patienten
an Informationen über genetische Prädispositionen und über genetische
Testmöglichkeiten führt zu einem Legitimationsdruck sowohl auf die in der
medizinischen Versorgung tätigen Ärzte als auch auf die Patienten, verfügbare Tests auch anzuwenden.
In Anbetracht der Ressourcenknappheit des öffentlichen Gesundheitswesens
wird darüber hinaus die Kosten-Nutzen-Abwägung bei Entscheidungen
über medizinische Maßnahmen an Bedeutung gewinnen. In dem Maße,
in dem genetische Tests zur Verfügung stehen, werden die entstehenden
Kosten für ein bevölkerungsbezogenes Screening in Entscheidungen über
die Durchführung bestimmter Screening-Programme einbezogen werden
(Zimmern und Cook 2000).
Wie bereits in dem Strategiepapier der Task Force Genetics des CDC angeführt, sind auch in Zukunft umfassende epidemiologische sowie soziale und
ethische Forschungen notwendig, um die Kriterien für genetische Tests und
Richtlinien für die Umsetzung in die Praxis zu entwickeln (CDC 1997).
Die Aufgabe von Public Health Genetics ist es zudem, den aktuellen Stand
der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiet aufzugreifen und den
Entwicklungen in der Medizin, dem Gesundheitswesen und der Gesellschaft
Rechnung zu tragen, d.h. sowohl gesundheitssichernde, bevölkerungsmedizinische Aspekte in den Blick zu nehmen als auch eine umfassende
Bewertung ökonomischer, ethischer, rechtlicher und sozialer Fragen vorzunehmen (Brand 2001).
t450
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
6.4.Genetisch-epidemiologische Forschung
Von zentraler Bedeutung für diese Public Health Genetics Forschung ist die
genomische Epidemiologie. Sie integriert die Methoden der Epidemiologie
und die Erkenntnisse der Humangenomforschung.
Im Verlauf der vergangen zwei Jahrzehnte wurde die Epidemiologie zunehmend von den Entwicklungen der Genetik beeinflusst. Die genetische
Epidemiologie erhielt durch die Entdeckung krankheitsassoziierter Marker
auf DNA-Ebene neue Impulse und es entstanden mit der molekularen
Epidemiologie und der Humangenom-Epidemiologie neue Zweige der
Epidemiologie (Beskow et al. 2001a).
Die Epidemiologie untersucht die Verteilung und die Determinanten gesundheitsbezogener Bedingungen oder Ereignisse und wendet die Erkenntnisse
dieser Studien zur Kontrolle gesundheitlicher Probleme an. Sie schafft
die Voraussetzungen für die Definition von Risikogruppen innerhalb
einer Bevölkerung, für die Erarbeitung von Präventionskonzepten, für die
Evaluation der medizinischen Versorgung, für die Ermittlung der Bedeutung
eines Gesundheitsproblems und für die Krankheitskontrolle unter anderem
durch Krankheitsverhütung (Primärprävention) und Früherkennung (Last
1995).
Die genetische Epidemiologie dient der Entdeckung neuer Gene und genetischer Varianten sowie der Bestimmung der Prävalenz in der Bevölkerung
bzw. in Bevölkerungsgruppen. Die molekulare Epidemiologie untersucht die
Bedeutung bestimmter Gene, Moleküle und Stoffwechselprozesse für die
Krankheitsätiologie und erstreckt sich z.B. auch auf die Untersuchung bakterieller Krankheitserreger. Sie definiert die genetische Suszeptibilität auf
der Basis molekularer Marker an Stelle von Risikoberechnungen (Elsworth
und Manolio 1999).
Die Humangenom-Epidemiologie entstand in den 1990er Jahren. Seit Beginn
des Humangenomprojekts, vor allem mit Abschluss der Sequenzierung des
menschlichen Genoms wächst die Zahl identifizierter und lokalisierter
Gene und genetischer Polymorphismen. Damit einher geht ein wachsendes
Interesse, diese Kenntnisse für Aufgaben der prädiktiven Medizin und Public
Health anzuwenden. Die Entdeckung neuer Gene hat jedoch bisher eine
geringe Bedeutung für die Praxis, so dass eine gewisse Skepsis entstanden
ist hinsichtlich des Nutzens der genetischen Information für die Prävention
verbreiteter Krankheiten. Um den Transfer von der genetischen Forschung
in die Entwicklung und Anwendung genetischer Tests zu beschleunigen, ist
es notwendig, die Funktion der zumeist im Rahmen der Untersuchungen von
451u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Hoch-Risikofamilien oder von selektierten Bevölkerungsgruppen entdeckten
Gene zu charakterisieren. Die Humangenom-Epidemiologie will dafür die
wissenschaftliche Plattform entwickeln (Gwinn und Khoury 2002).
Ihr Ziel ist es, die Bedeutung der genetischen Polymorphismen für die
Krankheitsentstehung zu quantifizieren, modifizierbare Risikofaktoren zu
identifizieren und ihren Einfluss auf genetische Varianten zu messen. Weitere
Aufgaben bestehen in der klinischen Validierung neuer genetischer Tests, in
der Überwachung der Verwendung genetischer Tests in der Bevölkerung
und der Überprüfung der Bedeutung, die genetische Informationen für die
Gesundheit einer Bevölkerung bzw. einer Bevölkerungsgruppe hat.
Darüber hinaus strebt die Humangenom-Epidemiologie die Entwicklung
von einheitlichen Kriterien und Richtlinien für die Durchführung der
Studien an, da angesichts der immer zahlreicher werdenden genetisch-epidemiologischen Studien, ihre Unterschiede im Design und ihre Durchführung,
die Synthese und Bewertung der Ergebnisse erschwert wird (Khoury et al.
2004).
Zur Koordinierung der weltweit durchgeführten populationsgenetischen
Untersuchungen wurde 1998 von den Centers for Disease Control das
Human Genome Epidemiology Network (HuGENetTM) gegründet. Damit
wird eine weltweite Kooperation ermöglicht zwischen Epidemiologen,
klinischen Genetikern, Grundlagenforschern, medizinischen und Public
Health Fachleuten, die in Regierungen, in der Praxis, an Universitäten, in
der Industrie oder in Verbraucherorganisationen tätig sind. Das Ziel von
HuGENetTM ist es, durch den weltweiten Austausch von Ergebnissen
und Daten populationsbezogener Studien und durch den Zugang zu
bevölkerungsbezogenen Datensammlungen die Effizienz epidemiologischer
Untersuchungen zu verbessern. 29
6.5.Einrichtung und Nutzung genetischer Datenbanken
Komplexe Erkrankungen werden zwar von genetischen Faktoren mit beeinflusst. Die Mehrzahl der an der Entstehung einer Krankheit beteiligten genetischen Mutationen ist jedoch bisher nicht identifiziert und der Beitrag einzelner bekannter genetischer Mutationen zu der klinischen Symptomatik kaum
bekannt. Um eine Korrelation zwischen einem genetischen Polymorphismus
und einer Krankheit herzustellen, sind umfangreiche populationsweite
Studien notwendig. Darüber hinaus variiert die Verteilung und Interaktion
von Suszeptibilitätsgenen zwischen verschiedenen Populationen erheblich,
so dass die durch Untersuchung einer Population gewonnenen Erkenntnisse
29 s. http://www.cdc.gov/genomics/hugenet/default.htm (30.3.2004)
t452
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
über den Einfluss genetischer Suszeptibilitäten nicht auf andere Populationen
übertragen werden können (Wright et al. 1999).
Um die Identifizierung krankheitsassoziierter Mutationen zu beschleunigen,
werden daher in verschiedenen Ländern sog. „Biobanken“ aufgebaut (Austin
et al. 2003).
Biobanken sind Sammlungen von Proben menschlicher Körpersubstanzen
(z.B. Zellen, Gewebe, Blut und die DNA als Träger genetischer Information),
die mit personenbezogenen Daten und Informationen ihrer Spender verknüpft sind bzw. verknüpft werden können. Biobanken haben einen
Doppelcharakter als Proben- und Datensammlungen.
Sammlungen biologischer Proben und genetische Aufzeichnungen existieren
bereits seit langem sowohl in privaten als auch in öffentlich unterhaltenen
Einrichtungen. Infolge der modernen Methoden der molekulargenetischen
Analyse, der elektronischen Datenverarbeitung und der Vernetzung durch
die Organisationsform der Biobanken nehmen der Informationsgehalt und
die Verbreitung der in ihnen enthaltenen Informationen jedoch erheblich
zu.
Biobanken sind zum einen Hoffnungsträger für die medizinische und pharmazeutische Forschung. Sie lösen jedoch auch Ängste und Misstrauen aus.
Es wird unter anderem befürchtet, dass die Proben unkontrolliert verwendet
werden oder die potenziellen Spender unter Druck gesetzt werden, unvertretbare Risiken einzugehen und persönliche Risiken unbedacht preiszugeben. Neben datenschutzrechtlichen Aspekten spielt weiterhin eine Rolle, ob
die Spender und ihre genetisch Verwandten wirksam vor Stigmatisierung
und Diskriminierung geschützt werden können (Nationaler Ethikrat 2004).
Obwohl es bereits zahlreiche Empfehlungen und Stellungnahmen zur
Verwendung menschlicher Körpermaterialien für Forschungszwecke gibt, 30
hat die internationale Diskussion gezeigt, dass durch die Möglichkeiten der
genetischen Analyse die Biobanken mit weiterreichenden ethischen, sozialen und rechtlichen Herausforderungen verbunden werden. Diese werden,
wie die Bestandsaufnahme des EUROGRAPP-Projekts „Data storage and
DNA-banking“ zeigt, vor dem Hintergrund jeweiliger sozialer und kultureller Identitäten in den einzelnen Nationen unterschiedlich diskutiert (Godard
et al. 2003).
30 Eine Übersicht über die europäische Situation findet sich bei Godard et al. (2002).
453u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Während in zahlreichen Empfehlungen Ängste und Befürchtungen hinsichtlich der Verletzung individueller Interessen und Schutzansprüche im
Vordergrund stehen, ist der Bericht der Human Genetics Commission „Inside
information: balancing interests in the use of personal genetic data“ darauf
bedacht, vor allem für die biomedizinische Forschung dem Altruismus und
der Solidarität ein besonderes Gewicht zu verleihen. Sie führt an, dass es
unter bestimmten Umständen eine Verpflichtung des Einzelnen gegenüber
anderen Familienmitgliedern oder der Gesellschaft als Ganzes gibt, ihnen
ihre genetische Information zur Verfügung zu stellen (HGC 2002).
Die Bereitschaft in der Gesellschaft, an genetischen Forschungsprojekten
teilzunehmen, hängt unter anderem von den Rahmenbedingung wie der
Sicherstellung des Datenschutzes, der Vertraulichkeit und der Transparenz
der Forschungsziele ab (Schröder und Williams 2002).
Von Public Health Genetics wird die Aufgabe wahrgenommen, die
Öffentlichkeit bei der Definition von Forschungszielen und bei der
Entwicklung von Kriterien für die Abwägung zwischen individuellen und
gesellschaftlichen Interessen zu unterstützen. Dazu ist es erforderlich, den
ständigen Dialog z.B. über Fragen im Zusammenhang mit dem informed
consent und der Vertraulichkeit zu fördern sowie die Vermittlung von
Forschungsergebnissen an Individuen, Familien und der Bevölkerung zu
verbessern (Beskow et al. 2001a).
Public Health-Wissenschaftler können aufgrund ihrer Mittlerstellung dazu
beitragen, die “Öffentlichkeit” mit der “Wissenschaft“ durch die Organisation
einer qualifizierten Kommunikation zwischen Forschungsorganisationen,
Berufsgruppen, Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes und den
Vertretern gesellschaftlicher Interessen zu verbinden. So können mögliche
Konflikte zwischen den Interessen der Gemeinschaft und des Individuums
aufgenommen und die Zusammenarbeit gefördert werden (Khoury et al.
2000).
6.6.Public Health Genetics – Ethik
In der Öffentlichkeit besteht eine hohe Sensibilität im Hinblick auf die
ethischen, rechtlichen und sozialen Folgen durch die Weitergabe genetischer
Informationen und Vernetzung mit anderen gesundheitsrelevanten Daten.
Public Health (Genetics) unterscheidet sich von der klinisch orientierten
Medizin durch ihren Auftrag, die Prävention und Gesundheitsversorgung
der Bevölkerung bzw. von Bevölkerungsgruppen sicherzustellen bzw. deren
Voraussetzungen zu erforschen und zu verbessern. Die dazu eingesetzten
t454
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Methoden – genetisches Screening zur Überwachung des Gesundheitsstatus
der Bevölkerung bzw. von Bevölkerungsgruppen und molekulargenetische
epidemiologische Untersuchungen zur Verbesserung des Verständnisses des
Einflusses von Umwelt und Verhalten auf genetische Polymorphismen im
Hinblick auf die Entstehung von Krankheiten – liefern eine Fülle genetischer
Informationen, die im Unterschied zur medizinisch-humangenetischen
Individualversorgung für gesellschaftliche Ziele der Gesundheitssicherung
verwendet werden sollen.
Die Anwendung genetischer Erkenntnisse in Public Health bereitet jedoch
erhebliche Probleme. Vor allem die „gesellschaftliche“ Nutzung, also die
Verwendung genetischer Daten für bevölkerungsbezogene Gesundheitsziele,
wird unter verschiedenen Interessengruppen kontrovers diskutiert (Wright
und Clayton 2000). Die Human Genetics Commission vermutet, dass die
Auswertung individueller genetischer Daten für Public Health Zwecke der
verbreiteten Auffassung widerspricht, wonach die genetische Information
eines Menschen ein wesentliches Merkmal seiner Individualität und damit
mehr als jede andere Information vertraulich zu behandeln ist (HGC 2003).
Diese auch als “genetischer Exzeptionalismus” bezeichnete Sonderstellung
genetischer Information resultiert nicht unwesentlich aus individuellen
Leiderfahrungen Betroffener mit monogenen Erkrankungen durch soziale Stigmatisierung und Diskriminierung in der Arbeitswelt oder durch
Versicherungen (European Commission 2004).
Eine Vielzahl von wissenschaftlichen Abhandlungen, Stellungnahmen und
Regelungen beschäftigen sich mit den ethischen, rechtlichen und sozialen Herausforderungen genetisch-epidemiologischer Forschung, (Coughlin
1996) genetischer Tests, (Holtzman und Watson 1998) oder Fragen des
informed consent (ASHG 1996). Empfehlungen für Studien, die auf
der Untersuchung von Familien basieren, entsprechen in vielen Fällen
nicht den Erfordernissen bevölkerungsweiter Forschung. Sie unterscheiden im Allgemeinen nicht zwischen Studien, in denen klinisch relevante
Informationen über die Teilnehmer gewonnen werden sollen, und den
Studien, die für Fragestellungen der allgemeinen Gesundheitsversorgung
von Bedeutung sind und lediglich mit geringfügigen physischen, psychischen oder sozialen Risiken für die Teilnehmer verbunden sind.
Eine undifferenzierte Übertragung individueller Erfahrungen mit
Diskriminierung und Stigmatisierung auf Public Health Genetics könnte,
wie Wright und Zimmern befürchten, möglicherweise bevölkerungsbezo-
455u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
gene Studien und Maßnahmen zum Nutzen für die Bevölkerung erschweren
oder verhindern (Wright Clayton 2000; Zimmern und Cook 2000).
Wie unter anderem von Clayton et al. vorgeschlagen wird, sollte bei der
Untersuchung eines krankheitsrelevanten Gens zwischen Mutationen mit
einem hohen Erkrankungsrisiko, die in hohem Maße deterministisch sind,
und genetischen Suszeptibilitäten unterschieden werden. Die Untersuchung
letzterer dient der Identifizierung allgemein verbreiteter Allele, die weder
notwendig noch ausreichend für die Entwicklung von Krankheitssymptomen
sind (Clayton et al. 1995). Khoury schließt daraus, dass es zwischen
genetischen Studien zur Untersuchung Public Health Genetics relevanter
Erkrankungen und anderen Public Health Forschungsprojekten keine prinzipiellen Unterschiede gibt.
Zudem wird in einer wachsenden Zahl von Stellungnahmen die
Gleichbehandlung genetischer Daten mit anderen medizinischer Daten
in den Richtlinien für den Datenschutz und für die Forschung empfohlen
(French und Moore 2003).
Eine intensive Auseinandersetzung mit diesen Fragen unter der Public Health
Genetics Perspektive steht jedoch erst am Anfang (Beskow et al. 2001a).
Angesichts der enormen Anstrengungen der Forschung, der Geschichte
der Eugenik und anderer missbräuchlicher Verwendung genetischer
Informationen besteht die Verpflichtungen derjenigen, die für die Sammlung
und Verwendung genetischer Daten verantwortlich sind, gegenüber denjenigen, die an genetischen Forschungen und anderen Maßnahmen teilnehmen,
Richtlinien zu ihrem Schutz zu definieren (Beskow et al. 2001a).
Der Schutz der Privatsphäre und der Diskriminierung sind wohlbegründet.
Dennoch können sie ebenso ungerecht und unpraktikabel sein.
Public Health (Genetics) versteht sich als Dienstleistung für die Öffentlichkeit.
Aus der Perspektive der Gemeinschaft vertritt Public Health (Genetics) die
Bedürfnisse und Interessen sowohl der Gesellschaft wie auch des Einzelnen
bei der Sicherstellung von Gesundheit. Die Public Health Perspektive hebt
die Abhängigkeiten zwischen einzelnen Individuen und der Gesellschaft
hervor.
Daher begründet eine Public Health Ethik die Begrenzung individueller
Freiheiten mit einem bevölkerungsbezogenen Interesse an der Vermeidung
von Krankheit und der Sicherstellung von Gesundheit (Hodge 2004) und
t456
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
kann damit im Widerspruch zu individualethischen Grundsätzen stehen.
Dennoch will Public Health (Genetics) die Rechte, Interessen und die
Freiheit des Einzelnen beachten und die Menschenrechte berücksichtigen
(Jennings 2003).
Die Public Health Ethik erfordert eine Auseinandersetzung mit philosophischen, theologischen und bioethischen Konzepten und Wertvorstellungen
im Hinblick auf die Rolle von Public Health (Genetics) im Spannungsfeld
individueller und gesellschaftlicher Interessen. 31 Public Health Genetics stellt
die Berücksichtigung dieser unterschiedlichen Konzepte bei der Integration
der Genetik in Public Health durch die Einbeziehung der unterschiedlichen Professionen sicher und fördert den gesellschaftlichen Diskurs. 32
6.7.Entwicklung von Richtlinien und Entscheidungskriterien: Health Technology Assessment
Der Einfluss der Genetik auf die Medizin, die Gesundheitsversorgung und
die Gesellschaft wird nach Einschätzung von zahlreichen Public Health
Experten unvermeidlich sein (Zimmern und Cook 2000).
Der rasche Zuwachs an genomischer Information, an Gentechnologie und
Technologien der Informationsverarbeitung haben zu immer größeren
Möglichkeiten des Einsatzes molekulargenetischer Tests bei komplexen
Erkrankungen geführt. Vor allem die genetisch-epidemiologische Forschung,
die Erstellung und Nutzung von Biobanken sowie die Integration dieser Tests
in medizinische Anwendungsbereiche werfen Fragen über die Relevanz
eines einzelnen Tests für die Prävention und Therapie einer Erkrankung
auf und über die Fähigkeit des Gesundheitssystems, den angemessenen
Einsatz sicherzustellen. Es besteht die Tendenz, Forschungsergebnisse der
Humangenetik unmittelbar in der Medizin einzusetzen, bevor eine umfassende, nach standardisierten Verfahren durchgeführte Bewertung stattgefunden hat. Um eine Qualitätssicherung in der Genetik zu gewährleisten,
sollten umfangreiche technische Daten gesammelt sowie Risiko-NutzenAbwägungen vorgenommen werden. Die Auswertung der relevanten Daten
sollten durch verschiedene wissenschaftliche Disziplinen erfolgen. Die
31 Einen Überblick über die umfangreichen ethischen, rechtlichen und sozialen Konfliktfelder gibt
die Zusammenstellung der School of Public Health Genetics der University of Michigan http://
www.sph.umich.edu/genomics/media/subpage_autogen/PublicHealthELSI.pdf (30.03.2004)
32 Auf eine ausführliche Erörterung ethischer Fragen unter den Aspekten von Public Health
Genetics wird an dieser Stelle verzichtet und verwiesen auf die Public und auf das Kapitel
“Public Health GenEthik“ von Dabrock und Schröder in diesem Band.
457u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Integration der Bewertung in den Prozess der Entscheidung sollte ebenfalls
Gegenstand der Untersuchung sein (Blancquaert 2001).
Für Teilbereiche genetischer Anwendungsmöglichkeiten, vor allem zu Fragen
der Verwendung genetischer Tests, wurden bereits Folgeabschätzungen und
Bewertungen vorgenommen und haben zu einer Fülle von Regulierungen
geführt. Die Technikfolgenabschätzung und die Entscheidungsfindung im
Hinblick auf die Genotypisierung großer Patienten- und Bevölkerungsgruppen
steht jedoch noch aus (Paul 2003). Hierfür bietet sich das Health Technology
Assessment (HTA) an. 33
Die zentrale Aufgabe von HTA besteht in der Bereitstellung von Informationen
zur Willensbildung und Entscheidungsfindung auf verschiedenen Ebenen des
Gesundheitswesens. HTA ist die umfassende und systematische Bewertung
neuer oder bereits auf dem Markt befindlicher Technologien der medizinischen Versorgung hinsichtlich ihrer physikalischen, biologischen, vor
allem aber medizinischen, sozialen und finanziellen Wirkungen im Rahmen
einer strukturierten Analyse. Dabei wird der Begriff „Technologie“ sehr
breit gefasst und beinhaltet Medikamente, Medizinprodukte, Prozeduren,
Supportsysteme sowie Organisationssysteme, in denen eine Technologie
innerhalb der gesundheitlichen Versorgung angewendet wird (Kunz 2000).
HTA will nicht nur die wissenschaftlich-technischen Aspekte einer medizinischen Technologie erfassen und bewerten, sondern darüber hinaus auch die
ethischen und sozialen Folgen berücksichtigen (Droste et al. 2003). Ziel ist
die Bereitstellung entscheidungsrelevanter Informationen auf verschiedenen
Ebenen der Steuerung des Gesundheitswesens, d.h. von Informationen, die
auf den aktuellen und insbesondere auch politischen Entscheidungsbedarf
zugeschnitten sind.
Durch die Komplexität, die Geschwindigkeit des Erkenntniszuwachses und
der Verfügbarkeit neuer Methoden für die medizinische Anwendung und die
gesellschaftspolitische und soziale Relevanz der Genetik sind ethische und
soziale Herausforderungen entstanden, denen die Mehrzahl der gegenwärtig
durchgeführten Untersuchungen kaum gerecht werden.
Dabei sind es vorrangig zwei Probleme, die den derzeitigen Einsatz von HTA
in Public Health Genetics limitieren (Brand 2002): 1. fehlende Zeitnähe der
33 Auf die umfangreiche Literatur kann hier nicht eingegangen werden. Es sei jedoch hingewiesen
auf z.B. Battista und Hodge (1999), Perleth (1998) und Chan und Topfer (2000). Ein Beispiel für
eine HTA-Institution für HTA-Genetik und Richtlinienentwicklung ist die kanadische Institution
AETMIS http://www.aetmis.gouv.qc.ca; Links zu HTA-Einrichtungen zahlreicher Länder finden
sich unter http://www.nlm.nih.gov/nichsr/ehta/htalinks.html (30.3.2004).
t458
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
HTA-Berichterstellung und 2. mangelnde Integration von ethischen und
gesellschaftlichen Aspekten in HTA-Berichten.
So dauert die Erstellung eines HTA-Berichtes u.a. aufgrund der systematischen Literaturbeschaffung, der Synthese der verfügbaren Informationen
und der Peer-Review-Verfahren durchschnittlich 1-2 Jahre. Die Verfahren
zur Einschätzungen von Chancen und Risiken können dadurch die Dynamik
durch neues biomedizinisches Wissen, technologische Innovation oder
sich wandelnde Anforderungen in Medizin, Wissenschaft und Gesellschaft
nicht berücksichtigen. Die daraus hervorgehenden Regulierungen z.B. in
Form von Leitlinien und Gesetzen schreiben daher einen Status quo eines
bestimmten technischen Entwicklungsstandes fest (Paul und Roses 2003).
Um als politisches Entscheidungsinstrument eingesetzt zu werden, muss
ein HTA jedoch innerhalb von Wochen bis wenigen Monaten valide und
entscheidungsrelevante Informationen liefern können.
Die Auswertung zahlreicher HTA-Berichte, die sich mit der Bewertung
genetischer Tests im Hinblick auf die Anwendung in der medizinischen
Versorgung bzw. für Screening-Programme befassen, ergibt, dass eine
Bewertung ethischer und sozialer Fragen kaum stattfindet (Lühmann et al.
2004). Es mangelt an einem einheitlichen Verfahren, das die Dimensionen
wie ethische und gesellschaftliche Implikationen, die sich dem quantifizierenden Kalkül weitgehend entziehen, berücksichtigt. Dadurch besteht die
Gefahr, dass Werteentscheidungen in ihren ethischen und gesellschaftlichen
Konsequenzen – auch im Hinblick auf gesundheitspolitische Zielkonflikte
– nicht explizit und normative Vorgaben nicht transparent werden.
Eine Public Health Genetics-HTA wird die angenommenen Ziele von
Forschungs- und Entwicklungsprojekten im Hinblick auf ihre Folgen für
Gesundheit und Gesellschaft einer normativen Analyse unterziehen. Dazu
sollte vor allem bei der Beurteilung, ob die Aufnahme genetischer Methoden
in den Leistungskatalog gesellschaftlich gewünscht und konsensfähig
ist, eine Beteiligung der breiten Öffentlichkeit an der Diskussion und an
Entscheidungsprozessen angestrebt werden.
7. Schlussbetrachtung
Infolge der rasch voranschreitenden Genomforschung wachsen die
Informationen über genetische Suszeptibilitäten und Krankheitsrisiken mit
enormer Geschwindigkeit an. Damit verbunden sind komplexe ethische,
rechtliche und soziale Fragen (Juengst 1995, NHGRI 1996)
459u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Public Health Genetics könnte mit seinem disziplinübergreifenden Ansatz
sowie seinem hohem wissenschaftlichen Innovationspotenzial eine bedeutende Rolle zukommen, auch in Deutschland die Chancen der Genetik für
eine bevölkerungsbezogene Prävention und Gesundheitssicherung sowie
zur Beratung und Entwicklung von Richtlinien in Politik- und Praxis beizutragen.
Auch in Deutschland bestehen Überlegungen zu untersuchen, wie die
Genetik in bevölkerungsbezogene Fragestellungen zur Verbesserung der
Gesundheitsversorgung und der Gesundheitsförderung einbezogen kann.
Doch gibt es auf Seiten der Vertreter von Public Health in Deutschland
erhebliche Vorbehalte gegenüber Public Health Genetics (Kälble 2004).
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat bereits
2001 den Bedarf für eine Forschung zur Entwicklung leistungsfähiger
Methoden zur Identifizierung von Genkombinationen, die zu einem erhöhten
Krankheitsrisiko beitragen, erkannt und stellt die Förderung dementsprechender Projekte in Aussicht. Dabei wird die Notwendigkeit einer Vernetzung
verschiedener Disziplinen sowie die internationale Kooperationen betont.
Begleitend wird es Studien zu ethischen Aspekten neuer medizinischer
Möglichkeiten fördern (BMBF 2001).
Der Aufgabe, Regelungen zu entwickeln, wie die Erkenntnisse und Techniken
der Genomforschung zum Nutzen der Gesellschaft angewendet werden können, werden sich also auch in Deutschland die in der Gesundheitsversorgung
Tätigen und die Verantwortlichen für die Gestaltung des Gesundheitssystems
verstärkt stellen müssen.
Die Genetik kann als Teil des Komplexes „Biomedizin“ gesehen werden, die
in neue ethische Grenzbereiche des Gesundheitswesens führt (Winter und
Fuchs 2000). Dieser hat aus gesellschaftlicher Sicht auch in Deutschland
einen hohen regulatorischen Bedarf entwickelt. Als Gründe dafür führt
Winter an
n
n
n
n
n
gestiegene Fülle und Wirksamkeit der Methoden
einhergehende höhere abzuwägende Risiken
zunehmende Arbeitsteiligkeit (interdisziplinäre, interprofessionelle Teams)
Erfordernis des zwischenstaatlichen Abgleichs
öffentlich gestiegenes Bewusstsein gegenüber Gesundheitsforschungs- und
Anwendungsproblemen
n Regulationen als vertrauensbildende und – wo erfolgreich – qualitätssichernde Maßnahmen
n Genetik als Herausforderung für das Selbstverständnis des Menschen.
t460
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Da wissenschaftliche Forschung durch wachsende Spezialisierung und
zunehmende Differenzierung gekennzeichnet ist, die Wirklichkeit hingegen,
auf die sich die Forschung richtet, vielschichtig und komplex ist und sich
eben gerade nicht in Disziplinen einteilen lässt, können viele Fragen der
Forschung nicht aus den einzelnen Fächern heraus beantwortet werden, sondern sie verlangen vielmehr die Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen
(Winter 2003). Dieses trifft in besonderer Art und Weise für Public Health
Genetics als eine disziplinübergreifende Aufgabe mit entsprechender Politikund Praxisnähe sowie hohem wissenschaftlichen Innovationspotenzial zu.
Durch die Integration von Public Health Genetics in die Public Health
Wissenschaften können die fachlichen Kompetenzen und die Methoden zur
Verfügung gestellt werden, um die Bedeutung prädiktiver genetischer Tests,
den Erfolg präventiver Strategien sowie die ethischer Fragen zu untersuchen.
Dabei zeichnen sich folgende Schwerpunkte ab: (1) Schaffung einer epidemiologische Datenbasis zur Untersuchung der Einflüsse genetischer Faktoren
und der Bedeutung von Gen-Umwelt-Interaktionen in Bezug auf die in der
Bevölkerung verbreiteten Erkrankungen, (2) Entwicklung von Richtlinien vor
allem durch die Forschung zur Identifizierung und Analyse ökonomischer,
sozialer und psychologischer Auswirkungen genetischer Fortschritte, (3)
Implementierung von Verfahren zur Qualitätssicherung genetischer Tests
und des Versorgungsangebotes auf der politischen Ebene, (4) Schaffung von
Informations- und Kommunikationsplattformen für die Intensivierung der
Beteiligung von Public Health (Genetics) Wissenschaftlern und Praktikern
sowie der Öffentlichkeit an Diskussions- und Entscheidungsprozessen.
Die Herstellung von Transparenz und eine den Fortschritt der HumangenomTechnik und der Erkenntnisse begleitende Forschung ist angesichts der
Ausweitung genetischer Forschung eine essenzielle Aufgabe von Public
Health Genetics, um die Kenntnisse über die Erkenntnisfortschritte der
Genomforschung zu verbessern (Burton 2003, Brand et al. 2004).
Public Health Wissenschaftler können dazu beitragen, die “Öffentlichkeit”
mit der “Wissenschaft“ durch die Organisation einer qualifizierten
Kommunikation zwischen Forschungsorganisationen, Berufsgruppen,
Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes und den Vertretern
gesellschaftlicher Interessen zu verbinden, um die Zusammenarbeit zu fördern und die Interessen der Gemeinschaft und des Individuums auszugleichen (Khoury et al. 2000).
461u
Public Health Genetics: Eine Übersicht
Die Erfahrungen aus den USA und Großbritannien haben gezeigt, dass der
Aufbau von Public Health Genetics in diesen Ländern insbesondere dadurch
so erfolgreich war, da die Fragestellungen und Aufgaben von Public Health
Genetics nicht nur von Beginn an interdisziplinär analysiert, sondern in
der Folgezeit auch entsprechend in Politik und Praxis institutionalisiert
wurden. So wurde und wird hier in überregionalen interdisziplinären
Forschergruppen nicht nur die Reichweite von Public Health Genetics für
die Gesundheitsversorgung und -sicherstellung analysiert, sondern darüber
hinaus wurde durch die Institutionalisierung in Strukturen des Öffentlichen
Gesundheitswesens und Gesundheitssystems Public Health Genetics nachhaltig gesichert.
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Genetik in Public Health
III. Genetik
in Public Health
Te i l 1 / 2 0 0 7
Risikoabschätzung, Risikomanagement
und Risikokommunikation in Public Health
Genomics
Angela Brand, Helmut Brand
471u
t472
Genetik in Public Health
Te i l 1 / 2 0 0 7
Inhalt
III. Genetik in Public Health
Risikoabschätzung, Risikomanagement und
Risikokommunikation in Public Health Genomics
1. Beitrag von molekularer Medizin und genetischer
Epidemiologie zu Public Health........................................ 474
2. Abschätzung, Management und Kommunikation
von Risiko...................................................................... 478
3. Lebensstil und Krankheiten im Fokus von Prävention
und Versorgung ............................................................. 485
4. Sicherstellung von präziseren, frühzeitigeren und
nebenwirkungsärmeren Präventionsmaßnahmen . ............... 486
5. Schlussfolgerung............................................................. 488
Literatur.............................................................................. 489
473u
Risiko: Abschätzung, Management, Kommunikation
1. Beitrag von molekularer Medizin und genetischer Epidemiologie zu Public Health
Momentan entwickelt sich die Medizin in rasantem Tempo von ihrer morphologischen und phänotypischen Orientierung hin zu einer molekularen
und genotypischen Orientierung, wodurch neben der Diagnose die Prognose
und Prädiktion zu immer wichtigeren Aussagegrößen werden (Brand et al.
2004).
Bereits Mitte der 1980er Jahre wurde mit der Kartierung des menschlichen
Genoms begonnen. Zahlreiche Gene konnten mit Hilfe der Positionsklonierung
entdeckt und Mutationen für genetisch bedingte Erkrankungen identifiziert
werden. Dazu zählten vor allem die monogen bedingten Erbkrankheiten
aber auch die komplexen, multifaktoriell bedingten Erkrankungen wie HerzKreislauf-Krankheiten, Diabetes mellitus, Krebserkrankungen oder Asthma.
Nachdem die gesamte DNA-Sequenz verfügbar ist, können nun neue Gene
mit Hilfe der sequenzbasierten Suche wesentlich schneller entdeckt werden (Peltonen & McKusick 2001). Darüber hinaus ermöglichen die neuen
Technologien, genetische Veränderungen auf der Ebene der funktionalen
Einheiten der Gene, den Proteinen, zu untersuchen und die Bedeutung der
Umweltfaktoren wie chemischer, physikalischer oder infektiöser Agenzien
und Noxen, der Ernährung oder des Verhaltens für die Entstehung von
Krankheiten besser zu verstehen.
Die Fortschritte der Humangenomforschung werden zunehmend in die
Medizin integriert und beginnen bereits heute, das Verständnis von Krankheit
und Gesundheit zu verändern. Die Vorstellung, dass die meisten, wenn nicht
alle Krankheiten durch genetische Faktoren zumindest mit bedingt sind,
ist jedoch nicht neu. Und auch die systematische Erforschung genetischer
Krankheitsursachen begann bereits mit der Zytogenetik Ende der 1950er
und der Kartierung von Genen auf den Chromosomen in den späten 1960er
Jahren. In Folge der Weiterentwicklung genetischer Forschungsmethoden
und wachsender Erkenntnisse wird Krankheit heute zunehmend als Ergebnis
eines komplexen Interagierens von umwelt- und verhaltensrelevanten
Faktoren mit individuellen genetischen Prädispositionen verstanden
(Khoury et al. 2000). Die Erforschung komplexer Erkrankungen erfordert
daher nicht nur die Untersuchung von Variationen eines oder mehrerer
Gene und deren Produkte, sondern darüber hinaus die Beobachtung von
Veränderungen während der Entwicklung, der Reifung und des Alterns
unter den Einflüssen von Umweltfaktoren auf die physiologische Matrix
aus unterschiedlichen Genprodukten. So beschäftigt sich der auf der
Kenntnis der Gensequenz aufbauende Forschungsansatz der „postgenome
t474
Genetik in Public Health
Te i l 1 / 2 0 0 7
era“ mit der Untersuchung des gesamten Genoms, seiner Funktionen und
Wechselwirkungen mit biologisch wirksamen Umweltfaktoren. Für Public
Health sind in diesem Zusammenhang insbesondere diejenigen neuen bzw.
weiterentwickelten technischen Möglichkeiten relevant, mit deren Hilfe
die unterschiedlichsten Bedingungen für häufige Erkrankungen wie Krebsoder Infektionskrankheiten umfassend untersucht werden können, um neue
Erkenntnisse über komplexe Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionen zu
gewinnen (Ellsworth & O’Donnell 2004).
In Anbetracht der Komplexität und Plastizität genomischer Prozesse
bestehen Ziele und Möglichkeiten der medizinischen Genomforschung
derzeit darin, ein erweitertes Verständnis von denjenigen Prozessen zu
erlangen, die daran beteiligt sind, dass Menschen krank werden, bzw.
nicht Krankheiten zu untersuchen, sondern die gemeinsamen molekularen
Ursachen von Krankheit überhaupt. Die Genetik wird also zunehmend als
Teil der Zell- und Molekularbiologie, der einen Beitrag zu allen körperlichen
Erscheinungsformen und Erkrankungen leistet, gesehen und der in Zukunft
die reduktionistischen Ansätze der medizinischen Forschung um die molekularmedizinische Forschung ergänzen wird. Durch ein wachsendes Verständnis
für eine genetisch bedingte Variabilität wird ein Krankheitsmodell entstehen, das biologische Erkenntnisse über Genotyp-Phänotyp-Beziehungen,
nämlich die zeit- und entwicklungsabhängigen Interaktionen zwischen
möglichen genetischen und Umweltfaktoren, mit einbezieht. Damit geht
die Genetik von einer Spezialwissenschaft für eine kleine Gruppe seltener, monogener Erkrankungen über zu einer Wissenschaft, die Beiträge
zu den häufigsten polygenetischen Krankheiten leistet und damit für die
Gesundheitsversorgung der Bevölkerung von Interesse ist.
Hier hat die genetische Epidemiologie, die beim Auftreten von Krankheiten
in menschlichen Populationen die Rolle genetischer Faktoren, deren
Interaktion untereinander und ihr Verhältnis zu Umweltfaktoren untersucht, eine Schlüsselkompetenz. Als relativ junges Forschungsgebiet hat
sie ihren Ursprung insbesondere in den Mendel’schen Vererbungsmodellen
und der Populationsgenetik. Letztere verfolgt wiederum das Ziel, mathematische Eigenschaften von Genen in Populationen zu untersuchen bzw.
Faktoren, die die genetische Zusammensetzung einer Population bestimmen, zu untersuchen. Ihre Entwicklung ergab sich nicht zuletzt aus dem
Humanen Genomprojekt (HUGO), das Ende der 1980er Jahre begann
und primär das Ziel der Sequenzierung des menschlichen Genoms verfolgte. Dabei galt es, alle Gene zu lokalisieren und zu identifizieren mit dem weiterreichenden Ziel, deren funktionelle Bedeutung und
Zusammenhänge zu verstehen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es
475u
Risiko: Abschätzung, Management, Kommunikation
sich bei den untersuchten Kollektiven üblicherweise um Populationen
mit bestimmten Abhängigkeitsstrukturen, wie z.B. Familien handelt. Die
zunehmende Verzahnung von Genetik und Epidemiologie wurde durch
die rasanten Entwicklungen in der Molekularbiologie unterstützt. Dabei
gilt es, suszeptible Individuen möglichst frühzeitig zu identifizieren und
dadurch gezielt zu Primär- und Sekundärprävention beizutragen. Ein weiteres, langfristiges, allerdings außerhalb des unmittelbaren Einsatzgebietes
der genetischen Epidemiologie liegendes Ziel besteht darin, durch individuelle, bzw. risikostratifizierte Therapien, die auf genetische und andere
persönliche Attribute zugeschnitten sind, den Heilungserfolg zu verbessern.
Anders als die molekulare Epidemiologie, die sich ganz allgemein mit
erblichen und erworbenen Veränderungen auf molekularer Ebene befasst,
hat die genetische Epidemiologie ihren Fokus auf hereditären, d.h. erblichen
Mechanismen, wie z.B. Keimbahnmutationen und setzt neben Bevölkerungsauch Familienstudien ein.
Durch ihren häufig populationsbezogenen Ansatz erreicht die genetische
Epidemiologie eine gewisse Bevölkerungsrepräsentativität. Sie liefert die
methodische Basis zur Untersuchung des Gen-Merkmal-Zusammenhangs
und bietet die Möglichkeit, Interaktionen zwischen Genen sowie zwischen
Genen und Umwelteinflüssen zu untersuchen. Neben der funktionalen
Analyse von Genen untersucht sie die Rolle von Genen in komplexen
Funktionszusammenhängen, beispielsweise bei polygenetischen oder multifaktoriellen Erkrankungen. Die genetische Epidemiologie hat im bereits
erwähnten Humanen Genomprojekt insbesondere durch das Verfahren
der Kopplungsanalyse eine zentrale Rolle gespielt. Man kann festhalten, dass die genetische Epidemiologie einerseits der Wegbereiter für die
Bioinformatik war, indem sie die Identifikation und Lokalisation von Genen
unterstützt, andererseits ist es möglich, die mit Hilfe von bioinformatischen
Methoden gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen (genetisch)-epidemiologischer Studien zu verifizieren sowie weitergehend zu untersuchen (Little
2004).
Die genetische Epidemiologie besitzt somit einerseits einen Fokus auf
genetischen Mechanismen. Andererseits berücksichtigt sie jedoch auch exogene Faktoren, wie z.B. Umwelteinflüsse, Lebensstilfaktoren und soziale
Determinanten. Dies ist nicht nur möglich, sondern geradezu zwingend,
insbesondere bei den sog. „Zivilisationskrankheiten“ wie Übergewicht
oder Lungenkrebs mit bedeutsamer exogener Komponente. Die Rolle der
genetischen Epidemiologie ist darin zu sehen, dass sie einen Beitrag zur
Erklärung der komplexen Zusammenhänge leistet, insbesondere dort, wo die
Erklärung durch bekannte Faktoren unzureichend ist.
t476
Genetik in Public Health
Te i l 1 / 2 0 0 7
Man hofft, durch die genetische Epidemiologie mit Hilfe genetischer Tests
verbesserte Vorhersagen über das individuelle bzw. stratifizierte Risiko für
eine Erkrankung treffen zu können. Da an einer komplexen, multifaktoriellen
Erkrankung in der Regel Mutationen mehrerer Gene beteiligt sind, die bei
Betroffenen in unterschiedlicher Kombination zu einem klinischen Phänotyp
führen, kann die Auswirkung derselben Gene auf die Erkrankung zwischen
Familien sehr unterschiedlich sein. So kann ein seltenes Gen in der einen
Familie erheblich zu der Erkrankung beitragen, während der Effekt bei anderen Betroffenen eher gering ist. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff
„Quantitative Trait Loci“ (QTL) geprägt. QTLs werden häufig als genetische Suszeptibilitäten bezeichnet, wenn sie ein erhöhtes, jedoch nicht exakt
bestimmbares Risiko für eine Krankheit bedingen. So ist beispielsweise die
Zunahme krankhaften Übergewichts zum einen die Folge sich verändernder
Lebensgewohnheiten wie Bewegungsarmut und Ernährungsbedingungen
(hohes Nahrungsangebot, fettreiche Ernährung), die zu einer gestörten
Energiebilanz führen (Hebebrand et al. 20005). Zum anderen werden QTLGene erst dann exprimiert, wenn die Ernährung fettreich ist und tragen auch
erst dann zu einer erhöhten Lipidkonzentration im Blut bei. Darüber hinaus
gibt es Hinweise auf weitere modulierende genetische Einflüsse wie etwa
die Beobachtung, dass gewichtsmindernde Maßnahmen wie Diät oder Sport
individuell unterschiedlich wirksam sind.
Es ist zwar richtig, dass die Forschung noch lange im Grundlagenbereich
verharren wird. Und richtig ist auch, dass die Forschung entgegen der
früheren linearen Erwartung „ein Gen verursacht eine Krankheit“ auf
hochkomplexe Krankheitsätiologien aufmerksam geworden ist, die eben
dadurch gekennzeichnet sind, dass es neben wenigen hochpenetranten
monogenetischen Erkrankungen zahlreiche polygen und exogen verursachte
Krankheiten gibt, wobei zudem auch noch unterschiedliche Umwelteinflüsse
unterschiedlich wirken können. Daraus folgt, dass durch die Wahrnehmung
solcher komplexer Krankheitsverursachungen Prognose und Prädiktion in
der Regel den Status von unsicheren Wahrscheinlichkeitsaussagen behalten
wird (Holtzman & Marteau 2000).
Dennoch wird nach derzeitiger wissenschaftlicher Einschätzung die
Beachtung von genetischer probabilistischer wie auch deterministischer
Prädiktion das Verständnis von Gesundheit und Krankheit und den individuellen wie sozialen Umgang mit diesen Lebensführungsphänomenen nachhaltig prägen und verändern. So entsteht der kulturell noch unbekannte Status
des „healthy ill“ und erzeugt zunächst einmal Unsicherheit. Vor diesem
Hintergrund stellt sich sowohl im Hinblick auf Schutzansprüche als auch im
Hinblick auf medizinische und rechtliche Handlungsoptionen die drängende
477u
Risiko: Abschätzung, Management, Kommunikation
Frage, ob genetisches Wissen gegenüber allen anderen Informationen von
besonderer Qualität oder Risikobehaftetheit ist (Murray 1997).
2. Abschätzung, Management und Kommunikation
von Risiko
Insbesondere Umwelt- und Gesundheitsrisiken sind in der heutigen
Gesellschaft immer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen. Täglich
wird in den Massenmedien über neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu
Gesundheits- und Umweltrisiken, über neue Möglichkeiten zur individuellen
Risikoprävention oder über Kontroversen zwischen verschiedenen Akteuren
über den Umgang mit solchen Risiken berichtet. Die individuelle und subjektive Beurteilung der Risiken durch die Betroffenen bzw. die gesellschaftlichen Akteure erlangt hierdurch zunehmend zentrale Bedeutung.
Die Epidemiologie als eine Basisdisziplin von Public Health spricht
nicht allein von Gesundheitsrisiken, sondern vielmehr von einzelnen
Risikofaktoren. Sie definiert sie als Struktureigenschaften einer definierten
Population, die eine interpretationsfähige bzw. interpretationsbedürftige
Differenz im Vergleich zu einer anderen Population erklären. Entscheidend
ist, dass hierfür eine hinreichende Evidenz oder auch Beweise im Sinne von
Kausalitäten vorliegen müssen.
Wissenschaftliche Forschung identifiziert aber nicht nur neue Risiken
und reagiert auf sie adäquat, sondern sie schafft durch ihre Arbeit selbst
neue Perspektiven. So ist die Wirklichkeit der Risiken nicht mehr rein
wissenschaftlich, sondern auch sozial konstruiert, und die Risiken sind
dann real, wenn sie als möglich wahrgenommen werden. Was wiederum
als Risiko betrachtet und wie es bewertet wird, hängt ganz entscheidend
von Einstellungen, Werten, Interessen und dem Wissen des Betrachters ab
(Brand 1999).
Die an Konflikten über die unterschiedliche Interpretation von Risiken
beteiligten Interessengruppen beziehen sich dabei vor allem auf Aussagen,
die die eigene Position bestätigen, – sei es in Bezug auf die mit einer
Innovation verknüpften (Gesundheits)risiken oder deren Relativierung.
Die Veröffentlichung widersprüchlicher Aussagen verstärkt die allgemeine
Unsicherheit in der Öffentlichkeit bei der Interpretation und Bewertung
von Risiken. Doch während man beim naturwissenschaftlichen Zugang zur
Risikobewertung die subjektive, individuelle Wahrnehmung von Risiken
nicht berücksichtigt und auch nicht berücksichtigen sollte, ist dies in der
t478
Genetik in Public Health
Te i l 1 / 2 0 0 7
gesellschaftlichen Risikobewertung ein wichtiger Faktor. Dementsprechend
ist beispielsweise der Risikobegriff der Natur- und Ingenieurwissenschaften
formal-normativ sowie wirkungs- und schadensorientiert und setzt umfassende Kenntnis über Wirkungs- und Kausalketten voraus (Jung 2003). In
der Realität ist diese umfassende Kenntnis häufig weder vorhanden, noch
werden bestehende Unsicherheiten und Ungewissheiten in ausreichendem
Maß berücksichtigt. Auf europäischer Ebene jedoch hat die Europäische
Union dieses bereits realisiert und den Umgang mit Unsicherheiten in Form
des „precautionary principle“ geregelt.
Ungewissheiten und Unsicherheiten gegenüber steht der Begriff der
Sicherheit, der sich selbst wiederum nur über die Relation zur Unsicherheit
und zum Schadensbegriff erklärt. Der rechtliche Risikobegriff beispielsweise wird durch die Trias Gefahr, Risiko und Restrisiko bestimmt.
Einerseits ist somit der rechtliche Risikobegriff enger gefasst als der
naturwissenschaftliche. Andererseits ist er aber auch weiter gefasst, da er
zur Abgrenzung zum Restrisiko Abwägungen zur Ungewissheit notwendig
macht. Ganz anders in der Systemtheorie der Gesellschaftswissenschaften:
Hier wird der Risikobegriff in Abgrenzung zum Begriff Gefahr beschrieben.
Die Abgrenzung Risiko und Gefahr bedingt ihrerseits diejenige zwischen
Entscheider und Betroffenen. Entscheider rechnen sich selbst die Folgen der
Entscheidung und somit des Einlassens auf Risiken, d.h. auf Unsicherheiten
und mögliche zukünftige Schäden, zu. Betroffenheiten hingegen entstehen,
wenn die Folgen des Einlassens auf Unsicherheiten nicht auf das eigene,
sondern auf fremdes Entscheiden basieren. Da die Betroffenen an diesem
nicht selbst mitgewirkt haben, nehmen sie das mögliche Eintreten von
Schäden als Gefahr wahr.
Es wird deutlich, dass ein methodischer Zugang zur Bewertung von Risiken
immer von Modellannahmen ausgeht.
Im Rahmen der Gesundheitsversorgung führt die Beschreibung der physischen, psychischen und sozialen Belastung im Sinne von Risikofaktoren
zu einem sehr komplexen Modell. Es stehen nicht einzelne Risikofaktoren
mit ihren Konsequenzen im Vordergrund, sondern Risikofaktorenkonstellat
ionen, die in ihrem Zusammenwirken als Faktorenbündel Gesundheit bzw.
Wohlbefinden beeinträchtigen können. Insbesondere die Berücksichtigung
genetischer Informationen wird dabei eine der wichtigsten zukünftigen
Herausforderungen sein.
Im Hinblick auf PHG lassen sich zwei Ansätze zum Umgang mit genetischer
Information im Sinne von Risiken unterscheiden: Erstens die Betrachtung
479u
Risiko: Abschätzung, Management, Kommunikation
und Bewertung einer „Person at risk“ oder einer „Population at risk“
und zweitens die Bewertung der Risiken und Chancen einer genetischen
Intervention bzw. genetischen Technologie.
Eine systematische Bewertung sowohl des genetischen Risikos (im Sinne
eines modulierenden Faktors in einer Kausalkette) einer Person oder einer
Population als auch einer genetischen Intervention bzw. Technologie
kann durch die Public Health Trias (IoM 1988), die in Teilen dem sog.
Policy Action Cycle entspricht, gewährleistet werden. Sie beinhaltet ein
dreistufiges Vorgehen mit den Schritten Assessment (Beschreibung eines
Status quo und seine systematische Analyse einschließlich Surveillance,
Bedarfsfeststellung, Trendprognose: Welches Problem haben wir? Wie schätzen wir dieses Problem ein? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?),
Policy Development (Entwicklung geeigneter Strategien, Handlungsoptionen
und Gestaltungsmöglichkeiten: Welche alternativen Lösungswege gibt es
unter welchen Zielvorstellungen? Welche Handlungsoptionen stehen zur
Verfügung? Wie lässt sich eine gewählte Alternative effektiv und effizient
verwirklichen?) und Assurance (Mittel und Wege zur Sicherstellung der
Umsetzung der ausgewählten Strategie in Politik und Praxis: Wer macht was
einschließlich Management, Implementierung, Evaluation und Information?
Welche Institutionen und Akteure sind beteiligt? Welche strukturellen
Bedingungen bzw. welche Rahmenbedingungen müssen auf welchen
Ebenen sichergestellt werden?). Alle drei Schritte zusammen umfassen wiederum ein systematisches Risikomanagement.
Überträgt man die Public Health-Trias auf das genetische Risiko eines
Individuums oder einer Population, was dem genannten ersten Ansatz im
Umgang mit genetischer Information entspricht, so beinhaltet hier das
Risiko-Assessment in erster Linie quantitative Risikoabschätzungen, die
insbesondere auf Daten und Erkenntnissen der genetischen Epidemiologie
beruhen. Aspekte und Charakteristika dieser Risikoabschätzung sind:
n Gefahrenidentifikation (hier kann genetisches Risiko als Risiko, aber auch
als Chance sowohl im protektiven Sinne wie etwa bei Infektionskrankheiten,
als auch als Ressource wie etwa hinsichtlich einer selbstbestimmten
Lebensführung gesehen werden)
n Dosis-Wirkungsabschätzung (hier Gen-Gen- und Gen-UmweltInteraktionen)
n Expositionsabschätzung (hier insbesondere auch der Bereich der Epigenetik
mit der Frage, wie sich starke Umweltreize auf das menschliche Genom
auswirken unter sowohl „worst case“ als auch „best case“ Annahmen)
t480
Genetik in Public Health
Te i l 1 / 2 0 0 7
n Ungewissheitsanalyse (dies beinhaltet nicht nur den Umgang mit
Ungewissheiten, sondern oftmals auch missverständliche Interpretation
von Ergebnissen als tatsächlich erhöhtes Risiko anstelle einer plausiblen
Risikoeinordnung)
n genetische Suszeptibilitäten (beispielsweise im Hinblick auf
Infektionskrankheiten, Noxen (Toxicogenomics), Nahrungsmittel
(Nutrigenomics) oder Arzneimittel (Pharmacogenomics))
n genetische Dispositionen (prädiktive deterministische Risiken und prädiktive probabilistische Risiken)
n genetische (monogener) Erbkrankheiten
n genetisches Screening (z.B. Neugeborenen-Screening auf der
Bevölkerungsebene oder Diabetes-Screening auf der Individualebene)
n Populationsgenetik (z.B. Hardy-Weinberg-Gesetze)
Es wird deutlich, dass das derzeitige Risiko-Assessment genetischer Risiken
eines Individuums oder einer definierten Population zu kurz greift. Da
es nahezu ausschließlich eine quantitative Risikoabschätzung beinhaltet,
gilt es, zu prüfen, ob diese Dimension zukünftig nicht um eine qualtitative Risikoanalyse ergänzt werden muss, in deren Mittelpunkt Fragen der
Exzeptionalität genetischer Information stehen. Denn was unterscheidet
einen genetischen Risikofaktor von einem Umweltrisiko? Unterscheiden
sich die beiden Risiken überhaupt? Denn einerseits impliziert ein genetisches
Risiko im Gegensatz zum Umweltrisiko ein biologisches Schicksal, das das
Individuum selbst nicht kontrollieren kann, andererseits kennt man in der
Medizin beispielsweise schon immer den „essentiellen Bluthochdruck“,
der als ein dauerhaft erhöhter Blutdruck definiert ist, dessen Ursache man
jedoch nicht kennt. Entstehen neue Krankheitsentitäten? Wo genau – wenn
überhaupt – liegen also die Unterschiede? Zur Beantwortung dieser Frage
bedarf es neben der genetischen Epidemiologie weiterer Disziplinen wie
etwa der Sozialethik oder der Psychologie.
Policy Development im Kontext genetischer individueller oder populationsbezogener Risiken bedeutet auf der Individualebene, Handlungsoptionen
nicht primär zur Reduzierung oder gar Vermeidung genetischer Risiken,
sondern vielmehr zum Umgang mit genetischen Risiken aufzuzeigen
(Beskow et al. 2001). Auf der Individualebene sind hier verschiedenste
Hochrisiko- und Niedrigrisikostrategien denkbar. So sind Beispiele für
individuelle Hochrisikostrategien die (äußerst kontrovers diskutierte) prophylaktische Organentfernung beim Brustkrebs, der (ebenfalls sehr kontrovers diskutierte) induzierte Abort im Rahmen der Pränataldiagnostik,
intrapränatale Operationen bei angeborenen Herzfehlern oder der Verzicht
auf Nachkommen bei familiärer Belastung, aber auch der gezielte Einsatz
481u
Risiko: Abschätzung, Management, Kommunikation
von Pharmaka oder die Vermeidung von Suszeptibilitätsrisiken durch beispielsweise den Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel oder das Vermeiden
spezifischer Expositionen und Noxen am Arbeitsplatz. Beispiele für individuelle Niedrigrisikostrategien sind gezielte Verhaltensstrategien bei
den multifaktoriell bedingten Volkskrankheiten wie etwa Bewegung bei
Übergewicht. Auf der Populationsebene bedeutet Policy Development,
sowohl Handlungsoptionen zur Reduzierung und ggf. Vermeidung genetischer Risiken aufzuzeigen (z.B. Folsäuregaben zur Reduktion von
Neuralrohrdefekten) als auch die Bevölkerung zum kompetenten Umgang
mit genetischen Risiken zu befähigen. Darüber hinaus bedeutet es zudem, die
Rahmenbedingungen, d.h. Verhältnisprävention, zum Schutz des Einzelnen
sicherzustellen.
Als geeignetes Steuerungsinstrument des Policy Development bietet sich
sowohl auf der individuellen als auch auf der Bevölkerungsebene die
Risikokommunikation an. Hier liegen insbesondere in Deutschland fundierte
Erfahrungen aus anderen Bereichen wie dem Umweltbereich vor. Dennoch
ist zu prüfen, ob es spezifische Anforderungen an eine Risikokommunikation
genetischer Risiken im Hinblick auf Kontrollierbarkeit, Akzeptanz,
Präferenzen, „needs“ und „values“ etc. gibt: Wie ist beispielsweise die
Akzeptanz und Motivation zu Verhaltensprävention bei Individuen mit genetischen Suszeptibilitäten?
Assurance im Kontext genetischer individueller oder populationsbezogener Risiken bedeutet auf der Individualebene, für Hochrisikogruppen
den Zugang zum Medizin- und Kliniksetting zu sichern. So muss geprüft
werden, ob für diese Gruppe adäquate und ausreichende humangenetische
Beratungs- und ärztliche Betreuungsangebote vorhanden sind. Für die
Niedrigrisikogruppe muss hingegen untersucht werden, ob sie Zugang zu
gezielten Präventionsangeboten sowohl im ambulanten Sektor als auch auf
im öffentlichen Gesundheitswesen auf kommunaler Ebene haben. Darüber
hinaus ist es Aufgabe der nach Landesrecht zuständigen Stellen und
Bundesbehörden wie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
(BZgA) im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Gesamtbevölkerung über
Chancen und Risiken genetischer Informationen aufzuklären, und somit zu
einer Versachlichung der Diskussion beizutragen.
Treten genetische Veränderungen überzufällig gehäuft auf wie etwa nach
dem Reaktorunfall im Kernkraftwerk Tschernobyl am 26.04.1986 (Sperling
et al. 1994), so ist schnelles politisches Handeln vorrangig im Sinne einer
Risikoreduzierung oder im Sinne einer Verhältnisprävention (insbesondere
bei nicht reduzierbaren Risiken) durch die Sicherstellung struktureller und
t482
Genetik in Public Health
Te i l 1 / 2 0 0 7
rechtlicher Rahmenbedingungen gefordert. So ist in diesen Fällen zu prüfen,
welche Konsequenzen sich hieraus für den Arbeits- oder Versicherungsmarkt
ergeben oder worin die Verantwortlichkeiten der öffentlichen Hand liegen.
Häufig in der Bevölkerung vorkommende niedrige genetische Risiken
hingegen rechtfertigen entweder ein bevöllkerungsbezogenes Screening
(Rose 1992; Burke et al. 2001), oder sie erfordern explizit eben keinen
Handlungsbedarf. Darüber hinaus deutet sich bereits zum jetzigen Zeitpunkt
an, dass probabilistisches Screening sich von der Populations- auf die
Individualebene verschiebt und damit von staatlicher Verantwortung auf die
Eigenverantwortung des Individuums.
Überträgt man die Public Health-Trias nun auf das Risiko genetischer
Interventionen bzw. Technologien, was dem genannten zweiten Ansatz im
Umgang mit genetischer Information entspricht, so ist hier das RisikoAssessment in erster Linie gleich zu setzen mit Health Technology Assessment
(HTA). Die Etablierung von HTA in einem Land kann mittlerweile als
Indikator für ein evidenzbasiertes Gesundheitssystem gelten. In den letzten
Jahren hat sich das Spektrum an medizinischen Leistungen, Diagnoseverfahren
und Behandlungsmöglichkeiten erheblich erweitert. Es hat zunächst eine
Ausweitung des Angebots an Arzneimitteln und Medizinprodukten gegeben.
Neben Fragen wie dem Nutzen neuer medizinischer Technologien und neuen
Indikationen für bereits in der Routineversorgung etablierten Verfahren
gewinnen zunehmend Fragestellungen aus dem Bereich der Gendiagnostik,
Gentherapie, Organtransplantation und Reproduktionsmedizin an Bedeutung.
Hierdurch hat es einen Innovationsschub mit gesellschaftlichen Kontroversen
und der Frage, was die ethischen und sozialen Konsequenzen dieser
„Errungenschaften“ sind, gegeben.
HTA bewertet umfassend in Form einer strukturierten und systematischen
Analyse – basierend auf den Konzepten von „Evidence-based Medicine“ und
„Evidence-based Healthcare“ – neue und sich anbahnende oder bereits auf
dem Markt befindliche Technologien der Gesundheitsversorgung aus verschiedensten Perspektiven, – und zwar hinsichtlich der mit der Technologie
verbundenen Chancen und Risiken. Diese umfassen u.a. soziale, ökonomische, rechtliche, ethische und biologische Aspekte der Technologie sowie
darüber hinaus auch hemmende und fördernde Faktoren hinsichtlich der
Implementation der Technologie (einschließlich nativem Assessment und
politischer Realitäten). Dazu gehören aber auch Faktoren wie Präferenzen,
Wertvorstellungen, Akzeptanz etc. Es handelt sich bei dieser Methodik somit
um eine ganzheitliche und multiprofessionelle Betrachtungsweise. Ziel ist
die Bereitstellung entscheidungsrelevanter Informationen auf verschiedenen
Ebenen der Steuerung des Gesundheitswesens, d.h. von Informationen, die
483u
Risiko: Abschätzung, Management, Kommunikation
auf den aktuellen und insbesondere auch politischen Entscheidungsbedarf
zugeschnitten sind. In Deutschland entwickelte sich HTA in den letzten
Jahren aus der Public Health-Forschung heraus. Sie ist jedoch nicht neu: die
Technikfolgenabschätzung, „Medical Technology Assessment“ und schließlich „New Medical Technology Assessment“ sind Vorläufer. Parallel zu HTA
entwickelten sich zudem die sozioökonomische Evaluation im Rahmen der
Ökonomie und ELSI („Ethical, Legal, Social Implications“) im Rahmen
des Humangenom-Projektes. Obwohl sich die Methoden überschneiden,
setzen sie dennoch unterschiedliche Akzente in ihren Fragestellungen und
Zielsetzungen. HTA als die am weitesten reichende und politiknächste
Methode eignet sich als Basis einer Prioritätensetzung im Gesundheitswesen
und wird dementsprechend bereits international im „policy making“ eingesetzt. Trotz einiger Schwächen eignet sich HTA – wie es insbesondere aus
den Erfahrungen aus Kanada, Andalusien und Österreich deutlich wird – als
systematisches Bewertungsinstrument genom-basierten Wissens und genombasierter Technologien, was nicht heißt, dass es hier nicht der Optimierung
der Methodik bedarf.
Policy Development im Kontext genetischer Interventionen bzw.
Technologien berührt die Frage der Marktsteuerung: Gibt es Kriterien und
gute Gründe dafür, dass eine entsprechende Technologie “vom Markt genommen“ werden darf und muss? Wenn ja, von welchem Markt? Wenn nein, gibt
es alternative Handlungsoptionen bzw. Handlungskorridore hinsichtlich der
Anwendung der Technologie wie etwa Akkreditierungsmöglichkeiten, die
von den unterschiedlichen Präferenzen möglicher Konsequenzen ausgehen?
Assurance im Kontext genetischer Interventionen bzw. Technologien
umfasst Maßnahmen des Verbraucherschutzes hinsichtlich Marktzulassung
und Versachlichung von Informationen sowie die Sicherstellung alternativer
Handlungskorridore („decision-trees“) in Politik und Praxis hinsichtlich
des Einsatzes dieser genetischen Technologien. Es ist zu prüfen, ob genetisches Wissen weitere Regulierungen bzw. Sonderregelungen wie etwa ein
explizites Gentestgesetz erforderlich macht, oder ob nicht die derzeitigen
Strukturen und Rahmenbedingungen wie etwa zum Verbraucherschutz oder
Datenschutz ausreichend sind und ggf. lediglich eine (Neu)Zuordnung bzw.
Überprüfung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der verschiedensten Akteure und Institutionen des Öffentlichen Gesundheitswesens auf
Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene erfolgen muss.
t484
Genetik in Public Health
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3. Lebensstil und Krankheiten im Fokus von
Prävention und Versorgung
An Präventionsansätze, die auf genetische Informationen bauen, sind in
den letzten Jahren große Erwartungen geknüpft worden. Vielfach wurden
Visionen von enthusiastischen Protagonisten des Humangenomforschu
ngsprojekts ausgegeben, wie beispielsweise von Francis Collins, der zu
Präventionsansätzen sagt: „ A physician will give an 18-year-old patient a
physical exam that includes a test of his or her DNA for hundreds of diseases
with known genetic components. …The physician will be able to tell the
patient whether the risk is high, low, or average for a given condition and
to make life-style recommendations based upon known risks. There will be
personalized schemes for a new kind of preventive medicine and I think that
it will prove very appealing“ (Breo 1993).
Ob Empfehlungen zur Änderung des allgemeinen Lebensstils aufgrund
von Gentests tatsächlich verfolgt werden, kann man bisher noch nicht
sicher sagen. Wenig erfolgreich scheint die individuelle Reduzierung von
Tabakkonsum zu gelingen, wenn ein erhöhtes Risiko, an Lungenkrebs zu
erkranken, festgestellt wird. Positive Beispiele gibt es allerdings auch, wenn
z.B. ein identifiziertes familiäres Risiko an Dickdarmkrebs zu erkranken, zu
weiteren Früherkennungsmaßnahmen geführt hat.
Verbesserungen der Präventionsmöglichkeiten und Präventionsprogramme
erhofft man sich auch bei infektiösen Krankheiten – was in unserer
Gesellschaft aber vor allem in Entwicklungsländern ein großes Potenzial
darstellt. Beispiele sind hier rekombinante Vakzine und biotechnologische
Ansätze für sexuell übertragbare Krankheiten (STDs). Ein weites Spektrum
an rekombinanten Vakzinen soll u.a. die Impfung gegen Malaria verbessern,
indem sicherere und günstiger herzustellende Impfstoffe entwickelt werden.
Im Zusammenhang mit STDs haben Frauen bisher keine Möglichkeiten, sich
ohne Einwilligung ihres Geschlechtspartners – sprich durch Nutzung eines
Kondoms – vor Geschlechtskrankheiten zu schützen. Dies ist besonders
in Entwicklungsländern relevant. Biotechnologische Ansätze für Vakzine,
vaginale Mikrobizide und Blocker von viralen Rezeptoren (bspw. CCR5),
die die Frau schützen können, werden derzeit entwickelt (Daar 2002).
485u
Risiko: Abschätzung, Management, Kommunikation
4. Sicherstellung von präziseren, frühzeitigeren
und nebenwirkungsärmeren Präventionsmaßnahmen
Entsprechend einer Stratifizierung der Bevölkerung in drei Subpopulationen
kristallisieren sich für die multifaktoriell bedingten Erkrankungen individuellere Präventionsstrategien im Sinne von drei Präventionsansätzen heraus
(Khoury 1996):
1. „clinical prevention strategy“ (medizinische bzw. primäre, sekundäre und
tertiäre Prävention) bei Subpopulationen, bei denen im Hinblick auf die
attributiven Risiken bzw. Genetik-Umwelt-Interaktionen der Einfluss der
Genetik größer als der Einfluss der Umwelt ist
2. „environmental prevention strategy“ (Verhältnisprävention) und „behavior
prevention strategy“ (Verhaltensprävention) bei Subpopulationen, bei
denen im Hinblick auf die attributiven Risiken bzw. Genetik-UmweltInteraktionen der Einfluss der Umwelt größer als der Einfluss der Genetik
ist
3. Mix sämtlicher Präventionsstrategien (medizinische, Verhaltens- und
Verhältnisprävention) bei Subpopulationen, bei denen im Hinblick auf die
attributiven Risiken bzw. Genetik-Umwelt-Interaktionen der Einfluss der
Umwelt annährend gleich groß wie der Einfluss der Genetik ist.
Mit großer Wahrscheinlichkeit werden Menschen und Menschengruppen
demnächst durch die Anwendung von Chip-Technologien Prognosewerte
über Krankheitsanfälligkeiten bzw. Suszeptibilitäten erhalten (Baird
2000). Technisch ist dies machbar, und im Internet sind bereits derartige Angebote weitestgehend unkontrolliert für Endanwender verfügbar. Eine wissenschaftlich fundierte Annäherung an das Thema erfordert
jedoch, abseits von einem sich gegenwärtig abzeichnenden „Marktmodell“,
zunächst Suszeptibilitäten auf der Basis genetischer Varianz systematisch
zu validieren und für epidemiologische Studien nutzbar zu machen. Hierzu
können nationale oder zumindest regionale Biobanken das geeignete
Instrumentarium sein. Sensible Daten und Proben können zum Zwecke
von Gesundheitssystem- und Versorgungsforschung in unterschiedlichsten
Anonymisierungs- und Pseudonymisierungsgraden, in aggregierter Form
oder unter Anwendung von Treuhändermodellen gespeichert werden, so
dass Rückschlüsse auf individuelle Gesundheitsrisiken nicht oder nur in ausdrücklich vom Individuum erwünschter und durch informierte Einwilligung
dokumentierter Weise erfolgen können. Hierzu liegen in Deutschland
bereits Erfahrungen aus den Krebsregistern der Länder sowie aus den
Datenschutzmodellen der vom BMBF geförderten Telematikplattform für
t486
Genetik in Public Health
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Medizinische Forschungsnetze (TMF) vor. Wenn es gelingt, spezifische
Risikogruppen in größeren Populationen auf der Basis gesicherter genetischepidemiologischer Daten zuverlässig zu identifizieren und zu stratifizieren,
können Präventionsempfehlungen an betroffene Individuen und Bevölkeru
ngssubpopulationen aus den ermittelten, gespeicherten und ausgewerteten
Daten resultieren.
Will man die derzeitig durchgeführten Präventionsmaßnahmen im
Öffentlichen Gesundheitswesen in Deutschland im Hinblick auf die
Integration genom-basierten Wissens analysieren, so muss man zunächst
die verschiedenen Aufgaben und Kompetenzen von Bundes-, Länder- und
kommunaler Ebene berücksichtigen.
Auf der Bundesebene werden entsprechende Gesetze vorbereitet (s. z.B.
Diskussionsentwurf des Gendiagnostikgesetzes) und dann in das Parlament
eingebracht. Die Ausführung der Gesetze und Verordnungen des Bundes
sowie die Verabschiedung eigener Gesetze erfolgen auf Länderebene. Und
auf der kommunalen Ebene sind es insbesondere die Gesundheitsämter
und freien Träger, die öffentlich-rechtliches Handeln in den Feldern
Gesundheitsschutz bzw. Gesundheitsförderung und Prävention repräsentieren.
So muss es auf der Bundesebene vor allem darum gehen, Infrastrukturen
aufzubauen, um Erkenntnisse der Prävention für das Gemeinwohl nutzbar
zu machen. Ein Beispiel hierfür ist die bereits erfolgte Implementierung
und Anwendung der Methode Health Technology Assessment. Ein weiteres Beispiel ist das Sicherstellen von Rahmenbedingungen für bundesweite Maßnahmen (z.B. im Arzneimittelbereich oder im Bereich des
Infektionsschutzes). Auf der Länderebene ist beispielsweise der Aufbau von
flächendeckenden und bevölkerungsbezogenen Dokumentationen im Sinne
von „Krankheitsregistern“ (wie z.B. Fehlbildungsregistern, Krebsregistern)
ein geeignetes Instrumentarium, um das Ausmaß und die Sinnhaftigkeit
von Interventionen wie etwa Präventionsmaßnahmen zu prüfen und dabei
auch regionale Besonderheiten und Differenzen aufzudecken. Auf der
kommunalen Ebene geht es vorrangig um Aufklärung und Edukation. So
muss Prävention vermehrt öffentlich thematisiert und diskutiert werden.
Das bedeutet für das Öffentliche Gesundheitswesen zunächst, dass es die
Bevölkerung adäquat informieren muss. Doch die Diskussion in diesem
Bereich darf nicht auf der Expertenebene stehen bleiben, sondern sie muss
als gesamtgesellschaftlicher Diskurs in die Bevölkerung hinein getragen
werden und sie mit einbeziehen. Dieses entspricht auch dem sozialethischen
487u
Risiko: Abschätzung, Management, Kommunikation
Kriterium der Befähigungsgerechtigkeit (Dabrock 2006) oder gesundheitspolitischen Ansätzen wie Bürgerorientierung, Gesundheitsmündigkeit
(„Health Literacy“) und „Empowernment“ der Bürger (Schröder 2004).
5. Schlussfolgerung
Wollen Gesundheitsforschung und Public Health weiterhin durch effektives
und verantwortliches Handeln glaubhaft sein, so sind sie gut beraten, schon
zum jetzigen Zeitpunkt genom-basiertes Wissen in sämtliche bisherige
Ansätze, Fragestellungen und Aufgaben systematisch zu integrieren (Bosch
2006; Brand et al. 2006; Brand 205; IoM 2005; Burke et al. 2006).
t488
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IV. Ethik
und Policy
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Genetik, Gesundheit und Gesellschaft:
Anmerkungen zu Geschichte, Theorie und
Ethik einer schwierigen Beziehung
Norbert W. Paul
493u
t494
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Inhalt
IV. Ethik und Policy
Genetik, Gesundheit und Gesellschaft: Anmerkungen
zu Geschichte, Theorie und Ethik einer schwierigen
Beziehung
Prolog . ............................................................................ 496
1. Die Invasion der "Omics": Über den schwierigen
Weg von der genetischen Grundlagenforschung zur
Molekularen Medizin...................................................... 498
2 Genetisches Risiko, Prognose, Prävention........................... 502
3. Ethische Aspekte der Prädiktion und Prävention in
der Molekularen Medizin . .............................................. 505
Literatur.............................................................................. 508
495u
Genetik, Gesundheit und Gesellschaft
Prolog
Der Wandel der Medizin hin zu einer „Molekularen Medizin“ wirkt sich
bereits heute – vor seinem eigentlichen Vollzug – grundlegend auf unser
Verständnis von Gesundheit und Krankheit aus. Konkrete Folgen dieser
seit längerem in der breiten Öffentlichkeit diskutierten Trans­formation
der Medizin sollen im folgenden ausgehend von historisch gewachsenen,
kontingenten Kontexten sowie auf der Basis konzeptueller Grundlagen der
Molekularen Medizin thematisiert werden. Dies geschieht, um die Chancen
und Risiken von Entwicklungen im Schnittfeld von Genetik, Gesundheit und
Gesellschaft einer rationalen Einschätzung zuzuführen.
Es ist offenkundig, dass ein zentrales Thema dieses Beitrages die prädiktive Diagnostik sein muss. Insbesondere das Verhältnis von Prädiktion
auf der Basis genetischer Varianz oder Prädisposition zur Verhältnis- oder
Verhaltensprävention ist dabei von Interesse. Wieso ist dies so? Prädiktive
genetische Diagnostik ist sowohl in der wissenschaftlichen als auch in
der öffentlichen Wahrnehmung ein Bereich, der zur Entwicklung völlig
neuer Strategien des Umgangs mit Gesundheit und Krankheit führen kann.
Auch wenn sich bereits seit einigen Jahren klar abzeichnet, dass einfache
Korrelationen von Phänotypen mit Genotypen nicht haltbar sind, können
erweiterte Verfahren der Molekularen Diagnostik heute bereits detaillierte
Auskunft über individuelle Gesundheitsrisiken und Prädispositionen geben.
Die immer weiter reichenden Möglichkeiten prädiktiver Diagnostik werfen dabei zwangsläufig die Frage nach neuen, molekularen Optionen der
Intervention und Prävention auf. Dies gilt sowohl für den individuellen
klinischen Fall wie auch für den Bereich der öffentlichen Gesundheits­
vorsorge.
Im folgenden werden daher ausgehend von einer systematischen Beschreibung
des aktuellen Wandels der Medizin prädiktive und präventive Optionen
analysiert. Ihre möglichen Konsequenzen für unser Verständnis von, sowie
unseren Umgang mit, Krankheit und Gesundheit werden dabei kritisch hinterfragt. Dem entsprechend wird in drei aufeinander bezogenen Schritten
vorgegangen. Zunächst wird der gegenwärtige Stand der Wissenschaft vor
dem Hintergrund klinischer Umsetzbarkeit (Applicability) skizziert (Paul,
Fangerau et al. 2004; ten Have 1995). Im hier vorgestellten Beitrag kann
dies nur steckbriefartig und unter Vernachlässigung von Differenzierungen
erfolgen, die für eine eingehende Analyse wünschenswert und notwendig
wären. Dies gilt insbesondere für die historische Dimension des Themas.
Molekulare Medizin ist keineswegs voraussetzungslos und ihre wissenschaftlichen Wurzeln reichen bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zurück
t496
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
– etwa zu den Arbeiten über Zelldifferenzierung und Reproduktion zwischen
1890 und 1920 von Jacques Loeb und Alexis Carrel (Paul, Fangerau et
al. 2004; Pauly 1987; Pauly 2000; Turney 1995). Die Anwendung genetischer Modelle auf Fragestellungen der individuellen und öffentlichen
Gesundheit hat ebenfalls höchst wechselhafte, teils extreme historische
Phasen durchlaufen und schwingt – teils implizit teils explizit – in den in
der Gegenwart im Zusammenhang mit Verfahren der Molekularen Medizin
geführten Wertdebatten mit (Bittner 1936; Boveri 1914; Rous 1911).
Schließlich ist das Konzept der Molekularen Medizin ganz wesentlich aus
einer Emanzipationsbewegung von Konzepten einer so genannten „ReformEugenik“ in den 1950er und 1960er Jahren entstanden (Lederberg 1961;
Lederberg 1962). Auf die andernorts erfolgte (Paul 2003), notwendige
Rekonstruktion des historisch kontingenten Handlungsraumes, in den die
gegenwärtige Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Gefahren der
Molekularen Medizin unauflöslich eingebunden ist, wird im folgenden also
lediglich verwiesen, ohne näher darauf einzugehen.
Der zweite Teil des Textes befasst sich mit dem Konzept des genetischen
Risikos vor dem Hintergrund von Prädiktion und Prävention. Vor allem die
Frage, auf welche Weise der genetische Risikobegriff unsere Wahrnehmung
von Gesundheit und Krankheit verändert, und wie sich dies auf Menschen
im Umfeld medizinischen Entscheidens und Handelns auswirkt, wird hier
näher untersucht. Auch hier kann auf historische Vorbedingungen, theoretische Konzepte und Vorannahmen sowie normativ-ethischer Reflexionen,
die das Thema entscheidend beeinflussen, nur implizit oder aber gar nicht
eingegangen werden. Vor allem die Diskussion des historisch gewachsenen
Handlungs- und Problemraumes einer neuen „Public Health Genetics“
(Khoury 1999; Khoury, Burke et al. 2000) als Antwort auf zumindest einige
Herausforderungen im Bereich öffentlicher Gesundheitssicherung wird
aufgrund des Übersichtscharakters dieses Textes nicht so ausführlich erfolgen, wie es angesichts der gesellschaftlichen und normativen Tragweite des
Themas wünschenswert wäre.
Im dritten und abschließenden Teil dieses Beitrags erfolgt die Diskussion
ausgewählter normativer Fragestellungen, wie sie sich zwangsläufig im
Schnittbereich von genetischer Prädiktion, Prävention und Gesellschaft
ergeben. Auch hier wird das Bild eher in groben Pinselstrichen gezeichnet und so versteht sich der Abschnitt vor allem als Anstoß zur weiteren
Diskussion – speziell mit dem Ziel der Überwindung gängiger Vorurteile
und Missverständnisse in der jüngeren Diskussion ethischer Fragestellungen
in Zusammenhang mit der Anwendung molekulargenetischer Verfahren
im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Dies gilt unter anderem für die
497u
Genetik, Gesundheit und Gesellschaft
unsäglichen Folgen, die die Feuilletonisierung von an sich wichtigen sozialethischen Fragestellungen für eine rationale normative Debatte gezeitigt hat
– unter anderem abzulesen an der geräuschvoll im Blätterwald geführten,
so genannten „Sloterdijk-Debatte“ im Anschluss an die Elmauer Rede von
P. Sloterdijk. Siehe aber auch die kritische Würdigung der häufig anzutreffenden „Anti-Haltung“ bei (Labisch 2002; Paul 2003; Paul & Labisch
2002).
1. Die Invasion der "Omics": Über den schwierigen
Weg von der genetischen Grundlagenforschung
zur Molekularen Medizin
Die molekularbiologische Grundlagenforschung und die sich aus ihr
ergebenden Ansätze für neue diagnostische und therapeutische Optionen
befinden sich in unablässiger Differenzierung. In ihrem kleinen Buch
„Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Re­dens“ weisen
die Philosophen Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen darauf hin, dass
Er­kenntnis proportional von der Klarheit der Begriffe abhängig ist. Ins­be­
son­dere bei den großen Themen und Streitfragen, die im Zusammenhang mit
der häufig so be­zeichneten „molekulargenetischen Revolution der Medizin“
disku­tiert werden, herrscht momentan in Wissenschaft und Öffentlich­keit
eine Sprache vor, in der semantische Sorgfalt seltener an­zu­treffen ist, als
se­man­tische Schlamperei. Daher soll im folgenden kurz die Frage ge­klärt
werden, wo­von hier die Rede ist. Was ist Molekulare Medizin (Paul 2001;
Paul 2001; Paul 2002; Paul 2003; Paul 2003; Paul & Ganten 2003)?
Es besteht im großen und ganzen Einigkeit darüber, dass Erkenntnisse und
Ver­fahren der Molekulargenetik den wesentlichen Anstoß zum gegenwärtigen
Wandel der Medizin geben. Das Schlagwort, das in diesem Zusammenhang
immer wie­der auftaucht, heißt genotyporientierte Medizin im Gegensatz zu
einer am Phänotyp orientieren Medizin (Ganten & Ruckpaul 2002). Was
also ist Genomik, welche Rahmen­be­dingungen für die Molekulare Medizin,
und hier insbesondere für die molekulare Prä­­diktion und Prävention, werden
durch sie geschaffen?
Wir wissen, dass das ultimative Ziel des internationalen Human Genome
Project (HGP) die Identifikation und Charakterisierung der kompletten
Sequenz des men­sch­lichen Erbgutes, des so genannten Genoms war.
Seit etwa zwei Jahren wissen wir zu­dem, dass sich aus den ca. 3 × 109
Basenpaaren (bp) ca. 35.000 Gene heraus­kristalli­sieren, die essentielle genetische Ausstattung des menschliche Genoms und damit un­serer biologischen
t498
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Verfasstheit sind (Aparicio 2000; Ewing & Green 2000). Diese Gene zu
identifizieren war – wie ge­sagt – Ergebnis eines mit großem personellen,
finanziellen und technologischem Auf­­wand durchgeführten Projekts. Mit
den vorläufigen Ergebnissen des Human Genome Project verfügen wir
jedoch über nicht mehr – und nicht weniger – als eine erste sequentielle,
genetische und physische Karte eines menschlichen „Durchschnitts-“ oder
„Modell-Genoms“, das sich aus einer Vielzahl von analysierten und statistisch miteinander in Beziehung gesetzten, in­di­viduellen Genomabschnitten
zusammensetzt. Wir alle kennen aus Fach- und Tages­presse die Nachrichten
über die im Zuge des Projekts rapide gestiegene Zahl der genetischen
Entdeckungen. Im Jahre 1990 waren 1772 menschliche Gene identi­fiziert
und spezifischen Chromosomen oder Regionen auf dem Genom zugeordnet. Im September 1996 betrug diese Zahl bereits 3868 Gene. Bereits im
Juni 1996 waren 62 menschliche Gene in Beziehung zur menschlichen
Erkrankungen gesetzt, durch neue rekombinante Technologien isoliert und
in weiten Teilen als Klone oder DNA-Sequenzen der Wissenschaft allgemein
zugänglich gemacht worden (Emilien, Ponchon et al. 2000). Heute wächst
diese Zahl täglich.
All diese Resultate sind letztlich darauf zurückzuführen, dass etwa 1976,
als die ersten menschlichen Gene kloniert wurden (Shine, Seeburg et al.
1977), molekulargenetische Verfahren zunächst die Humangenetik und dann
die gesamte biomedizinische Forschungslandschaft grundlegend veränderten (Lenoir 1999; Lenoir & Hays 2000). Transgene Methoden begannen
etwa 10 Jahre später, um 1986, zum Standard zu werden. Seit Mitte der
1990er Jahre hat sich als weitere, inzwischen zum Standardrepertoire der
Genomforschung gehörende technologische Plattform die Genomik in
silico, also die auf Informationstechnologien basierte, bio-informatische
Forschung mit extensivem „data-mining“ entwickelt (Bassett, Boguski et al.
1997; Bassett, Eisen et al. 1999; Raem, Braun et al. 2000).
Im großen und ganzen sind es dabei zwei Ansätze der Genomik – die strukturelle und die funktionale Genomik – zu unterscheiden. Als initiale Phase
der Analyse kann die strukturelle Genomik verstanden werden. Ihr Endpunkt
ist – wie bereits erwähnt – die Konstruktion hochauflösender sequentieller,
genetischer und physischer Genkarten. Nach der ersten Stufe des Human
Genome Project konzentriert sich dieser Ansatz gegenwärtig vermehrt auf
einzelne Genotypen, also auf die genetische Ausstattung von Individuen und
ihre Varianz bzw. genetischen Polymorphismen (SNPs) (McKusick 1997).
Es muss deutlich hervorgehoben werden, dass sich das Projekt damit immer
noch im Bereich des Datensammelns bewegt. Biologisch-medizinische
499u
Genetik, Gesundheit und Gesellschaft
Erklärungsmodelle oder gar klinische relevante Theorien können allenfalls
Nebenprodukte dieses Ansatzes sein.
Neben der strukturellen Genom-Analyse existiert die funktionale Genomik.
Sie stützt sich auf eine große Bibliothek sogenannter “teilsequenzierter
cDNA-Klone“. Durch eine Kombination der Daten aus dem Human Genome
Project mit den Informationen aus Klon-Bibliotheken kann systematisch
nach Genen gesucht werden, die interessante Funktionen aufweisen. Daher
stammt der Begriff der „funktionalen Genomik“. Klonierte Gene und ihre
korrespondierenden DNA-Sequenzen stellen den Werkzeugkasten für eine
umfassende Charakterisierung von Mustern der Genexpression im gesamten
genetischen Inventar des Menschen zur Verfügung. Darüber hinaus lassen
sie die systematische Erforschung der funktionalen Eigenschaften von
Genprodukten – also Proteinen – zu. Funktionale Genomik ruht damit zwar
auf der Basis der strukturellen Genomik, läutet aber zugleich eine neue
Phase des Human Genome Project ein, in der der Übergang vom know-that
zum know-how stattfinden soll.
Bereits heute scheint klar, dass auch die funktionale Genomik in ihrer
Reichweite für klinische Fragestellung beschränkt ist. Der Umstand, dass
die meisten Krankheiten keinem einfachen Muster der Vererbung folgen,
gepaart mit der Erkenntnis, dass die funktionale genetische Ausstattung von
ca. 35.000 Genen bei weitem nicht die Zahl und Funktion der im menschlichen Organismus angetroffenen Proteine erklären kann, stellen eine bedeutende Herausforderung an genetische Erklärungsmodelle von Krankheit
und genetischer Prädisposition dar. Der Schlüssel zur Molekularen Medizin
scheint im Reich der Proteine verborgen, in das wir gerade mit ersten zaghaften Schritten eines neuen Ansatzes, der Proteomik (Jollès & Jörnvall
2000; Peltonen & McKusick 2001; Pennington & Dunn 2001), aufbrechen.
Die Funktionen und das Zusammenspiel derjenigen Gene zu erklären, die
biologische Abläufe im menschlichen Organismus steuern ist das Projekt
der Proteomik; eine Projekt, das sich als weitaus ehrgeiziger und schwieriger
darstellen dürfte als bisherige Ansätze, das es aber zu bewältigen gilt, soll
der Übergang zur Molekularen Medizin gelingen.
Gegenwärtig befinden wir uns daher in einer Phase, in der – wie in der
Geschichte der Medizin schon häufiger beobachtet – ein neues wissenschaftlich‑technologisches Konzept im Bereich klinischer Anwendung noch
weitgehend konsequenzlos geblieben ist. Da jedoch die wissenschaftlichen
und technologischen Rahmenbedingungen der Molekularen Medizin bereits
jetzt bekannt sind, ist die Debatte über gesellschaftliche Konzequenzen
der Entwicklung in vollem Gange. Dies eröffnet uns die Chance, über die
t500
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
angestrebten Ziele, die Chance und Risiken neuer Konzepte und Verfahren
intensiv nachzudenken.
Was bedeutet das Wissen der strukturellen und funktionalen Genomik also
im Hinblick auf molekulare Prädiktion und Prävention? Die Prädiktion
individueller Gesundheitsrisiken und sich daraus ableitende Prävention
und Intervention haben gegenwärtig bereits tief reichende Auswirkungen
auf die medizinische Praxis und auf das Befinden Betroffener Einzelner,
auch wenn die Molekulare Medizin als solche noch nicht vollständig
umgesetzt ist. Chancen und Risiken molekularer Prädiktion – etwa im
Bereich der Risikodiagnistik des weiblichen Brustkrebs oder aber der
Suszeptilbilitätstestung für die Wahrscheinlichket einer später manifest
werdenden Alzheimer’schen Erkrankung – werden entsprechend auf breiter
Basis in Medizin, Ethik und Gesellschaft diskutiert. Ein anderes Thema
findet hingegen kaum Beachtung: Die Auswirkung innovativer Ansätze der
Molekularen Medizin zur Prädiktion und Prävention im Bereich öffentlicher
– also populationsbezogener – Gesundheitsrisiken.
Dies liegt sicherlich zu einem guten Teil an historisch gewachsenen
Rahmenbedingungen. In unserem Land besteht vor dem Hintergrund der NSMedizin eine berechtigte Scheu, Fragen der öffentlichen Gesundheitssicherung
mit Fragen der Genetik zu verknüpfen – sei es auch nur im Rahmen von
Debatten um die Zukunft der Medizin. Dabei scheint es angesichts der
demographischen und epidemiologischen Entwicklung un­aus­weichlich, sich
mit den Themen „Molekulare Prädiktion“ und „Molekulare Prävention“ auch
im Hinblick auf Fragen der öffentlichen Gesundheit zu befassen. In einer
zunehmend alternden Gesellschaft mit einem raschen Anwachsen chronischdegenerativer Erkrankungen ist absehbar, wann Versorgungsleistungen im
Sinne einer kurativen Medizin von präventiven Leistungen zumindest flankiert werden müssen, um bei wachsendem Kostendruck ein Mindestmaß an
Verteilungs- und Ermöglichungsgerechtigkeit im Gesundheitssystem wahren
zu können. Die Tendenz, dabei im Sinne der Ermöglichungsgerechtigkeit
dem Individuum mehr Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit abzuverlangen, weist zudem auf ein weiteres, wenig beachtetes Phänomen hin:
Die Trennung zwischen individueller und öffentlicher Gesundheitsfürsorge
wird angesichts der Gesamtsituation des Versorgungssystems (Labisch &
Paul 1998) immer unschärfer (Khoury, Burke et al. 2000). Ein Beispiel soll
im folgenden dazu dienen, das Problemfeld zu umreißen. Es handelt von der
Bestimmung genetischer Prädispositionen für den weiblichen Brustkrebs
und von Optionen der Brustkrebsprävention (Croyle, Achilles et al. 1997).
501u
Genetik, Gesundheit und Gesellschaft
2. Genetisches Risiko, Prognose, Prävention
In gegenwärtigen Kontroversen wird unter prädiktiver Diagnostik vor
allem die auf ein Individuum bezogene Ermittlung genetisch bedingter
Krankheitsrisiken verstanden. Gerade diese oft missverständlich als
Individualisierung der Medizin bezeichnete Analyse frequenter
Wahrscheinlichkeiten mit Aussicht auf die Vorhersage der persönlichen
Gesundheitsrisiken eines einzelnen Patienten sowie auf eine nachfolgend maßgeschneiderte Strategie der Prävention und – falls nötig – auch
Intervention, wird als Vorteil der zukünftigen Molekularen Medizin gesehen
(Collins 1997; Collins 1998; Collins 1999). Die genetische ‚Risikodiagnostik’
ist jedoch in den letzten Jahren zum Brennpunkt einer emotional geführten
Auseinandersetzung zwischen Wissenschaftlern, Medizinern, Patienten­
vertretern und der Industrie geworden (Poe 1999; White 1999). Dies liegt
vor allem an einem zweiten Missverständnis, das sich in der Deutung des
Risikobegriff ergibt.
Das allgemeine Konzept „Risiko“ hat in der Medizin und insbesondere im
öffentlichen Gesundheitswesen eine zentrale Funktion und bezieht sich auf
die statistische Wahrscheinlichkeit, mit der innerhalb einer Population ein
unerwünschtes Ereignis – also etwa eine bestimmte Erkrankung – auftritt. Es
fällt hier nicht schwer, den probabilistischen Charakter des Risikonkonzepts
zu sehen. Das Konzept des genetischen Risikos ist hingegen weder in seiner
Bedeutung für den individuellen Patienten, noch in seiner Bedeutung für
Fragen der öffentlichen Gesundheit hinreichend geklärt. Auch Aussagen
über genetische Risiken sind in der heutigen Form probabilistisch. Häufig
wird genetisches Risiko jedoch als technische, quantitative, kalkulierbare
Größe zur Angabe eines individuellen, relativen Risikos behandelt (Koenig,
Greely et al. 1998; Koenig & Silverberg 1999). In diesem Sinne wurde eine
statistische Beziehung zwischen Mutationen in zwei Genen, die BRCA1
und BRCA2 genannt werden, und weiblichem Brustkrebs hergestellt. Die
meisten der 8% bis 10% Brustkrebserkrankungen, die als erblich gelten,
werden auf Mutationen in diesen zwei Genen zurückgeführt. Ein kommerzieller Test für BRCA1/2-Veränderungen steht routinemäßig zur Verfügung
und wird in den USA auf breiter Ebene angewendet. Die genetische
Diagnostik dieser Disposition (also des genetischen Risikos an Brustkrebs
zu erkranken) wurde so zu einem der am weitesten verbreiteten Tests für
eine Erkrankung, die im Erwachsenenalter manifest wird (Croyle, Achilles
et al. 1997). Gleichzeitig fand die Umdefinition eines Krankheitsbildes statt,
das noch nicht allzu lange als molekulargenetisch bedingt gilt (Paul 2000).
Es wird heute angenommen, dass eine Mutation in den Genen BRCA1 oder
BRCA2 dazu führt, dass das Risiko einer Frau innerhalb ihrer Lebensspanne
t502
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
an Brustkrebs zu erkranken um 70% bis 85% (je nach Literatur) erhöht ist.
Darüber hinaus besteht insbesondere bei Mutationen des BRCA1-Gens auch
ein erhöhtes statistisches Risiko an Ovarial-Karzinomen zu erkranken.
Unglücklicher Weise kann eine genetisch untersuchte Frau, die statistisch in
die Gruppe von Personen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko fällt, wenig dafür
tun, den Ausbruch des Krebs zu verhindern oder ihm vorzubeugen – dramatische Eingriffe wie eine präventive chirurgische Entfernung der Brust
einmal ausgenommen. Selbst die US-amerikanische Euphorie bezüglich
des Präparates Tamoxifen, das nur in ganz speziellen Fällen als präventive
Chemotherapie geeignet scheint und erhebliche Nebenwirkungen haben
kann, ist mittlerweile wieder abgeebbt (Jordan 1994; Jordan 1999; Kuschel,
Lux et al. 2000; Poe 1999; White 1999). Gegenwärtig stellen die regelmäßige Selbstuntersuchung sowie die Mammographie die einzigen routinemäßig zur Verfügung stehenden Methoden zur Früherkennung bestehender
Brustkrebserkrankungen dar. Dabei ist der Übergang zu konventionellen,
life-style bezogenen Strategien der Krankheitsprävention im Rahmen von
Public Health geradezu zwangsläufig durch das Fehlen kausaler „molekularer“ Behandlungsoptionen vorbestimmt. Die Verfügbarkeit molekulargenetischer Erklärungen hat also de facto nichts an der Beherrschbarkeit
des Risikos geändert. Daraus folgt eine erste These: Die Verfügbarkeit
von molekulargenetischen Erklärungen und genetischen Tests sagt noch
nichts über deren präventiven Nutzen für den Patienten aus. Der Nutzen
der Prädiktion kann sogar durch das Fehlen entsprechender individueller Prävention in Frage gestellt werden. Hier besteht eine wesentliche
Aufgabe von Public Health, auf öffentliche Gesundheit ausgerichtete und
für spezifische Risikogruppen angepasste Alternativen der Verhaltens- und
Verhältnisprävention zu entwickeln.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der genetische Risikobegriff
bereits jetzt zu Veränderungen in der Wahrnehmung von Krankheit
und Körperlichkeit geführt hat. Oft wird dabei übersehen, dass sich
Krankheitsrisiken aus vielerlei Quellen speisen. So gibt es äußere, externe
Risiken – etwa Umweltrisiken durch das Vorhandensein chemischer oder
toxischer Stoffe – auf deren Vorhandensein das Individuum nur wenig
oder auch gar keinen Einfluss nehmen kann. Andere Risiken ergeben sich
auf einer Ebene, über die das Individuum bis zu einem gewissen Grade
Kontrolle ausübt. Beispiele für solche Lifestyle-bezogenen Risiken wären
etwa Fehlernährung und mangelnde körperliche Betätigung. Genetische
Risiken bilden nun neben den äußeren Risiken und den Lifestyle-bezogenen
Risiken eine neue Gruppe, die „embodied risks“ oder im Individuum verkörperte Risiken genannt werden (Kavanagh & Broom 1998; Kavanagh 1999).
503u
Genetik, Gesundheit und Gesellschaft
Bezogen auf Brustkrebserkrankungen muss gefragt werden, wie Frauen
ein Risiko verstehen und behandeln, das dem Augenschein nach buchstäblich in ihnen, in ihren Genen liegt, das sich ihrer Kontrolle entzieht und
das sie möglicherweise bereits an nachfolgende Generationen weitergegeben haben? Prädiktive Tests sind damit niemals einfach eine Frage des
Wissenszuwachses und verbesserter Kontrolle über Krankheiten. Sie führen
vielmehr zur langfristigen Lebensänderung betroffener Individuen. Fast
immer bringt dies einen Verlust an Autonomie mit sich, ohne gleichzeitig mit
den sozialen Privilegien zu entschädigen, die Kranken und Patienten zugesprochen werden. Letztendlich ist durch die weite Verfügbarkeit genetischer
Tests eine neue Risikowahrnehmung in weiten Teilen der Bevölkerung
zu erwarten. Laienwahrnehmungen sind dabei noch immer stark vom
dem bis vor einigen Jahren propagierten genetischen Determinismus
gezeichnet. Dass Krankheit trotz genetischer Faktoren als multifaktorielles
Geschehen und soziales Phänomen anzusehen ist, wird nur selten beachtet.
Unglücklicherweise entzieht sich das so verstandene genetische Risiko weitgehend sozialen Risiko-Diskursen und Strategien der Risiko-Bewältigung,
die sich in bezug auf Umgebungs- und Lifestyle-Risken längst herausgebildet haben. So überrascht es nicht, wenn sich gegenwärtig auf der Basis
der weiten Wahrnehmung des Themas „Genetisches Risiko“ ein Trend zur
Individualisierung von Risiken und zur Subjektivierung des Umgangs mit
Risiken abzeichnet, in dem sich die rationale Kategorie des Risikos in eine
irrationale, deswegen aber nicht minder sozial relevante, wandelt. Eine
zweite These könnte daher lauten: Das Konzept des genetischen Risikos
führt auf sozialer Ebene zu Lebensänderungen, die nicht der wissenschaftlichen Rationalität folgen und immer einen Verlust an Autonomie mit sich
bringen. Dabei bestehen Strategien zur Risikobewältigung allein im Sektor
der populationsbezogenen Prävention. Es gilt daher, diese an die Bedürfnisse
eines veränderten Risiko-Diskurses anzupassen und im Sinne einer auf spezifische Subpopulationen zugeschnittenen Aufklärung umzusetzen.
Man könnte argumentieren, dass die eben geschilderten Probleme lediglich
einen temporären Mangel an Wissen widerspiegeln. Unsere gegenwärtige
Unfähigkeit auf der Basis molekulargenetischen Wissens angemessen zu
handeln wäre dann nicht das Hauptproblem, sondern ein notwendiges
Durchgangs­stadium auf dem Weg zur Molekularen Medizin, die letztlich die
Beherrschbarkeit genetischer Varianz und der eventuell mit ihr verbundenen
gesundheitlichen Nachteile mit sich bringen wird. Eine solche Haltung
impliziert aber, der Fortschritt der Wissenschaft werde für jedes genetische
Risiko eine klar definierte, kausale Prävention oder Therapie ohne nennenswerte Belastung des Patienten mit sich bringen. Eine Hoffnung, die auf
t504
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
einem nachgerade naiv-deterministischen Fortschrittsdenken basiert und die
man in Kenntnis der Geschichte der Medizin nicht teilen können wird.
3. Ethische Aspekte der Prädiktion und Prävention
in der Molekularen Medizin
Da der Großteil der genetischen Information prädiktiv und probabilistisch
ist, gilt es Mechanismen zu schaffen durch die sichergestellt werden kann,
dass in der breiten Bevölkerung genetische Information immer nur als Wahrs
cheinlichkeitsaussage wahrgenommen wird, die keine Grundlage für soziale
Repression bilden darf. Es ist unklar, wie dies geschehen kann. Einigung
scheint allein darüber zu bestehen, genetische Prädiktion auf solche Tests zu
beschränken, die medizinisch relevante Aussagen erlauben und die Basis für
weitere diagnostische, therapeutische oder präventive Indikationen bilden.
Die Entscheidung darüber, was als diagnostische, präventive oder therapeutische Indikation verstanden wird, ist in einzelnen Ländern in Abhängigkeit
ihrer historisch gewachsenen kulturellen, sozialen, politischen und rechtlichen Normen jedoch sehr unterschiedlich. Insgesamt verspüren Ärztinnen
und Ärzte immer häufiger den Druck, ihren Patienten Tests anzubieten, die
Aussagen über das Risiko zukünftiger Erkrankungen zulassen. Dies geschieht
durchaus im Sinne einer gesundheitlichen Eigenverantwortung, wie sie etwa
Verhaltensprävention vor dem Hintergrund der Ermöglichungsgerechtigk
eit einfordern würde. Die Praxis der Brustkrebsrisiko-Diagnostik oder die
Diskussion um ein genetisches Screening möglicher Prädispositonen für die
Alzheimersche Krankheit ist hierfür beredtes Beispiel (Garber, Offit et al.
1997; Koenig & Silverberg 1999).
Je öfter genetischen Prädispositionen mit klinischen Krankheitsbildern
korreliert werden, desto drängender werden Fragen der Vertraulichkeit von
patienten­bezogenen Daten sowie der informierten Einwilligung in Tests
(Council of Europe 1992; Reilly, Boshar et al. 1997). Dies scheint insbesondere bei der Analyse und Speicherung genotyp-bezogener Daten großer
Bevölkerungsteile zuzutreffen, die eine der wesentlichen Voraussetzungen
für Ansätze im Bereich der öffentlichen Gesundheitssicherung bildet. Auch
dies ist ein Umstand, der nicht gerne zur Sprache gebracht wird.
Wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Enthusiasmus für eine molekulare
Revolution der Medizin haben – nicht ganz unberechtigt – zu Besorgnis
bezüglich möglicher Gefahren und Risken der unbedachten Umsetzung
neuer Konzepte geführt. Diese Besorgnis hat nicht zuletzt zum internationalen Aufschwung der Bioethik beigetragen. Diese befasst sich heute vor
505u
Genetik, Gesundheit und Gesellschaft
allem mit Fragen der Regulierung und Bedingungen der Einführung neuer
Verfahrensweisen. Damit ist Bioethik angesichts des rasanten Tempos der
Produktion neuen Wissens und neuer Technologien häufig zur ethischen
Reflexion post factum verdammt. In dieser Situation scheint eine grundlegende Auseinandersetzung mit den möglichen Richtungen und Zielen der
Molekularen Medizin drängender denn je. Die Möglichkeit zu wissen, wer
welche Gene für welche Krankheit oder Disposition trägt, die Möglichkeit
Patientengruppen nach Genotypen zu segmentieren, wirft fundamentale
ethische, soziale und rechtliche Fragen auf, die nicht allein durch die
Beachtung ethischer Prinzipien beigelegt werden können, sondern nach
einer Neuorientierung verlangen (Knoppers & Chadwick 1994).
Dies wird sehr klar, wenn man eine rezente Debatte zur molekularen
Prävention näher betrachtet. In dieser Debatte wurden zwei neue Formen
der Prävention benannt. Die erste Form wurde als phänotypischen
Prävention beschrieben (Juengst 1995). Sie strebt die Vermeidung von
Gesundheitsschäden und Todesfällen in Personengruppen mit einem spezifischen Genotyp an. Diese Form der Prävention ist zwar neu – jedoch
nicht in einem grundsätzlichen Sinne. Die Beziehung potentiell schädlicher,
mutagener oder genotoxischer Umweltfaktoren mit menschlicher genetischer Varianz wird als Ausgangspunkt für Strategien genommen, in denen
es a) um die Veränderung der schädlichen Umweltfaktoren und b) um eine
Unterbrechung der schädlichen Interaktion von Umwelt und Genotyp etwa
durch eine Veränderung des Genotyps geht. Hier ist nicht nur eine grundlegende Auseinandersetzung mit Problemen der genetischen Diskriminierung
vonnöten, es sollte darüber hinaus deutlich sein, dass eine Debatte um die
Rolle der Medizin erfolgen muss, in der es gilt, zu unterscheiden, in wieweit
Eingriffe in das menschliche Erbgut eine Möglichkeit zur Prävention darstellen, oder inwieweit es sich hier bereits um einen Ansatz zur biologischen
Verbesserung des Menschen – in anderen Worten: zur positiven Eugenik
– handelt. Diese Diskussion scheint umso notwendiger, als in Erweiterung
der phänotypischen Prävention darüber nachgedacht wird, ob, und wenn
ja, welche Rolle einer genotypischen Prävention zukommen würde, die es
sich zum Ziel setzt, die Weitergabe risiko- oder krankheitsbezogener genetischer Eigenschaften von einer Generation auf die nächste zu unterbrechen,
und zwar durch Beratung in der Familienplanung, genetisches Screening
von Merkmalsträgern, pränatale Diagnostik, Abtreibung und – in ferner
Zukunft – durch genetische Eingriffe in die menschliche Keimbahn (Khoury,
Burke et al. 2000; Stock 2002; Stock & Campbell 2000). Damit würde ein
Szenario fortgesponnen, das Gregory Stock erstaunlicher Weise im Sinne
einer positiven Vision formuliert hat:
t506
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
„Ultimately, we will have to face the question lying at the heart of the
emerging international debate about the application of molecular genetics to
humans: How far are we willing to go in reshaping the human body and psyche? The future medicine will not be so much about still fighting the same
diseases that have plagued humans for centuries, but much more a question
of a more meaningful human design.” (Stock & Campbell 2000)
Sicherlich stellen Molekulare Optionen der Prädiktion und Prävention eine
Chance für die signifikante Verbesserung der Gesundheitssicherung und
letztlich für die Sicherung der Verteilungs- und Ermöglichungsgerechtigkei
t in unserem solidarisch organisierten Gesundheitssystem dar. Andererseits
birgt die Redefinition von Gesundheit und Krankheit all diejenigen Risiken
in sich, die mit einem Wandel von sozialen Kategorien und Wertbegriffen
– in diesem Falle Gesundheit, Krankheit und Körperverständnis – einhergehen (Paul 2002). Dies zu sehen und entsprechend zu handeln ist die zentrale
Verantwortung all derer, die im Sinne der Verbesserung und Erhaltung
der menschlichen Gesundheit neues Wissen der molekularen Medizin im
Bereich der öffentlichen Gesundheit als „Public Health Genetics“ nutzen
wollen.
507u
Genetik, Gesundheit und Gesellschaft
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t514
IV. Ethik
und Policy
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Ethik der Public Health Genetik
Peter Dabrock, Peter Schröder
515u
Inhalt
IV. Ethik und Policy
Ethik der Public Health Genetik
t516
1.
1.1.
1.2.
1.3.
1.4.
1.5.
Medizinische und gesellschaftliche Herausforderungen
durch Genetik und Public Health Genetik...................... 518
Auf dem Weg zur molekularen Medizin........................ 518
Auf dem Weg zur Public Health Genetik . .................... 518
Scheitern eindeutiger Handlungsstrategien aufgrund
komplexer Risikokommunikation................................... 519
Ängste und Befürchtungen gegenüber der molekularen
Medizin................................................................... 519
Spezifische Konfliktfelder von Public Health Genetik....... 520
2.
2.1.
2.2.
Zur Notwendigkeit einer gesellschaftliche Debatte
über Public Health Genetik ........................................ 521
„Man kann nicht nicht antworten“................................ 521
Befähigung als notwendige Bedingung der
gesellschaftlichen Debatte um Public Health Genetik....... 522
3.
3.1.
3.2.
3.3.
3.4.
3.5.
Ethische Grundprinzipien............................................ 523
Menschenwürde ....................................................... 523
Die sozialethische und zivilgesellschaftliche Grundunterscheidung zwischen Rechtem und Gutem............... 525
Zur Anwendung der Grundunterscheidung im
Blick auf Public Health Genetik.................................... 527
Mittlere Axiome......................................................... 528
Normative Implikate für Public Health Genetik aus
der individuumsbezogenen Humangenetik ................... 532
4.
4.1.
4.2.
4.3.
4.4.
Public Health Genetik und soziale Gerechtigkeit ........... 542
Auszuschließende soziale Verpflichtungsrelationen
in der „sozialen Demokratie in den Formen des
Rechtsstaats“............................................................. 543
Decent minimum statt minimales Minimum..................... 544
Chancengleichheit als erste Präzisierung des
decent minimum........................................................ 545
Befähigung als Maßangabe für das decent
minimum der Chancengleichheit.................................. 546
Genetik in Public Health
5.
5.1.
5.2.
Sozialethische Perspektiven auf Public Health Genetik.... 548
Keine Exzeptionalität, aber Spezifität genetischen
Wissens................................................................... 548
Konsequenzen des Befähigungsgerechtigkeitsansatzes für den Umgang mit Public Health Genetik.......... 549
6. Priorisierungsregel beim Grundkonflikt Autonomierespekt vs. Gemeinwohl(-pflichtigkeit)........................... 552
7. Ausblick................................................................... 554
Te i l 2 / 2 0 0 7
Literatur.............................................................................. 555
517u
Ethik der Public Health Genetik
1. Medizinische und gesellschaftliche Herausforderungen durch Genetik und Public Health Genetik
1.1.Auf dem Weg zur molekularen Medizin
Die Medizin entwickelt sich in rasantem Tempo von ihrer morphologischen
und phänotypischen Orientierung hin zu einer molekularen und genotypischen Orientierung (vgl. WHO 2002; Paul 2004; Feuerstein, Kollek,
Uhlemann 2002; siehe auch Paul in diesem Band). Neben der Diagnose
werden die Prognose und Prädiktion zu immer wichtigeren Aussagegrößen.
Richtig ist zwar, dass die Forschung noch lange im Grundlagenbereich
verharren wird, dass sie entgegen früheren linearen Erwartungen („ein Gen
verursacht eine Krankheit“) auf hochkomplexe Krankheitsätiologien aufmerksam geworden ist (neben wenigen hochpenetranten monogenetischen
Erkrankungen gibt es zahlreiche polygen und polymorph verursachte
Krankheiten, wobei zudem unterschiedliche Umwelteinflüsse unterschiedlich wirken können (vgl. Henn und Schreiber in diesem Band). Daraus folgt,
dass durch die Wahrnehmung solcher komplexer Krankheitsverursachungen
Prognose und Prädiktion immer nur Wahrscheinlichkeitsgrößen sein werden. Dennoch werden nach derzeitiger Einschätzung diese Prädiktionen
das Verständnis von Gesundheit und Krankheit und den individuellen wie
sozialen Umgang mit diesen Lebensführungsphänomenen nachhaltig prägen
und verändern.
1.2.Auf dem Weg zur Public Health Genetik
Nicht nur auf der individuumsbezogenen Ebene, sondern auch auf der Ebene
der gesellschaftlichen Gesundheitsversorgung deuten sich – wenn auch noch
sehr schemenhaft – präzisere, schnellere, wirksamere, nebenwirkungsärmere
Präventions-, Diagnose- und Therapiemöglichkeiten für Einzelne wie für
bestimmte Patientenkollektive und bestimmten Umwelteinflüssen ausgesetzten Personen(-kreise) an (French & Moore 2003; Kollek, Feuerstein &
Schmedders 2004). Wahrscheinlich werden Menschen und Menschengruppen
demnächst durch bestimmte Chip-Technologien Prognosewerte über
Krankheitsanfälligkeiten erhalten. Sensible Daten können zum Zwecke
von Gesundheitssystem- und Versorgungsforschung in unterschiedlichsten
Formen von Biobanken gespeichert werden. Präventionsempfehlungen an
betroffene Individuen und Bevölkerungssubpopulation können mit den
ermittelten, gespeicherten und ausgewerteten Daten einhergehen. Diese
mögliche Integration genetischen Wissens in die Aufgaben von Public
Health, also in die öffentliche Sorge um die Gesundheit aller durch öffentliche oder öffentlich beauftragte Organisationen, nennt man Public Health
Genetik.
t518
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
1.3.Scheitern eindeutiger Handlungsstrategien aufgrund
komplexer Risikokommunikation
Die in anderen Technikfeldern bewährte Technikfolgenabschätzung (Bora
1999; Grunwald 2003) gerät dort, wo sie nicht nur an technischen, sondern auch an sozialen Folgen der Implementation von Genetik in Klinik
und Gesundheitsversorgung interessiert ist, auf dünnen Boden. Denn das
Verständnis von Risikokommunikation (vgl. Luhmann 1991; Japp 2000)
wird in Zeit-, Sach- und Sozialdimension gleich massiv herausgefordert. So
ist noch spekulativ, wann es zu nachhaltigen medizinischen und Gesundheitsversorgungseffekten durch Genetik kommt, so ist noch nicht sachlich
und pragmatisch geklärt, wie weit genetische Grundlagenforschung in die
medizinische Genetik umgesetzt wird und wie man von humangenetischer
Diagnostik zur prädiktiven Genetik und von dort zu individuums- bzw.
kollektivbezogenen Handlungsstrategien kommt. Schließlich sind auf der
sozialen Ebene die Risiken der Kommunikation zwischen Experten und
Laien zu berücksichtigen. Vermittlung, Einsicht und Legitimität können
derzeit (nur) aufgrund von Wahrscheinlichkeiten getroffen werden – ob
Befürworter oder Gegner dieser Entwicklung, niemand hat eine Alternative.
In moraltheoretischer Tradition ist nur dort die vorsichtigere Alternative zu
wählen (Tutiorismus), wo hohe Güter auf dem Spiel stehen, die nicht durch
Missbrauchseindämmung geschützt werden können.
1.4.Ängste und Befürchtungen gegenüber der
molekularen Medizin
Aufgrund der komplexen Risikostruktur genetischer Informationen trifft
diese insbesondere in Deutschland vor dem Hintergrund der hiesigen
Geschichte auf geballte Zurückhaltung, Angst und Skepsis. So wird von
nicht wenigen befürchtet, dass die zum Großteil keineswegs Sicherheiten,
sondern nur Wahrscheinlichkeiten kommunizierende prädiktive Medizin zur
Gefährdung der Privatsphäre, zu Stigmatisierungen und Diskriminierungen
auf unterschiedlichsten Ebenen, in unterschiedlichsten Szenarien und gegenüber unterschiedlichsten Gruppen führen kann. Befürchtungen betreffen
Arbeits- und Versicherungsverhältnisse wie die Reproduktion, die immer
mehr von vermeintlichen „Perfektionsansprüchen“ geleitet werden könnte,
wiewohl die überwältigende Zahl von Erkrankungen nicht unmittelbar
nur genetisch, sondern immer auch und überwiegend durch Umwelt- und
Verhaltenseinflüsse bedingt ist.
Aufgrund dieses prädiktiven Drucks sehen manche in der „Genetisierung“
der Gesellschaft eine neue, besonders perfide Form von biopolitischer
Sozialdisziplinierung nicht nur des Körpers, sondern auch unserer individu-
519u
Ethik der Public Health Genetik
ellen Lebensweisen wie unseres sozialen Miteinanders auf die Gesellschaft
zukommen.1
Andere sehen in einem nach ihrer Auffassung obsoleten genetischen
Determinismus eine Hemmschwelle für eine breite gesellschaftliche
Akzeptanz möglicherweise zukünftiger Entwicklungen, die zu Überregulation
führen und so medizinischen, ökonomischen und Public Health-Fortschritt
gefährden.
1.5.Spezifische Konfliktfelder von Public Health Genetik
Neben den vielfach diskutierten, vornehmlich individuumsbezogenen
Problemaspekten (vgl. 3.5) künftiger angewandter Genetik (Schutz der
Privatsphäre, Vertraulichkeit, informed consent, Schutz vor Diskriminierung
und Stigmatisierung) transportiert Public Health Genetik weitere spezifische
gesellschaftliche Herausforderungen, die alle um den möglichen Konflikt
zwischen individuumsbezogenem Autonomierespekt und gesellschaftlichen
Gesamtnutzen oder Gemeinwohl gruppiert sind. Im Einzelnen gehören
(Michigan Center for Genomics & Public Health o.J.) zu den Konfliktfeldern
die folgenden: der spezifisch populationsbezogene Fokus gegenüber dem
individualisierenden der traditionellen humangentischen Medizin, der mögliche Vorrang eines kollektiven Wohlfahrtsgedankens gegenüber der individuellen Autonomie, die mögliche Diskriminierung von Populationen,
eine drohende Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheiten, der Streit um
Verteilungsgerechtigkeit, die mögliche Begrenzung des Prinzips der informierten Zustimmung, der Streit um die Güter „individueller Schutz der
Privatsphäre“ vs. „Gruppenrechte“, neue strategische Herausforderungen
für die Gesundheitsversorgung, die Beachtung von kulturellen und rechtlichen Besonderheiten, wenn bestimmte Gruppen untersucht werden, die
Entwicklung von Kriterien öffentlicher Debatten, eine Ethik unterschiedlicher Präventionsstrategien, das Abwägen der sozialen Vor- und Nachteile
von Public Health Genetik, die Bewahrung der Umwelt, das Verhältnis von
Zwang und Freiwilligkeit und der Gegensatz von genotypischer vs. phänotypischer Prävention.
1
t520
Insofern diese meistens von Foucault beeinflussten Sozialtheorien die gesamte Moderne unter
solchen machtorientierten Diskurspraktiken sehen und im Grunde nie einen konstruktiven
Ausweg formulieren (Lemke 2000; Lösch 2001), nehmen sie bisweilen den Gestus einer
geschlossenen Theorie ein. Positiv gewendet: so richtig es ist, auf implizite Machtmuster
in Diskurspraktiken zu achten, so sehr muss man sich bewusst sein, dass es nicht um die
Verhinderung, sondern nur um die Kultivierung von Macht bspw. durch Transparenz, Zeit- und
Kompetenzbeschränkung etc. gehen kann; meistens stellen die protestkommunikativen Kritiker
von Biotechnologie und -politik jedoch nur ihre Kritik am vermeintlichen biopolitischen
Syndrom vor, ohne darauf aufmerksam zu machen, dass auch ihre Position nicht machtfrei und
diskursiv disziplinierend daher kommt.
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
2. Zur Notwendigkeit einer gesellschaftliche
Debatte über Public Health Genetik
2.1.„Man kann nicht nicht antworten“
Will man nicht einem kulturpessimistischen oder technikfeindlichen
Fatalismus folgen, der aufgrund seiner Protest- und Verweigerungshaltung
meistens nur denen in die Hand spielt, die möglichst weit ihre ökonomischen
Interessen durchsetzen wollen2, dann muss der soziale Umgang mit individuumsbezogener wie Public Health bezogener Genetik in der Gesellschaft
eingeübt und gestaltet werden. Dazu wird man zuvörderst fragen müssen,
welche Vorstellungen von gutem und gerechtem Leben auch in Zukunft
prägend sein sollen. Gesellschaftliche Debatten sind von Nöten, in denen im
Vollzug deutlich wird, dass eine verantwortliche Zukunftsorientierung einen
kritischen Blick zurück voraussetzt. Auf diese Weise kann aus den Quellen
des Selbst und der Kulturen geschöpft werden, indem aus in ähnlichen
Kontexten begangenen Fehlern gelernt wird und bewährte Muster aufgegriffen werden, um den kommenden Herausforderungen nicht haltlos gegenüber zu stehen. Allerdings geht in der Regel ein solches Sich-Einlassen auf
neue Situationen auch einher mit dem Eingeständnis, dass Bewährtes durch
neue Ansprüche seinerseits verändert wird, dass Gefundenes von daher neu
erfunden werden muss. Schmerzhafte Prozesse von Verlust lassen sich selbst
beim Rückgriff auf Bewährtes kaum vermeiden. Die in Deutschland nicht
nur, aber auch aufgrund geschichtlicher Erfahrung besonders ausgeprägte
Skepsis gegenüber den Entwicklungen der molekularen Medizin mag sich
u.a. eben auch aus dieser Verlustangst heraus erklären.
Angesichts der Reserve gegenüber den Risiken des molekulargenetischen
Fortschritts (vgl. 1.3-1.5) muss man sich aber ebenso Rechenschaft darüber
ablegen, dass nicht nur Handlungen, sondern auch Unterlassungen verantwortet werden müssen. Neue Herausforderungen können nicht nicht beantwortet werden. Auch die Unterlassung ist eine Antwort auf Herausforderung.
Nun scheint es intuitiv so, dass Unterlassungsgebote weniger dramatisch
wirken als Handlungsverbote. Schließlich hat die Forschung bisher kaum
Anwendungen auf der klinischen oder Public Health-Ebene aufweisen
können. Aus diesem Umstand kann man leicht ein Argument gegen die
ohne Zweifel kostenintensive Grundlagenforschung zimmern und bei prognostizierten Risiken daraus gemäß dem Grundsatz, im Zweifel die sichere
Variante zu wählen, ein Unterlassungsgebot folgern.
2
Dieses Ziel ist im Übrigen nur dann unanständig, wenn elementare Güter anderer verletzt werden.
521u
Ethik der Public Health Genetik
Solch eine Reserve gegenüber der Forschung stellt zunächst ein
Einstellungsmuster dar, das sich in Deutschland kulturell verdichtet findet.
Diesseits berechtigter ethischer Reserven ist allerdings zu beachten, dass es
nun einmal ein Grundprinzip echter Grundlagenforschung darstellt, dass das
Ergebnis noch nicht im Vorhinein feststeht. Wenn mittel- und langfristige
Prognosen erfolgreiche Entwicklungen, die nach heutiger Einschätzung
zwar ethisch bedenklich, aber nicht völlig verwerflich sind, als nicht völlig utopisch erscheinen lassen, gilt es zudem ehrlich und selbstkritisch im
Gedankenexperiment zu fragen, ob man diese Errungenschaften auch im
Falle ihres Nutzens noch ablehnen würde. Die Medizinethik sieht in solchem potentiellem moralischen Trittbrettfahrertum zu Recht ein ethisches
Problem und diskutiert es unter dem Stichwort der Komplizenschaft (vgl.
Kissell 1999).
2.2.Befähigung als notwendige Bedingung der gesellschaftlichen Debatte um Public Health Genetik
Gerade weil die Forschung noch nicht anwendungsfähige Ergebnisse bereitstellt, kann die Gelegenheit genutzt werden, in aller Ruhe eine öffentliche
Debatte über sachliche, soziale und zeitliche Chancen und Risiken der
Gentechnik zu führen. Selten ergab sich in der neueren Technikgeschichte
eine derartige Gelegenheit, technische Entwicklungen bereits so frühzeitig
in ihrem Wohl und Wehe zu diskutieren und zu bewerten. So sehr Emotionen
dabei eine Rolle spielen dürfen, so wenig dürfen sie die Debatte vorrangig
prägen. Deshalb muss Wert darauf gelegt werden, dass diese Diskussionen
durch Bildung und Förderung auf unterschiedlichsten Ebenen intensiv vorbereitet werden.
Man mag an der Effizienz solcher öffentlicher Diskurse zweifeln. Ihr prognostiziertes Ergebnis erscheint ferner unter Berücksichtigung vorhandener
Erhebungen empirischer Sozialforschung durchaus offen. Dass durch die
verschiedenen Formen öffentlicher Debatten überhaupt eine Öffentlichkeit
entsteht, und sei sie unvermeidlich medial vermittelt und unter solchen
Bedingungen immer vielfältigen Interessen und Beeinflussungen ausgesetzt,
ist ein gesellschaftlicher Wert in sich. Deshalb erscheint nicht ein bestimmtes
Ergebnis sozialethisch geboten, sehr wohl aber eine öffentlich geförderte
oder gewährte Bereitstellung von Foren, die solche Debatten wirklich und
nicht nur formal ermöglichen. Durchaus kontroverse Meinungsbildung
erweist sich nämlich als öffentliches Gut einer zivilgesellschaftlich gebundenen, rechtsstaatlichen Demokratie.
t522
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
3. Ethische Grundprinzipien
Weil Public Health Genetik eine öffentliche Aufgabe des freiheitlich demokratischen Rechtsstaats darstellt, dessen Grundlagen nicht suspendiert
werden dürfen und sollen, muss die ethische Reflexion mit den allgemeinen
ethischen und rechtlichen Normierungen öffentlichen Zusammenlebens
beginnen. Dabei decken sich manche mit den aus der individuumsbezogenen
Humangenetik bekannten Problemen, anderen mit den normativen Implikaten
aus den allgemeinen Verfahrensregeln von Screeningverfahren; darüber
hinaus ergeben sich spezifische normativ-ethische Herausforderungen aus
dem geschilderten Aufgabenprofil von Public Health Genetik.
3.1.Menschenwürde
In bioethischen Debatten wird die Menschenwürde zunehmend als ethische
und rechtliche Zentralkategorie eingeschätzt (Deutscher Bundestag 2002).
Dies gilt seit langem in Deutschland so, wird aber zunehmend als ein
europäisches Spezifikum gegenüber dem amerikanischen Bioethikdiskurs
betrachtet (Häyry 2003). Aber auch dort gewinnt die Konzeption zusehends an Bedeutung (The Report of the President’s Council 2002). Gerade
ihr zunehmender Gebrauch in Fragen des Lebensanfangs (Gebrauch
von Embryonen zu Forschungszwecken, Schwangerschaftsabbruch)
und des Lebensendes (Hirntodkriterium und Sterbehilfe) verdeutlicht
jedoch die begrenzte Wirkung der Menschenwürde-Konzeption. So wird
die relativ unstrittige Frage danach, was Menschenwürde meint, in der
Bioethik zunehmend verdrängt durch die überaus strittige Vorfrage, wem
Menschenwürde zukommt. Mit den neurologischen, reproduktionsmedizinischen und gentechnischen Möglichkeiten verschwimmen nämlich die traditionellen, exakten Extensionsangaben für das Menschenwürde-Konzept.
In Frageform formuliert: Ist ein Hirntoter ein Toter oder ein Sterbender,
kommt ihm Menschenwürde zu? Wäre dann nicht aber zumindest bei der
Organtransplantation, die derzeit ja noch vom Hirntodkriterium abhängt, die
erweiterte Zustimmungslösung, ganz zu schweigen von der Informationsoder der Widerspruchslösung, eine Würde-Verletzung und damit ethisch
abzulehnen? Will man aber diese Konsequenz ziehen? Oder man stelle die
Kardinalfrage zum Lebensbeginn: Ab wann ist der Mensch ein Mensch?
Gibt es einen so offensichtlichen Einschnitt, dass man – in der einprägsamen
Formulierung von Robert Spaemann, der diesen Einschnitt bekanntermaßen
kategorisch ablehnt – einen Übergang von einem Etwas zu einem Jemand
konstatieren könnte (Spaemann 1996)? Sind Embryonen Würde-Träger oder
nicht? Ab wann jedoch wären sie es, wenn sie es nicht von Anfang an wären?
Aber was ist der Anfang?
523u
Ethik der Public Health Genetik
In Fragen von Public Health Genetik ist dem in der Regel nicht so. Auf
diesem Feld der Integration genetischen Wissens in Public Health-Ziele
kann auf die ursprüngliche, wenig umstrittene verfassungsrechtliche und
fundamentalethische Intension von Menschenwürde zurückgegriffen werden. In diesen Perspektiven versteht man unter Menschenwürde das, was
die Menschen einander keineswegs verletzten dürfen, anders formuliert,
was jedem, und zwar jedem einzelnen Menschen in seinen Sein und
Mitsein wesentlich ist, was ihm unbedingt, unverlierbar, unauslöschlich,
unantastbar zu gelten hat (Dabrock et al. 2004; Geier, Schröder 2003).
Trotz unterschiedlicher religiöser, theologischer, philosophischer oder weltanschaulicher Begründung kann man dann mit hohem Geltungsanspruch
behaupten, dass es die Würde eines Menschen verletzt, wenn wir ihn oder
sie demütigen, ihn oder sie verzwecklichen, ihn wie eine Sache behandeln
und ihn oder sie als jemand misshandeln. In dieser nach Günter Dürig als
„Objekt-Formel“ bezeichneten Definition wird der Sinn der Menschenwürde
erstrangig ex negativo, abwehrrechtlich bestimmt. Auf diese Weise entfaltet sie auch vordringlich ihre normative Kraft im Bereich „Public Health
Genetik“. Konkret heißt dies, dass aus der jedem Menschen zukommenden
Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem daraus abgeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) jedem Menschen das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung zugesprochen wird (Bundesärztekammer
2003). Das schließt das Recht auf Wissen ebenso ein wie das Recht auf
Nichtwissen. Im Zeitalter des molekulargenetischen Wissens ergeben sich
aus diesem formalen Recht jedoch spezifische ethische Konflikte und
Kollisionen (Schröder 2004).
Wenn das in Deutschland (noch) nicht in Kraft getretene Menschenrechts
übereinkommen zur Biomedizin des Europarates in Art. 11 jede Form von
Diskriminierung einer Person aufgrund ihres genetisches Erbes verbietet und
zudem in Art. 12 prädiktive genetische Tests nur zu Gesundheitszwecken
und für gesundheitsbezogene Forschung erlaubt, dann werden hier ebenfalls auch ohne explizite Nennung des Würde-Axioms die Grundwerte des
Instrumentalisierungs- und Demütigungsverbot verteidigt. Allerdings liegt
auch hier der Konflikt erst in der konkreten Identifikation der Situationen
und Kriterien, wann Gesundheitszwecke erfüllt sind oder wann Forschung
gesundheitsbezogen ist. Ob im Sinne eines signifikanten gesellschaftlichen
Gesamtnutzens Tests oder Forschung in das allgemeine Persönlichkeitsrecht
eines Einzelnen auch nur in engsten Grenzen eingreifen dürfen, wird seit
längerem in Deutschland am Beispiel der fremdnützigen Forschung an
Nichteinwilligen hochkontrovers diskutiert und immer wieder mit Hinweis
auf die NS-Vergangenheit mehrheitlich abgelehnt. Sollte dieser moralische
Heroismus zum nachhaltigen Schaden der Betroffenen selbst führen, wird
t524
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
man auch diese Unterlassungen verantworten müssen. So wird wie so
häufig im Bereich der Bioethik deutlich, dass ihr eine gewisse kritische
Selbstaufklärung über ihre eigenen Kommunikationen gut täte. Deshalb folgen wenige Grundsatzüberlegungen über Leitunterscheidungen angewandter
Ethiken, die für Normierungen und Bewertungen von Public Health Genetik
relevant erscheinen.
3.2.Die sozialethische und zivilgesellschaftliche Grundunterscheidung zwischen Rechtem und Gutem
Ob bestimmte Techniken oder Verfahren sozial verantwortet werden können,
hängt von unterschiedlichen Bedingungen ab. Dies gilt auch für die ethische
Einschätzung der möglichen Integration von Genetik in Public Health. Auf
der rechtlichen und ethischen Grundlage des Menschenwürde-Axioms und
neben den noch näher darzulegenden allgemeinen und spezifischen Health
Technology Assessment-Kriterien sind spezielle Kriterien angewandter
Ethik zu beachten. In der pluralistischen und funktional ausdifferenzierten
Gesellschaft kann man nicht davon ausgehen, dass ein allgemeiner breiter
Konsens in Fragen nach Zielen und Präferenzen individueller und kollektiver Lebensführungen herrscht. Weil aber das Zusammenleben dennoch die
gemeinsame Anerkennung elementarer Werte und Regeln voraussetzt, hat
sich in der politischen Philosophie die Unterscheidung zwischen Rechtem
und Gutem etabliert (Rawls 1975; Forst 1994; Mack 2002; Gosepath
2004).
(Juristische und ethische) Normen des Rechten bringen zum Ausdruck, was
sich Menschen mehr oder minder notwendig schulden bzw. zugestehen
müssen, wollen sie auch ohne gemeinsame Ziele friedlich nebeneinander
leben. Ihre Anerkennung ist daher sowohl dem Würde-Axiom wie dem
Stabilitätsgrundsatz einer Gesellschaft verpflichtet. Über das moralisch
Gerechte hinaus kann das juristisch Rechte die zu einer Zeit gültigen
Normen mit Zwang einklagen.
Vorstellungen des Guten dagegen formulieren Werte und Ziele von
Individuen und gesellschaftlichen Gruppen. Akzeptiert man diese in der
Geschichte des liberalen, demokratischen Rechtsstaates halbwegs bewährte
Grundunterscheidung, dann lassen sich für die Bewertung sozialethischer
Konfliktfälle, zu denen auch die Abwägung der Chancen und Risiken von
Public Health Genetik zählt, verschiedene Regeln ableiten:
n Im Konfliktfall unterschiedlicher Auffassungen gibt es einen Vorrang des
Rechten vor dem Guten.
525u
Ethik der Public Health Genetik
n Freiheit gilt so lange wie sie die Freiheit des / der Anderen nicht gefährdet.
n Gegenüber Ansprüchen partikularer Gemeinschaftsgüter, die nicht allgemein verbindlich sind, ist zunächst die negative Freiheit jedes Einzelnen zu
schützen.
n Gebote und Verbote sind rechtfertigungspflichtig, sofern sie nicht unmittelbar einsichtig freiheitsgefährdende Handlungen verhindern sollen.
n Wegen des Vorranges der negativen Freiheit besitzen Unterlassungsgebote
einen Vorrang vor zum aktiven Handeln auffordernden Handlungsgeboten.
n Missbrauchseinschränkung im Einzelfall ist einem allgemeinen Verbot
vorzuziehen.
n Rechtfertigungspflichtig ist seit der Neuzeit bewährterweise nicht das
rechtmäßig erworbene Eigentum, sondern die damit keineswegs ausgeschlossene Redistribution zum Zwecke der Wohlfahrtssteigerung der
Gemeinschaft oder einzelner Mitglieder der Gemeinschaft.
Sozialtheoretisch bedarf diese Grundunterscheidung zwischen Rechtem
und Gutem mit den daraus abgeleiteten Regeln jedoch einer ergänzenden
Betrachtung (Mack 2002): Auch wenn Rechtes und Gutes unterschieden
werden müssen, so lassen sie sich nicht messerscharf trennen. Was in der
einen gesellschaftlichen Formation bereits als Gutes angenommen wird,
wird in anderen noch unter das Gerechte gefasst. Staatsziele oder Begriffe
wie Solidarität, Nachhaltigkeit oder angemessene Grundversorgung verdeutlichen, dass es zwischen dem unbedingt Einklagbaren einerseits und
nur wertbasierten Zielen und Bindungen andererseits Zwischenstufen gibt.
Entsprechend kennt die politische Theorie solche Verpflichtungen, die jedoch
eine Wertdimension beinhalten. Man spricht von einer „schwachen Theorie
des Guten“, von Grundgütern oder Konditionalgütern. Martha Nussbaum
zählt dazu (keineswegs mit dem Anspruch, eine erschöpfende Liste zu präsentieren) die Fähigkeiten, nicht frühzeitig sterben zu müssen, sich guter
Gesundheit zu erfreuen, die Vermeidung unnötigen Schmerzes, die Nutzung
der eigenen Sinne und Gedanken, Bindungen einzugehen, Vorstellungen des
Guten zu entwickeln, soziale und umweltbezogene Beziehungen einzugehen, zu lachen, zu spielen, Freude zu empfinden, selbstbestimmt zu leben
(Nussbaum 1999).
Für das zivilgesellschaftliche Leben ist diese Einsicht in die Grauzone zwischen Rechtem und Gutem deshalb von enormer Bedeutung, weil sie einen
gestaltungsnotwendigen wie gestaltungsfähigen Spielraum lässt. Über ihn
werden in der Gesellschaft Deliberationen geführt mit dem Ziel der Einigung
oder zumindest Prüfung, welche gesellschaftlichen Grundwerte als verbindlich anzusehen sind. In solchen Diskursen wird bspw. von kontroversen
t526
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Ausgangspunkten darüber nachgedacht, welcher Umgang mit Behinderung
und Behinderten, mit sozial Schwächeren, mit Geschlechterrollen oder mit
Familienbildern die gegenwärtige oder die zukünftige Gesellschaft prägen
soll. Findet sich ein halbwegs robuster Konsens, ist ein intensives Bemühen
um entsprechende Umsetzungsstrategien zu seiner Implementierung angeraten, weil das dahinter stehende Ziel mehrheitlich gewollt ist.
3.3.Zur Anwendung der Grundunterscheidung im Blick
auf Public Health Genetik
Die allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Rechtem und Gutem
erhalten im Bereich von Public Health Genetik eine unverkennbare soziale
Sprengkraft. Auf der einen Seite werden im Bereich privatwirtschaftlicher
Unternehmungen zahlreiche z.T. nicht valide oder wenig aussagekräftige
Verfahren (z.B. Gentests) solange zugelassen oder zumindest im globalen Kontext nicht verhindert werden können, wie ihnen nicht grobe
Fahrlässigkeit, unlauterer Wettbewerb oder Sittenwidrigkeit nachgewiesen
werden kann. Durch entsprechende Marketingkampagnen werden Menschen
beeinflusst, möglicherweise werden sie verunsichert oder ihnen wird – was
noch fataler ist – falsche Sicherheit vermittelt. Solange aber diese vermeintlichen Informationen nicht gegen die angesprochenen rechtlichen und
sittlichen Minimalbedingungen verstoßen, ist jede einengende Regelung des
freien Marktes in der Beweislast. Auf der anderen Seite, die hier vornehmlich interessiert, müssen öffentlich verantwortete und empfohlene genmedizinische Maßnahmen sehr wohl auf ihre Performabilität, soziale Akzeptanz
und ethische und rechtliche Richtigkeit befragt werden können. Insofern die
Entwicklungen von Angebot und Nachfrage auf dem freien Markt ihrerseits
Einfluss auf die möglicherweise überzogenen Erwartungen der Bürger an
öffentliche Gesundheitsversorgungen haben werden, kommt der öffentlich geförderten Gesundheitsmündigkeit (health literacy) im Umgang mit
genetischer Information eine enorme Bedeutung zu (Sass 2003; siehe auch
Sass in diesem Band). Gerade angesichts der noch so unsicheren, schwer
prognostizierbaren Entwicklungen besteht durchaus ein ethisch gebotener,
öffentlicher Bildungsauftrag von Public Health Genetik darin, die Bürger
zur eigenverantwortlichen Entscheidung überhaupt erst zu befähigen. Über
das Gut öffentlicher Debatten hinaus (vgl. 2.3) geht es bei der Befähigung
in diesem Fall darum, eine gerechte Bedingung zur Verfolgung eigener
Vorstellungen von Gutem bereitzustellen.
Daher mag auf der Schwelle von Rechtem und Gutem in solchen, von unterschiedlichen Vorstellungen des Guten geprägten Debatten darüber kontrovers debattiert werden,
527u
Ethik der Public Health Genetik
n ob durch Public Health Genetik das Verständnis der Gesellschaft von
Solidarität, Freiheit und Gleichheit im Umgang mit Gesundheit und
Krankheit verändert wird,
n ob durch die Berücksichtigung eines genetischen Risikobegriffs das
Verhältnis von Solidarität und Eigenverantwortung in der Sozialpolitik neu
bestimmt werden muss,
n ob wir uns von daher immer mehr zu einer Gesellschaft ungleicher
Risikogruppen entwickeln und wie diese neue mögliche Ungleichheit operationalisiert werden soll.
In jedem Fall ist bei geplanten rechtlichen Regulierungen der Vorrang
des Rechten vor dem Guten zu berücksichtigen. Zugleich darf nicht aus
dem Auge verloren werden, dass das Rechte in ethischer Perspektive nur
dann das Gerechte bleibt, wenn es den Bürgerinnen und Bürgern (und
nicht nur einflussreichen Lobbygruppen) die Möglichkeit bietet, auf die
jeweilige kulturelle Gestaltung des Rechten Einfluss zu nehmen. Diese
Einflussnahme setzt ihrerseits die Möglichkeit der Informationsgewinnung
wie Kommunikationsbefähigung voraus.
3.4.Mittlere Axiome
Auf der rechtsstaatlichen Schwelle von Rechtem und Gutem benötigt man
auf der Suche nach einem gesellschaftlichen overlapping consensus kriteriale Mindestbedingungen. Neben der Menschenwürde-Konzeption und der
formalen Grundunterscheidung von Rechtem und Guten dienen dabei vor
allem die sogenannten Mittleren Prinzipien. Sie artikulieren Standards der
Bestimmung des Gerechten, das bei unterschiedlichen Vorstellungen des
Guten vorausgesetzt werden muss, wenn man gesellschaftlich bioethische
Konfliktfelder zu gestalten sucht. Entsprechend hat auch eine Ethik für
Public Health Genetik sie zu berücksichtigen.
Bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts gab es kaum methodologische Bemühungen zu ergründen, was (bio-)medizinische Ethik oder
Ethik des Gesundheitswesens sein oder wie sie betrieben werden sollte.
Ethische Kodizes wurden innerhalb der medizinischen und pflegerischen
Professionen erstellt. Generaliter ging es darum, die Gesundheit des
Patienten zu fördern und gesundheitlichen Schaden zu minimieren. Durch
publik gewordene moralische Vergehen in der medizinischen Forschung
(z.B. die Tuskeegee Syphilis Studie, ganz zu schweigen von den Verbrechen
nationalsozialistischer „Forscher“ im Dritten Reich) wachgerüttelt, begann
eine explizite systematische Auseinandersetzung mit ethischen Grundlagen
für Medizin und biomedizinische Forschung. Eine zentrale interdisziplinäre Kommission, die 1974 gebildet wurde, um der gesteigerten Nachfrage
t528
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
nach ethischer Leitung zu entsprechen, war die US-amerikanische National
Commission for the Protection of Human Subjects of Biomedical and
Behavioral Research. In dieser Kommission kristallisierte sich der Wunsch
heraus, eine allgemeinverständliche gemeinsame Sprache für Ethik der
medizinischen Forschung zu finden. In Prinzipien fand man Vokabular, das
dieser Anforderung gerecht werden kann.
Der bei der Erstellung des Abschlussberichts – der später als The Belmont
Report bekannt wurde – federführende Philosoph dieser Kommission war
Tom Beauchamp. Beauchamps Arbeit für die Kommission verlief parallel zu seiner universitären Zusammenarbeit mit James Childress. Als
Ergebnisse wurden kurz hintereinander der Belmont Report (1978) mit den
Prinzipien „respect for persons“, „beneficence“ und „justice“ und die erste
Auflage des von Beauchamp und Childress geschriebenen Buchs Principles
of Biomedical Ethics (1979) veröffentlicht. In diesem Buch wird „respect
for persons“ zuerst als „autonomy“ und später als „respect for autonomy“
interpretiert und als zusätzliches Prinzip zu „beneficence“ und „justice“
noch „nonmaleficence“ geführt. Principles of Biomedical Ethics liegt derweil in der fünften Auflage vor (Beauchamp, Childress 2001) und gehört zu
den einflussreichsten bioethischen Werken, das neben seiner akademischen
Wirkung auch als praktisches Lehrbuch explizite Anwendung und Zuspruch
erfährt. Die in diesem Buch zuerst so explizierten Prinzipien prägen seitdem
bioethische Diskurse und dienen auch als Instrumentarium in Bewertungen
von Public Health und Public Health Genetik relevanten Berichten (Droste
/ Gerhardus / Kollek 2003; siehe auch Lühmann / Bartel / Raspe in diesem
Band). Häufig wird der Ansatz allerdings auch auf die Nennung der vier
Prinzipien reduziert. An diesen Aspekt knüpft Kritik an, mit der sich auseinandersetzen muss, wer politikberatende Berichte, die sich auf mittlere
Prinzipien stützen, verfasst.
Bernard Gert, K. Danner Clouser und Charles Culver bemängeln beispielsweise eine in der Praxis häufig beobachtete dogmatische Akzeptanz
und unreflektierte Anwendung der vier Prinzipien. Ihnen erscheinen
Beauchamp und Childress’ Prinzipien lediglich wie Checklisten, unfundierte Faustregeln oder sogar nur Erinnerungshilfen, da ihrem Ansatz keine
umfassende ethische Theorie zugrunde liegt (Gert, Culver & Clouser 1997).
Prinzipiismus („principlism“) ist ein Ansatz, definieren Gert et al., der
Prinzipien in den Mittelpunkt stellt, ohne eine Theorie vorzuweisen, aus der
diese abgeleitet werden. Hier wird einem Anthologie Syndrom stattgegeben,
in dem die Prinzipien unverbunden nebeneinander stehen, wodurch moralisches Denken undeutlich dargestellt und die Anwendbarkeit von Prinzipien
unmöglich wird.
529u
Ethik der Public Health Genetik
Beauchamp und Childress argumentieren, dass man bioethische Prinzipien
nicht allein aus einer Theorie generieren kann. Für sie ist es eindeutig,
dass eine prinzipielle Übereinstimmung über ethische Normen auf der
Generalisierungsstufe von Prinzipien geschehen kann, unbesehen möglicher
Hintergrundtheorien, die ohnehin erst nachträglich von den Theoretikern
konstruiert werden, um ihre moralische, prinzipielle Überzeugung zu
rekonstruieren. Dass sich Menschen auf Prinzipien einigen können, postulieren Beauchamp und Childress, ist aufgrund der Normen der „common
morality“ möglich, die man sich wie eine „initial shared data base” aller
Menschen vorstellen muss. Letztlich ist es auch für den Bereich der „public
policies“ – und so auch für das konkrete Anliegen, moralische Eckpunkte
für die Implementierung von Genetik in die Zielvorstellungen von Public
Health festzusetzen – nur notwendig, dass man eine Übereinstimmung
über Prinzipien hat und nicht über die Hintergrundtheorien. Insofern ist
für Beauchamp und Childress diese mittlere Axiomatik für die Anwendung
durchaus ausreichend und eine vielversprechende Ausgangsbasis, die zudem
eine weltanschauliche Offenheit in Bezug auf ethische Begründungen
respektiert.
Dass Beauchamp und Childress Prinzipien fokussieren, liegt also an ihrer
Überzeugung, dass Prinzipien auf einem abstrakten Niveau die generellsten
und umfassendsten moralischen Normen darstellen. Prinzipien sind für
Beauchamp und Childress prima facie gültig. Das bedeutet, dass sie nicht
absolut gelten, sondern abgewogen werden können. Wenn aber kein gewichtiger Grund dagegen spricht, gelten sie. Mit dieser moralpragmatischen
Regel wird natürlich keine moraltheoretische Begründung geliefert, aber
in heuristischer und genealogischer Perspektive die Beweislastigkeitsfrage
moralischer Bewertung, aber auch die Frage nach der semantischen Füllung
der jeweiligen mittleren Prinzipien gestellt. Ihre Prinzipiengruppe stellt
einen Rahmen dar, innerhalb dessen man moralische Probleme identifizieren und über diese reflektieren kann. Dieser Rahmen aus prima facie
Prinzipien ist inhaltlich noch nicht besonders gehaltvoll. Diese Prinzipien
sind noch „dünn“ und an sich nicht fähig, die moralisch relevanten partikularen Nuancen konkreter Umstände kontextsensibel zu adressieren. Es
können zwei Strategien angewandt werden, um Prinzipien stärker oder
„dicker“ zu machen: „balancing“ und „specification“. „Specification“
bedeutet, den Geltungsbereich der jeweiligen Norm zu verfeinern. Und
„balancing“ meint eine Gewichtung der Normen. Im „balancing“ werden
die Normen, die nur ein relatives Gewicht haben, gegeneinander abgewogen.
Diese Konfliktlösungsstrategie ist besonders zentral für die Erörterung von
Einzelfällen. Spezifikation sehen Beauchamp und Childress hingegen als
besser geeignet für die Entwicklung von politischen Handlungsstrategien,
t530
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
weil hier aus den abstrakteren Normen – also beispielsweise den vier
Prinzipien – Regeln konkretisiert werden. Die Spezifikation muss so geschehen, dass sie mit den anderen Normen noch kohärent ist. Hierbei werden
möglicherweise konfligierende Normen so lange ausdifferenziert, bis der
konkrete Konflikt gelöst ist. In einzelnen Fällen würde also ein spezifiziertes
Prinzip in seiner Ausformulierung die anderen Prinzipien mit berücksichtigen – beispielsweise indem diese das Prinzip flankieren oder „in check“ halten. Die Spezifikation von Prinzipien ist nach Ansicht von Beauchamp und
Childress besonders geeignet, um Leitlinien zu erstellen, weil hier generelle
Normen für konkrete Konfliktfelder ausdifferenziert werden. Von europäischen Kritikern wird angemerkt, dass andere Prinzipien, die besonders in
Europa gewachsen sind – wie bspw. Solidarität oder Verletzlichkeit – und
auch Tugenden bei Beauchamp und Childress nicht hinreichend berücksichtigt werden bzw. anstelle von Prinzipien fokussiert werden sollten. Letztlich,
so scheint es, obliegt es aber auch einer Interpretation der Prinzipien, was
diese jeweils bedeuten (je nach Interpretation resp. Spezifikation können
Solidarität und „justice“ oder Verletzlichkeit und „beneficence“ synonym
gebraucht werden). Eine sic et non Entscheidung, entweder auf „europäische“ Prinzipien oder die von Beauchamp und Childress zu rekurrieren,
wäre ein Dogma der gegenseitigen Ausschließlichkeit, das für Fortschritt im
bioethischen Diskurs wenig hilfreich ist (Häyry 2003).
In jedem Fall darf der Rekurs auf mittlere Prinzipien nicht darüber hinweg täuschen, dass die Gesellschaft als ganze sowie durch ihre Bürger,
Bürgergruppen, aber auch Interessensverbände vor der Aufgabe steht,
den hinter den mittleren Prinzipien stehenden moralischen Vorstellungen
wie wohlüberlegten moralischen Urteilen konkretes Leben einzuhauchen. Zu dieser anzuerkennenden Lebendigkeit gehört dann aber auch die
Anerkenntnis, dass bisweilen trotz „specification“ und „balancing“ der einzelnen Prinzipien es zwischen ihnen zu tief greifenden Konflikten kommen
kann (Leist 1998, 768; Dabrock 2002; Dabrock 2005). Dennoch helfen die
so verstandenen mittleren Prinzipien, im Dickicht angewandter Ethik zur
nicht unerheblichen Vorklärung, einen „overlapping consensus“ in einer
pluralen Gesellschaft zu finden. Zu ihrem neuzeitlichen Kern zählt dabei vor
allem der Autonomierespekt. Entsprechend verwundert seine Bedeutung für
Public Health Genetik nicht.
531u
Ethik der Public Health Genetik
3.5.Normative Implikate für Public Health Genetik aus
der individuumsbezogenen Humangenetik
3.5.1. Autonomierespekt durch Informed Consent?
Mit der Betonung auf „Autonomie“ und Autonomierespekt wurde ein medizinethisches Anliegen verfolgt, das in der Etablierung des Instruments des
„informed consent“ in medizinischer Praxis und Forschung eine ihrer wichtigsten Ausprägungen hat.
Das Ziel des „informed consents“ ist es, Patienten oder Probanden über
Verfahren und Risiken von medizinischen Interventionen hinreichend zu
informieren, damit diese wohlinformiert einer Behandlung oder einem
Versuch, dessen Chancen und Risiken sie mit Hilfe eines Arztes abschätzen können, aufgeklärt zustimmen. Nach einer informierten Zustimmung
soll diese Entscheidung als aufgeklärt und selbstbestimmt, als freiwillig
angesehen werden können. Die dahinter liegende Idee ist es, die Fähigkeit
zur Selbstbestimmung („Autonomie“) der Person zu respektieren und mit
diesem Modell dem Wandel einer paternalistischen Arztethik zu einer die
Würde des Patienten/Probanden respektierenden Ethik zu vollziehen. Man
könnte die Notwendigkeit, einen „informed consent“ vor substantiellen
Interventionen einzuholen, als eine Spezifikation des AutonomierespektPrinzips beschreiben.
Bedingungen für einen sinnvollen und effektiven „informed consent“ sind
die Fähigkeiten des betreffenden Probanden oder Patienten, die Reichweite
eigener Entscheidungen absehen und die Möglichkeit freiwillig entscheiden
zu können. Der Arzt muss in einem Aufklärungsgespräch die Informationen
offen legen und erklären, die für die geplante Intervention relevant sind
– wobei diese Relevanz sicherlich von Arzt zu Arzt verschieden interpretiert
wird: Ab welcher Wahrscheinlichkeit sind Risiken wichtig zu kommunizieren? Welche Informationen verunsichern den Patienten so sehr, dass der
therapeutische Nutzen einer Intervention fragwürdig wird?
Ferner sollte der Arzt, so wird oft gefordert, dem Patienten einen Plan
vorschlagen, wie in seinem Fall vorzugehen ist. Dies ist im therapeutischen Arzt-Patienten Verhältnis sicherlich von anderer Bedeutung als im
Verhältnis von Forscher zu Proband. Die dem Patienten bzw. Probanden
gegebenen Informationen müssen sodann von diesem verstanden werden,
soll ein gültiger „informed consent“ stattfinden. Nur dann kann der Patient
oder Proband sich autonom für die Intervention entscheiden, den behandelnden Arzt oder Forscher autorisieren und so letztlich die informierte
Zustimmung geben (Beauchamp & Childress 2001; Faden & Beauchamp
t532
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
1986, S. 235ff). Hier sind Elemente beschrieben, die – wenn sie erfüllt
werden – einen „validen“ „informed consent“ darstellen. Ob diese Validität
zumindest im therapeutischen Verhältnis immer erreicht wird, darf bezweifelt werden, befindet sich doch ein Patient oft in großer Not und möchte dem
Arzt einfach vertrauen. „Machen Sie, was Sie tun würden, wenn Sie an meiner Stelle wären!“ ist vermutlich ein oft gehörter Satz, weil das Vertrauen
in die Kunst des Arztes integratives Element der Arzt-Patient Beziehung ist.
Trost, Selbstvertrauen und klare Handlungsanweisungen durch den Arzt sind
häufig wichtige und gesuchte Kommunikationsformen. Aber es gibt auch Kritik am „informed consent“, der man sich für eine
mögliche Nutzung eines „informed consent“ in Public Health Genetik stellen muss. Der „informed consent“ erscheint für Kritiker vielmehr wie ein
ritualisierter Vertrauensbeweis des Patienten gegenüber dem Arzt als eine
wirkliche, faktische Einwilligung nach Aufklärung (vgl. die Diskussion in
Tauber 2003).
Gesunde Personen treffen Vereinbarung eher in der Sprache der „Verträge“.
Warum sollten gesunde Personen, die in Interaktion treten, also nicht „informed contracts“ etablieren, statt sich des Instruments des „informed consent“
zu bedienen? Der „informed consent“ etabliert einen stillschweigenden
(Behandlungs-)Vertrag. Warum diesen nicht explizieren? In der genetischen Forschung treffen sich häufig Gesunde, die ein partnerschaftliches
Abkommen schließen können. Natürlich muss ein „informed contract“
die auf für einen „informed consent“ grundlegenden Bedingungen wie
Freiwilligkeit und Offenlegung aller relevanter Informationen erfüllen.
Bietet ein „informed consent“ zumeist nur die Möglichkeit der Aufklärung
und Zustimmung (O’Neill 2002), also der Wahl eines „Alles oder Nichts“,
liegt es im Wesen eines Vertrags, Details festzulegen und gegebenenfalls sogar auszuhandeln. Da die Probanden solcher genetischer Studien
oft gesund sind, bietet sich für diese mehr Zeit zur Reflexion und freien
Entscheidung. Individuell könnte ausgemacht werden, ob Spender über
mögliche genetische Ergebnisse, die individuell für sie interessant sein
könnten, informiert werden.
Auch hat der „informed consent“ selten die Möglichkeit eingeräumt, dass
es Möglichkeiten gibt, die in der Forschung gewonnenen Gewebe und
Daten für verschiedene, auch noch nicht festgelegte Zwecke über längere
Zeiträume zu speichern und zu verwenden. Diesem Aspekt, dass man gewisse
Gewebeproben schon aus frühen, alten Studien besitzt, aber nicht weiß, wie
oder ob man diese nutzen darf, weil speziell hierfür kein „informed consent“
533u
Ethik der Public Health Genetik
vorliegt, kann man in einem Kontraktmodell besser begegnen. Der mögliche
Nutzen, der sich für Proband und seine Familie aus der Forschung ergeben
würde, ist bisher selten im „informed consent“ berücksichtigt worden (Sass
2001; siehe auch Sass in diesem Band). Die beiden Vertragspartner können
die Verträge individuell gestalten. In den Verträgen können sie festlegen, ob
oder was Probanden wissen möchten oder ob von den Probanden Interaktion
der Forscher in der weiteren Familien gewünscht wird oder nicht. In einem
Vertrag können beide Seiten ihre Rechte und Pflichten besonders gut definieren.
3.5.2. Autonomierespekt durch Vertraulichkeit
3.5.2.1. Datenschutz, Schweigepflicht
Im Bewusstsein, dass eine „Schweigepflicht des Arztes“ besteht (rechtlich
festgeschrieben in § 203 StGB), geben sich die meisten Patienten heutzutage zufrieden, um ein vertrauensvolles und offenes Verhältnis zu ihrem
Arzt zu pflegen. In der Regel haben sie keine Angst, dass sie stigmatisiert
oder gesellschaftlich gar ausgeschlossen werden, wenn sie wegen tabuisierter Krankheit oder Symptome (zum Beispiel Hämorrhoiden, Verletzung
aufgrund ungewöhnlicher sexueller Praktiken oder Fußpilz) bei ihrem
Arzt waren. Dass die gewonnenen und dokumentierten Informationen,
seien sie direkt gesundheitsbezogen oder familiär-sozialer Natur, dabei das
intime Verhältnis von Patient und Arzt verlassen, wird oftmals übersehen.
Praxismitarbeiter, Apotheker, weitere Ärzte und Pflegepersonal erhalten
Einblick in diese Informationen, wenngleich sie die Informationen auch
vertraulich handhaben sollen.
Für Macklin hat die Annahme, dass genetische Informationen vertraulich
behandelt werden sollen, zwei Grundlagen. Eine Grundlage findet diese
Annahme darin, dass in westlichen Kulturkreisen die Privatsphäre geachtet
wird. So ist es relativ unproblematisch, wenn der Arzt intime Fragen stellt.
Die zweite Grundlage dieser Annahme sieht Macklin in der Rolle des Arztes
und des Zwecks des Arztbesuchs, dem Patienten zu helfen, also dem Prinzip
„beneficence“ zu folgen (Macklin 1992).
Es scheint entsprechend nicht unplausibel zu folgern, dass die Schweigepflicht
des Arztes und der Datenschutz, so wie es für bisherige medizinische
Informationen galt, auch für genetische Informationen aufrecht erhalten wird
– und andere Personen einschließt, die die Ergebnisse genetischer Diagnostik
erfahren (beispielsweise Labormitarbeiter). Diese Personengruppen können
ggf. auch explizit in den Personenkreis aufgenommen werden, den § 203
StGB festschreibt (Deutscher Bundestag 2002).
t534
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Ärztliche Schweigepflicht und Datenschutz müssen vermutlich für den
Bereich der genetischen Intervention nicht strenger reguliert werden als bei
anderen medizinischen Interventionen. Datenschutz, Schweigepflicht und
Respektierung der Privatsphäre allein können aber nicht die Lösung aller
Informationsprobleme für die Konfliktbereiche der genetischen Information
sein (Schröder 2004). Einige Herausforderungen werden im Folgenden
gezeigt.
3.5.2.2. Datenübermittlung zu Partnern und Verwandten
Die Schweigepflichtproblematik ist ein Thema der Bioethik seit den frühen
Tagen dieser Disziplin. Prominent diskutiert wurde der „Tarasoff Fall“, in
dem der Student Prosenjit Poddar seine Kommilitonin Tatiana Tarasoff nach
Vorankündigung bei seinem Psychologen Lawrence Moore, der Tarasoff
nicht warnte, tötete.
Schweigepflicht, Datenschutz und medizinische Informationen treffen
im familiären Kontext, der für die Genetik als Lehre von der Vererbung
natürlich von besonderer Wichtigkeit ist, in verschiedenen Konfliktfeldern
zusammen. Soll ein Hausarzt einer unwissenden Ehefrau sagen, dass sich
ihr Ehemann mit HIV infiziert hat? Wo ist die Grenze der Vertraulichkeit
medizinischer Informationen? Wann ist das Potential der Drittschädigung
so groß, dass diese Informationen weitergegeben werden müssen und gegen
das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Person verstoßen werden kann?
Dass dies nur im äußersten Einzelfall geschehen kann, ist allein deshalb
offensichtlich, weil ansonsten das notwendige Vertrauensverhältnis von
Patient zu Arzt unterwandert und ausgehöhlt würde und ganze gesundheitssystemische Institutionen in Frage gestellt würden. Dass diese Weitergabe
von Informationen noch nicht gerechtfertigt ist, wenn es darum geht, im
Einzelfall einem Betrieb oder einer Versicherung bessere Bilanzen zu verheißen, scheint plausibel.
Es gibt empirische Hinweise, dass im Bereich der genetischen Prädiktion
Betroffene dazu tendieren, ihr genetisches Wissen generell den anderen Familienmitgliedern mitzuteilen (Smith, Croyle 1995). Somit kann
Information innerhalb der Familie als Stigmatisierungs- und Diskriminierun
gsgrundlage dienen. Ein Verweis auf die Möglichkeit, den Status „einfach“
nicht weiter zu sagen, scheint eher für Ausnahmefälle zuzutreffen. Auch ist
es im Einzelfall durchaus sinnvoll – ja vielleicht sogar moralisch geboten
–, anderen Familienmitgliedern von einem genetischen Status zu erzählen,
damit diese entscheiden können, wie sie mit ihrem persönlichen Risiko umgehen. Vielleicht können aufgrund der Informationen Präventionsmaßnahmen
folgen oder Lebenspläne geändert werden.
535u
Ethik der Public Health Genetik
Mit der Möglichkeit der genetischen Prädiktion wird es entsprechend auch
Problemsituationen im Zusammenhang mit der Schweigepflicht geben. Eine
Motivation für eine Person, ihr Wissen über ihre Prädisposition nicht an relevante Verwandte weiter zu geben, kann die Angst vor Exklusion, Vorwürfen,
Stigmatisierung und Diskriminierung innerhalb der Familie sein. Eine Frage
in diesem Kontext ist dabei, wann es geboten erscheint, seine „Privatsphäre“
mit anderen zu teilen. Zimmerli beantwortet diese Frage wie folgt: „It is
quite obvious that every human being has a moral right to preserve his/her
genetic privacy, at least to the same extent as he/she has the right to preserve
his/her social privacy. However, it is equally obvious that nobody should be
entitled to claim genetic privacy if somebody else, and/or a higher value,
would be seriously endangered by it. On the basis of this we already see
that genetic privacy is not an unconditionally defendable ‚categoric’ good.
Given, for example, that knowledge about the genetic constitution of a given
person could help to protect other people, or to prevent the person concerned
from committing criminal acts, it would not be sufficient to claim individual
genetic privacy.“ (Zimmerli 1990, S. 96; HiO)
Konfliktfälle können auftreten, wenn der behandelnde Arzt oder Berater
erkennt, dass gegen die Interessen eines Verwandten oder Partners vehement verstoßen werden. Soll der Arzt jemandem sagen, dass er im Risiko
zu einer Krankheit steht, die man gegebenenfalls positiv beeinflussen
kann? Dürfen Kinder testen, wenn Eltern ihren Status nicht wissen wollen?
Abgesehen von den plausiblen moralischen Ausführungen, die Zimmerli
darstellte, stellt sich die Frage, wie diese Konflikte rechtlich gelöst werden können. Hier besteht Diskussions- und Handlungsbedarf, denn diese
Konfliktfälle von Schweigepflicht auf der einen Seite und Schadensverbot
und Chancengleichheit auf der anderen Seite werden sehr häufig in
Stellungnahmen oder „Policy Papieren“ nicht berücksichtigt.
Hier hat der Schweizer Gesetzvorentwurf „Bundesgesetz über genetische
Untersuchungen beim Menschen“ eine Differenzierung und institutionelle
Möglichkeit explizit berücksichtigt, wie mit solchen Konfliktfällen umgegangen werden kann. Es wird vorgesehen, dass Ärzte in Konfliktsituationen eine
Entbindung vom Berufsgeheimnis bei einer kantonalen Behörde beantragen
können, um überwiegende Interessen von Verwandten oder (Ehe-)Partnern
zu wahren. Die Behörde hat die Möglichkeit, eine Expertenkommission
zur Beratung zu hören (Die Bundesversammlung der Schweizerischen
Eidgenossenschaft 2002).
t536
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
3.5.2.3. Datenübermittlung zu Versicherungen und Arbeitgebern –
Das Beispiel gendiagnostischer Prädiktion
Wenn sich Gendiagnostik bevölkerungsbezogen ausweitet, werden Konflikte
mit Versicherungen und in der Arbeitswelt virulent. Die Initiative „1000
Fragen“ hat im Zusammenhang mit postnataler genetischer Prädiktion eine
Frage zum Versicherungswesen auf einem Plakatmotiv dargestellt. Die
Frage, die M.S. aus Wetzlar zugeordnet wird, lautet: „Will ich alles wissen
oder nur meine Versicherung?“3
Der Versicherer will – so versichern uns Versicherer (vgl. Artikel von
Wandl in diesem Band) – nicht unbedingt alles wissen (und wenn er
wollte, dürfte er auch nicht alles wissen). Der Versicherer will nur wissen,
was der Versicherungsnehmer auch weiß, um eine faire Wissensparität
zu bekommen. Da der Versicherer aber nicht immer wissen kann, was
der Versicherungsnehmer weiß, ergeben sich Probleme. Wer selbst nichts
über seinen genetischen Status wissen will, muss eventuell in Kauf nehmen, eine Versicherung nicht oder nur mit Risikoausschluss zu bekommen. Diese Einschränkungen gelten aber nicht nur für Gentests im
Kontext der Versicherungen, sondern auch bei der Risikobewertung eines
Versicherungsbewerbers für Cholesterinspiegel, Bluthochdruck und für
die versicherungsmathematische Einschätzung anderer Risikofaktoren
(von Beruf bis Lebensstil). Dies erscheint solange mit einem gerechten
Versicherungssystem vereinbar, solange eine Grund(ver)sicherung jedem
Menschen garantiert ist, die ihm eine Freisetzung der Handlungsfähigkeit
und „Befähigung zu einer längerfristig integral-eigenverantwortlichen
Lebensführung zum Zwecke der Teilnahmemöglichkeit an sozialer
Kommunikation“ (Dabrock 2001, S. 206; HiO) ermöglicht. So wäre die
Nutzung von Gendiagnostik beziehungsweise die Einbeziehung ihrer
Ergebnisse in die medizinische Risikofaktorenabschätzung der privatwirtschaftlichen Versicherer gerechtigkeitstheoretisch zulässig, solange
eine Sozialversicherung beziehungsweise gesicherte Privatversicherung
Befähigung absichert.
Im Bereich der Arbeitswelt ist nach weiterer Verbreitung prädiktiver
Gendiagnostik folgendes Szenario denkbar: Ein Bewerber legt ein
Gesundheitszeugnis vor, aus dem hervorgeht, dass er für keine spätmanifesten Krankheiten oder Suszeptibilitäten prädispositioniert ist oder dass er
andere „gute Gene“ hat. Ein Mitbewerber will aber kein solches Zeugnis
vorlegen. Wie sollte der Arbeitgeber mit einer solchen Situation umgehen
(dürfen)? Der Arbeitsplatz, um den sich die Bewerber bemühen, bedeutet
kein Sicherheitsrisiko bei einem Krankheitsschub oder -ausbruch. Es ist auch
3
http://www.1000fragen.de/index.php?mo=4&pt=3&pi=25
537u
Ethik der Public Health Genetik
kein Beruf, in dem man mit bestimmten arbeitsplatzspezifischen Stoffen,
die bei bestimmten Menschen krankheitswertige Reaktionen hervorrufen
können, in Berührung kommt. In einem solchen Fall darf der Arbeitgeber
wohl nicht verlangen, seine Arbeitnehmer zu testen, oder gendiagnostische
Informationen, die vom Arbeitnehmer vorgebracht werden, verwenden.
Eine Möglichkeit wäre, dem Arbeitnehmer mit dem Gesundheitszeugnis
gesetzlich zu verbieten, dieses vorzuzeigen, wohingegen der Arzt, der den
Arbeitnehmer auf seine Eignung untersucht, später nur seine arbeitsplatzspezifische Eignung überprüft.
Dem Amts- oder Betriebsarzt kommt daher in Zukunft wohl generell
eine neue, besondere Verantwortung zu: Er muss wissen, ob relevante
Prädispositionen – um die er vom Arbeitnehmer weiß – ein berufsbezogenes Sicherheits- oder Gesundheitsrisiko ausmachen. Ist dies der Fall,
kann er dem Arbeitgeber die Einstellung nicht empfehlen; der Arbeitnehmer
sollte aber die Chance erhalten, durch einen Gentest eine mögliche
Nichtbetroffenheit nachzuweisen, durch die das Wissen um das familiäre
Risiko gegenstandslos wird. Sollte das Ergebnis negativ ausfallen, die
Person aber trotzdem aufgrund dieses „Gesundheitsrisikos“ nicht eingestellt
werden, läge hier eine klare Diskriminierung vor. In dieser Hinsicht ist diese
Untersuchungsmethode nur eine Weiterführung bisheriger Methoden.
In Fällen dagegen, in denen kein Gesundheits- oder Sicherheitsrisiko an
dem zur Disposition stehenden Arbeitsplatz besteht, muss der Betriebsarzt
das Wissen um die Prädisposition des Bewerbers für sich behalten und kann
„grünes Licht“ für die Einstellung geben. Die Gesundheitsinformationen,
die der Betriebsarzt gewonnen hat, müssen vor dem Arbeitgeber vertraulich
behandelt werden. Vergessen werden darf aber nicht, dass für Arbeitnehmer
Gendiagnostik vor der Einstellung prinzipiell auch Chancen darstellen kann:
„Insgesamt können genetische Analysen bei sinnvollem Einsatz eine wertvolle Hilfe für die Berufs- und Lebensplanung sein.“ (Hennen et al. 2001,
HiO) Ein Beispiel wäre, wenn vor der Wahl der Lehre festgestellt werden
kann, dass jemand empfindlich auf Stoffe reagiert, mit denen er in dem angestrebten Beruf unweigerlich zu tun hat (Beispiel: Bäckerasthma). Ein allgemeines „Screening“ des Arbeitnehmers auf alle spätmanifesten und multifaktoriellen Krankheiten, die testbar sind, ist im Interesse des Arbeitnehmers
nicht sinnvoll. Hier sollten die Interessen des Arbeitnehmers die des
Arbeitgebers überwiegen, da ersterer innerhalb des Arbeitsverhältnisses
zumeist in einer schwächeren Position ist. Der Arbeitgeber trägt so weiterhin wie bisher das Risiko der Erkrankung seines Arbeitnehmers (wie auch
durch Unfall etc.). Sollte der Arbeitnehmer vor seiner Einstellung von einer
genetischen Prädisposition wissen, sollte er vielleicht sogar lügen dürfen,
t538
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
wenn das Wissen nicht für den betreffenden Arbeitsplatz in Bezug auf Dritte
relevant ist (z.B. größeres Unfallrisiko).
Zusammenfassend formuliert: Gleiche Chancen muss es für die geben, die
für einen Arbeitsplatz gleich qualifiziert sind, unbesehen ihrer allgemeinen gesundheitlichen (probabilistischen) Zukunft – aber nicht unbesehen
möglicher arbeitsplatzspezifischer Suszeptibilitäten, die krankheitswertige
Auswirkungen für den Arbeitnehmer haben können, oder wenn durch genetische Prädispositionen ein Sicherheitsrisiko besteht.
3.5.3. Verfahrenselemente
3.5.3.1. Arztvorbehalt vs. Arztoption?
Vermutlich werden, auch um Public Health Ziele zu verfolgen, Gentests weitere Verbreitung finden. Dabei wird von einigen Personen und Institutionen
gefordert, einen Arztvorbehalt für Gentests zu etablieren. Ein Arztvorbehalt,
der auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als unentbehrlich erachtet wird, bedeutet, einen Gentest nur bei ärztlicher Indikation
„flankiert durch eine Verschreibungspflicht“ (Taupitz 2000, S. 38; vgl.
Deutsche Forschungsgemeinschaft 2003). als zulässig zu sehen. Dadurch
soll gewährleistet werden, dass die Ratsuchenden fachkundige Beratung
und Interpretation der Ergebnisse bekommen. Auch die Bundesärztekammer
votiert für einen Arztvorbehalt. Sie argumentiert mit dem Hinweis, dass
genetische Prädiktion kein eindeutiges Wissen liefert und deshalb fachkundiger Interpretation bedarf (Bundesärztekammer 2003, S. 1298).
Aber es gibt natürlich auch Einwände gegen einen Arztvorbehalt, die im
Folgenden den Vorteilen gegenüber gestellt werden sollen.
„Als Einwände gegen einen Arztvorbehalt werden diskutiert:
n Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Testwilligen
n Die Ausführung des Rechts auf Wissen von Menschen wird eingeschränkt
n Ärztinnen und Ärzte werden berechtigt, Befunde zu erheben, die per definitionem medizinisch irrelevant sind
n Einschränkung der Berufsfreiheit derjenigen, die genetische Analysen
inklusive Beratung ohne ärztliche Approbation anbieten wollen
Als Vorteile eines Arztvorbehaltes sind zu bewerten:
n Beschränkung der Durchführung von Gentests auf das etablierte System
der medizinischen Versorgung
539u
Ethik der Public Health Genetik
n Qualitätssicherung
n Der Einzelne wird davor geschützt, mit den Ergebnissen von Gentests
unsachgemäß umzugehen (Unterstützung der Selbstbestimmung des
Individuums)
n Daten fallen unter das Arztgeheimnis
n Verhinderung eines ‚freien Testmarktes’“ (Geisler 2001, HiO)
Der dritte Einwand scheint wenig plausibel. Ärzten ist es bereits zu Recht
gestattet, „medizinisch irrelevante“ Befunde zu erheben beziehungsweise
medizinisch irrelevante Handlungen durchzuführen. Als Beispiel sei hier das
Polieren von Zähnen genannt. Es erscheint überzeugender, wenn bestimmte
„per definitionem medizinisch irrelevant[e]“ Leistungen besser von Ärzten
durchgeführt werden als von niemandem oder von „Quacksalbern“ oder
„Scharlatanen.“ Der vierte Einwand ist sehr schwach, weil es auch andere
Handlungen gibt, die Nicht-Ärzten verboten sind.
Die ersten beiden Einwände hingegen sind gravierender; sie sind allerdings grundlegend identisch: Es geht hier um die Einschränkung der
Selbstbestimmung des mündigen Bürgers. Diese Einwände würden dann
unterminiert, wenn jeder Bürger bei Ärzten niederschwellig und günstig
Gentests durchführen könnte: Entweder sie sind medizinisch indiziert und
werden sogar von der Krankenversicherung bezahlt, oder sie werden wie
individuelle Gesundheitsleistungen (IGEL) gehandhabt respektive von einer
möglichen individuellen privaten (Zusatz‑)Versicherung abgedeckt. Bei
einem solchen Modell kommt der Ratsuchende, der die Möglichkeit hat,
jede Prädisposition, die testbar ist, zu testen, in den Genuss der Vorteile
eines Arztvorbehalts, die Geisler in Punkten zwei bis vier nennt.
Eine Schwierigkeit des Arztvorbehalts ist, dass er nicht praktikabel sein
beziehungsweise vom Internetmarkt unterminiert werden könnte – vor allem
dann, wenn bei einem virtuellen medizinischen Tourismus ausländische
Angebote über das Internet auch von deutschen Bürgern bequem genutzt
werden können. Diese Unterminierungspraxis könnte allerdings wiederum unterminiert werden, indem man nahezu alle möglichen Tests, also
auch die „lifestyle-Tests“, einfach und kostengünstig – beziehungsweise
kostenlos bei medizinischer Indikation – beim Arzt bekommt; zumindest
eine Beratung, die losgekoppelt von dem käuflichen Erwerb eines Tests
ist. Dadurch ist zumindest auch ein sachgemäßeres Verständnis durch
die Interpretation des Arztes gegeben, sofern dieser dafür ausgebildet ist.
Die krankheitsbezogenen Gentests sollten ohnehin in die grundlegenden
medizinischen Versorgungsleistungen aufgenommen werden (beziehungsweise dort bleiben). Wenn sich ein Arztvorbehalt durchsetzt, muss also
t540
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
zugleich gesichert sein, dass alle gesundheitsbezogenen Gentests von der
gesetzlichen Krankenversicherung abgesichert werden beziehungsweise
dies zum Basispaket von privaten Krankenversicherungen gehören sollte
und ferner auch nicht solidarisch finanzierte Gentests über den Arzt oder
Berater – gegen eigene Bezahlung – erfolgen können, damit sachgemäße
Interpretation gewährleistet bleibt.
Jedoch liegt dem Arztvorbehalt ein Wertungswiderspruch zugrunde,
der sich auf die Mündigkeit des Ratsuchenden bezieht. Mit gleicher
Begründung des Arztvorbehalts dürften nämlich auch Schwangerschaftstest,
Blutdruckmessgeräte oder ähnliches nicht in Apotheken, Supermärkten
und Drogerien verkauft werden, weil diese viele Eigenschaften mit prädiktiven Gentests teilen. Auch wenn ihre Ergebnisse nicht so interpretationsoffen sind, so können sie doch falsch sein (zum Beispiel durch falsche
Anwendung) und gerade Schwangerschaftstests können einzelnen (beispielsweise jungen Teenagern) nahezu „fatales Wissen“ liefern, das ebenfalls mehrere Menschen anbelangt.
Wenn also problematisch am Arztvorbehalt ist, dass er die Möglichkeit des
mündigen Ratsuchenden nicht genügend respektiert und für ihn nur unter
Inkaufnahme eines Wertungswiderspruchs argumentiert werden kann, könnte
dann ein eingeschränkter Markt mit Zertifizierungsmethoden eine Option
sein. Zertifizierte Gentests könnten außerhalb der Arzt- oder Beraterpraxen
verkauft oder angeboten werden; zum Beispiel in Apotheken, wo Bürger
bereits Blutdruck, Gewicht, Blutzucker etc. messen lassen können. Hier
könnte eine „Drogerien-“ oder „Apothekenpflicht“ gelten. Dies könnte
beispielsweise für Tests gelten, die zwar krankheitswertige Aussagen, aber
kein „fatales Wissen“ (wie beispielsweise ein Test auf die Huntingtonsche
Krankheit) liefern können – wie dies im Zusammenhang mit den für Public
Health Genetik besonders relevanten multifaktoriellen Volkskrankheiten der
Fall ist – und deren Ergebnis und dessen Implikationen leicht verständlich
für den Laien sind (sofern solche Tests dereinst verfügbar würden). Wenn
ein Test, den der Bürger beispielsweise in einer Apotheke durchführt, positiv
ist, kann er dies außerdem – genau wie bei diagnostiziertem Bluthochdruck,
hohem Blutzucker oder nach festgestellter Schwangerschaft – zum Anlass
nehmen, einen Arzt aufzusuchen.
Diese zertifizierten Tests, die man dann in Apotheken und/oder Drogerien
erwerben könnte, müssten aber nicht wahrgenommen werden und würden
vermutlich weniger nachgefragt werden, wenn es weiterhin die Arztoption
gibt, die bedeutet, dass alle Gentests niederschwellig über den Arzt zugänglich sind – eine Arztoption wäre also wie ein Arztvorbehalt mit der kleinen
541u
Ethik der Public Health Genetik
Einschränkung, dass zertifizierte Gentests, die kein fatales Wissen liefern
können, auch anders erwerbbar sind.
3.5.3.2. Was bedeutet Bindung an Gesundheitszwecke für Public
Health Genetik?
Die Verfügbarkeit genetischer Diagnostik könnte ferner, wie bereits angesprochen, über eine Bindung von Gendiagnostik an Gesundheitszwecke reguliert
werden. Bedeutet Bindung an Gesundheitszwecke oder medizinische Zwecke
jedoch, nur solche Gentests zu erlauben, die therapeutische oder präventive
Maßnahmen nach sich ziehen lassen können, wäre dies wenig plausibel. In
dem Fall könnten zum Beispiel außer im Bezug auf Familienplanung keine
Tests auf die Huntingtonsche Krankheit zugelassen werden. Gentests auf die
Huntingtonsche Krankheit können aber individuell sehr sinnvoll sein, auch
um fernab der Familienplanung die eigene Lebensplanung beeinflussen zu
können. Und Personen, die schon mit einem solchen familiären Schicksal
belastet sind, sollten nicht hier auch noch bevormundet oder gezwungen
werden, ihren Wunsch zu pathologisieren, damit ihm Folge geleistet werden
kann. Überzeugender ist es, nur diejenigen Tests solidarisch zu finanzieren,
die aussagekräftig sind und gesundheitlichen Nutzen mit sich bringen und
etwas weitläufiger auch die Lebensplanung beeinflussen können.
4. Public Health Genetik und soziale Gerechtigkeit
In den bisherigen eher auf die Schutz- und Entfaltungsmöglichkeiten des
Einzelnen zielenden Ausführungen wurde schon mehrfach vom ethischen
Kriterium der Befähigung zur eigenverantwortlichen Lebensführung ausgegangen. Spätestens an dem Punkt, an dem deutlich wird, dass diesem
individuumsbezogenen Anspruchsmaß immer auch ein gesellschaftliches
Verpflichtungsmaß entspricht, muss sich die Blickrichtung hinwenden zur
sozialtheoretischen Begründung des Befähigungskriteriums aus dem sozialethischen Grundkriterium der Gerechtigkeit. Damit bekommt ein weiteres
der mittleren Prinzipien für die Ethik von Public Health Genetik materielle
Konturen. Dass Gerechtigkeit bei der Gestaltung von Public Health Genetik
prägend sein muss, lässt sich durch einen einfachen Syllogismus zeigen:
„Gerechtigkeit ist die höchste Tugend sozialer Institutionen.“ (Rawls 1975,
S. 17). So steht es auf der ersten Seite eines der einflussreichsten Werke der
neueren Philosophiegeschichte: der voluminösen Theorie der Gerechtigkeit
von John Rawls. Public Health Genetik meint – wie erwähnt – die Integration
genetischen Wissens in Public Health. Public Health zielt auf die öffentliche
Sorge um die Gesundheit aller und wird von öffentlichen oder paraöffentlichen Institutionen verantwortet. Deshalb muss Public Health Genetik wie
t542
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Public Health sich mit der ersten Tugend sozialer Institutionen, der sozialen Gerechtigkeit auseinandersetzen. Entsprechend diesem Syllogismus
wird erst die Entfaltung des mittleren Prinzips „Gerechtigkeit“ durch das
schon mehrfach erwähnte, aber noch nicht hinreichend begründete Maß der
Befähigung dargestellt, um anschließend zu zeigen, wie sich dieses auf die
Fragen der Genetik in der öffentlichen Gesundheitsversorgung auswirkt.
4.1.Auszuschließende soziale Verpflichtungsrelationen
in der „sozialen Demokratie in den Formen des
Rechtsstaats“
Weil die „soziale Demokratie in den Formen des Rechtsstaats“ (BVerfGE
5, 85/198) keine weltanschauliche Werte- und Lebensdeutungsgemeinschaft
bildet, sondern weil der moderne Rechtsstaat zunächst nur die Freiheit des
einen gegen die Freiheit des anderen zu schützen hat, können in seinem
Rahmen moralisch-perfektionistische oder umfassende Programme wie beispielsweise eine bestimmte gesundheitsförderliche Lebensweise nicht verallgemeinert werden. Zudem können pauschale Ansprüche auf strikte soziale
Gleichheit auch nicht vor dem eigentumstheoretischen Axiom der Neuzeit
bestehen; schließlich implizieren solche Forderungen, sollen sie sozialrechtlich durchgesetzt werden, zwangsbewehrte Umverteilungsstrategien
und damit Eingriffe in Eigentum und Freiheit der Bessergestellten. Zudem
widersprechen sie dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, der ja festlegt,
dass Gleiches gleich und folglich Ungleiches ungleich zu behandeln ist.
Dabei stünden sie ferner kontrovers zum Solidaritätsgrundgedanken, dass
der Kranke und nicht der Gesunde der Hilfe (vgl. Mk 2, 17) und folglich
ersterer eines größeren Anteiles an möglichen Umverteilungen oder gemeinsamen Ressourcen bedarf.
Aber auch andere sozialethischen Alternativkandidaten halten der Prüfung
für die Bestimmung sozialer Verpflichtungsrelationen nicht stand: Reine
Nutzentheorien können ausgeschlossen werden, weil sie die Suche nach
dem Guten nicht mit der Achtung der Rechte jedes Einzelnen verknüpfen (Höffe 1987). Insofern das Verständnis von Wohlergehen stark von
subjektiven Empfindungen abhängt, sind darauf aufbauende Theorien
nicht verallgemeinerungsfähig (Pauer-Studer 2000) und insofern für die
pragmatische Ausgestaltung sozialer Gerechtigkeit unbrauchbar. Radikale
Freiheitstheorien blenden die politische Notwendigkeit ab, grundlegende
Rechte für jede Person anzuerkennen; sie leben a) theoretisch vom
Abgrenzungsgestus gegenüber einem verzeichneten Egalitarismus, der eben
nicht eine strikte, sondern nur eine Chancengleichheit zu erreichen sucht,
b) politisch-pragmatisch von der Missachtung des Umstandes, dass auf
breiter Basis öffentliche Gelder öffentliche Güter (Forschung etc.) investiert
543u
Ethik der Public Health Genetik
wurden, deren Erträge nach dieser Theorie nun rein marktwirtschaftlich
abgeschöpft werden sollen. Das ist jedoch eine so nicht zu akzeptierende
Ursprungsvergessenheit.
4.2.Decent minimum statt minimales Minimum
Wenn eine im weltweiten Maßstab betrachtet als halbwegs wohlgeordnet
und stabil zu charakterisierende Gesellschaft unter den Rahmenbedingungen
des modernen, freiheitlich-liberalen, demokratischen, und auch das sei nicht
vergessen: sozialen Rechtsstaats gerecht sein will (und sei es unter dem
Nutzengesichtspunkt der Bewahrung ihrer Stabilität), dann kann sie das
inhaltliche Maß der sozialen Gerechtigkeit nicht als minimales Minimum
festlegen (verfassungsrechtlich definiert als Existenzminimum gemäß Art.
1 + 2 GG). Vielmehr muss sie sich um ein decent minimum, ein anständiges Minimum bemühen. Was ein decent minimum auszeichnet, wird zwar
gesellschaftlich debattiert und mag sich von Gesellschaftsformation zu
Gesellschaftsformation aufgrund seiner konstitutiven Kontextgebundenheit
unterscheiden. Seine Bestimmung muss sich jedoch zumindest an den
gesellschaftlich vorhandenen Konditionalgütern orientieren. Zu ihnen zählen materielle ebenso wie ideelle Güter wie z.B. Achtung und Anerkennung.
Eine Bereitstellung von solchen Konditionalgütern darf sich begründungstheoretisch nicht nur aus politischer Solidarität oder aus der Wohltätigkeit
von Bessergestellten ableiten, sondern erfüllt das begründungstheoretisch
höher stehende Kriterium eines gerechten Anspruchs.
Gegen die minimalistische Variante und für das anständige Mindestmaß
sprechen moralische Intuitionen und diverse ethische wie sittlich-politische
Rechtfertigungsstrategien: Eklatante Ungleichheiten, die die einen überproportional übervorteilen, während die anderen von fast allen Formen sozialer
Kooperation ausgeschlossen würden, führen bei vielen Menschen (zumindest im Nahbereich) zu Protest- oder Empörungsreaktionen. Ein (mehr oder
minder) ausgeprägter Sinn für Ungerechtigkeit scheint sich in fast allen
bei der Wahrnehmung extremer Ungerechtigkeiten zu regen. Internationale
Menschenrechtsabkommen, die inzwischen schon als globales, auf jeden
Fall als europäisches Ethos gelten können, leiten aus der allen Menschen
zugesprochenen Menschenwürde nicht nur bürgerliche Freiheit, politische
und rechtliche Gleichheit, sondern auch das Recht auf Teilhabemöglichkeit
am gesellschaftlichen Leben ab. Laut der in vielen Kulturen sich findenden
Goldenen Regel als auch insbesondere ihrer moraltheoretischen Vertiefung
im kategorischen Imperativ sind solche Handlungen und Entscheidungen
zu verallgemeinern, die in jedem Menschen einen Selbstzweck sehen,
dem mit innerem Respekt zu begegnen ist. Auch mit vertragstheoretischen
Gedankenexperimenten lässt sich weniger emphatisch rechtfertigen, dass
t544
Genetik in Public Health
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auch gemäß eigennützigem Kalkül Anderen Lebenschancen zur Verfügung
gestellt werden müssen. Selbst die minimalistische Anspruchstheorie der
Gerechtigkeit, die nur das als gerecht betrachtet, was unter Beachtung fairer
Verfahren angeeignet oder übertragen wurde, ist so auslegbar, dass zur fairen
Prozeduralität die Befähigung zur Aneignung und Übertragung zählt.
4.3.Chancengleichheit als erste Präzisierung des decent
minimum
Bei der Bestimmung des decent minimum spielt der Verursachungshintergrund
ebenso eine Rolle wie der Zweck und das Maß der Zuteilung: Insofern das
decent minimum eines liberalen-demokratischen Rechtsstaats zunächst
impliziert, dass Autonomierespekt Vorrang vor Umverteilung nach sich
ziehenden Gleichheitsansprüchen besitzt, erscheinen vielen (jenseits eines
minimalen Minimum) nur solche Ungleichheitsfolgen in der Gesellschaft
kompensationsfähig und können als Pflichtgrund für eine Redistribution
der Bessergestellten angesehen werden, die aus einer nicht verschuldeten
Konstellation resultieren. (Über private Absicherungen und Versicherungen
ist damit nichts ausgesagt.)
Im Nachgang zu dieser Weichenstellung ist allerdings wiederum strittig, ob das Nichtverschuldungsprinzip nur für gesellschaftlich bedingte
Ungleichheiten gilt oder auch schon bei natürlichen Ungleichheiten
greift, sofern diese eine bedeutende gesellschaftliche Ungleichheit bewirken (Buchanan et al. 2000; dazu Dabrock 2003). Interessant an dieser
Differenz ist die Wahrnehmung der bis heute in den unterschiedlichen
Positionen transportierten Menschenbilder. In der nur an gesellschaftlichen
Ungleichheiten orientierten Position, dem social structural view, zählt erstrangig nur der kooperationsfähige Mensch. Die Ungleichheit noch nicht
oder insbesondere nicht mehr kooperationsfähiger Personen wird eher aus
Klugheits- oder Solidaritäts-, denn aus originären Gerechtigkeitsgründen
korrigiert, kompensiert oder nivelliert. Im brute luck view, der Position,
die jede Form von Ungleichheit, sofern sie nur nicht selbstverschuldet
ist, für korrekturbedürftig hält, wird das Menschenbild nicht so sehr vom
Gedanken der Kooperationsfähigkeit, sondern grundlegender von realer
Kommunikationsfähigkeit bestimmt.
Wenn als Hintergrund das Nichtverschuldensprinzip als Bedingung für
Umverteilungen gelten mag, so bleibt nach Ablehnung von Nutzen, strikter Gleichheit, Wohlfahrtsgleichheit und radikaler Freiheit als Zweck
und Maß des Ungleichheitsausgleichs das im Übrigen von vielen intuitiv
akzeptierte Maß der Chancengleichheit. Bei seiner Bestimmung kann es
nicht nur aufgrund der Differenz von social structural view und brute luck
545u
Ethik der Public Health Genetik
view zu Divergenzen kommen, auch seine in die Debatte eingebrachten
Subkriterien von Ressourcengleichheit, Wohlfahrtschancengleichheit oder
Fähigkeitengleichheit sind kaum mehr als Schlagworte, weil sie zwar meistens von einem bestimmten Autor oder einer bestimmten Autorin konzipiert
und begründet wurden, aber jeweils eigene Füllungen erlauben. Von daher
muss man jeweils ausführen, was man darunter versteht. Allen Formen eines
fair equality of opportunity-Ansatzes ist gemeinsam: Sie anerkennen eine
Beschränkung und ein Ziel und intendieren so weder eine Versklavung der
Talentierten noch knüpft sie eine Eigenverantwortlichkeit lähmende, engmaschige soziale Hängematte.
4.4.Befähigung als Maßangabe für das decent minimum
der Chancengleichheit
Dem hier vertretenen Modell des Fähigkeiten-Ansatzes (CapabilitiesApproach) (Sen 1999; Nussbaum 1999; Pauer-Studer 2000) geht es um die
Inklusion der einzelnen Individuen in die Gesellschaft (Dabrock 2004).
Unter Berücksichtigung der notwendigen Bedingung des Würde-Axioms
entfaltet er den nicht nur qua Wohltätigkeit gewährten, sondern gerechterweise einklagbaren Anspruch auf soziale Grundgüter (capabilities) nach
dem Kriterium, ob mit ihrer Hilfe ein Individuum zur längerfristigen,
integral-leiblichen, eigenverantwortlichen Teilnahme an interpersoneller
Kommunikation (functioning) befähigt wird. Seine Legitimation zieht dieses
Gerechtigkeitsverständnis daraus, dass die grundlegenden Achtungs- und
Menschenrechtsindikatoren ‚Würde’ und ‚Freiheit’ solange abstrakt-leere
Konzeptionen bleiben, solange sie nicht eine auf die jeweilige Gesellschaft
bezogene Befähigung zur realen und nicht nur formalen Freiheit gewähren.
Weil der Capabilities-Approach diese reale Freiheit als gerechtigkeitstheoretisches Leitkriterium wählt, fällt er auch nicht in die Normalismusfalle
(Waldenfels 1998). D.h.: Er versucht nicht nur, dafür Sorge zu tragen, dass
Defizite eines normal competitors in sozialer Kooperation ausgeglichen
werden, sondern er fragt auch, wie die Fähigkeiten jedes Individuums möglichst effektiv gefördert werden können – allerdings nicht mit dem Ziel seines subjektiven Wohlergehens, sondern nur zum Zweck der Bereitstellung
dessen tragfähiger Bedingungen, nämlich der Teilnahmemöglichkeit an
interpersoneller Kommunikation. (Schließlich kann niemand zur Teilnahme
an der Gesellschaft gezwungen werden.) Soziale Gerechtigkeit gegenüber
einem Behinderten muss sich entsprechend in höherer gesellschaftlicher
Zuwendung als gegenüber Nichtbehinderten ausdrücken, sofern er diese
zum genannten Zwecke benötigt. Gegen mögliche Missverständnisse sei
betont: Geht es um Bedingungen, soziale Kommunikation aufnehmen und
pflegen zu können, dann sind keineswegs – wie möglicherweise denkbar
– schwerst geistig Behinderte aus diesem Kriterium ausgeschlossen. Sie
t546
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
haben nur andere Formen von Kommunikation! Um auf diese Vielfalt im
Kommunikationsverständnis hinzuweisen, wird der hier vertretene Ansatz
über das Kriterium integral-eigenverantwortlicher Lebensführung definiert.
Trifft zudem die so genannte Wilkinson-These zumindest indirekt (Wilkinson
2001) zu, nach der in solchen Gesellschaften, die eine vergleichsweise hohe
gesellschaftliche Stratifikation aufweisen, eine größere gesundheitliche
Ungleichheit zu beklagen ist als in solchen, die von weniger Ungleichheiten
gekennzeichnet sind, kann man von diesem Effekt bei der Zuteilung sozialer Ressourcen (und das heißt möglicherweise auch solcher für genetische
Maßnahmen in Public Health) nicht abstrahieren. D.h.: Zwar ist Freiheit
das eigentliche Ziel von Ethik und demokratischem Rechtsstaat, aber durch
die Wilkinson-These wird der intrinsische Wertcharakter von Gleichheit
zumindest gegenüber der neueren Egalitarismus-Kritik rehabilitiert (Krebs
2000). Diese bezweifelt, dass Gleichheit, die immer eine Relation zwischen zwei Vergleichsobjekten aufbaut, eine sozialethisch oder -politisch
legitime Forderung darstellt. Im Umkehrschluss hält sie nur einen menschenrechtlich begründeten absoluten Standard an Lebensbedingungen für
einklagbar. Demgegenüber gibt die Wilkinson-These zu bedenken, dass
zumindest mit Bezug zur Gesundheit die soziale Relationen berücksichtigende Chancengleichheit sehr wohl eine intrinsisch moralische Bedeutung
besitzt. Nicht als moralisches Endziel wie die Freiheit, aber sehr wohl als
moralisches und nicht nur außermoralisches Mittel zu diesem Ziel kann
man die Gleichheit bewerten, wenn denn Gesundheit ein konditionales Gut
ist und die Verteilung dieses Gutes in der Gesellschaft nicht völlig unabhängig davon ist, wie es um die gesellschaftliche Stratifikation in dieser
Gesellschaft bestellt ist.
Inhaltlich umfasst die freiheitsfunktionale Ausgestaltung des CapabilitiesApproach auch die Problemstellung der jüngsten Debatte im Feld der sozialen
Gerechtigkeit. In ihr wird debattiert, ob soziale Gerechtigkeit monozentrisch
vom Prinzip der Anerkennung (Honneth) oder bifokal vom Doppelprinzip
‚Umverteilung und Anerkennung’ (Fraser) begründet werden soll (Fraser &
Honneth 2003). Abgesehen davon, dass der recognition-Ansatz von Honneth
unter einen Begriff drei sehr divergente Formen sozial bezeugter Achtung
(Liebe, Recht, Leistung) bringen soll, die Selbstvertrauen, Selbstachtung und
Selbstwertgefühl des Individuums stärken, unterläuft er die bewährte modernitätstypische Unterscheidung zwischen Rechtem und Guten (vgl. Gosepath
2004). So richtig es ist, dass jeder Mensch diese Formen der Anerkennung
benötigt, so wenig kann er sie vom (generalisierten) Anderen einfordern. Da
aber nur der generalisierte Andere (und nicht der konkrete Andere) derjenige ist, an den (symbolisch) gesellschaftliche Forderungen gestellt werden
547u
Ethik der Public Health Genetik
können, kann die reine Anerkennungstheorie bestenfalls auf die Ebene der
schwachen Theorie des Guten reduziert als Begründungselement sozialer
Gerechtigkeit fungieren. Zu Recht hat Nancy Fraser hervorgehoben, dass
Teilhabemöglichkeit nicht nur über die soziokulturelle Verdrängungs-, sondern auch über ökonomische Verdinglichungsmechanismen gestört oder gar
verhindert wird. Damit bestätigt sie die freiheitsfunktionale Gesamtintention
des Capabilities-Approach. Sie kann dabei zwischen diesem Grundprinzip
und die sozialen Grundgüter nochmals eine Zwischenebene einziehen, die
die aggregatorische Zusammenstellung der Güterliste von Nussbaum systematisch ordnen und so aufdecken kann, durch welche Mechanismen diese
Güter gefährdet werden. Diese präzisierende Differenzsensibilität kann
ebenso wie das Grundprinzip der Befähigung für die sozialethische Fragen
von Public Health Genetik genutzt werden.
5. Sozialethische Perspektiven auf Public Health
Genetik
Ob man die dargestellten allgemeinethischen und sozialethischen Kriterien
auf die molekulare Medizin im Allgemeinen wie Public Health Genetik im
Besonderen anwenden kann, hängt entscheidend davon ab, wie man genetisches Wissen einschätzt. Hält man es für exzeptionell, müssen verschärfte
oder andere Kriterien gesucht werden. Erachtet man es für nicht exzeptionell, kann auf die dargestellten Unterscheidungen zurückgegriffen werden.
Deshalb stellt sich die prinzipielle Frage: Ist genetisches Wissen exzeptionell einzuschätzen? (Murray 1997)
5.1.Keine Exzeptionalität, aber Spezifität genetischen
Wissens
Ohne Zweifel zeichnet sich genetisches Wissen durch Besonderheiten
wie lange und (je nach Form) sehr genaue Voraussagekraft aus. Es
ist zudem durch seine Bedeutung für reproduktive Entscheidungen wie
die Schlussmöglichkeit auf familiäre Charakteristika von symbolischer
und sozialer Sprengkraft. Aus den genannten Gründen wie kurzfristigen
Nutzenerwägungen von Versicherungen und Arbeitgebern wie unter der
Erinnerung an die menschenverachtende Praxis der Eugenik der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in den Gräueltaten der Nazis ihren schrecklichen Höhepunkt fand, wie unter kultureller Fortwirkung eines kruden
genetischen Determinismus und Reduktionismus ist genetisches Wissen
zudem mit Stigmatisierungs- und Diskriminierungsängsten verbunden. All
das spricht für die Besonderheit genetischen Wissens. Eine Exzeptionalität,
die zudem einen Sonderweg im Umgang mit genetischen Daten gegenüber
t548
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
anderen medizinischen Verfahren rechtfertigen könnte, leitet sich aus den
genannten Gründen nicht ab. Lange Vorhersagekraft, Bedeutung für reproduktive Entscheidungen und familiäres Wissen, Stigmatisierungspotential
trifft mal mehr, mal weniger auch auf andere medizinische und nicht medizinische Lebensbedingungen zu. Allein die Dichte der Aspekte und die sich
daraus ergebende mögliche kumulative Wirkung lässt die Charakterisierung
der molekularen Medizin als eines für die Persönlichkeitsrechte der einzelnen Gesellschaftsmitglieder wie ganzer Gruppen hochsensiblen Bereichs zu.
Gegen die Exzeptionalitätsthese spricht auch die Einsicht in die komplexe
Interaktion zwischen Genom, intraorganismischen Prozessen und Umwelt.
Wie sollen medizinisch und rechtlich im Umgang mit Krankheit und kranken Menschen genetische von anderen Informationen lupenrein getrennt
werden? Neben der Schwierigkeit der Abgrenzung handelt man sich den
Vorwurf ein, Betroffene ohne (explizite) genetische Komponente rechtlich
weniger zu schützen als solche, die eine genetische Komponente nachweisen können. Genau dieser (dann notwendige) Nachweis kann entweder
eine gesellschaftliche Diskriminierung und Stigmatisierung bestätigen und
möglicherweise aufgrund des Neides angesichts besseren Schutzes noch
verstärken. Wer von daher die Separierung genetischen Wissens von anderen
medizinischen Informationen und sei es zum Zwecke der Verhinderung einer
fortschreitenden (vermeintlichen) „Medikalisierung“, „Genetisierung“ oder
„Molekularisierung“ der Gesellschaft will, verfällt selbst einem genetischen
Reduktionismus, den er zu bekämpfen sucht. Statt also genetisches Wissen
exzeptionell zu behandeln, sollte man es als einen, wenn auch hochsensiblen
Faktor medizinischen Wissens, als einen Baustein im (so) gewünschten
Diagnose- und Therapieprozess auf der Individuumsebene und von öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen auf der Public Health Ebene begreifen.
5.2.Konsequenzen des Befähigungsgerechtigkeitsansatzes für den Umgang mit Public Health Genetik
5.2.1. Formale und materiale Rahmenbedingungen
außerhalb der Gerechtigkeitsfrage
Wenn es in Public Health Genetik um die Integration eines nicht
exzeptionellen, aber spezifischen, nämlich genetischen Wissens in die
Aufgabenbestimmung von Public Health geht, dann sind neben der
Berücksichtigung der genannten ethischen Grundwerte der Würde, der sich
daraus ableitenden informationellen Selbstbestimmung wie der zu ihrer
Gewährleistung nötigen Datenschutz- und Vertraulichkeitsregeln und vor
der Entfaltung des Befähigungskriteriums sozialer Gerechtigkeit noch die
Qualitäts- und Effizienzkriterien des HTA-Assessment zu beachten. Weil
in Zeiten knapper Ressourcen der nicht zielgerichtete Einsatz der (als)
549u
Ethik der Public Health Genetik
vorhanden(en definierten) Mittel die Knappheit verschärft und damit selbst
zu einem Gerechtigkeitsproblem wird, müssen nicht nur in ökonomischer
Perspektive, sondern auch in ethischer die Ressourcen, die für Public Health
Genetik zur Verfügung stehen, effizient und effektiv eingesetzt werden.
Die Überprüfung auf Effektivität und Effizienz schließt neben Prozess, Struktur- und Ergebnisqualitätssicherung die Frage nach analytischer
und klinischer Validität und Reliabilität, nach Sensitivität und Spezifität,
nach positivem prädiktivem und negativem Wert ein wie insbesondere im
Blick auf Tests und Screeningverfahren die bekannten WHO-Kriterien
von Wilson und Junger (Wilson & Junger 1968). Nach ihnen ist über das
Gesagte hinaus zu prüfen, ob eine große Relevanz der Erkrankung vorhanden, angemessene Behandlungsmöglichkeiten verfügbar sind, eine
Infrastruktur für Diagnostik und Behandlung genutzt werden kann, ein
Latenz- oder ein frühes symptomatisches Stadium erkennbar sind, eine
hohe Akzeptanz des Screenings angenommen werden kann, ein bekannter
Krankheitsverlauf vorausgesetzt wird, eine einheitliche und eindeutige
Definition der Zielgruppe erfolgt, ein kostengünstiges Screening in Relation
zu möglichen medizinischen Gesamtkosten implementiert, sowie eine
Kontinuität des Screeningprogramms gewährleistet werden kann.
Obwohl in den hier genannten Rahmenbedingungen (wie bspw. durch die
Utilitätskriterien) bereits ethische Fragestellungen angerissen werden, kann
man sie unter Berücksichtigung des Befähigungsgerechtigkeitsansatzes
noch weiter entfalten.
5.2.2. Entfaltung gemäß Anerkennung und Umverteilung
Wenn man nach Nancy Fraser das Kriterium der Befähigung zur
Teilnahmemöglichkeit an Kommunikation nochmals unter dem Aspekt
von Umverteilung und Anerkennung entfalten kann, dann bedeutet dies:
Fokussiert man sich auf den Aspekt der Anerkennung, so sind (wie schon
auf der Ebene des allgemeinen Individuumsschutzes gegenüber genetischem Wissen) Stigmatisierung und Diskriminierung zu vermeiden. Das
schließt aber unter Beachtung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes auch
ein, dass genetisches Wissen, da es nichts exzeptionell anderes als andere
brisante Informationen beinhaltet, gleichwertig mit diesen zu betrachten ist. Wenn deshalb andere Informationen aus der Vergangenheit im
Lebensversicherungs- und Berufsbereich zur jeweiligen Risikokalkulation
oder zur Anstellungsfähigkeit herangezogen werden, ist (vorerst) nicht
einzusehen, warum dies nicht auch für genetisches Wissen gelten sollte.
Abzulehnen und rechtlich zu verhindern ist dagegen ein Zwang zum Gentest
allein zum Zwecke der jeweiligen Vertragsabschlüsse. Nochmals anders
t550
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
verhält es sich im Krankenversicherungsschutz, der jedem eine umfangreiche Grundversorgung gewähren sollte, weil Gesundheit ein konditionales
Lebensgut darstellt. Deshalb muss der Kontrahierungszwang zumindest
soweit gehen, dass das genannte decent minimum gewährt wird – unabhängig von Informationen aus bereits bekannten genetischen Tests.
Neben der Vermeidung von Stigmatisierung und Diskriminierung, die
auch gegenüber ganzen Bevölkerungsgruppen gelten muss, zielt die
Befähigungsgerechtigkeit auf Umverteilung. Wenn das Maß einer gerechten
Gesundheitsversorgung an der alters- und konstitutionsbedingten, integralen Teilnahmefähigkeit an sozialer Kommunikation festgemacht wird,
ist nicht einzusehen, warum genetische Maßnahmen, sofern sie diesem Ziel dienen und den unter 3.2.1 skizzierten Kriterien genügen, von
diesem Umverteilungskriterium ausgeschlossen werden sollten. Diese
sind dann nochmals mit dem (auf objektiven, subjektiven und sozialen Dimensionen aufruhenden) jeweiligen kulturellen Verständnis von
Krankheit und Gesundheit und deren modalen Aspekten wie Tragbarkeit,
Dringlichkeit, Beeinflussbarkeit, Konsumferne abzugleichen. Sollten Public
Health Genetik Maßnahmen wie andere krankheitsverhindernde und gesundheitsfördernde Maßnahmen bewertet werden können (und nicht einem genetischen Exzeptionalismus unterliegen), dann erhalten sie zudem durch die
angesprochene Wilkinson-These eine weitere Bedeutung. Wollte man sie
(sofern sie den anderen Effizienz-, Qualitäts- und Ethikkriterien genügen)
nicht unter Maßnahmen des decent minimum fassen, könnte die gesundheitliche Ungleichheit in einer Gesellschaft weiter zunehmen.
5.2.3. Begleitendes Gerechtigkeitsnetzwerk
Das an kommunikativer Freiheit orientierte Kriterium der
Befähigungsgerechtigkeit wird auch dann nachhaltig in Public Health
Genetik pragmatisch umgesetzt werden können, wenn es seinerseits durch
ein Netzwerk aus diversen anderen Gerechtigkeitselementen gestärkt wird.
Zugleich wird so dem Trug der einfachen Lösung entgegen gesteuert. Solche
ergänzenden Gerechtigkeitsaspekte sind (vgl. Dabrock 2003):
n Beteiligungs- und Verfahrensgerechtigkeit, insofern sie Partizipation
und Transparenz fördern, selbst wenn sie vordergründig betrachtet
Entscheidungsprozesse verlangsamen;
n Generationengerechtigkeit, weil angesichts knapper Ressourcen die
Chancengleichheit zukünftiger Generationen, die nicht gefragt wurden, ob
sie ins Dasein kommen wollten, zur Disposition steht;
551u
Ethik der Public Health Genetik
n Kompensationsgerechtigkeit, weil man diejenigen, die bei möglichen
Priorisierungsentscheidungen posteriorisiert wurden, nicht ins Nichts fallen
lassen darf;
n Leistungsgerechtigkeit, weil gesundheitsbewusstes Verhalten auf der
Patientenseite und gute Medizin auf der ärztlichen Seite nicht unberücksichtigt bleiben dürfen.
6. Priorisierungsregel beim Grundkonflikt Autonomierespekt vs. Gemeinwohl (-pflichtigkeit)
Wenn gleichzeitig individuumsbezogene Schutzstandards, die für Public
Health Genetik Maßnahmen zutreffen müssen, und eine gerechte Verteilung
gesellschaftlicher Güter, die unter Knappheitsbedingungen effizient einzusetzen sind, greifen sollen, kann es zum Konflikt zwischen Autonomierespekt
und Gemeinwohl (und daraus abgeleiteter Gemeinwohlpflichtigkeit) kommen. Wie hoch ist bspw. der Verpflichtungsgrad, an Screeningverfahren
teilzunehmen, wie hoch der, seine Daten für Biobanken zur Verfügung
zu stellen? Über die anfänglich angesprochene selbstkritische Frage nach
eigener oder fremder free-rider-Mentalität hinaus lässt sich cum grano salis
unter Beachtung der möglichen Kollision der genannten moralischen und
rechtlichen Güter von Autonomierespekt und Gemeinwohl(-pflichtigkeit)
folgende Bewertungstendenz bzw. folgendes sozialethisches Stufenmodell
einführen (vgl. Brand, Dabrock, Gibis 2003). Es trägt zudem dem allgemeinen Umstand Rechnung, dass im Allgemeinen Bewertungsfragen nicht
einfach mit ‚Ja’ oder ‚Nein’ zu beantworten sind: Erfüllt eine Public Health
Genetik Maßnahme die eingeführten Effizienz- und Effektivitätskriterien
wie Validität, Reliabilität und Spezifität, lässt sich bei begrenztem Aufwand
ein hoher individueller Nutzen im Sinne von Vermeidung einer schweren
Krankheit und Förderung der individuellen Entwicklungsmöglichkeit sowie
ein hoher gesellschaftlicher Nutzen im Sinne der Vermeidung hoher
Kosten, die durch verzögerte Diagnosestellung, inadäquate Therapien durch
Fehldiagnosen etc auftreten würden, erzielen, und muss man zudem nicht mit
einer gesellschaftlichen Stigmatisierung der Betroffenen rechnen, so besteht
ein hoher sozialethischer Verpflichtungsgrad. Dieser Verpflichtungsgrad
entfaltet sich nach zwei Seiten. Sofern die genannten Kriterien zutreffen,
ist zum einen die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Bereitstellung und
damit gleichzeitig auch zur Sicherstellung dieser Public Health Genetik
Maßnahmen verpflichtet – nicht zuletzt auch, um einer Entsolidarisierung
entgegen zu wirken. Zum anderen besteht in diesen Fällen auch seitens
der betroffenen Individuen angesichts des eher geringen Schadens für
sie wie ihre Familie (Eingriff in die formale Selbstbestimmung; mini-
t552
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
male Diskriminierungstendenz), aber der hohen ökonomischen Folgen bei
Nichtteilnahme eine hohe moralische Verpflichtung zur Teilnahme an der
entsprechenden Maßnahme. Obwohl die Teilnahme unter den genannten
Bedingungen als ein moralisch-sittlicher Imperativ zu lesen ist, bedeutet
dies nicht, ihn notwendigerweise unmittelbar in einen rechtlichen Zwang
zu transformieren. Angesichts der bewährten Sinnhaftigkeit einer auf negativer Freiheit und „informed contract“ aufbauenden Rechtskultur kann man
darüber nachdenken, auf der rechtlichen Ebene das Prinzip der Freiwilligkeit
zu wahren und sich dabei dennoch nicht allein auf die standardisierte
nondirektive Beratung zu beschränken. Dass hier nicht einfach ethische
Ableitungen greifen, sondern die jeweilige gesellschaftliche Einstellung
beachtet werden muss, hängt damit zusammen, dass moralische Fragen
im sittlich-politischen Diskurs nicht einfach deduktiv zu handhaben sind,
sondern mit kulturellen Standards abgeglichen werden müssen. Denn nur so
kann die neben der moraltheoretischen Geltung ebenso wichtige Akzeptanz
und Reproduzierbarkeit sittlicher Urteile gewahrt werden. Aus dem so als
Metaregel zu Interpretierenden ist umgekehrt aber genauso eindeutig zu
schließen: Wo die genannten Rahmenbedingungen schwächer werden, sinkt
der Verpflichtungsgrad zur Teilnahme an genetischen Gesundheitsversorgun
gsmaßnahmen, entsprechend sollte die Beratung nondirektiver durchgeführt
werden. Umgekehrt formuliert: Die Ablehnung der Teilnahme wird moralisch weniger begründungspflichtig.
Im Übrigen stellt sich die gesundheitsökonomische und damit auch
gerechtigkeitspraktische Frage, ob bei Public Health Genetik Maßnahmen
überhaupt der hohe Beratungsstandard, wie er aus der medizinischen
Humangenetik bekannt ist, aufrecht erhalten werden kann. Sollte dies,
was wahrscheinlich ist, kaum möglich sein, wird man zur Festlegung des
Beratungsumfangs neben den ökonomischen Zwängen vor allem die jeweils
betroffene Eingriffstiefe in die informationelle Selbstbestimmung berücksichtigen müssen.
Die vorgeschlagene Priorisierungsregel transportiert keineswegs einen in
der weltanschaulich pluralen Gesellschaft inakzeptablen Gesundheitspatern
alismus. Das Gegenteil trifft zu: Erst durch die Sicherstellung elementarer
Bedingungen (sog. konditionaler Güter) sind verschiedene mögliche Formen
des gelingenden Lebens überhaupt realisierbar. Ohne Beachtung dieser
primären Grundgüter bleibt ihrerseits die Rede von der Freiheit leer und
kann zu Ungunsten der Benachteiligten ausgelegt werden, insofern diese
unter einer rein formalen Freiheitsideologie, aber fehlender Gewährung von
Chancengleichheit ihre Freiheit realiter nicht ausgestalten können. Diese
553u
Ethik der Public Health Genetik
reale Freiheit wählt der hier als Grundnorm zuvor eingeführte Befähigungsgerechtigkeitsansatz.
Zählt man die Verhältnisbestimmung von Gemeinwohl und Eigennutz zu
dem ethischen Problemkomplex: „Autonomierespekt vs. Gemeinwohl“,
dann ist hierin auch die Frage nach einem direkten oder indirekten benefitsharing einzelner Teilnehmer oder teilnehmender (Sub-)Populationen an
Public Health Genetik Maßnahmen zu thematisieren (Nationaler Ethikrat
2004). Wenn aus Biobanken oder pharmakogenetischen Forschungen
ein wissenschaftlicher oder finanzieller benefit erwächst, so könnten die
Teilnehmer direkt, indirekt oder überhaupt nicht beteiligt werden. Letztere
Variante müsste sich dem Vorwurf der Ausbeutung stellen, erstere sieht
sich dem Verdacht ausgesetzt, über ökonomische Anreizstrukturen biopolitischer Sozialdisziplinierung (s. Kap. 1.4.) Vorschub zu leisten. Sollte diese
Variante des direkten benefits für den Probanden allerdings gewollt sein,
böte sich mit dem „informed contract“ ein Instrument, das die Verteilung der
benefits im Einzelfall rechtsgültig festschreibt. Bei der mittleren Variante
ist zu überlegen, wie (bei allem drohenden trade-off) ein möglichst effektiver und gerechter Weg jenseits von Ausbeutung und Sozialdisziplinierung
zu finden ist. Als Faustregel könnte gelten: Nicht Einzelne, sondern dem
öffentlichen Gesundheitswesen, dem die Einzelnen zugehören, sollten
wissenschaftliche und finanzielle benefits angerechnet werden. Das jeweilige Maß gehört ebenso in die politische Deliberation (unter Beachtung
von echten Partizipationsrechten) wie auch deliberativ zu klären ist, ob
die benefits dem Gesundheitssystem global zufließen sollen oder solchen
weiteren Forschungs- oder Umsetzungsprojekten zu gute kommt, die nahe
bei denen angesiedelt sind, in denen die Erträge erzielt wurden. Während
man die letztere Möglichkeit generaliter als eine problematische, weil
falsche Anreize setzende Strategie einordnen zu gewillt ist, wird man im
speziellen bei orphan-drug-Fragen oder umwelt- oder arbeitsmedizinischen
Fragestellungen nochmals diese Möglichkeit nicht prinzipiell ausschließen
wollen.
7. Ausblick
Bringt man das Dargestellte auf den (metaphorischen) Punkt, mag man an
die Liedzeile „Bleibt alles anders“ von Herbert Grönemeyer denken. Auf der
einen Seite bleibt alles anders. Man kann bei der ethischen Bewertung von
Public Health Genetik auf bewährte ethische Kriterien und Urteilsmuster und
auf aus bestimmten geschichtlichen Traditionen kommende Vorstellungen
über das Menschsein zurückgreifen. Dennoch bleibt alles anders. D.h.:
t554
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Es kommt oder es kann kommen durch die Entwicklung der Genetik und
ihrer möglichen Anwendung auf Public Health zu einer Intensivierung
von Konflikten, die die Anwendung dieser althergebrachten ethischen
Kriterien noch einmal vor neue Herausforderungen stellt. Inhaltlich im
Blick auf das hier Vorgetragene präzisiert: Weil sich auf die Genetik teils
überzogene Hoffnungen, teils übertriebene Ängste richten, erscheint der
Fähigkeitenansatz durch die konstitutive Integration der Bildungsdimension
als eine sinnvolle normativ-ethische Konzeption, um die (zumindest ökonomisch nicht mehr aufzuhaltende) Integration genetischer Maßnahmen
in die Gesundheitsversorgung kritisch, aber auch konstruktiv begleiten zu
können.
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Genetik in Public Health
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Inhalt
IV. Ethik und Policy
Genitic knowledge reduces health risk and promotes
health care competence
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2. Carrier wellness and family health care ............................ 566
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communal values............................................................ 572
Literature............................................................................. 576
563u
Health Care Competence
Better information allows for better risk management, more knowledge and
experience allow for more competent decision making. New knowledge in
human genetics and subsequent professional and personal knowledge in
prediction and prevention allow for individualized and personal health care,
health promotion, and the prudent management of health risk. Principles,
methods and goals of traditional public health need to make use of progress
in molecular genetics and associated dramatically improved clinical knowledge in pharmacogenetics, predictive and preventive medicine. New knowledge needs to be put to work in individualized drug prescription, in medical
health risk prediction and prevention, and in lay health literacy promotion.
International bioethical and clinical literature discusses probable conflicts
between issues of privacy, informational property rights, of the impact of
genetics on public health, of medical benefits in prescribing individualized
and efficacious drugs, and of informing and advising individuals on prevention and health care based on individual genetic profiles. New concepts of
caring for health and implementing wellness are already developing outside
of traditional public health institutions and sickness treatment facilities. In
these developing shifts, special attention needs to be given (a) to cultural
and bioethical traditions in accepting genetic screening, (b) to the morality
of pharmacological and clinical genetic research, (c) to the promotion of
individualized medical treatment and health care competence, and (d) to
an already visible cultural shift from treating ‚disease‘ towards protecting
‚health‘ and improving and enhancing ‚wellness‘. New genetic information
and its translation and transformation into individual health literacy might
fulfill an ancient dream of humankind to ‚control how your genes affect your
health‘, as a recent New York Times bestseller (Roizen 1999) puts it.
1. Genetic knowledge allows for health risk factor
ecudcation
New knowledge in science and technology and new professional and personal applications of new knowledge require value assessment together with
technology assessment. Breakthroughs in modern medicine did not come
accidentally, they were sought after not for reasons of curiosity but for the
sake of the ‚patient‘s good‘ (aegroti salus) in Western medicine and in the
performance of humaneness (‚ren‘) in Chinese medical tradition by skillful
and honest physicians and health care workers. New knowledge in human
genetics and pharmacogenetics will have a great impact on future predictive
and preventive health care services, on individualized and more efficacious
drug development and prescription, on lay health education on individualized health risk management and health protection and enhancement, on the
t564
Genetik in Public Health
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interfaces of physical exercise, nutrition, medication, and prudent lifestyle
management.
As scientific knowledge has changed rapidly, transfer of knowledge and a
revised understanding of health and disease have to follow. Traditional concepts of health have become obsolete, so have the health policies based on
outdated models of health. Health cannot simply be understood anymore as
‚a state of complete physical, mental and social wellbeing and not merely the
absence of disease or infirmity‘, as the WHO defines, rather as a process of
challenge and response, a process of balancing, which needs understanding,
protection, and management by the individual person. Health is not just a
status; rather the balanced result of health-literate and risk-competent care
of one‘s own physical, emotional, and social wellbeing and wellfeeling,
achieved in competent understanding, modification and enhancement of
individual genetic, social and environmental properties, with the support
of health care professionals and through equal access health care services,
including information, predictive and preventive medicine.
The WHO definition of health seems to have outlived its usefulness as we
need a re-evaluation and a re-prioritizing of traditional principles of care,
confidentiality, beneficence, informed consent, and harm within physician‘s
ethics and in lay health care competence and ethics. Long neglected patient‘s
ethics and health care ethics of the lay has to become a prime topic for bioethics research, education and application in the clinical, primary care and
public health care settings. Also, we will have to focus on modified principles such as duty to inform, duty to be told and to know, health education,
health literacy, health care competence, informed request, informed contract,
and the ethics of data availability. The new challenges to health care are
challenges in health care education of health care experts and of individual
citizens, their families and communities. New models of communicationin-trust and cooperation-in-trust between the experts and the lay need to
be developed as, in the words of Ni Peimin, health care is ‚not a matter of
biology alone‘, but ‚a never ending journey towards the highest perfection
of human being‘ (Ni 1999, p.42).
Such a notion of caring for health was not only part of the Confucian tradition. There is a long tradition of dietetics, i.e. lay prudence in healthy lifestyle
in European thought (Hartmann 2003). Traditional concepts and maxims of
health care rather than disease management seem to have been replaced by
an unfortunate repair mentality in health care matters, due to great successes
in diagnosis and therapy. But recent cultural trends and individual attitudes
towards health and wellness, barely recognized by sickness fund providers
565u
Health Care Competence
and sickness treatment centers (wrongly called health care centers) indicate
a growing interest by citizens in prediction and prevention, and in ‚health‘ as
a concept wider than medical treatment of disease, as related to wellness, to
good life and good long life. Mushrooming e-health sites for the healthy lay
confirm and document changes in attitudes of educated citizen, healthy or
not, and an emancipation of the lay from vast areas of professional tutelage
by medical experts. In the US and many other countries more people visit
health related websites daily than visit doctors or hospitals, - this trend is
growing (Schröder 2002; Sass 2004c; Sass & Zhai 2004). Rapidly growing
interest and competence of citizens in e-health and wellness will have to
change the parameters of public health institutions and their service.
Genetic knowledge allows for emancipation of health care and the implementation of health care rights as the right of the individual to care for her or
his health (Sass 1991). Subsequently, public health needs a re-arrangement
of health care financing via a new mix of public-private contributions based
on a model of partnership and the respect for personal choice in matters of
lifestyle, wellness, life and health (Sass 1987; 2003b)
2. Carrier wellness and family health care
New diagnostic knowledge in human genetics and pharmacogenetics make
responsibility-sharing with citizens as future patients or actual patients
possible. Based on Western and Eastern traditions of responsibility and selfdetermination within the individual‘s cultural environment, the obligation to
know about one‘s genetic heritage and its advantages and disadvantages, its
risks and uncertainties is a precondition for living a self-determined, riskcompetent educated life and for enjoying fullest possible individual quality
of life. This would require a duty to inform, to educate, to counsel, and to
support for the health care experts, a right to be told, and - in those cases,
where others are not impacted negatively by individual self-determination
- a right to follow or to refuse to follow health care advice. There does not
seem to be an obligation to tell, if diagnostic findings cannot result in advice
or prescription; but one could make the argument that even in these cases of
interventional futility citizens have the right to request information anyway,
if they want to know (Kielstein 2002; Sass 2003a; Tao 2002). There is a right
to know and an obligation to tell, if health risks are present or predictable.
There is, however, only a moral, not a legal obligation to follow health care
advice; this obligation becomes more pressing if health care costs are shared
in solidarity.
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As genetic diagnosis provides potentially important information for family
members in regard to health risk, health status, potentially helpful preventive measures and information essential for individual self-determination
and quality of life decisions, each and every person diagnosed will need
to consider her or his responsibilities towards family. In Western cultures,
emphasis is put on privacy of patients or those diagnosed, while even during
transitional periods of Asian professional and family cultures there is a high
responsibility towards family, filial love, parental love, different forms of
love within the wider family. As not only severe genetic disorders, a higher
than average risk of hypertension, forms of cancer, metabolic disorders may
run in families, information about these risk factors would be extremely
important to carriers, so they seek frequent checkups and advice or might
use preventive strategies to reduce impact or postpone onset. Interactive
family health care ethics still have to be developed, able to adequately deal
with issues of family ethics (Kielstein 2002; Sass 2003a). Also, family
relations will be influenced by new sources of - unfounded - guilt-feelings,
shame, accusations, self-denials, maybe divorce, suicide, and the breakup
of families and familial relations. The golden rule must be to not hide
behind traditional attitudes towards secrecy and privacy, but to openly and
aggressively inform, educate, teach and support dialogue and discourse in
families and in society. It should be done, however, not against the grain of
traditional familial forms of communication and cooperation or against the
will of the diagnosed carrier, but in seeking her or his support and in making
the best use of sometimes dormant principles of family responsibility and
solidarity.
In complex issues of family ethics, privacy, disclosure, right not to know,
and duty to know, diagnosed carriers would be the prime moral agents to
make educated and responsible choices (a) to disclose, (b) to refuse disclosure of all or some information, and (c) to postpone hard choices in informing family members. There will be hard cases, where information might
be lifesaving to family members who might be carriers. WHO proposed guidelines (1999) on ethical issues in medical genetics suggest to rather violate
the principle of confidentiality in favor of informing and consulting family
members; but guidelines of national organizations differ from such a stern
position. Additional, responsible parenthood in the future might include
decisions whether or not (a) to have children at all, (b) to have prenatal
testing and eventually elected abortion following positive testing, or (c) to
do nothing and set trust into future breakthroughs in medical treatment of
yet not treatable disorders. Public health ethics and bioethics have to discuss
a new principle: data availability within a well protected and individually
contracted framework of data protection and privacy.
567u
Health Care Competence
3. Informational property rights and data availability
The principle of data availability calls for implementation by individual
health care cards. Since the discovery of blood types, reliable diagnosis of
blood types, typing and screening for blood types has become an essential
part of emergency medicine and surgery and has saved directly or indirectly
millions of lives. No one, 100 years ago, has made the point that privacy
issues should prevent blood typing, nor does anyone today (Sass 2001a;
2001b; 2003a). It is well known that we do not differ only in types of blood
but in many other individual properties, such as in cytochrome P450 isoforms, controlling drug metabolism, causing non-efficacy, side-effects, even
death, in some types of metabolizers. In hypertension treatment, calcium
antagonists are metabolized by the 3A enzyme in the cytochrome P450
isoform system, while beta blockers are metabolized by 2D6, a switch from
one to the other without proper drug metabolizing tests would be clinical and
ethical malpractice; P450-2D6 enzymes metabolizing codeine for palliative
care is absent in 7% of Caucasians, resulting in total non-efficacy in those
individuals; P450-2C19 metabolizing diazepam and other neuropharmaca is
absent in 15% to 30% of Asians, who therefore would require much lower
dosages than established in controlled clinical trials on Caucasians [www.
drug-interactions.com]. When individual pharmacogenetic profiles for
medication-typing can be established the same way we easily can establish
individual profiles in blood-typing, personalized drug delivery is possible
and ethically required (Paul 2003; Lindpainter 2003).
The fears that genotyping for drug metabolism will lead to discrimination
are not convincing, they are theoretical, ethically unfounded. Blood typing
did not lead to discrimination, even though some individuals have bloodtypes which are more rare, at least in certain populations, and therefore
might have less access to blood replacement. Blood profiles and medication
profiles do not describe disorders, i.e. an individual aberration from a generic image, rather they constitute different types, variations, none of which
is the ‚normal‘ one. We have a model of variation, not one of order and
disorder. It would have been a crime against humanity and an inexcusable
wrong towards all fellow humans who would have died and would die of
their lives could not be saved by blood transfusion based on proper bloodtyping. In drug metabolism as in every metabolic property the concept of
normal versus disorder is wrong, as there is no normalcy, only differences
in expression and action. Genotyping for drug compatibility causes no
significant other ethical concerns than those associated with blood typing:
clinical reliability of typing procedures, equal access to typing services, no
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(medication prescribing) intervention prior to typing. The new scenario of
metabolism typing has consequences for the traditional and accepted bioethical setup of vaccine development, clinical trials, prescription procedures,
and nutrition advice. Therefore it should be considered unethical to not
include genotyping into drug development and to establish efficacy, dosage,
and side-effects for major types of metabolizers based on cytochrome P450
isoform properties and composition. Individuals have a civil right to information about their individual proteonomic and enzymatic properties for
metabolizing drugs and nutrition. This informational right would best be
served by providing inexpensive individual Drug and Nutrition Cards and
access to information and education; also those drug-and-nutrition-chips
need to become the golden standard in drug prescription based on metabolizer-type clinical research (Sass 2004a).
As we individually differ in more than enzymes and protein metabolism, it
would only be consequent to provide citizens with individual Health Care
Cards containing information on individual genetic or acquired properties,
abilities, disabilities and disorders such as risk of hypertension or diabetes.
Data availability is the precondition for good diagnosis and prognosis, and
subsequently for prevention and treatment. Personal data, including data on
health and health care are the informational property of the individual. In
other areas of life we share these informational properties with others for our
own benefit convenience, such as with credit card providers, supermarkets,
libraries, online-merchants, and insurers of various kind. Of course, we
rightly worry about protection of private data; we have laws and regulations
protecting private data which work most of the time; we accept these risks
as we balance risk with benefit. Individual rights on individual health information should not be treated differently than other informational property
rights.
Citizens are informational property owners of data concerning individual
health status and health care. It is in their best interest to have Health Care
Cards and to share information with professionals in a protected framework
as data availability becomes an important feature within a new model of
data protection. Health care professionals cannot provide quality service
if denied access to information necessary for providing safe and efficacious service. It would be extremely difficult to argue that those who do not
share personal health status data with professionals can ever request those
services or will get best possible service. If data are not stored and be made
available, rather being generated every time anew, then costs will skyrocket
without additional benefit and therefore those who do not entrust personal
data to individual Health Care Cards should accept the higher costs of more
569u
Health Care Competence
expensive procedures. As far as the principle of solidarity is concerned, data
availability is not only a prerequisite for good health care, it is also a potential factor to reduce costs.
4. Contractual choice and the ethics of genetik
research
Finally, reforms are necessary in clinical trials and human experimentation
based on new challenges and opportunities particularly in genetic research,
DNA-sampling and DNA-storing. It is my thesis that the traditional softpaternalism principle of informed consent has to be replaced by the principle of informed contract, detailing for researchers and probandi or patients
rights and obligations, liberating probandi and patients from their passive
role of just consenting to a more adequate position of being a partner. In particular, issues of research in drug metabolism, DNA-sampling, and diseasespecific research cannot be justified without taking into account the probable
benefits to the patient or her or his families. Modern medical research will
find quite a lot of information about pedigree and family members, which
cannot be taken care of by the concept of individual consent only by those
who participate in the research.
For genotyping in highly defined populations of patients suffering from certain subgroups of cancer or other diseases and receiving specific medication,
it has been debated whether traditional models of informed consent would
be enough for multipurpose longterm DNA-banking. It probably means to
overburden the informed consent principle in dealing efficiently with DNAbanking and the probable benefits to the patients and their families. Giving
just informed consent to draw blood for unspecified research might not be
in the interest of the patient, even though such a consent might benefit the
research and other patients in the future. Informed consent forms rarely
address issues of multipurpose screening and longterm storage. It has been
suggested that for genotyping only specific informed consent should be
requested and that further use should be covered by new specific re-consent.
On the other hand generic consent forms - in particular for prenatal and
newborn screening - were proposed, but others criticized such an approach
as lowering the standards of informed consent.
As the probability of benefits in cross-purpose genotyping and of future yet
to be specified re-testing and new-testing is of great moral importance for
the individual patient, patient groups and the progress of clinical research,
one should work with a contract model, describing the obligation of the
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researchers to inform the patient on all or some of their findings and establish a contract spelling out the obligations towards the patient and her or
his family: ‚We ask you to sign a contract for genetic testing on information
and properties which might or might not be associated with your disease and
how they are associated with it; this might take along time and we might
look for information we don‘t know yet. We make it our legal obligation
to inform about any finding which might benefit your treatment and which
might be beneficial to members of your family. Also, at any given time, you
or your representative has the right to cancel this contract and to request
that your biological properties be destroyed. If you want to share in possible
financial gain associated with this particular research, we will provide you
with a separate contract‘ (Sass 1998; 2001a; 2001b; Sass 2004a).
Within the contract, patients or their legal representatives must be informed
on standard data-protection. In order to solve complex issues of privacy and
disclosure, the right not to know, and the duty to know, the contract must
provide, that patients can make their own choices (a) for mandating disclosure of individual predictive, preventive, or therapeutic knowledge, (b) for
refusal of all or some information, and (c) for postponing such a decision
for later based on then existing individual circumstances or clinical results.
The moral issues of informing and protecting family members similarly will
have to be addressed within the contract by allowing the patient to choose
among a number of procedures by which family members of various degree
may or not be involved, informed, or invited. It is time to replace an outdated
informed consent model totally or in part and replace it by a contract model
in which stakeholders such as probands, researchers and sponsors delineate
moral and legal contractual rights and obligations.
Some informed consent forms include already features of informed contracts
(cf. Sass 2001a), but WHO and the European Forum for Good Clinical
Practice have not yet addressed these issues or come up with proposals for
reform. An excellent example on how the ethics of diagnostic research is
changing towards a more appropriate appreciation of individual and family
health care competence and decision making as partners in research is a
statement by HUGO of November 2002 on choices in data availability
within a firm model of data protection and privacy protection: ‚The choices
and privacy of individuals, families and communities should be respected:
(a) choices may be with regard to: donation, storage and use of samples and
the information derived therefrom (e.g. specific, related or other uses subject
to authorization by an ethics committee, etc). Informed consent may include
notification of uses (actual or future), or opting out, or, in same cases, blanket consent. (b) Mechanisms should be established to ensure respect for such
571u
Health Care Competence
choices. (c) Participants should be informed about the degree of identifiability of their data (e.g. coded, anonymized, aggregate, etc) and the security
mechanisms in place to ensure confidentiality. (d) Participants should be told
that samples or the information derived therefrom may be shared with other
researchers including those from other countries, with commercial entities
and through publication and availability on the WEB‘ (HUGO 2003).
5. Informed contracts handling individual and
communal values
Modern medicine, recognizing the principle of autonomy and self-determination as a most basic human and civil right, allows for clinical research
and medical treatment only, of the proband or patient has given free and
informed consent based on individual concepts of risk, benefit, values, fear,
and hopes. Global recognition of the informed-consent principle correlates
to the vision of universal human rights, as expressed by the United Nations
Declaration in 1948 and being a fruit of the processes of enlightment and
emancipation since the European age of Reason. If immediate medical
treatment is required in order to save life, the informed consent principle
cannot be used as life and survival of patients is the higher principle, the
highest order. Good as it looks in principle, there are quite a number of
well-documented cases where the informed consent principle does not work
or is used in an abusive and exploitative manner: 1.) If people do not clearly
understand risks and benefits associated with research and treatment, oral or
written consent is void. 2.) If people feel an ‚obligation‘ to sign forms, such
consent is not given freely. 3.) If researchers cannot or do not adequately
inform probands or physicians their patients, signed forms are a smokescreen only to hide that true informed consent is not given; however the legal
requirements seem to be satisfied.
In general, the informed-consent principle has been developed at a certain
historic time under specific post-enlightment cultural conditions. It is a very
useful tool to protect vulnerable persons from abuse; properly used it is the
best tool available to protect human dignity and civil rights. However, even
if no abuse is intended, there seem to be cultural obstacles associated with
its rigid implementation under the maxim ‚one size fits all‘. We see already
standard deviations, exemptions and modifications form the general rule:
1.) consent for minors is given by their ethical and/or legal representatives,
mostly the parents. 2.) competent adults may designate another person to
give consent on their behalf, either immediately or under certain conditions
in the future. 3.) The consent required from psychiatric patients is related
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Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
to their particular disease and situation at a given time; however, there are
well developed treatment contracts signed by patients and their caretakers
for possible future situations known to and experienced by the patient [Sass
2003A].
Other cultures, even though they might be in transition being more and more
influenced by post-enlightment European cultures of individualistic ethics,
still have a strong sense of family ethics and family decision making for the
good of the individual family member, thus traditionally giving consent for
the good of an individual family member as family consent. The individualistic European model is seen as an intrusion into a different trust-and-responsibility structure and, if used, only legalistically and without any cultural or
ethical authority and validity. Family consent is not without risk. It might
be the elder male or female head of the smaller or larger family accepting
responsibility for his or her relatives, and been trusted by them to make those
decisions, even far-reaching ones such as marriage, education, job training.
Some individuals or branches of the family might not trust the proxy decision maker; elders might violate the trust they are endowed with. These are
the situations which have led to the rise of emancipation and enlightment
in the Age of Reason. But there are still families and communities around
for whom the model of an individual person making autonomous decisions
by herself and for herself alone, is considered unethical, not supported by
culture and values, actually decadent and perverse. In order to implement
some of the visions and goals of the ‚informed consent‘ principle it might
be helpful to at least work with a formula of ‚informed consent plus X‘, X
being different supportive features depending on the special cultural and
traditional attitudes and modes of decision making (Sass 2001a).
Moral or social communities quite often address ethical issues by community consent, even though individuals are subjects under risk. In Western
civilization, religious orders and closely controlled religious groups obey
and consent to decisions made by their superiors. The fact that different cultural and moral communities have different values, wishes, hopes, and fears,
is well used when making proxy decisions in medicine for incompetent persons. Schools of communitarian ethics place great emphasis on supporting
and respecting communal values. Ethics committees in pluralistic societies
include neighborhood representatives or representatives from religious or
moral or social communities to which the incompetent persons belongs.
If a village or province community widely and strongly shares religious,
cultural and moral convictions, then most like individual preferences for
participation in medical research or for medical treatment would be similar.
573u
Health Care Competence
Also, if this is a part of the specific culture, decisions would made by elders,
wise men or women, elected or accepted otherwise. Researchers required
to inform and educate and to gain consent, would be well advised to use
the existing trust-and-responsibility structure for information and education
and for contracting with the community and/or families and/or individuals
(Zhai 2002; Tao 2002). Benefits for the community, for the families, and
the individuals should be spelled out in detail. In the case of DNA sampling
contacts should be made some time before DNA is sampled, and definitely a
long time afterwards information and health care education services should
be contracted and provided. The larger and the more complex the community
is, the more risky will be a communitarian approach and the more features
have to be developed and supported to protect dissenting individuals and
groups. There might be situations of communities in cultural transition or
under indoctrinating and exploiting elders or oligarchic groups, where the
communitarian approach to protect vulnerable individuals and families will
not work and cannot work (Sass 2001a, 2004a).
It is only common sense to recognize that probands expect ‚something‘ in
return for their participation; this ‚something‘ can be personal recognition,
personal attention, individual or general health care advice, better hygiene,
fresh water or nursing care for the community. Recent CIOMS guidelines
for medical research in ‚populations and communities with limited resources‘ recommend: ‚the sponsor and the investigator must make every effort
to ensure that: the research is responsive to the health needs and the priorities of the population or community in which it is to be carried out; and
any intervention or product developed, or knowledge generated, will be
made reasonable available for the benefit of that population or community‘
(CIOMS 2002, p.51). The Nuffield Council on Bioethics (2002, p.116)
suggests ‚that sponsors of research should require that the development of
local expertise in healthcare is an integral component of research proposals.
Consideration should be given to the extent to which any strengthening of
local healthcare facilities can be done in such a way that the changes are
sustainable in the local context once the research is over.‘
Given the diversity of individual and collective cultures in decision making,
one size of consent does not fit all. It seems to be clear, that the classical
model of informed consent has outlived its useful life as a general standard
for all, for each and every personal, familial, communitarian, cultural or
legal situation. Where the basic cultural attitudes and legal preconditions are
not in place to make the classical form of informed consent the preferred and
most useful tool, it cannot be made a requirement that medical experts first of
all change cultures and attitudes and then proceed with their medical work. It
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is also not acceptable that medical experts turn a blind eye on the missing of
essential prerequisites for making informed consent work. Everyone has to
work on implementing human rights and free decision making by competent
and risk-literate adults; this task cannot be put on the physicians alone. Also,
there might be true ethical situations where coherent trust-and-responsibility
structures within families or communities are well developed, by cultural
or religious tradition and in the history of ideas supported and proven to
working well in quite a number of cases. In those situations it would be culturally and ethically insensitive and counterproductive to destroy a working
network of trust, hope, responsibility, and reliability in order to replace it by
a model developed under different cultural and historical conditions. Models
of contract rather than one-sided still soft-paternalistic consent might work
better in all situations.
Additionally, all culturally sensitive models, respecting human dignity in
protecting choices made on the basis of personal convictions and visions
would need ‚escape clauses‘ or ‚conscience clauses‘ allowing each and
every individual to decide for herself or himself on the basis of individual
self determination about her or his place in a moral community and in regard
to community values and decision making. Great emphasis has to be laid
on developing culturally sensitive tools and procedures for those who do
want to make their own choices, even though values and attitudes in their
community or family suggest otherwise. As genes are individually different,
so are individual challenges and individual choices. Progress in human genetics offers new dimensions of health literacy, health promotion, risk factor
management and wellness for the individual citizen; it is a challenge for
public health professionals and public health institutions to provide citizens
with adequate service, guidance and governance in the new age of e-health,
environmental health, and lifestyle health.
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Health Care Competence
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t578
IV. Ethik
und Policy
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
How to Get the Message Through?
Peter Metraux
579u
t580
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Inhalt
IV. Ethik und Policy
How to Get the Message Through?......................................... 582
Literature............................................................................. 590
581u
How to Get the Message Through?
On May 1st 2003 the American President George W. Bush announced on
the aircraft carrier Abraham Lincoln: „Major combat operations in Iraq have
ended“ (New York Times, May 2, 2002).
Some days later the „Program on International Policy Attitudes“ at the
University of Maryland conducted a poll. One of the questions was: „Is it
your impression, that Iraq did (or did not) use chemical or biological weapons in the war that just ended?“ 22% of the respondents said that it had
(Kull et al. 2003, p.5). Mid-June an ABC/Washington-Post-poll asked the
question even more precisely: „Do you believe that Iraq did or did not use
chemical or biological weapons against U.S. troops during the war earlier
this year?“ This time even 24% said that they thought it had. (Kull et al.
2003, p.5)
The American media had covered the war in Iraq for weeks and months
around the clock without ever claiming anything like this. Some media
reminded only, that Saddam Hussein had used poison gas against the Kurds
– 15 years earlier – and that maybe he was in possession of chemical weapons that he could use against American soldiers.
„How to get the message through?“ is the title I chose for this paper. And
with „through“ I don‘t mean through to the small group of especially
interested, but to the demoscopic majority which forms the so called „public
opinion“ that finally decisively influences politics. Because politicians
desperately relay on polls.
The previous example is extreme, sure – but it shows: The publics‘ perception of reality may be completely distorted by powerful filters and obstacles. And actually that is also true when it comes to communicating facts
and developments in genetics. When health professionals try to make their
findings or concerns public, they often will be disappointed or irritated at
the result of their efforts. Their messages of course are not so frightening as
reports on the war in Iraq. But the public may still take them in only fragmentarily and connect them with unintentional conclusions. Or even worse:
The public may not take them in at all. And as the world is perceived through
the media, what is not communicated does simply not exist.
Therefore, it may be helpful, to outline some of the factors, that influence
the messages one wish to get to the public.
First of all: The daily amount of the worldwide produced information is so
huge, that only a tiny fraction of it finds its way into the mainstream media.
t582
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
(I‘m not talking here about specialized medical and scientific journals but
about the newspapers, radio and TV programs that want to reach a wide
public.) There are powerful filters selecting the information which is made
public. The most powerful ones are the news agencies. They are literally
ruling the world of communication. And they mainly select on one single
criterion: what sells best. Meanwhile, this criterion has become one of the
most decisive ones for most of the media.
Let‘s take an example: One of the scientists‘ favorite pets in studying genetics is an animal with the charming name C. elegans. This worm became a
media-star five years ago, when it was sequenced as the first multicellular.
Then it was being promoted as having similarities with human beings.
Finally C. elegans won the Nobel Prize. Or maybe its promoter Sidney
Brenner won it. And the New York Times even wrote an editorial in its honor
– entitled „Ode to a Worm“ (New York Times, Oct.9, 2002).
Those are stories that sell: Discoveries combined with „human touch“.
Meanwhile the community of C. elegans researchers has expanded to over
one thousand. When scanning the Internet one can land more than 170.000
– C. elegans-hits, and there are even C. elegans-Conferences around the
world. But the media coverage has been shrinking since, despite a lot of
additional and important insights this tiny animal has given us so far. (The
170.000 Internet hits I mentioned are mostly publications inside the scientific community.)
The reason for the worm’s way back from stardom to a kind of wallflower
status was that it had become sort of normal to get research-results relating
to C. elegans. And normality isn‘t news worthy. The media want the extraordinary. So a new attractive combination of factors was necessary to bring
the worm back into the spotlight. This happened when researchers recently
discovered a gene related to drunkenness in this poor creature – a discovery
with maybe promising prospects for treating alcoholism in human beings.
In view of the widespread phenomenon of drunkenness in our societies our
tiny worm now has a chance to become a shining star again. A journalist
from a news agency had a good nose for this story and wrote it with the
necessary ingredients: „McIntire, the researcher, can now spot a soused
worm about as well as a highway patrol-trooper can spot a drunken driver. He and other scientists dosed hundreds of thousands of worms with
enough alcohol that they would be too drunk to drive legally – if they were
human....“ (Assosiated Press, Dec. 11, 2003).
583u
How to Get the Message Through?
The discovery of McIntire and his colleagues was published first in the scientific journal „Cell“. There the article had the title: „A Central Role of the
BK Potassium Channel in Behavioral Responses to Ethanol in C. elegans“
(Davies et al. 2003). It is evident that a report written in this scientific manner couldn‘t make headlines. But with the „translation“ into popular language, the worm made it back into most of the US mainstream media.
I would like to give another recent example of this human-touch element
which is making the news prime time suitable: „The first gene linked
directly to heart attacks has been isolated from an extended Iowa family that
has been plagued for generations with rampant coronary artery disease.“
Then the report I refer to tells that the great-grandfather of that family gave
the initial spark for the research: „Don Steffensen, 74 ... told researchers
about his family in hopes they could find a way to stem the deadly heart
attacks that had plagued the family for decades“ (Associated Press, Dec. 4,
2003).
Worms who are so drunken that they could not drive cars if they were human
beings. A great-grandfather who helps researchers detect a defect gene that
may cause heart disease. Those embroidering elements are helpful to push
research results from specialized publications into the mainstream media.
Scientists themselves often could promote their work much better if they
would find ways to link the substance of their research with this kind of
soft news.
One may like it or not: The trend in the mainstream media increasingly goes
towards infotainment. As Neil Postman predicted nearly 20 years ago in his
book „Amusing Ourselves to Death“ (Postman 1985): Under the spreading
laws of private television the public discourse is transformed into an adjunct
of showbusiness.And health professionals have to toe the line, if they are
eager to bring their message through to a broader public. Otherwise they
will only make it into specialized reports in newspaper supplements or late
evening documentaries. And there they will reach a a very limited public.
To make their way to a broader public perception, reports on health issues
have to take another hurdle: the length.The trend in the media goes mercilessly towards shorter and shorter bits. This makes it more and more difficult to transport complex messages. The compression of a 40-page-report
to a 20-sentence-story in a newspaper is a barbarian act. And to reduce it to
four sentences in a radio-news report is literally an act of mutilation.
t584
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Let‘s return to the Iowa family with the defect gene: The original report
mentioned that more studies need to be done to determine whether or not
this gene plays a role in heart disease among people outside of the family
which inherited the mutation. Additionally the researcher is quoted saying
that everybody in this widespread Iowa family with the gene mutation is
destined to have the heart disease. He even goes so far to predict: „We‘re
not talking about an increased risk. If you‘re not run over by a truck or get
another disease first, you‘re going to have a heart attack.“
It is important to consider whether this additional information finds it‘s way
into a 10-sentence newspaper-story. This can give the bare news a direction.
Which would finally help shape the picture of genetics in the public opinion.
One has to be aware, that every journalistic reduction process is subjective.
It consists in a series of decisions for or against something. So there is no
objectivity in the news business. The old Anglo-Saxon saying „comment is
free but facts are sacred“ is not realistic.
Now: What finally is communicated in the media depends on the journalist
who is doing the reduction work. It depends on his personal view. And it
depends also on his competence. And here, unfortunately, I have to say, that
with shrinking budgets of time and money the quality of editorial adaptations of scientific material is shrinking. The media staff increasingly consists
of generalists. And in the TV business eloquence and good looks sometimes
are even more important than journalistic skills.
So here again, the input of health professionals is crucial. They should
literally be able to slip to a certain degree into an editors‘ skin: By deliberately composing summaries or by helping interlocutors find the important
questions, they can direct the reduction process to a certain degree. I think
everybody has watched this type of TV or radio interviews, where the interviewer asks three rather irrelevant questions and then says: „Thank you, Sir
or Madam, we are running out of time.“
I have to mention another law of modern mass communication. There is a
journalistic obsession around the world: everything has to be the latest news.
News in the sense of happening now. It can be a real event like the discovery
of an important gene, for instance, or the UN-debate on the ban of human
cloning. But it also can be a news set artificially to get the medias‘ attention.
Press conferences for instance are such agenda setting tools. With a press
conference one can focus on a development which otherwise would pass
unnoticed. It‘s always to upgrade a trend into a news-event. And that is what
the media like: the news.Scientists may want to use this journalistic obses-
585u
How to Get the Message Through?
sion too in order to boost their messages. But they can even go a step further
in their communication strategy. The media like the spectacular. A master in
attracting global media attention by spectacular actions is Greenpeace.
In the field of genomics Jeremy Rifkin chose this approach when he filed
for a patent in 1997 for a method of cloning various types of embryo cells
to produce chimeras. He and Steward Newman took this step not with the
idea to really get the copyright. They mainly intended get broader media
attention and provoke a public and legal debate over this direction of genetic
research.The „Gene Shop“ experiment (Thum, Stollorz 2004) in Germany
also was one of this attempts to draw attention to a special aspect of genetics
by launching a witty happening.
In mass communication there is a phenomenon one can maybe describe with
the catastrophe theory in mathematics: There is no linear increase in media
coverage with increasing importance of genetic news. At a certain level there
is a sudden rise in attention. It‘s like a dam-burst: all media pounce on the
event, there is a multiplying effect with repetitions, analysis, discussions and
all sorts of experts giving their view.
One of this type of breakthroughs in genetics was, when Dolly the sheep
entered the scene. Cloning suddenly became a top topic. And the sheep
gave scientists an opportunity to develop their views on different subjects
of genetics to a broad public, to people who without Dollys‘ help never
would have watched or read about it. But while many health related gene
discoveries (as the ones linked to drunkenness or heart disease mentioned
earlier) were given mostly positive media attention, cloning was from early
on overshadowed by severe concerns about the potential misuse of this
technology.
There were not only fantasies but also founded fears, because some scientists declared from the very beginning that they intended to clone human
beings. For example Richard Seed, Panos Zavos or Severino Antinori. When
then just one day after Christmas in 2002 a sect called Realians claimed
the birth of a human clone, a sect that believes we all descend from space
aliens, then reality and science fiction definitively began to merge. This all
the more because the announcement of the birth of Eve – as they named the
baby – was given during a press conference in a Hotel in Hollywood. Not the
big Hollywood in Los Angeles but the small one in Florida. Not an A movie,
one could scoff at, but one of the B or C category.
t586
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Nevertheless, the Miami Herald for instance – one of the big and serious USnewspapers – dedicated almost the whole front page and two inside-pages
to this event. „Science fact or fiction?“ the newspaper titled (The Miami
Herald, Dec. 28, 2002). But quoted scientists didn‘t say it was simply a
hoax. They voiced there skepticism and asked for proof. They also expressed
moral concerns. Instead of downplaying the event, the Herald grasped the
opportunity to communicate the basics of genetic engineering, the history
of cloning, the political and legal perspectives and the difference between
reproductive and therapeutic goals.
Big news like the birth of Dolly or the clone baby Eve found its way into the
media without help. This can be used as a bandwagon to direct the public
attention to subjects, that otherwise would be lost in the daily media noise.
However, the window of opportunity is very narrow. If health professionals
want to benefit from it, they have to react quickly and be ready for interviews right away. It‘s like jumping on a moving train. If you miss it, it is
gone. That‘s one of the very disturbing mechanisms in mass communication,
this narrow window in time. What is big news today is old hat tomorrow.
If we now look at the total reports on genetics in the media we first will
realize, that they make up only a small fraction of all the news published or
broadcasted. In 2003 for instance, a simple murder case – the murder of a
pregnant women named Lacy Peterson – this murder case had much more
coverage in the US TV-shows than all topics linked to genomics together.
When we then consider what aspects are reported from the genomics field
we will realize that there are severe disproportions. I don‘t have statistics
quantifying the coverage of the different topics. But when I watch the media
my impression is: Current social issues or information which are clinically
relevant today are underrepresented. On the other hand reports with a futuristic touch are overplayed. Cloning it top. And science fiction is near.
Perhaps we should say: „Science fiction becomes reality.“ Even if the earlier
mentioned clone baby Eve is fake, even then human cloning may be impending. Early in 2004 South Korean scientists reported having created human
embryos through cloning – not for reproduction, but a breakthrough anyway
(New York Times, Febr. 12, 2004).
So it makes quite sense, when, in a typical American anticipation, a
Californian Company offers protection against unwanted doubling – protection through DNA copyright. The president of the company thinks: „A
lot of people are going to want to clone people they admire“ (Crump
587u
How to Get the Message Through?
2001). For celebrities worried they might fall victim of DNA-thieves, the
DNA-Copyright-Institute in San Francisco is offering to store their DNA
fingerprint and provide copyright and legal protection. I tried to find out if
celebrities such as Michael Jackson or Britney Spears are already using this
service, which was founded 2 1/2 year ago under loud media fuss. But I did
not get a response to my email. However, the DNA-instituts‘ merchandising
is working perfectly: I got the „DNA copyright“ hat I ordered without any
problem for $15.99.
Let‘s go back to the communication process. Getting the message through
to the media is only half the way. The readers, listeners and viewers have
yet to take note of it – and understand it properly.Here one should have no
illusion. We all are bombarded with information. We take this in randomly
and fragmentarily and voluntarily and only when we have time.
When we are not especially interested in a subject we read just the headlines
– if at all – and we zap through TV channels. So, unless we are personally
or professionally motivated – and I think that‘s only a small minority of the
population – without this motivation our knowledge of genetics will be very
limited, incoherent and inconsistent. Inconsistent because the signals we get
are often contradictory, not only the interpretations but also the scientific
facts.
For instance: Did Dolly die of premature aging because the sheep was cloned from an adult animal? Mostly I heard and read: Yes. But then I recently
bumped into a TV-discussion, where a professor of molecular biology from
Princeton University said: That‘s nonsense, all DNA from an adult person is
old, sperms and eggs are old too (Silver 2003). So: What shall I think about
Dollys‘ aging?
The problem with the media and the way they are perceived, is, that very
often contradictions are not resolved. I hear yes and I hear no – and nobody
does the synthesis. (Among other things that is a consequence of the media‘s
shrinking budgets of money and time I mentioned earlier.) And as people
mostly don‘t do homework to fill in gaps or put together the puzzle, they
remain with fragments of information.
The additional input then comes from fictional TV-series like Emergency
Room or from movies and novels.Or – even more important – the opinionforming process is influenced by persons and organizations which play an
important role in someones‘ life: by medical staff, especially family doctors,
by political parties, by schoolteachers or by religious groups. They may not
t588
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
exactly provide details for a better understanding of the different aspects
in genomics. But they probably give the guidance for judgments: whether
a development is good or bad and whether it should be supported or disapproved.
And – unfortunately – information gaps pretty often are filled with yellow-press junk. So, to give an extreme example, an American supermarket
tabloid for instance, called „Weekly World News“, publishes all sort of
bizarre and wild stories – also on genetics. Once I read a two-page article
claiming that in a top secret memo to president Bush former CIA director
Tenet had warned against a Hitler-clone cooperating with Osama Bin Laden
– a clone created by the Soviet Union in possession of a frozen tissue sample
from the Nazi Dictator (Weekly World News, Nov. 18, 2003).
That‘s trash, of course, but it is written in a tabloid with a circulation of more
than 400.000 and an estimated readership of about two Million – for which
people are willing to pay two dollars.
Such stories may help shape a completely distorted perception of genetic engineering in a lot of people. But remember that more than 20% of
Americans believe that Saddam Hussein had used weapons of mass destruction against US soldiers in the current Iraq war.
589u
How to Get the Message Through?
Literatur
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New York Times, Febr. 12, 2004.
New York Times, Oct. 9, 2002.
New York Times, May 2, 2002.
Postman, Neil (1985): Amusing Ourselves to Death. New York: Penguin.
The Miami Herald, Dec. 28, 2002.
Thum A, Stollorz V: „The Gene Shop – A Social Experiment“, Presentation
held at the „International Symposium“ on „Public Health Genetics“ in
Bielefeld, Febr.19th 2004.
Weekly World News, Nov. 18, 2003, 24f.
t590
IV. Ethik
und Policy
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Gentests: Besonderheiten in der
Versicherungswirtschaft
Ursula Wandl
591u
t592
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Inhalt
IV. Ethik und Policy
Gentests: Besonderheiten in der Versicherungswirtschaft
1. Risiken: im Zentrum der Versicherungen.............................. 594
2. Das genetische Risiko....................................................... 594
3. Gentests......................................................................... 595
4. Prädiktive genetische Tests................................................ 596
5. Ängste vor dem medizinischen Fortschritt............................ 597
6. Zusammenfassung............................................................ 599
Literatur.............................................................................. 599
593u
G e n t e s t s : B e s o n d e r h e i t e n i n d e r Ve r s i c h e r u n g s w i r t s c h a f t
1. Risiken: im Zentrum der Versicherungen
Seit es Versicherungen gibt, hat sich am Versicherungsprinzip nichts geändert. Interessierte Versicherungsnehmer fragen eine Versicherung, ob diese
ein definiertes Risiko deckt, etwa das Todesfallrisiko. Der Versicherer analysiert das Risiko und kalkuliert eine entsprechende Prämie. Gleichartige
Risiken werden dann in einem Pool zusammengefasst. So werden idealerweise die wenigen Leistungsfälle durch jene Versicherte ausgeglichen, die
glücklicherweise nicht zum Leistungsfall werden.
Selbstverständlich hat sich auch die Versicherungstechnik im Laufe der
Zeit entwickelt: von einer zu Beginn des letzten Jahrhunderts sehr groben
Risikoeinschätzung hin zu einer heute wesentlich individuelleren und akkurateren Einstufung. Dank neuer Therapien und auf Grund der verbesserten
medizinischen Diagnostik sind ehemals unversicherbare medizinische
Risiken heute versicherbar. Auch sichern heute zahlreiche neue Sozialwie auch Privat-Versicherungsprodukte unterschiedliche Risiken ab, zum
Beispiel Unfall, Leben, Berufsunfähigkeit, Dread Disease. Für diese das
Gesundheitsrisiko abdeckenden Versicherungsprodukte wird zum Zeitpunkt
des Versicherungsantrags der Gesundheitszustand des Antragstellers eingeschätzt. Im Gegensatz zu den gesetzlichen Versicherungen, denen das
Solidaritätsprinzip zu Grunde liegt, ist in der privaten Versicherungswirtschaft
das Einzelrisiko von Belang. Dabei werden nicht wie in der Sozialversicherung
alle Risiken in einem einzigen Pool vereint, vielmehr werden vergleichbare
Risiken in Risikogruppen zusammengefasst. Diese Risikogruppen spiegeln die unterschiedlichen Prämienkategorien wider. Dabei setzt sich das
Einzelrisiko aus dem medizinischen Risiko, dem Umfang und der finanziellen Komponente der Risikoabdeckung zusammen. Wird ein erhöhtes
Mortalitätsrisiko durch eine bereits bestehende Krankheit festgestellt, kann
die betreffende Person in eine höhere Risikogruppe aufgenommen werden.
Es wird eine entsprechend höhere Prämie kalkuliert. Der Versicherungsge
sellschaft wie auch dem Versicherungsnehmer steht es frei, das jeweilige
Risiko zu diesen Bedingungen zu versichern oder nicht.
2. Das genetische Risiko
Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms hat zu einem besseren Verständnis von Krankheitsentstehung und Diagnose geführt. Diese
Konsequenzen haben eine Diskussion über die Versicherbarkeit von
Individuen entfacht.
t594
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Die Erforschung des menschlichen Genoms lieferte innerhalb sehr kurzer
Zeit viele neue Ergebnisse. Einige Erkrankungen sind nachweislich auf
eine genetische Komponente zurückzuführen. Die Identifikation wichtiger Gene und ihrer Funktionen hilft, die molekularen Mechanismen von
Erkrankungen zu verstehen. Diese Informationen dienen als Basis für die
Entwicklung von neuen Medikamenten und Behandlungsmethoden. Es
wird jedoch dauern, bis dieses Wissen in die klinische Praxis umgesetzt
sein wird. Anders verhält es sich in der Diagnostik: Die Etablierung von
diagnostischen, also prädiktiven Gentests schreitet rasch voran. Sie sind
zwischenzeitlich auch in den Mittelpunkt der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wahrnehmung geraten. Denn die Vielfalt der Möglichkeiten,
die der medizinische Fortschritt eröffnet, wirft ethische, rechtliche und
gesundheitsökonomische Fragen auf. Über sie zu entscheiden schafft wiederum Unsicherheiten, da aussagekräftige Erfahrungswerte noch fehlen.
3. Gentests
Die Erkenntnis, dass genetische Veränderungen Krankheiten hervorrufen,
hat zu neuen diagnostischen Methoden geführt – den Gentests. Hierbei wird
menschliche DNS analysiert. Auf Grund dieser Analysen sind Aussagen
über Abweichungen möglich, die auf bestimmte Krankheiten bezogen werden können. Veranlagungen für gewisse Erkrankungen können so frühzeitig
erkannt (prädiktive Gentests) und bereits bestehende Krankheiten besser
verstanden und klassifiziert, sowie mit einer effektiveren, maßgeschneiderten Therapie behandelt werden (diagnostische Gentests).
Bisher sind nur wenige Veränderungen des menschlichen Genoms bekannt,
die isoliert eine Erkrankung verursachen. Bei diesen so genannten
monogenetischen Erkrankungen wie Chorea Huntington und familiärer
Adenomatosis polyposis gibt ein verändertes Gen den Ausschlag für den
Erkrankungsphänotypus. Die meisten dieser monogenetischen Erkrankungen
sind nicht oder nur unzureichend therapierbar. Die häufigsten Erkrankungen,
etwa Asthma, Diabetes oder Schizophrenie, sind multigenetisch und multifaktoriell; Umweltfaktoren spielen neben der Veranlagung eine Rolle. In
diesen Fällen mag ein genetischer Test zwar ein erhöhtes Risiko anzeigen,
doch das Auftreten der Erkrankung hängt von vielen weiteren Faktoren ab
und ist daher nur bedingt vorhersehbar.
Gab es 1990 rund 100 Gentests, sind es heute bereits über 1.000. Sie werden
untergliedert in klinischen Gebrauch und Relevanz (Burke 2002).
595u
G e n t e s t s : B e s o n d e r h e i t e n i n d e r Ve r s i c h e r u n g s w i r t s c h a f t
n
n
n
n
n
n
Genträgertests (z. B. Thalassämie)
Präimplantations- und Pränataltests (z. B. Down-Syndrom)
Neugeborenenscreening (z. B. Phenylketonurie)
diagnostische Tests (z. B. hereditäre Hämochromatose)
prädiktive genetische Tests (z. B. Chorea Huntington)
pharmakogenetische Tests (z. B. Alpha-Adducin)
4. Prädiktive genetische Tests
Die molekulargenetische Diagnostik ist heute aus dem klinischen Alltag
nicht mehr wegzudenken. Mit ihrer Hilfe werden Erkrankungen nachvollzogen und geklärt. Anders in der Versicherungswirtschaft; hier steht diese
Art der Diagnostik nicht im Mittelpunkt der Diskussion. Denn erkrankte
Antragsteller werden abhängig von Klinik, Therapie und Prognose auf
Versicherbarkeit eingeschätzt.
Der medizinische Nutzen prädiktiver Gentests ist noch unklar, Kosten und
Effektivität werden kontrovers diskutiert. Ihre Anwendung zur Erkennung
zukünftiger Erkrankungen bei präsymptomatischen, also gesund wirkenden
Patienten scheint im klinischen Bereich viel versprechend zu sein. Kennt
man die Veranlagung für eine bestimmte Erkrankungen, kann ihr Eintritt
durch entsprechende Maßnahmen verzögert oder gar verhindert werden;
Beispiele sind Fettstoffwechselstörungen sowie Diabetes mellitus Typ II.
In diesem Zusammenhang steht die wesentliche Frage, ob sich die Aussage
auf Grund eines prädiktiven Gentests überhaupt von der anderer medizinischer Tests unterscheidet. Ein vor kurzem veröffentlichter Artikel kommt
zu dem Schluss, dass prädiktive Gentests vergleichbar sind mit anderen
prädiktiven Labortests und sie deshalb im klinischen Alltag mit denselben
Standards bewertet werden sollten; beide Testverfahren sind nicht invasiv
und identifizieren Personen mit einem vergleichbar erhöhten Krankheitsoder Mortalitätsrisiko (Green, Botkin 2003). Die klinische Vorgehensweise
ist ähnlich, der behandelnde Arzt bespricht vor dem Test die präventiven
sowie die therapeutischen Möglichkeiten und deren Nutzen mit den
Patienten. Auch J. Taupitz gelangt – aus dem juristischen Blickwinkel – zu
der Auffassung, dass genetische Tests vom „Odium des Besonderen“ befreit
werden sollten (Taupitz 2003).
Bei prädiktiven Gentests wird nicht der Kranke, sondern der Gesunde
untersucht und beraten. Auf Grund des aus einem Test gewonnenen Wissens
können Ängste und Befürchtungen im Hinblick auf den Umgang und
die Verwendung erwachsen. Die Versicherungswirtschaft ist mit diesen
t596
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
Problemen konfrontiert. Denn ihre Aufgabe ist es, individuelle Vorsorge
verantwortungsvoll zu gestalten und individuelle Lebenslagen sachgerecht
abzusichern.
Das Wissen, dass in Zukunft eine Erkrankung droht, die therapeutisch derzeit
nicht zu beeinflussen ist, kann bei dem Betroffenen zu großen psychischen
und sozialen Problemen führen. Nicht nur eine tief greifende Veränderung
der Lebensperspektive ist Folge eines positiven prädiktiven Gentests bei
fehlenden Behandlungskonzepten. Auch Mitglieder der Familie werden
belastet. In diesem Spannungsfeld müssen daher bestimmte Voraussetzungen
erfüllt werden: strenge Indikation, schriftliche Einwilligung zur Aufklärung,
qualifizierte genetische Beratung vor und nach dem Gentest, Recht auf
Nichtwissen und zuverlässiger umfassender Datenschutz. Die genaue
Festlegung von Patientenrechten und die Frage, wie sie garantiert werden
können, spielen hierbei eine wesentliche ethische Rolle.
Für die deutsche Privatversicherungswirtschaft ist es selbstverständlich,
das Recht auf Nicht-Wissen ihrer Kunden zu akzeptieren. Deshalb haben
die deutschen Versicherer stets erklärt, prädiktive Gentests nicht zur
Voraussetzung von Vertragsabschlüssen zu machen – und zwar ausnahmslos. Da es für eine risikogerechte Kalkulation der Prämien notwendig ist,
vor Vertragsabschluss über die gleichen Kenntnisse zu verfügen wie der
Versicherungsnehmer, haben die Versicherer sich zu einem Kompromiss
bereit erklärt: Nach Gentests, die vor Vertragsabschluss durchgeführt
wurden, wird bis zu einer Lebensversicherung über 250.000 Euro weder
gefragt, noch wird das Ergebnis verwendet. Diese Position hat dennoch
ein Unbehagen in weiten Kreisen der Politik nicht restlos beseitigen können. Zurück bleibt die unbegründete Befürchtung, Antragstellern könnte
wegen der Anzeigepflicht eines genetisch bedingten Krankheitsrisikos der
Vertragsabschluss verweigert werden.
5. Ängste vor dem medizinischen Fortschritt
Den meisten Versicherungsnehmern sind die tieferen wissenschaftlichen
Zusammenhänge von Mensch und Genetik nicht gänzlich klar. Mit Sorgen
betrachtet wird der medizinische Fortschritt, insbesondere im Bereich der
humangenetischen Forschung und deren Folgen. Schlagworte wie „gläserner
Mensch“ und „Mensch nach Maß“ machen die Runde. Zahlreiche Mythen
ranken sich um die Perspektiven prädiktiver Gentests, die genaue Aussagen
zum Ausbruch von Krankheiten heute noch gesunder Menschen möglich
machen. Daran ändern seriöse Aussagen von Experten wenig, die versichern,
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G e n t e s t s : B e s o n d e r h e i t e n i n d e r Ve r s i c h e r u n g s w i r t s c h a f t
der Mensch sei mehr als die Summe seiner Gene. Viele Menschen überschätzen die Vorhersehbarkeit auf Grund von genetischen Tests. Nur ganz wenige
Tests können eine zukünftige Krankheit mit Sicherheit voraussagen. Ohnehin
sind die meisten genetisch bedingten Veränderungen vom Zusammenspiel
mehrerer genetischer Faktoren sowie von Umwelt und Lebensstil abhängig. Die Geschwindigkeit des wissenschaftlichen Fortschritts, der Zugang
des Einzelnen zu informationsverbreitenden Medien, verbunden mit einer
großen Skepsis gegenüber Wissenschaft, hat zu einer ganzen Reihe von
Ängsten geführt, zum Beispiel vor sozialem Ausschluss, Diskriminierung
oder Ausschluss von Bank- und Versicherungsgeschäften. Diskussionen um
das Ausmaß der möglichen Eingriffe in den Verlauf menschlichen Lebens
verändern das Werteverständnis unserer Gesellschaft nachhaltig.
Die Europäische Akademie richtete eine Projektgruppe ein, die sich mit der
Frage beschäftigte, ob der Einsatz genetischer Tests im Versicherungswesen
zulässig sei. Dabei konzentrierten sich die Überlegungen der Projektgruppe
auf den Markt für Lebensversicherungen. Mitglieder der interdisziplinären Projektgruppen waren Wissenschaftler aus Humangenetik,
Gesundheitsökonomie, Medizin, Medizinrecht, Philosophie. Auf der
Grundlage ihrer Arbeiten formulierten die Mitglieder der Projektgruppe eine
Empfehlung: „Für den Markt privater Lebens- und Krankenversicherungen
sehen die Autoren unter der Voraussetzung, dass angemessener Wettbewerb
herrscht, derzeit keinen zusätzlichen Regelungsbedarf hinsichtlich der
Erhebung und Verwendung genetischer Information. Abzulehnen sind insbesondere gesetzliche Bestimmungen, die es dem Versicherer verwehren, die
Weitergabe von Kenntnissen über risikorelevante genetische Dispositionen
vom Versicherungsinteressenten zu verlangen, über die dieser bereits verfügt
(Bayrische Rückversicherung AG 2000).
Die deutschen Versicherer haben sich veranlasst gesehen, den Sorgen der
Bevölkerung entgegenzutreten und Ängste abzubauen, dass genetisch getestete Menschen mit einem Erkrankungsrisiko vom Versicherungsschutz
ausgeschlossen seien. Daher hat die Versicherungswirtschaft eine zunächst
bis zum Jahr 2006 befristete Verpflichtung abgegeben, in der sie auf die
Durchführung freiwilliger prädiktiver Gentests verzichtet (Freiwillige Selb
stverpflichtungserklärung der Mitgliedsunternehmen des Gesamtverbandes
der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. 2000).
t598
Genetik in Public Health
Te i l 2 / 2 0 0 7
6. Zusammenfassung
Gentests sind eine konkrete Methode, das Risiko eines Menschen festzustellen, genetisch bedingt zu erkranken. Gentests sind in einigen klinischen
Disziplinen bereits in Anwendung. Bevor ein solcher Test allgemein eingesetzt wird, müssen seine Auswirkungen geprüft und sein Nutzen ermittelt
werden. Wird der Einsatz von Gentests im klinischen Alltag befürwortet, sollten sie wie andere vergleichbare medizinische Tests gehandhabt
werden. Die uneinheitliche Bewertung von genetischen Tests und ihre
Definition würden nennenswert erleichtert werden, was wiederum zu einer
besseren Akzeptanz in der breiten Öffentlichkeit führen würde. Die praktische Erfahrung mit Gentests wird künftig die großen Befürchtungen und
Unsicherheiten, die durch noch unzulängliche Information hervorgerufen
werden, ausräumen.
Literatur
Bayerische Rückversicherung Aktiengesellschaft, München (Hrsg.) (2000):
Fachreihe der Bayerischen Rück: (Humangenetisches Symposium Nr.
29) [http://www.gdv.de/fachservice/15807.htm.]
Burke W (2002): Genetic Testing. New England Journal of Medicine 347,
1867–1875
Green MJ, Botkin JR (2003): Genetic exceptionalism in Medicine: Clarifying
the differencesbetween genetic and nongenetic tests. Annals of Internal
Medicine 138, 571–575
Taupitz J (2000): Genetische Diagnostik und Versicherungsrecht - 4 Thesen.
Versicherungsmedizin 3, 147–148
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t600
Genetik in Public Health
V. Autoren/Herausgeberverzeichnis
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n
Public Health
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Autoren/Herausgeberverzeichnis
Dr. Carmen Bartel
Institut für Sozialmedizin
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Beckergrube 43/47
23552 Lübeck
Prof. Dr. Alfons Bora
Institut für Wissenschafts- und Technikforschung (IWT)
Fakultät für Soziologie
Universität Bielefeld
Postfach 100131
33501 Bielefeld
Prof. Dr. Angela Brand MPH
Deutsches Zentrum Public Health Genomics (DZPHG) 
Fachhochschule Bielefeld
Kurt-Schumacher-Strasse 6
33615 Bielefeld
Dr. Helmut Brand MSc
Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW (lögd)
Westerfeldstraße 35/37
33611 Bielefeld
Dr. Katja Bromen MPH
European Commission
Health and Consumer Protection Directorate-General (DG SANCO)
Unit C7- Risk Assessment
B-1049 Bruxelles
Prof. Dr. Peter Dabrock M.A.
Juniorprofessur für Sozialethik (Bioethik)
Fachbereich Evangelische Theologie
Philipps-Universität Marburg
Lahntor 3
35037 Marburg
t602
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Prof. Dr. Wolfram Henn
Institut für Humangenetik der Universität des Saarlandes
Universitätskliniken, Bau 68
66421 Homburg/Saar
Dr. Karl Kälble
Abteilung für Medizinische Soziologie
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Hebelstr. 29
79104 Freiburg
Dr. Dagmar Lühmann
Institut für Sozialmedizin
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Beckergrube 43/47
23552 Lübeck
Peter Metraux (†)1
6538 Collins Ave
Miami Beach, FL 33141
USA
Dr. Hermann Neus
Behörde für Wissenschaft und Gesundheit
Abteilung Verbraucherschutz
Fachabteilung Gesundheit und Umwelt (G25)
Billstraße 80
20539 Hamburg
1
Peter Metraux ist während der Erstellung dieses Bandes verstorben. Die Mitglieder der
ZiF-Kooperationsgruppe „Public Health Genetics“ und die Teilnehmer des internationalen
Symposiums „Public Health Genetics – Risks and Challenges“ werden den renommierten
schweizerischen Rundfunkjournalisten als kritischen Zuhörer, inspirierenden Beitragenden und
menschlich herausragende Persönlichkeit in Erinnerung behalten.
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Autoren/Herausgeberverzeichnis
Prof. Dr. Notburga Ott
Lehrstuhl Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft
Fakultät für Sozialwissenschaft
GCFW/04
Ruhr-Universität Bochum
44780 Bochum
Prof. Dr. Norbert W. Paul M.A.
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
der Johannes Gutenberg-Universität
Am Pulverturm 13
55131 Mainz
Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe
Institut für Sozialmedizin
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Beckergrube 43/47
23552 Lübeck
Prof. Dr. Hans-Martin Sass
Zentrum für Medizinische Ethik
Ruhr Universität Bochum
D- 44780 Bochum
Prof. Dr. Stefan Schreiber
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Schittenhelmstrasse 12
24105 Kiel
Dr. Peter Schröder
Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW (lögd)
Westerfeldstraße 35/37
33611 Bielefeld
t604
Genetik in Public Health
Te i l 2 : I n t e g r a t i o n v o n G e n e t i k i n P u b l i c H e a l t h
Prof. Dr. Ipke Wachsmuth
Geschäftsführender Direktor
Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF)
Wellenberg 1
33615 Bielefeld
PD Dr. Ursula Wandl
Medical Director
Swiss Re Germany AG
85773 Unterföhring bei München
Dr. Christa Wewetzer
Zentrum für Gesundheitsethik (ZfG)
an der Evangelischen Akademie Loccum
Knochenhauerstr. 33
30159 Hannover
605u
t606
Westerfeldstraße 35/37
33611 Bielefeld
Fax 05221 8007-200
[email protected]
www.loegd.nrw.de
Genetik in Public Health • Teil 2: Integration von Genetik in Public Health
Landesinstitut für den
Öffentlichen Gesundheitsdienst
des Landes Nordrhein-Westfalen
Genetik in Public Health
Teil 2: Integration von Genetik in
Public Health
Wissenschaftliche Reihe
24
www.loegd.nrw.de
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