Die Bedeutung von Bildern in einer digitaler werdenden Welt: Überlegungen zu einer wahrnehmungsnahen Kommunikation Wolfgang Reißmann (Universität Siegen) Einleitung Wir leben in einer Zeit, die in starkem Maße von bildlichen Visualisierungen unterschiedlichster Art geprägt ist. Gerade die so genannten „sozialen Medien“ – d. h. Messengerdienste wie WhatsApp, Microbloggingdienste wie Twitter, Social Network(ing) Sites wie Facebook oder Sharing-Plattformen wie YouTube – sind ohne Bilder und Videos nicht denkbar. Zugleich ist ihr Bestehen Motor für das Fortschreiten der Visualisierung. Daraus folgt zunächst, dass visuellbildliche Umwelten als alltägliche sozialräumliche Kontexte der Lebensführung sowie Bilder als Ausdruck und Vermittlung kommunikativen Handelns ernst zu nehmen sind. Das gilt für den Bereich der Bildung ebenso wie für Beziehungsführung, Sozialisation, Politik oder Wirtschaft. Visualisierung durchzieht sämtliche Lebensbereiche und betrifft alle gesellschaftlichen Felder. Die folgenden Ausführungen fragen nach der Bedeutung von Bildern in einer digitaler werdenden Welt und münden in Überlegungen zu einer wahrnehmungsnahen Kommunikation. Referenz- und Fluchtpunkt ist die Bildpraxis von Privatpersonen bzw. Laien und Amateuren. Damit ist nicht gemeint, dass Bilder nur im privaten Raum entstehen (z. B. Zeichnungen oder Fotografien); wohl aber, dass Rezeption, Aneignung und Verbreitung von bildlichem Material (jeglicher Couleur, d. h. auch aus massenmedialen Produktionszusammenhängen) im weiteren Kontext von Freundschafts- und Bekanntschaftsnetzwerken situiert ist. Der Text will vor diesem Hintergrund für die Tatsache sensibilisieren, dass alltägliche Interaktion heute vielfach auch bildvermittelt-ästhetische Interaktion ist. Mittel- und langfristig hat das Konsequenzen dafür, was wir gemeinhin unter einem „Gespräch“ oder einem „Dialog“ verstehen können und in welchen Modalitäten und Sinnformen sich die wechselseitigen „Ansprachen“ und Adressierungen vollziehen. Die Ausführungen enden mit einem knappen Fazit zur daraus folgenden Stellung von Medienpädagogik und ästhetischer Bildung. Stiftung Brandenburger Tor Seite 2 Digitalisierung des Bildes / der kommunikativen Infrastruktur Medientechnologische Grundlage aktueller Bildpraxis ist die Digitalisierung. Ihre Folgen für das Bild sind zweifach zu bedenken: zum einen als Digitalisierung des Bildträgers und damit des zuvor analog produzierten und dargestellten Bildes; zum anderen als Digitalisierung der kommunikativen Infrastrukturen, innerhalb derer Menschen mit (digitalen) Bildern agieren. Erstens ist es das Bild selbst, das digital – und damit vor allem plastisch und gestaltbar – wird. Eine Konsequenz ist, dass Grenzen zwischen traditionellen Bildgattungen verwischen und neue Hybride entstehen. Das wiederum hat Folgen, etwa für die Frage, welchen Bildern wir Glauben schenken (oder nicht); aber auch dafür, wie wir uns ausdrücken und von unserem Leben und unserer Umgebung Bericht erstatten können. So galt weit über 100 Jahre die private Fotografie als ein Medium vermeintlich authentischer Abbildung von Ereignissen im sozialen Nahraum. Durch das zunehmende kulturelle Bewusstsein um die prinzipielle Gestaltbarkeit von Fotografien unter den Bedingungen ihrer digitalen Produktion bestehen heute erheblich mehr Zweifel hinsichtlich ihrer Abbildungsleistung bzw. Indexikalität. Umgekehrt erleben wir mit so genannten „Memes“ (d. h. über Social Media zirkulierende Bild-Text-Arrangements mit großer Reichweite und schneller Verbreitung) oder „Remix“ und „Mashups“ (d. h. Neuarrangements und Bricolagen aus unterschiedlichen Bildquellen und Materialien) einen Aufschwung an quasi-künstlerischem und ästhetischem Ausdruckshandeln, das als Breitenphänomen ohne digitale Medien sowie einfach bedienbare und preiswerte bzw. kostenfreie Bildbearbeitungssoftware so nicht denkbar wäre. Zweitens sind es die kommunikativen Infrastrukturen, die auf eine digitale Basis gestellt werden. Konnten wir noch bis weit in die 1990er Jahre eine Medienlandschaft ausmachen, die sich aus verschiedenen, im Alltag sinnprovinziell für sich stehenden Einzelmedien zusammensetzte – Fernsehen, Radio, Computer(spiel) usw. –, finden wir heute eine Situation zunehmender Entgrenzung, Verschachtelung und Vernetzung medialer Funktionalitäten vor. In der Kommunikations- und Medienwissenschaft spricht man von Medienkonvergenz bzw. Media Convergence oder auch Medienintegration. Als Teilprozess dieser Entwicklung können wir seit ca. 10– 15 Jahren beobachten, wie internet- und datenbasierte Technologien selbstverständlicher Bestandteil der medienvermittelten zwischenmenschlichen Kommunikation geworden sind. Mit Social Network(ing) Sites als Massenphänomen, mit der zunehmenden Verbreitung Stiftung Brandenburger Tor Seite 3 von Mobiltelefonen und seit ca. 2010 mit dem Zusammenwachsen von Internet und Mobiltelefonbereich durch das Smartphone, verschieben sich auch Möglichkeiten und Grenzen der privaten Bildpraxis. Eine der wichtigsten Konsequenzen ist, dass Bilder und Fotografien im Leben von Privatpersonen und Laien an jedem Ort und zu jeder Zeit erstellt, bearbeitet, in Umlauf gebracht, empfangen und weiterverbreitet werden können – kurzum: dass Bilder mobil werden und zuvor bestehende raumzeitliche Situierungen viel einfacher überwunden werden können. Es kann nicht überraschen, dass sich vor dem Hintergrund sowohl der Digitalisierung des Bildträgers als auch der kommunikativen Infrastrukturen Anwendungskontexte des Bildes sowie Umgangs- und Nutzungsweisen verändern. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass digitale Medientechnologie bzw. programmierbarer Rechencode ebenso gebraucht werden können, um bestehende und in „analogen“ Zeiten ausgebildete Medien- und Bildpraktiken fortzuschreiben oder zu imitieren. Das gilt für Ästhetiken und Darstellungsformen ebenso wie für Wahrnehmungsmuster und soziale Funktionen, die bestimmte Bilder und Genres im Alltag haben. Digitale Bildlichkeit umfasst dementsprechend z. B. auch die nostalgische Reproduktion von Polaroid-Optik oder die Nutzung von Vintage-Filtern, die die Ästhetiken vergilbter analoger Farbfotografien wiederholen. Auch ist die Konstanz im Bereich der sozialen Funktionen von Bildern, etwa für die Kontinuität und die symbolische Überhöhung und Idealisierung von Partnerund Freundschaften, nicht zu unterschätzen. Überlegungen zu einer wahrnehmungsnahen Kommunikation mit Bildern Eingedenk dieser Relativierung und der veränderten Ausgangsbedingungen werden einige Überlegungen zu einer wahrnehmungsnahen Kommunikation mit Bildern formuliert. Selbstverständlich wird auch über Bilder gesprochen bzw. sind Bilder Gegenstand der Anschlusskommunikation; werden Bilder in Social Network(ing) Sites und anderswo sprachlich gerahmt oder auch numerisch vermessen (Anzahl von Klicks, Likes etc.). Gleichzeitig ist jedoch zu beobachten, dass Kommunikation und zwischenmenschliche Interaktion sich vielfach selbst bildvermittelt vollziehen. Mit dem gegenwärtig erreichten Stand an medialer Vernetzung und Infrastruktur kommt Bildern eine neue Qualität als kommunikative Medien im Fluss des Alltagshandelns zu. Um diese Ästhetisierung und Visualisierung kommunikativen Handelns geht es im Folgenden. Stiftung Brandenburger Tor Seite 4 Zunächst müssen wir uns bewusst machen, dass eine bildlich-ästhetische Kommunikation eine spezielle Vergegenständlichung von Erfahrung erlaubt, deren Besonderheit es ist, dass sie keiner sprachlichen Übersetzung bedarf. Führen wir uns die Geschichte privater Bildpraxis vor Augen, war diese, situiert im Lebensvollzug, immer eine Art Stop-and-Go-Geschehen: z. B. wurde ein Foto erst aufgenommen, dann entwickelt, schließlich in ein Album sortiert, um folgend hin und wieder aus dem Schrank genommen und angeschaut oder verbal-ritualhaft besprochen zu werden. Prinzipiell haben wir heute die Möglichkeit, über Bilder jedes Hier und Jetzt permanent und ohne Umwege direkt kommunizierbar zu machen. Wir sind in unserer Alltagskommunikation also nicht mehr in gleicher Weise auf Sprache als universalem und traditionellem Medium der Vergegenständlichung von Erfahrung angewiesen. Zweitens ist es hilfreich, sich eine bildlich-ästhetische Kommunikation als eine Kommunikation des Zeigens und der Aufmerksamkeitsfokussierung vorzustellen. Schon der Fingerzeig des Kleinkindes erzeugt Aufmerksamkeit für etwas. Im Grunde wiederholt Bildkommunikation beständig diese Geste: Hier ist dies! Dort ist das! Ich bin das! Du bist das! Wir sind das! Schau(t) hin! usw. Ohne weitere verbale oder auch diagrammatische Kontextualisierung (durch z. B. Ortsmarkierung und Karten) bleibt diese Geste vage und unbestimmt. Allerdings verfügen wir über ein breites Spektrum an Strategien der Kadrierung (Bildausschnitt), der Hervorhebung, Betonung, des Verbergens und Auslassens (z. B. Detail- und Nahaufnahme, Einfärbung und Abblendung von Bildinhalten), die deutlich machen, was im präsentierten Sehfeld jeweils (primär) wahrgenommen werden soll. Mit Bildern kommunizieren bedeutet, etwas in das Sichtfeld eines anderen zu platzieren. Drittens und darauf aufbauend handelt es sich um eine Kommunikation der präsentischen Teilhabe. Mit dem Mittel der Sprache beschreiben wir etwas, das andere, aber auch wir selbst uns im Vollzug des Sprechens oder Lesens vorstellen müssen. Freilich gibt es beispielsweise auch beim Lesen Momente tiefer Beteiligung und des Eintauchens in die beschriebene Welt; und sind unsere Sinne synästhetisch und multimodal vernetzt. Dennoch sind gerade Bilder eben nicht nur kommunikative Gegenüber, die wir als „Texte“ auf das hin, was sie zeigen und preisgeben, befragen und interpretieren, sondern stellen uns Bilder imaginär in eine Situation hinein. Sie rufen geradezu notwendig eine Erfahrung von Präsenz und Anwesenheit hervor. Das ist unmittelbar einsichtig für das realistischabbildende Artefakt, gilt dem Prinzip nach aber genauso für jegliche bildliche Fantasie und selbst für abstrakte Form- und Farbspiele. Stiftung Brandenburger Tor Seite 5 In dem Maße nun, wie der physikalische „Realraum“ – niemals absolut, immer relativ, aber eben doch und nicht zuletzt bedingt durch translokale und individualisierte Lebensführungsmuster – an Bedeutung verliert, scheinen visuell geteilte Erlebnis- und Interaktionsräume als pseudo-materielle Umwelten an Bedeutung zu gewinnen. Nicht nur Jugendliche schaffen sich jedenfalls über Bilder visuelle Erlebnis- und Interaktionsräume, die zeit- und ortsunabhängig im erweiterten Freundes- und Bekanntenkreis erfahr- und in gewissem Sinn auch „begehbar“ sind. Umgekehrt machen Bilder und Fotografien eine Art multilokales Präsenzerleben möglich, d. h. wir können nachverfolgen wie die Welten von Freunden und Bekannten aktuell, vor Minuten und Stunden oder Tagen und Wochen ausgesehen haben mögen. In der Mobiltelefonforschung wird dieses Phänomen seit längerem als „mediated presence“ diskutiert. Die Forschung konzentriert sich primär auf Fotografien, die anzeigen, wo man gerade ist und was man gerade macht. Die Logik präsentischer Teilhabe greift allerdings weiter: Mit Bildern vergegenständlichen wir nicht nur äußere, sondern auch innere Erlebnis- und Gefühlswelten; produzieren und illustrieren wir Fiktionen (Utopien wie Dystopien), wie etwas noch, anders, alternativ oder zukünftig sein könnte; halten wir Stimmungen und Atmosphären fest; weisen wir eine besondere Ereignishaftigkeit bestimmter Situationen aus u. a. m. All das sind Erfahrungen, die sich als Erleben, selbst wenn wir wollten, nur mit starken Verlusten verbal transportieren ließen. Insofern wir dies wiederholt und beständig tun, werden wir, ausgerüstet mit digitalem Pinsel und Kamera, gewissermaßen zu Ethnografen und Dokumentaristen unserer inneren wie äußeren Lebenswelt. Viertens ist bildlich-ästhetische Kommunikation eine Kommunikation des Beeindruckens. Natürlich gab und gibt es immer schon die rhetorische Rede oder Charismatiker, die mit Schönheit und Form überzeugen oder auch mit Hässlichkeit und Gewalt zu drohen suchen. Umgekehrt gibt es verschiede Bildstile, etwa im Bereich des Dokumentarischen, die mit Genreerwartungen des sachlich-nüchternen Blicks aufgeladen sind. Als konkrete Veranschaulichungen können Bilder aber gleichsam nicht anders, als beeindrucken und fesseln zu wollen und die Betrachtenden für sich gefangen zu nehmen. Fünftens wäre es eine unhaltbare Übertreibung, zu postulieren, dass Prozesse des Zeigens, Sehens und Bildverstehens ohne sprachförmig gedachte Identifizierung, Benennung oder die Antizipation von Intentionen der Zeigenden auskommen würden. Das tun sie in der Praxis nicht. Nichtsdestoweniger ist mit dem Aufschwung des Bildes als kommunikativem Medium eine Bedeutungszunahme einer Kommunikation verknüpft, die nicht Stiftung Brandenburger Tor Seite 6 allein und primär über den Inhalt und Akte der aktiven Bedeutungszuschreibung verläuft, sondern über die Art und Weise, also den Modus, etwas darzustellen, zu präsentieren, im Wortsinn etwas in Beleuchtung zu setzen bzw. wahrzunehmen und zu erleben. Bildkommunikation ist in hohem Maße Stilkommunikation; wobei Stil wiederum rückgebunden und Ausdruck sozio-kultureller Praxis ist, sei diese nun geschlechtsspezifisch, jugendkulturell oder auch nur bezogen auf bestimmte Gruppen und Partnerschaften bezogen, die je für sich eigene Stilräume entwerfen. Hierbei geht es u. a. um die Vergewisserung kultureller Zugehörigkeit, um das ritualhafte Aufführen einer mit einer Gemeinschaft und Kultur geteilten Symbolik, aber auch um Distinktion und Verortung im sozialen Raum und gegebenenfalls um Status und Konkurrenz. Sechstens ist eine Kommunikation mit Bildern eine Kommunikation der gleichzeitigen Präsentation von Wahrnehmungselementen. Auch das ist bildtheoretisch keine Neuigkeit. Als Alltagsphänomen hat diese Form der Kommunikation dennoch das Zeug, die Art und Weise, wie wir uns gegenseitig von der uns umgebenden Welt in Kenntnis setzen, zu verändern. Bedeutung wird nicht in der Sukzession der Worte generiert, sondern z. B. in der simultanen Konfrontation und Gegenüberstellung gegensätzlicher Bildinhalte, über Assoziationsketten, über Praktiken des (auch innerlichen) Herein- und Herauszoomens, des imaginären Abtastens von Oberflächen, dem vexierbildartigen Spiel mit Teil-Ganzes-Relationen, über Bildspiele des Suchens und Findens, über Vergleich und Wiederkennung und das produktive Wiederaufnehmen und Weiterverarbeiten von ästhetischem Material. Stellenwert von Medienpädagogik und ästhetischer Bildung Insofern Bilder unterschiedlichster Couleur alltäglicher Bestandteil kommunikativen Ausdrucks und kommunikativer Interaktion sind, zeigt dies auf Seiten des Bildungssystems und zivilgesellschaftlicher Akteure spezifische Bedarfe an. Schon mit Blick auf Massenmedien und deren Bildund Filmwelten bestand die Herausforderung, ästhetische Symbolik und Produktionstechniken zu dechiffrieren und verstehbar zu machen und damit nicht nur junge Menschen in die Lage zu versetzen, sich souverän und selbstbestimmt ausdrücken und in ihren Lebenswelten bewegen und agieren zu können. Das humanistische Ideal kommunikativer Kompetenz bleibt die normative Ziellinie und wird nur umso wichtiger, wenn Bild und Video nicht mehr nur massenmediale Texte sind, die sprachlich besprochen und Stiftung Brandenburger Tor Seite 7 reflektiert werden (sollen), sondern mehr und mehr auch zu grundlegenden Ressourcen der Interaktion bzw. des wechselseitigen Anzeigens von Erfahrung werden. Neben der Medienpädagogik, die traditionell stärker im Freizeitbereich und in außerschulischen Kontexten verankert ist, kann und sollte ästhetische Bildung im Rahmen des Kunstunterrichts oder in fächerübergreifenden Vermittlungskonzepten eine Aufwertung erfahren. Auch die vielbeschworenen MINT-Fächer kommen ohne visuelle Kompetenz (etwa zur rhetorischen Funktion von Grafen und Diagrammen) nicht aus. Voraussetzung für diese Aufwertung ist allerdings, dass sich ästhetische Bildung und Kunstunterricht dort, wo noch nicht geschehen, von kunsttheoretischen Dichotomien etwa der Hoch- und Populärkultur verabschiedet und sich öffnet für visuelle Alltags- und Gegenwartskultur. Literatur Reißmann, Wolfgang (2015, im Erscheinen). Mediatisierung visuell: Kommunikationstheoretische Überlegungen und eine Studie zum Wandel privater Bildpraxis. Baden-Baden: Nomos. Autoreninfo Wolfgang Reißmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Professur für Medien und Kommunikation des Medienwissenschaftlichen Seminars der Universität Siegen. E-Mail: [email protected]