Karpaltunnelsyndrom Das Karpaltunnelsyndrom (KTS), ausgelöst durch eine Druckschädigung des Medianusnervs am Handgelenk, hat unter den berufsassoziierten Erkrankungen der oberen Extremitäten besondere Aufmerksamkeit gefunden. Da der Nerv sensorische und motorische Fasern führt, ist eine Beeinträchtigung seiner Funktion für den Patienten besonders einschneidend, da sowohl die Sensorik, als auch die Motorik gestört sind. Klinik Symptome und Verlauf Die Erkrankung beginnt häufig mit einem Einschlafen und Kribbeln („Ameisenlaufen“) der Hand, manchmal speziell auf der Kuppe des Mittelfingers. Schmerzen werden in der ganzen Hand, unter Umständen auch im Unterarm, empfunden. Die Schmerzen treten bevorzugt in Ruhe auf, folglich besonders häufig nachts. Im Verlauf der Krankheit bleibt es nicht nur bei den nächtlich auftretenden Schmerzen und Missempfindungen. Zunehmend häufig treten die Symptome auch tagsüber auf. Patienten berichten diesbezüglich häufig von Ungeschicklichkeit und plötzlich auftretender Schwäche der Hand. Das Feingefühl der Haut an Daumen, Zeige-, Mittel- und Ringfinger reduziert sich immer stärker. In späteren Stadien kann es zum Verlust der Daumenballenmuskulatur kommen. Der vollständige Verlust des Hautgefühls in der Hand und eine irreversible Atrophie des Daumenbeugers tritt glücklicherweise nur selten auf. Auslösung des KTS Ausgelöst werden die Beschwerden durch eine Abwinklung des Handgelenkes, wie sie zum Beispiel beim Telefonieren oder Rad fahren vorkommt. Kurze Zeit später hat der Patient das Gefühl einer angeschwollenen Hand. Symptome des KTS treten auf, nachdem über längere Zeit ein Druck auf den Mediannerv im Karpaltunnel wirkt. Eine Schädigung entsteht direkt durch die Kompression und indirekt durch eine gestörte Durchblutung. Abbildung 1: Schema Karpaltunnel Bei bestimmten Handbewegungen und Positionen (insbesondere Flexion, Greifen, Faustschluss) drücken die Sehnen (helle Kreise) auf den Nerv (dunkler Kreis). Eine Anspannung der Sehne führt ebenfalls zu einer Druckbelastung des Nervs. Quelle: Wells, Keir, Moore 1995 Es gibt verschiedene Umstände, die im Karpaltunnel ungünstige Druckverhältnisse schaffen. Einerseits kann der Druck durch einen engen Kanal anatomisch bedingt sein (angeboren, durch nachträgliche Verengung aufgrund einer Fraktur, durch ein Ganglion). Andererseits kann eine Reizung der Flexorsehne zu einem Druckanstieg im Karpaltunnel führen. Bei Frauen wird während der 1 Schwangerschaft hormonell bedingt vermehrt Flüssigkeit im Bindegewebe akkumuliert, dadurch wird öfters ein Druckanstieg im Karpaltunnel ausgelöst, der den Mediannerv komprimiert. Ausserdem bewirken ungünstige Handstellungen Druck auf die Nerven des Karpaltunnels. Die biomechanische Analyse der anatomischen Situation zeigt, dass die folgenden Positionen / Aufgaben einen erhöhten Druck im Karpaltunnel bewirken: Anspannung der tiefen Flexorsehne Flexionsstellung und andere nicht neutrale Handstellungen Kräftiger Fingergriff und Faustschluss Druckschädigungen von Nerven können auch andernorts auftreten: Mediannerv (in weiteren Lokalisationen): man spricht vom anterioren interossären Syndrom oder vom Pronatorsyndrom am Ellbogen. Dies tritt bei der Handhabung diverser Werkzeuge auf. Ulnarnerv: er kann im Kubitaltunnel am Ellbogen eingeengt sein, oder in der proximalen Handfläche. Dies kommt häufig bei Metzgern vor, die sehr viel mit Messern arbeiten, und diese immer mehr oder weniger gleich in der Hand halten. Radialnerv: hier ist vor allem der proximale Vorderarm betroffen, und man spricht von einem Radialtunnelsyndrom. Peronaeusnerv: wird in der Hockestellung in der Kniekehle zusammengedrückt, was zu Lähmungen führen kann. Nicht jede Druckbelastung ist für Nerven schädigend, da der Nerv in schützendes Bindegewebe eingebettet ist und sich im umgebenden Gewebe auch verschieben kann. Abbildung 2: Schutzmechanismen gegen Druck auf einen Nerv Das Bindegewebe im Nerv schützt ihn vor Schaden, wenn er Druckbelastungen ausgesetzt ist. Quelle: Lundborg and Dahlin 1995 Neben der direkten Schädigung durch Druck, welche den axonalen Transport behindert, spielt auch eine ungenügende Durchblutung bei lokalem Druck eine Rolle. 2 Abbildung 3: Blutversorgung eines Nervs Quelle: Lundborg and Dahlin 1995 Mechanismus Die Kompression eines Nervs hat verschiedene akute und chronische Effekte. Akut wird eine Faserdeformation ausgelöst, und eine lokale Ischämie tritt auf. Als Reaktion darauf erhöht sich die vaskuläre Permeabilität, was zu einem Ödem führen kann. Das Ödem selbst behindert wieder die Durchblutung, und so kommt ein sich selbst verstärkender Mechanismus in Gang. Die Zusammensetzung des interstitiellen Raumes verändert sich, und die Aktivität verschiedener Enzyme wird erhöht. Langfristig führt das Ödem zur Einwanderung von Fibroblasten und zur Vernarbung. Dies behindert das Gleiten der Faszikel innerhalb des Nervs und führt somit zu einer chronischen Reizung des Gewebes. Die Fasern degenerieren und funktionieren nicht mehr richtig. Abbildung 4: Externer Druck auf Nerv Die Kompression des Nervs hat sowohl akute wie auch chronische Auswirkungen auf das Gewebe, welche zu einer Dysfunktion führen können. Quelle: Lundborg and Dahlin 1995 3 Risikofaktoren Allgemeine Risikofaktoren für ein KTS sind das weibliche Geschlecht, Alter, Übergewicht, mangelnde Fitness, Rauchen, Alkohol und Koffein, Diabetes, Nierenkrankheiten, Schilddrüsenkrankheiten, Schwangerschaft, Stillen, Sport und genetische Faktoren. Im Berufsleben sind Menschen besonders gefährdet, deren Arbeit grosse Kraft, starke Gelenksauslenkungen und wiederholte Bewegungen verlangt. Auch eine lang andauernde gebeugte oder gestreckte Handstellung ohne Erholzeiten, wie sie bei einseitiger Arbeit am Computer vorkommen kann, ist ein Risikofaktor für das KTS. (Quelle: z.B. da Costa und Vieira, 2010) Arbeit mit vibrierenden Werkzeugen kann ebenfalls ein Karpaltunnelsyndrom mitverursachen. Abbildung 5: Übersicht Karpaltunnel Die Faktoren Haltung, Dauer, Wiederholung und Kraft beeinflussen die Entstehung eines KTS Quelle: Wells, Keir, Moore 1995 Diagnose Die Diagnose eines Karpaltunnelsyndroms ergibt sich aus den Symptomen und der klinischen Untersuchung. Bei der klinischen Untersuchung wird auf das sogenannte Tinel-Zeichen geachtet. Als Tinel-Zeichen bezeichnet man Parästhesien, die bei der Perkussion über dem Medianusnerv (über dem Handgelenk) auftreten. Ein zweiter häufig verwendeter Test ist der Phalentest. Dabei werden die Hände etwa eine Minute in maximaler Flexion gehalten und überprüft, ob Missempfinden oder „Einschlafen“ der Finger im Innervationsgebiet des Mediannerven auftreten. Vor einer Operation wird normalerweise mittels Neurographie (verlangsamte Nervenleitgeschwindigkeit) die Schädigung des Mediannervs überprüft. Diagnostische Mittel Positives Tinel- Zeichen Positiver Phalentest Neurographische Untersuchung 4 Nachweis verzögerter Nervenleitgeschwindigkeit des Mediannervs Elektromyogramm (EMG), Zeichen der Muskeldegeneration im Daumenballen (die vier Muskeln des Daumenballens werden vom Mediannerv versorgt: Musculus abductor pollicis brevis, Musculus opponens pollicis, Musculus flexor pollicis brevis, Musculus adductor pollicis adductor) – Nachweis der Nervenfaseruntergänge und der Beschränkung auf das Medianusinnervationsgebiet – Verlaufsbeurteilung und Beurteilung bei postoperativen Komplikationen – Beispiele aus der Forschung Durchblutung Die Rolle der Durchblutung: Im klassischen Versuch wird ein Nerv gereizt und anschliessend sein motorisches und sensorisches Aktionspotential gemessen. Gleichzeitig gibt man durch eine Armbinde lokal Druck auf den Nerv. Dabei muss der Druck am Handgelenk nicht sonderlich hoch sein – der Druck, den viele schon beim Schreiben erreichen, reicht aus. Nach 40 Minuten verschwinden die Aktionspotentiale. Der Nerv wird also temporär behindert. Wenn man anschliessend diesen Druck beim Handgelenk entfernt und stattdessen am Oberarm den arteriellen Blutfluss unterbricht, kehrt das Aktionspotential nicht zurück, obwohl inzwischen kein direkter Druck mehr auf das Handgelenk wirkt. Mit der Oberarmbinde ist die Blutzufuhr unterbrochen. Dies deutet darauf hin, dass dem Faktor Durchblutung eine grössere Bedeutung beizumessen ist. Kurz nach dem Öffnen der Blutdruckmanschette erholt sich die Nervenfunktion, was zeigt, dass der Nerven durch die einmalige Kompression nicht langfristig geschädigt wurde. Abbildung 6: Externer Druck auf Nerv Externer Druck von 60mm Hg auf den Karpaltunnel während 45 Minuten, gefolgt von Blockade der Durchblutung durch Stauschlauch am Oberarm mit Druck von 250mm Hg Quelle: Lundborg and Dahlin 1995 Beispiel zur Druckmessung im Karpaltunnel beim Schreiben: D. Rempel hat in einer Serie von Publikationen aufgezeigt, wie sich der Druck im Karpaltunnel in Abhängigkeit der Handposition und bei diversen Kraftanstrengungen und Handbewegungen verändert. Es ist bekannt, dass ein Gewebsdruck von 30mm 5 Hg im Karpaltunnel eine leichte Parästhesie (Fehlempfindung, Sensibilitätsstörung) in den vom Mediannerv innervierten Fingern auslösen kann. Bei einem Druck von über 50mm Hg kommt es zu einer kompletten Blockierung der sensorischen und motorischen Nervenfasern. Aus Abbildung 7 ist ersichtlich, dass beim Maschinenschreiben der kritische Druck für eine Nervenbeeinträchtigung überschritten wird, falls von der Neutralstellung abgewichen wird (was meistens der Fall ist). Abbildung 7: Druck beim Schreiben in Extension-Flexion In extremen Haltungen wirkt im Karpaltunnel schon beim Schreiben genügend Druck auf den Nerv, dass dieser beeinträchtigt wird. Quelle: Rempel 1995 6 Methoden der Epidemiologie Welche Methoden stehen einem Epidemiologen konkret zur Verfügung, um eine Studie zu Beruf und KTS durchzuführen? Diagnose Elektrodiagnostik Klinische Tests Symptome Chirurgische Intervention wegen KTS Exposition Jetzige Berufsbelastung Berufsbezeichnung Beurteilung durch Experten Diverse Belastungsfaktoren durch Forschung Berufsliste mit Berufsbeschreibungen Video- und EMG- Analyse ausgewählter Arbeitsplätze Anstellungszeit im aktuellen Beruf Evaluation der kumulierten Risiken und der Expositionsdauer mittels Fragebogen Therapie Im Unterschied zu vielen anderen Erkrankungen des Bewegungsapparates ist beim KTS eine Operation die Therapie der Wahl. Ebenfalls sinnvoll ist natürlich die Reduktion von übermässigen Belastungen. Falls das KTS durch eine Schwangerschaft verursacht wird, verschwinden die Symptome danach spontan. In einer Operation wird das volare Ligament (auf der Handinnenfläche) angeschnitten, um den Karpaltunnel zu erweitern. Bei vollständiger Durchtrennung ist jedoch die Griffkraft reduziert. Es gilt, die Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen und eine optimale chirurgische Vorgehensweise zu finden. Ein Grossteil der am Retinaculum operierten Patienten zeigt ein gutes Resultat. Wenn das KTS von der Arbeit herrührt, ist die Prognose eher schlechter. Der Heilungsprozess ist verzögert, vor allem, wenn trotz KTS weitergearbeitet wird. Hier wären weitere Erkenntnisse nötig, wie sich aus dem Zitat von Eira ViikariJuntura (1995) ergibt: „Because no prospective follow-up studies have been conducted…it is not known whether people can adapt to certain levels of physical stress after an initial disease episode, nor is it known whether a chronic underlying condition (e.g., thickening of the flexor tendons) continues to produce and exacerbate symptoms at relatively low stress levels.” Prävention Ausser der Behandlung von bestehenden Krankheiten wie Diabetes mellitus oder grossem Übergewicht sind keine vorbeugenden Massnahmen bekannt. 7 Gesetzliche Grundlagen Das KTS wird anhand von Elektrodiagnostik, klinischen Tests und den Symptomen diagnostiziert. Auch die Exposition wird evaluiert. Ein Experte beurteilt die Berufsbelastung; dabei berücksichtigt er die Anstellungszeit im aktuellen Beruf und ermittelt die kumulierten Risiken und die kumulierte Exposition (z.B. durch Fragebogen). Die Drucklähmung der Nerven wird bei allen Arbeiten als Berufskrankheit anerkannt. Oft ist es aber schwierig, den Zusammenhang zwischen dem KTS und beruflicher Exposition (z.B. Arbeit am Presslufthammer, mit vibrierenden Apparaten, an Computertastatur) rechtsgenügend festzustellen. Die SUVA ist sehr zurückhaltend mit der Anerkennung eines KTS als Berufskrankheit. Dieser Rechtsauslegung fügen sich auch die Krankenkassen und übernehmen die Kosten für die Behandlung. Dadurch werden aber berufsbedingte Erkrankungen fälschlicherweise von der Krankenkasse bezahlt, statt durch die Unfallversicherung vergütet. Das generelle Problem dabei liegt darin, dass sich die Kostenfolgen von Krankheiten vom Arbeitgeber auf die Krankenkasse des Arbeitnehmers überwälzen. Somit fehlt dem Arbeitgeber, der SUVA – Beiträge bezahlen muss, der finanzielle Anreiz für die Prävention. Offene Fragen Entsteht die Schädigung direkt durch die Kompression oder indirekt durch eine gestörte Durchblutung? Weiterführende Literatur http://www.css.ch/home/privatpersonen/pri-gesundheit/prigesundabczugesundheit%20undkrankheit/pri-ges-abckarpaltunnelsyndrom_kts.htm?letter_K Quellennachweise da Costa BR, Viera ER: Risk Factors for Work-Related Musculoskeletal Disorders: A Systematic Review of Recent Longitudinal Studies. AMERICAN JOURNAL OF INDUSTRIAL MEDICINE 53:285–323 (2010). Abbildungen Abbildung 1: Schema Karpaltunnel RP Wells, PJ Keir, AE Moore (1995), in Repetitive Motion Disorders of the Upper Extremity, Gorden, Blair, Fine (Eds), American Academy of Orthopaedic Surgeons, Rosemont, USA, p114 Abbildung 2: Schutzmechanismen gegen Druck auf einen Nerv G Lundborg and LB Dahlin (1995), in Repetitive Motion Disorders of the Upper Extremity, Gorden, Blair, Fine (Eds), American Academy of Orthopaedic Surgeons, Rosemont, USA, p382 Abbildung 3: Blutversorgung eines Nervs G Lundborg and LB Dahlin (1995), in Repetitive Motion Disorders of the Upper Extremity, Gorden, Blair, Fine (Eds), American Academy of Orthopaedic Surgeons, Rosemont, USA, p385 Abbildung 4: Externer Druck auf Nerv G Lundborg and LB Dahlin (1995), in Repetitive Motion Disorders of the Upper Extremity, Gorden, Blair, Fine (Eds), American Academy of Orthopaedic Surgeons, Rosemont, USA, p382 Abbildung 5: Übersicht Karpaltunnel 8 RP Wells, PJ Keir, AE Moore (1995), in Repetitive Motion Disorders of the Upper Extremity, Gorden, Blair, Fine (Eds), American Academy of Orthopaedic Surgeons, Rosemont, USA, p113 Abbildung 6: Externer Druck auf Nerv G Lundborg and LB Dahlin (1995), in Repetitive Motion Disorders of the Upper Extremity, Gorden, Blair, Fine (Eds), American Academy of Orthopaedic Surgeons, Rosemont, USA, p392 Abbildung 7: Druck beim Schreiben in Extension-Flexion D Rempel (1995), in Repetitive Motion Disorders of the Upper Extremity, Gorden, Blair, Fine (Eds), American Academy of Orthopaedic Surgeons, Rosemont, USA, p129 Zitat: (Eira Viikari-Juntura, 1995 in repetitive motion disorders of the upper extremity, Gorden, Blair, Fine (Eds), American Academy of Orthopaedic Surgeons, Rosemont, USA) Erstellt von Rahel Bagdasarianz auf der Grundlage der Vorlesung von Thomas Läubli; Inhaltliche Verantwortung Thomas Läubli 2008, Ergänzungen Nov. 2010 9