leben mit dem , der lebt - KThF

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LEBEN MIT DEM, DER LEBT
ZUR BEDEUTUNG GELEBTER ERFAHRUNGEN IN DER BIBEL
Heute sind Zeugen gefragt, weniger Lehrmeister. Ein Zeuge lehrt durch seine
Lebenserfahrung. Die zweigeteilte christliche Bibel ist voll von Lebenserfahrungen. Dr.
Franz Sedlmeier, Professor für Alttestamentliche Wissenschaft an der Universität
Augsburg, geht solchen Lebenserfahrungen nach und erschließt uns, was gelebte
Erfahrung des Volkes Gottes heute bedeuten kann.
1. MIT ALLEN SINNEN VOM LEBEN SPRECHEN
„Wir sind nicht irgendwelchen klug ausgedachten Geschichten gefolgt, als wir euch die
machtvolle Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, verkündeten, sondern wir waren
Augenzeugen seiner Macht und Größe“ (2 Petr 1,16). Mit klaren Worten bringt der Verfasser
des zweiten Petrusbriefes zum Ausdruck: Unsere Botschaft besteht nicht in schönen Ideen
oder netten Gedanken. Sie basiert vielmehr auf dem, was wir selbst erlebt und erfahren
haben. Unser eigenes Leben steht dafür ein.
Nicht weniger eindringlich betont dies der Verfasser des ersten Johannesbriefes. Er weiß
sich in Gemeinschaft mit vielen anderen, die wie er die Botschaft von Jesus Christus
empfangen, diese in ihr Leben aufgenommen haben und sie nun weitergeben mit all ihren
Sinnen, mit Aug und Ohr, mit Mund und Herz und Hand, kurzum – mit ihrem ganzen Leben:
„Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir
geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens.
Denn das Leben wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das
ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir gesehen und gehört
haben, das verkünden wir auch euch ... (1 Joh 1,1-3a)“.
Diese beiden Zitate aus dem neutestamentlichen Schrifttum stehen beispielhaft für die
Botschaft der zweigeteilten christlichen Bibel. Altes wie Neues Testament sind vor allem
Lebensbücher. Sie sprechen vom Leben, wie Generationen von Menschen es im Auf und Ab
ihrer Geschichte erfahren haben, in guten wie in bösen Tagen. Und sie laden die Leserinnen
und Leser aller Zeiten dazu ein, dieses Leben ihrerseits zu entdecken und es in ihre eigene
Lebenserfahrung zu integrieren.
2. „ERFAHRUNG“ – EIN VIELSCHICHTIGER BEGRIFF
Nun ist der Begriff „Erfahrung“, der heute gerne und viel verwendet wird, in sich äußerst
komplex und vielschichtig, keineswegs jedoch eindeutig. Je nachdem, in welchen Bereichen
und in welchen Zusammenhängen er Verwendung findet (z.B. in der Alltagssprache, in
Philosophie, Theologie oder den Naturwissenschaften),
bezeichnet er jeweils
Unterschiedliches. Die Neuzeit etwa verband mit der Hervorhebung der Erfahrung nicht
selten eine Abwertung der Tradition, die man als Bevormundung nicht länger akzeptieren
wollte. In unserer Zeit fundamentaler Krisenerfahrung und einer damit gegebenen
Orientierungslosigkeit verbindet sich die Suche nach Sicherheit und Orientierung mit einem
regelrechten Erfahrungshunger, der seinerseits, wenn er sich mit rein innerweltlicher
Bedürfnisbefriedigung begnügt, nur zu leicht in eine neue Sinnleere hineinführt. Die
Komplexität des Erfahrungsbegriffes kann hier nicht annähernd reflektiert werden. Deshalb
seien mit Blick auf die Bedeutung biblischer Erfahrungen wenigstens einige grundlegende
Aspekte angeführt.
Erfahrungen stehen generell in der Spannung von Erlebnis und Deutung des Erlebten.
Diese Polarität von unmittelbarem Widerfahrnis und vermittelnder Interpretation gehört
sachlich notwendig zusammen, sowohl in der Wahrnehmung einer Erfahrung selbst als auch
bei deren Weitergabe. Durch die erschließende Deutung wird das zuvor Erlebte in einen
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Sinnzusammenhang gestellt. Dabei erhebt sich freilich die kritische Frage, ob eine
Interpretation realitätsgerecht geschieht, für das unmittelbar Erlebte also transparent und
dem Ursprung treu bleibt, oder ob sie sich mit ihrer Deutung aufdrängt und Erfahrungen
vereinnahmt. Insofern stellt die Wahrnehmung, Deutung und Weitergabe von Erfahrung hohe
Ansprüche an einzelne Personen und Gemeinschaften. Erfahrungskompetenz verlangt nicht
nur einen wachsamen und lauteren Blick und Feingespür für Lebensäußerungen, sondern
auch Einsicht in die soziale Bedingtheit von Erfahrungen, Kritikfähigkeit und Selbstkritik, die
Fähigkeit, neue und dissonante Erfahrungen zuzulassen und zu integrieren und nicht zuletzt
eine Wertschätzung vor der Einzigkeit einer jeden Person und deren ureigenen
Lebenserfahrungen.
Eine weitere Unterscheidung ist für das Verständnis biblischer Erfahrungen hilfreich –
zwischen „erzählter Welt“ und „Erzählwelt“. Was ist darunter zu verstehen? Die „erzählte
Welt“ bezieht sich auf das ursprünglich Erfahrene, auf das Erlebnis und seine Bedeutung.
Dieses Ereignis ist als Erzählstoff Gegenstand der Erzählung, gegebenenfalls des
Glaubenszeugnisses (vgl. Apg 9,1-22; 22,5-16; 26,12-18). Die „Erzählwelt“ meint hingegen die
Erzählgemeinschaft, in der das Erfahrene zur Sprache kommt, aufgenommen, reflektiert und
weitergegeben wird. Selbst hinter fiktiven Erzählungen (z.B. Jona, Daniel) stehen
Erfahrungen, vorwiegend die einer Erzählgemeinschaft, die ihre Botschaft aus uns nicht
immer, ihr aber einsichtigen Gründen – etwa in Zeiten der Verfolgung um des Schutzes
willen – verfremdet, indem sie eine Handlung in ferne Zeiten und auf nur literarische
Gestalten oder auf Personen einer Vorzeit projiziert. Eine Erzählgemeinschaft wird also
einerseits von grundlegenden Erfahrungen geformt, sie prägt aber ihrerseits die Erfahrungen
auf ihre Weise mit. Ein und dieselbe Erfahrung kann sich aufgrund der Erzählsituation ganz
unterschiedlich artikulieren, je nachdem ob sie vor Kindern erzählt wird, vor jungen
Erwachsenen oder vor Menschen, die sich sterbend auf das Leben im Jenseits vorbereiten.
Wenn etwa das Alte Testament seine Erfahrungen mit dem Königtum zur Sprache bringt,
gelangt es zu einem widersprüchlichen Urteil: Neben einer königsfreundlichen Sicht gibt es
auch eine harsche Kritik an der Institution des Königtums. Diese widersprüchlichen
Aussagen über das Königtum fangen gerade in ihrer Widersprüchlichkeit die Ambivalenz des
Königtums ein, die guten Erfahrungen und zugleich die vielen herben Enttäuschungen. Beide
miteinander konkurrierenden Deutungen sind in unterschiedlichen Zeiten und
Erzählgemeinschaften beheimatet. In ihrem Urteil wissen sie sich allerdings einer
Grundeinsicht verpflichtet. Maßstab für ihr positives wie ihr negatives Urteil ist der Horizont
der Gottesherrschaft und mit dieser die Verwirklichung der göttlichen Weisung.
Biblische Erfahrungen stehen in all ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit unter dem
übergreifenden Sinnzusammenhang der Herrschaft Gottes, die sich in der Geschichte in
einem oft schmerzlichen Prozess Bahn bricht und sich am Ende der Zeiten endgültig
durchsetzen wird. Sie bezeugen diesen Gott auf unterschiedlichste Weise als Gott ihres
Lebens und ihrer Hoffnung, auch in den Abgründen und Nächten des Lebens. Selbst in Zeiten
der Abwesenheit Gottes und bedrängender Gottsuche tragen sie in sich die Gewissheit, dass
vor Gottes Angesicht auch noch die missachteten Erfahrungen und die ungehörten Schreie
der Opfer der Geschichte Gehör finden und diese die ihnen geraubte Würde zurückerhalten.
Zugleich eröffnet ein Leben unter der Herrschaft Gottes, das von der Lebenszusage Gottes
getragen ist und an der göttlichen Weisung Maß nimmt, einen neuen Lebenshorizont: eine in
der Liebe wirksame Freiheit, die Lebens- und Beziehungsräume so zu gestalten versteht, dass
die göttliche Herrschaft ansatzhaft gegenwärtig und erfahrbar werden kann.
Das Wissen um die noch ausstehende Vollendung bedeutet freilich auch einen Vorbehalt
gegenüber einem Erfahrungshunger, der das ganze Heil im Hier und Jetzt einfordert und
dabei nur allzu schnell in eine Überforderung führt. Der jüdisch-christliche Glaube bewahrt
gegenüber einer solchen zwanghaften Selbstverwirklichung eine deutlich kritische Distanz,
die zugleich Entlastung bedeutet. Denn er trägt in sich die Hoffnung, ja die Gewissheit, dass
jegliche menschliche Erfahrung fragmentarisch bleibt angesichts der Verheißungen Gottes:
„Wir verkündigen, wie es in der Schrift heißt, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört
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hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet
hat, die ihn lieben“ (1 Kor 2,9). Christen führt dieser Vorbehalt auf die Spuren Jesu Christi,
des Gekreuzigten und Auferstandenen. Aus der Gemeinschaft mit ihm kommt die
Wirklichkeit einer neuen Schöpfung in den Blick, die die Sehnsucht der Schöpfung weckt und
sie danach Ausschau halten lässt, dass die Menschen endlich als die offenbar werden, die sie
dem göttlichen Heilsplan gemäß von Anfang an sind: Söhne und Töchter Gottes (vgl. Röm
8,18-23).
3. DIE BIBEL ALS LEBENSBUCH – EINE GELÄNDEBESICHTIGUNG
Mehr denn ein Buch ist die Bibel eine kleine Bibliothek, deren Texte und Bücher in ganz
unterschiedlichen Zeiten entstanden sind. Sie besteht aus den beiden Teilbibliotheken Altes
und Neues Testament. Beide Teile sind konstitutiv für die Christenheit. Von Anfang an hat
die junge Kirche – besonders in den Auseinandersetzungen mit Markion in der ersten Hälfte
des 2. Jh. n. Chr. – verstanden, dass sie sich ihrer eigenen Grundlage berauben würde, wenn
sie sich vom Reichtum des Alten Testaments, der Heiligen Schrift Jesu und der Frauen und
Männer, die mit ihm unterwegs waren, lösen würde.
3.1. „TAUSEND JAHRE ...“
Im Alten Testament mit seinen insgesamt 46 Büchern schlägt sich die lange Lebens- und
Glaubensgeschichte des Volkes Israel nieder, etwa ein Jahrtausend. Zeiten des Glanzes, der
Hochstimmung und Euphorie – etwa in der davidisch-salomonischen Ära um ca. 1000 v. Chr.
oder in den Jahrzehnten der Regierung des Königs Joschija (640-609 v. Chr.) – stehen neben
Krisenzeiten ohne Perspektive und Hoffnung, z.B. während des babylonischen Exils im 6. Jh.
v. Chr. Höhen und Tiefen, Siege und Niederlagen folgen aufeinander und prägen dieses
kleine Volk Israel, das zwischen den politischen Machtblöcken Ägypten im Südwesten und
Assyrien, Babylonien, Persien im Nordosten und Osten liegt, sich gegen die Großen und
deren Machtinteressen zu behaupten hatte und den Kampf ums Leben und Überleben nie
aufgegeben hat. Dieser Kampf um das Leben und um das Überleben war immer zutiefst mit
der Frage nach Gott verbunden. Denn ER – JHWH – ist für Israel der Lebendige und der Geber
allen Lebens. Die biblisch-alttestamentlichen Schriften sind somit Zeugnisse eines Weges,
den Israel mit seinem Gott und den der Gott Israels mit seinem Volk und einzelnen
Gläubigen gegangen ist. Sie zeigen die vielfältigen Möglichkeiten auf, wie sich das
Gottesverhältnis ausgestalten kann. In immer neuen Variationen sprechen sie von
Erfahrungen mit Gott, von Erfahrungen mit der Welt und den Menschen, auch von
Erfahrungen mit sich selbst.
Innerhalb des Alten Testaments kommt den fünf Büchern Mose eine besondere Bedeutung
zu. Sie beginnen mit der biblischen Urgeschichte, weiten also den Horizont von Anfang an
auf die gesamte Völkerwelt hin. Als Schöpfer hat Gott die ganze Menschheit im Blick. Was
Israel und im Gefolge Israels der Kirche an besonderer Erwählung und Erfahrung auch
immer zuteil werden mag, das Gottesvolk ist mit all seinen Erfahrungen hineingestellt in die
Völkerwelt, aus der es genommen und für die es bestellt ist, damit der göttliche Segen alle
erreiche (Gen 12,1-4a). Die fünf Bücher Mose erzählen weiter von den Erzeltern Abraham und
Sara, Isaak und Rebekka, von Jakob, Lea und Rachel, in deren Erfahrungen sich Israel
spiegeln und selbst wiederfinden kann: mit den nötigen Loslösungsprozessen und
Aufbrüchen (Gen 12,1-8), der ungewissen Zukunft (Gen 15), dem dunklen und rätselhaften
Handeln Gottes (Gen 22). Diese Bücher wissen vom Schicksal der Knechtschaft, von
erfahrener Befreiung und Rettung (Ex 1-15), vom zermürbenden Weg durch die Wüste (Ex 1618; Num 11ff.), von göttlicher Führung und menschlicher Mutlosigkeit, von
außergewöhnlichen Gotteserfahrungen am Fuße des Sinai (Ex 19 - Num 10), von Verrat,
Treuebruch und göttlichem Zorn (Ex 32), aber auch von seinem Vergebungswillen, der den
verlässlichen Grund für Israels Weg in die Zukunft bildet (Ex 34). Und das letzte der fünf
Bücher Mose, das Buch Deuteronomium, präsentiert sich als große Abschiedsrede des Mose.
Rückschauend auf den gemeinsamen Weg seit den Tagen des Auszugs wirbt Mose darum,
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das Herz des Volkes hier und jetzt – heute – für Gott zu gewinnen und es so für das Leben
im Lande vorzubereiten. Israel darf die Wegerfahrungen mit Gott „nicht vergessen“, sondern
soll der Taten Gottes gedenken. Im Gedenken der Taten Gottes bleiben die vergangenen
Heilserfahrungen in der Gegenwart lebendig und wirksam. Denn – gültige Erfahrungen
überdauern die Zeiten und vermögen die Generationen miteinander zu verbinden und in
Gottes Gegenwart zu vereinen.
Die 16 Geschichtsbücher umfassen die großen Epochen der Geschichte Israels, ausgehend
von der Landnahme (Josua) über die Richterzeit und die Zeit der Könige bis zum
babylonischen Exil. Vielfältiges und Widersprüchliches kommt darin zum Vorschein, auch
die Tragik der Beziehung zwischen Israel und seinem Gott. Mit kritischem Blick sehen die
späten Bearbeiter dieser Bücher auf eine Epoche von etwa 600 Jahren. Ihre
Geschichtsschreibung ist nicht Historiographie in unserem Sinne. Sie betrachten die
Geschichte unter einem bestimmten Blickwinkel und fragen bewusst einseitig und
zugespitzt, ob denn der Weg des Gottesvolkes auch tatsächlich ein Weg mit Gott, ein Weg
nach seiner Weisung war. Spätere Schriften wie die Chronikbücher, die Bücher der
Makkabäer oder Erzählwerke wie die Bücher Tobit und Judit verfolgen den Weg Israels in die
nachexilische Zeit hinein, zum Teil bis in die letzten Jahrhunderte vor der Zeitenwende. Die
Erfahrungen der Tempelgemeinde von Jerusalem, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen,
aber auch das Schicksal der Diasporagemeinden und ihr Ringen um die eigene Identität in
der Zerstreuung, die Gratwanderung zwischen Anpassung und Unterscheidung finden darin
ihren Niederschlag.
Die 7 Bücher der Weisheit und der Psalmen sind durch und durch von alltäglichen
Lebenserfahrungen geprägt. Weisheit ist Erfahrungswissen. Sie ist der Versuch, in der
verwirrenden Vielfalt und der undurchschaubaren Komplexität des Lebens eine Ordnung zu
entdecken. Dabei kommt der Erfahrung und dem Erfahrungswissen ein besonderes Gewicht
zu. Dieses Erfahrungswissen wird in Sprichwörtern, in Sinnsprüchen ausgedrückt. Es geht in
der Weisheit also darum, das „Durcheinander“ im Erleben von Welt im Rückgriff auf
Erfahrungswissen zu bewältigen, um sich so erkennend und handelnd in der Welt, im Alltag
zurecht zu finden. Die Sinnsprüche der Weisen sind im gesamten Orient verbreitet. In der
Weisheit vermitteltes Erfahrungswissen verbindet demnach die Völker miteinander und zeigt
einen Weg auf, der Menschen zueinander führen und miteinander verbinden kann.
Ein besonderer Stellenwert kommt den Psalmen zu, die das Leben in seinen vielfältigen
Ausdrucksformen und damit auch in all seiner Widersprüchlichkeit mit Gott ins Gespräch
bringen: in Dank und Lobpreis für erfahrenes Glück und für gelingendes Leben; in Bitte und
Klage dort, wo Leben bedroht ist und zerbricht. Zum Gebet geronnene Lebenserfahrung –
abgründiges Leid wie nicht weniger abgründiges Vertrauen und im Leid gereifte Dankbarkeit
– hat den Psalter zu einem Lebensbuch werden lassen, in dem Menschen sich und ihr Leben
unterbringen können, wie R. M. Rilke dies in einem Brief an seinen Verleger ausgedrückt hat:
„Ich habe die ganze Nacht einsam hingebracht ... und habe schließlich die Psalmen gelesen,
eines der wenigen Bücher, in denen man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut
und angefochten sein.“
Die 18 prophetischen Bücher werden einzelnen Prophetengestalten zugeschrieben.
Propheten sind die kritischen Begleiter des Gottesvolkes, vor allem der Verantwortlichen.
Ihre Gotteserfahrung, die mehrmals in Berufungsberichten beschrieben und reflektiert wird,
verleiht ihnen ein besonderes Gespür sowohl für die Wirklichkeit Gottes und den göttlichen
Willen, als auch für ihre Zeit und deren offene Wunden, die sich im Zusammenleben des
Gottesvolkes nicht schon auf den ersten Blick zeigen. Propheten nehmen wahr, was den
Augen oft verborgen ist. Sie decken auf, wo Leben zur Lüge wird, wo das Zusammenleben
nicht stimmt, wo Menschen unterdrückt, um ihr Recht und ihre Personenwürde gebracht
werden. In ihren großen Bildern der Hoffnung sprechen sie von einer heilvollen Zukunft, die
Gott herbeiführen wird. Auch mit ihrer Heilsverkündigung erheben sie mitunter Einspruch:
gegen einen sich breitmachenden lähmenden Pessimismus und gegen dumpfe Resignation,
die die Kraft des Glaubens einer kalkulierenden Berechnung opfern. Sie widersprechen
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energisch Tendenzen der Assimilation, die von Aufbruch und Unterscheidung nichts mehr
wissen will und die eigene Identität um des Wohlbefindens wegen aufzugeben bereit ist. Mit
ihrer Heilsverkündigung fordern die Propheten müde und erfahrungsarm gewordene
Gemeinden auf, sich doch nach dem auszustrecken, was noch vor ihnen liegt – das von Gott
bereitete und verbürgte Heil.
3.2. „... UND EIN TAG“
Während die alttestamentlichen Schriften einen Zeitraum von über 1000 Jahren abdecken,
sind die neutestamentlichen Schriften innerhalb einiger weniger Jahrzehnte fast alle im 1. Jh.
n. Chr. entstanden. Sie kreisen um die zentrale Botschaft von Leben, Tod und Auferstehung
Jesu. In der Nachfolge des gekreuzigten und auferstandenen Herrn wächst dieses neue Leben
in die Menschheit hinein, bis diese ihre Vollendung findet.
Auf unterschiedliche Weise nähern sich die vier Evangelien dem Geheimnis der Person
Jesu. Hinter ihrem polyphonen Zeugnis verbergen sich unterschiedliche Erfahrungen und
Deutungen einer Weggemeinschaft mit Jesus. Gerade diese biblisch verbürgte Vielfalt in der
Wahrnehmung der Person Jesu bewahrt die Gläubigen davor, die eigene, persönliche
Erfahrung mit ihm zu verabsolutieren. Die Vielfalt des Zeugnisses verlangt vielmehr danach,
hellhörig für die Erfahrung anderer zu sein und gemeinsam dem Geheimnis der Person Jesu
nachzuspüren.
Dabei kommt der auf einem längeren Glaubensweg gereiften Erfahrung eine besondere
Bedeutung zu. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert die Apostelgeschichte. Als sich die
Frage stellt, wer denn an Stelle des Judas in den Kreis der Zwölf aufgenommen werden soll,
führen die Apostel folgendes Kriterium an: „Einer von den Männern, die die ganze Zeit mit
uns zusammen waren, als Jesus, der Herr, bei uns ein und aus ging und (in den Himmel)
aufgenommen wurde, – einer von diesem muss nun zusammen mit uns Zeuge seiner
Auferstehung sein“ (Apg 1,21f.). Die aus gelebter Erfahrung gewonnene Einsicht in die
Glaubensbotschaft, nicht das bloße Wissen nur vom Hörensagen, wird zum Kriterium bei der
folgenden Wahl des Matthias.
Die gesamte Apostelgeschichte will im Grunde genommen nichts anderes, als das
Wachstum der jungen Kirche erzählen, das auch durch Anfeindungen und Verfolgungen
nicht verhindert werden kann – im Gegenteil! Bedrängnisse werden zum Ausgangspunkt
neuen Lebens, das sich gerade aufgrund der Verfolgungen zunächst von Judäa nach
Samarien, schließlich durch die Gefangennahme des Paulus bis nach Rom ausbreitet, dem
Mittelpunkt des damaligen Weltreiches. Dabei begnügt sich die Beschreibung nicht damit,
Geschehnisse und Taten lediglich aneinander zu reihen. Diese werden vielmehr so
dargestellt, dass die Verwandtschaft zwischen dem Leben der Jünger und dem ihres Meisters
aufscheint, wie etwa das Sterben des Stephanus zeigt (vgl. Apg 7,54-8,1a und Lk 22,69;
23,34.46).
Auch die restlichen Schriften des Neuen Testaments, die Briefliteratur wie die
Offenbarung des Johannes, präsentieren sich als vielfältige Zeugnisse des mit Jesus Christus
angebrochenen neuen Lebens. Das zentrale Christusgeschehen von Tod und Auferweckung
und das Wissen um die Vollendung bei ihm wird zur tragenden Grunderfahrung, aus der
heraus die Gemeinden und die einzelnen Gläubigen ihr eigenes Leben deuten und von der
her sie sich selbst prägen und formen lassen. Die Gemeinden als lebendige
Glaubensgemeinschaften werden zum Erfahrungsraum, in dem – wenngleich gebrochen und
abgeschattet durch Versagen und menschliche Grenzen – erlebt werden kann, wie sehr
christliche Existenz nach Leben schmeckt und nach Lebenserfahrung und Lebenszeugnis
drängt.
4. TRANSFORMATIONSPROZESSE – EINE GESTEINSPROBE
Es sind insbesondere Verlusterfahrungen, denen in der Schrift eine besondere Bedeutung
zukommt. Sie zeigen einmal, dass der Gott der Bibel keine menschliche Projektion ist und
nicht in der Verlängerung menschlicher Wünsche und Sehnsüchte liegt. Die großen
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Zusammenbrüche, die dem JHWH-Volk Israel zugemutet werden, etwa der Untergang des
Nordreiches in der zweiten Hälfte des 8. Jh. v. Chr. oder die Zusammenbrüche im
babylonischen Exil im 6. Jh. v. Chr. machen deutlich, dass Gott immer auch der andere und
fremde Gott ist, der menschliche Vorstellungen durchkreuzt. Bezeichnenderweise sind
gerade Krisenzeiten und Zeiten des Zusammenbruches literarisch und theologisch äußerst
fruchtbar. Die Erfahrung der Gottferne, die auch viele Psalmen thematisieren und klagend zu
bewältigen suchen, führt zu einem neuen und tieferen Verständnis nicht nur des
Geheimnisses der göttlichen Gegenwart, sondern auch der Stellung und Funktion des JHWHVolkes vor dem Forum der Weltöffentlichkeit.
Von solchen Transformationsprozessen weiß auch das Neue Testament. Ein Beispiel soll
dies illustrieren. Der Evangelist Markus erzählt vom Weg Jesu mit seinen Jüngern nach
Jerusalem, dem Ort seines Leidens, seines Sterbens und Auferstehens. Markus hat nun die
Wegerfahrung der Jünger in Kapitel 8 bis 10 so gestaltet, dass er zugleich Einblick gewährt in
den inneren Weg, den die Jünger zurückzulegen haben.
Dreimal kündigt Jesus auf diesem Weg den Jüngern sein Leiden und seine Auferstehung
an (8,31; 9,30-32; 10,32-34), um sie an seiner heilsbedeutsamen Erfahrung teilhaben zu
lassen. Und die Jünger – sie verstehen ihn nicht, gefangen in ihren Träumen und Wünschen.
Petrus zum Beispiel nimmt Jesus beiseite, befremdet ob seiner Worte, und macht ihm
Vorwürfe. Scharf reagiert Jesus: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast
nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“ (8,32-33). Oder: Jesus
kündigt seine Lebenshingabe an, die Jünger hingegen streiten sich, wer von ihnen der Größte
sei (9,33-37) oder wer einmal die Ehrenplätze im Reich Gottes einnehmen dürfe (10,35-45).
Wie fremd sie einander doch sind, Jesus, der das Wort Gottes verkündet und auf den Willen
seines Vaters bedacht ist, und die Jünger, die ihm folgen, seine engsten Vertrauten also, und
ihn doch nicht verstehen. In anschaulichen Unterweisungen zeigt ihnen Jesus auf, dass die
neuen Erfahrungen im Gottesreich dort gemacht werden, wo Menschen bereit sind, einander
zu dienen – nach der Maßgabe des Beispiels Jesu.
Mit der Ankündigung der Lebenshingabe Jesu verbindet Markus die Not seiner Jünger,
Jesus zu verstehen, ihm nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich und mit ganzem Herzen
zu folgen. Der Evangelist formuliert diese Not zugleich mit Blick auf seine Leserinnen und
Leser, damit sie, die Jesus ebenfalls nachfolgen, sich selbstkritisch fragen, wie es denn um
ihre eigene Beziehung zu Jesus bestellt ist. Schließlich rahmt Markus die dreifache
Ankündigung des Leidens und der Auferstehung und das dreifache Nichtverstehen der
Jünger mit einer doppelten Blindenheilung. Deren erste in Mk 8,22-26 geschieht in zwei
Phasen, thematisiert also ein stufenweises Sehen-Lernen. Die zweite in 10,46-52 endet damit,
dass der Geheilte als Sehender und zugleich Glaubender Jesus nachfolgt auf seinem Weg.
Heilung bedeutet somit nicht nur Heilung der Augen, die fortan sehen, sondern auch Heilung
des Herzens, das zu Einsicht kommt.
Der Evangelist Markus verknüpft also das Zeugnis Jesu mit verschiedenen Erfahrungen,
die Menschen mit Jesus gemacht haben – das mehrfache Unverständnis der Jünger, die
wiederholte Heilung von Blinden – und zeichnet so parallel zum Weg Jesu nach Jerusalem
einen inneren Erfahrungsweg auf. Dabei betont er: Um das Geheimnis des gekreuzigten, von
Gott und den Menschen verlassenen und von Gott auferweckten Herrn zu verstehen, braucht
es eine wahre Blindenheilung, eine Heilserfahrung. Wo Jesus die Augen des Herzens heilt,
wird gläubige Nachfolge möglich und mit ihr das Zeugnis vom Wunder eines neuen Lebens in
der Gemeinschaft mit Jesus Christus.
5. ERFAHRUNG UND LEBENSFÜLLE
„Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was
wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des
Lebens.“ Mit diesen eingangs erwähnten Worten unterstreicht der Verfasser des ersten
Johannesbriefes, dass seine Botschaft durch das Leben und die Erfahrung vieler Zeugen
gedeckt ist. Er gibt aber auch das Woher und das Worumwillen seiner Lebenserfahrung an.
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Wozu teilt er die Erfahrung mit, die ihm selbst geschenkt wurde? Er teilt mit, was sein Leben
erfüllt, damit jene Gemeinschaft auch unter seinen Leserinnen und Lesern entstehen und
sich entfalten kann, in der die Fülle des Lebens nicht nur erahnt, sondern auch ansatzhaft
erfahren werden kann: „Denn das Leben wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen
und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir
gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit
uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und seinen Sohn Jesus Christus. Wir
schreiben dies, damit unsere Freude vollkommen ist.“ (1 Joh 1,1-4).
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