Kleine Monster Liebe Liese Sie ist wirklich ungeheuerlich, deine Geschichte und verlangt eine rasche Antwort. Deine Tante, so schreibst du, habe als Kind beobachtet, wie ein Ohrwurm in das Ohr ihrer schlafenden kleinen Schwester gekrochen ist. Das Baby sei darauf gestorben. Weil deiner Tante während der Mahlzeiten das Reden verboten war, habe sie nicht gewagt, am Tisch etwas zu sagen. Dann aber hat sie sich bis heute damit gequält, dass sie nicht den Mut aufbrachte, die Erwachsenen auf das Geschehen hinzuweisen, um so ihrer kleinen Schwester das Leben zu retten. Sie hat sich zeitlebens für deren Tod schuldig gefühlt. Wie tragisch. Doch Ohrwürmer sind absolut harmlos! Nomen est omen Ich höre förmlich deinen Aufschrei. Heissen sie denn nicht so, wirst du mir entgegnen, weil sie eben in die Ohren kriechen? Warum nur tragen die Ohrwürmer so ein-deutige Namen wie Ohrenmüggler, Ohrgrübler, Ohrenschleicher, Ohrenkneifer, sogar im Französischen „perce-oreille“ und Englischen „earwig“? Ja, ich verstehe deine Angst umso mehr, da der Volksglaube die schreckliche Geschichte vollauf bestätigt. Demnach soll der Ohrwurm des Nachts in den menschlichen Gehörgang kriechen, dort mit seiner Kneifzange das Trommelfell durchzwacken und seine Eier ins Gehirn legen. Dort schlüpfen die Larven und ernähren sich … nein, den Rest möchte ich uns ersparen. Ein fliegender Wurm Der Sturm hat das Tischtuch draussen durcheinandergewirbelt. Als ich es glätten will, finden sich drei schwarzbraune Ohrwürmer zwischen den Falten. Ich versuche einen davon in die Hand zu nehmen, ein beinahe rabenschwarzes Exemplar. Allein, das wendige Tierchen entwischt, fällt zu Boden, tappt behände über den Steinboden und flugs ist es entschwunden. Der Ohrwurm ist trotz seines wurmähnlichen Äusseren ein Insekt. Sein Köper ist in Kopf mit Fühlern und Facettenaugen, Brust mit drei Beinpaaren und Hinterleib gegliedert. Das Auffallendste und Eindrücklichste des Ohrwurms sind jedoch seine kräftigen Zangen am Hinterleib, die ihm, wenn er sie zur Abwehr aufstellt, ein furchteinflössendes Aussehen verleihen. Mit diesen Zangen kann der Ohrwurm Beutetiere ergreifen, Feinde und zudringliche Artgenossen abwehren und bei der Paarung wird das Weibchen vom Männchen mit seinen Zangen umfasst und festgehalten. Die Zangen der Männchen sind deshalb gebogen, diejenigen der Weibchen gerade. An der Form der Zangen kannst du also sehr gut das Geschlecht der Ohrwürmer erkennen. Die Zangen sind also äusserst vielseitige Greif-, Kneif- und Tastwerkzeuge. Ja, ohne diese Zangen könnte ein Ohrwurm auch seine Flügel nicht entfalten. Du liest richtig. Ohrwürmer besitzen unter ihren kurzen Deckflügeln mehrfach (bis 40-fach!) zusammengefaltete hauchdünne, durchsichtige Flügel, die sie aber nur sehr selten benutzen. Lebensgewohnheiten Ohrwürmer sind beinahe überall zu finden, in Feld und Wald, in Kellern und Kammern, am Boden, auf grossblättrigen Pflanzen, in und auf Blüten – nur nicht in menschlichen Ohren. Ohrwürmer sind nachtaktiv, tagsüber ziehen sie sich oft in grossen Schlafgemeinschaften unter Steine, Blätter und Rinden und in andere dunkle Verstecke zurück. Sie fühlen sich überall dort wohl, wo ihnen ein allseitiger Körperkontakt mit „Höhlenwänden“ Sicherheit vermittelt. Insekten haben ihren Tast- und Riechsinn in ihren Fühlern. Es erstaunt daher nicht, dass die Fühler des Ohrwurms, der sich praktisch dauernd im Dunkeln zurechtfinden muss, bis zu 50 Glieder besitzen. Ohrwürmer sind Allesfresser, wobei es ausgesprochen räuberische Arten unter Ihnen gibt, die sich vor allem von Blattläusen und deren Eiern ernähren, und deshalb zu den Nützlingen gezählt werden. Ansonsten vertilgen Ohrwürmer vielerlei, wie Blütenteile, Obst (hier nur das bereits geschädigte), tote wie lebendige Insekten (z.B. Silberfischchen!) und Aas. Eine behütete Jugend Junge Ohrwürmer verleben eine aussergewöhnlich behütete Kindheit. Bevor das Weibchen Eier legt, vertreibt es energisch alle Artgenossen und gräbt dann eine Grube, in welche es 20 bis 40 Eier ablegt. Ständig kümmert sich nun die Mutter um das Gelege, wendet die Eier, sortiert verpilzte und verletzte aus, und trägt sie sogar Stück für Stück in einen besseren Schlupfwinkel, wenn das ausgewählte Versteck zu trocken zu werden droht. Ohne diese intensive Pflege der Ohrwurm-Mutter - so haben es Versuche eindeutig erwie- sen - würden die Eier in kürzester Zeit verderben. Nach fünf bis sechs Wochen schlüpfen die Jungen aus, welche den Elterntieren bereits sehr ähnlich sind. Nur ihre „Haut“ (ein Chitinpanzer) ist etwas heller, sie besitzen noch keine Flügel und die Fühler sind um einiges kürzer, als bei den erwachsenen Tieren. Die Larven verlassen ihren Schlüpfplatz erst nach der ersten Häutung, werden aber auf der Erdoberfläche von ihren Müttern weiter gepflegt, gefüttert und gegen Feinde verteidigt. So kann man im Frühling – mit viel Glück – richtige Familiengruppen antreffen. Nach drei Häutungen sind die Tiere erwachsen und geschlechtsreif. Die Paarung erfolgt, bevor die Tiere gemeinsam mit Artgenossen Überwinterungsplätze aufsuchen. Die Überwinterung als lebendes Tier, von der Kälte höchstens durch einige Zentimeter Erde geschützt, setzt der Verbreitung der Ohrwürmer auch wirksam nördliche und südliche Grenzen. So gibt es weltweit ca. 1'300 Arten, davon leben aber nur deren sieben in Europa. Einige tropische Arten werden zwar ab und zu mit Waren eingeschleppt und bilden um Lagerhäuser zeitweilig Kolonien, können jedoch auf Dauer unsere Winter nicht überstehen. Allerlei Mutmassungen Im Internet finden sich zahlreiche Spekulationen zur Namensgebung. Die Zange des Männchens soll einem (Nadel)-Öhr gleichen, was dem Tier den Namen Ohr-Wurm gab. Seit der Antike sei der Ohrwurm in getrockneter und pulverisierter Form zur Heilung verschiedener Ohrleiden, sogar Taubheit, gebraucht worden. Der Name sei geblieben, das Wissen um die Heilkraft jedoch nicht. Und auch: Unser Ohrschmalz halte das Tier garantiert von unseren Ohren fern. Liebe Liese. Habe ich dich nun von der Harmlosigkeit des fragilen Tierchens überzeugt? Dann gehe, eile, teile deiner Tante diese Botschaft mit. Verena Quellen: Rudolf L. Schreiber, Tiere auf Wohnungssuche, Deutscher Landwirtschaftsverlag; Michael Chinery, Insekten Mitteleuropas, Verlag Paul Parey; Jört Hess, Heimliche Untermieter, Verlag Aare; Wikipedia und World Wide Web.