Mathematische Methoden der Physik II

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Mathematische Methoden der Physik II
Gebhard Grübl
Institut für Theoretische Physik
Universität Innsbruck
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
iv
1 Funktionentheorie
1.1 Elementare komplexe Funktionen . . . . . . . . . . . .
1.2 Komplexe Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . .
1.3 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4 Laurentreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.5 Komplexe Kurvenintegration . . . . . . . . . . . . . . .
1.5.1 Cauchys Integralsatz . . . . . . . . . . . . . . .
1.5.2 Gauß’sche und Fresnelsche Integrale . . . . . . .
1.5.3 Der Residuensatz . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.6 Residuenbestimmung durch Ableiten . . . . . . . . . .
1.7 Integration mittels Residuensatz . . . . . . . . . . . . .
1.7.1 Fourierdarstellung einiger Fundamentallösungen
1.7.2 Fourierdarstellung der Heavisidefunktion . . . .
1.8 Übungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Partielle Differentialgleichungen
2.1 Laplace Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.1 Greensche Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 d’Alemberts homogene Wellengleichung . . . . . . . . . . .
2.2.1 Eine Lösungsformel für n = 1 . . . . . . . . . . . .
2.2.2 Passiver Galilei’scher Dopplereffekt . . . . . . . . .
2.2.3 Die Lorentzinvarianz des Wellenoperators . . . . . .
2.2.4 Kontinuitätsgleichung und lokale Energieerhaltung .
2.2.5 Eindeutigkeit der Lösung des Anfangswertproblems
2.2.6 Gesamtenergieerhaltung . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.7 Eine Lösungsformel für n = 3 . . . . . . . . . . . .
2.2.8 Eine Lösungsformel für n = 2 . . . . . . . . . . . .
2.3 d’Alemberts inhomogene Wellengleichung . . . . . . . . . .
2.3.1 Eine Lösungsformel für n = 1 . . . . . . . . . . . .
2.3.2 Eine Lösungsformel für n = 3 . . . . . . . . . . . .
2.3.3 Duhamels Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.4 Eine Lösungsformel für n = 2 . . . . . . . . . . . .
2.3.5 Maxwellgleichungen und Potential . . . . . . . . . .
i
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INHALTSVERZEICHNIS
2.4
2.5
2.6
2.7
ii
2.3.6 Ebene elektromagnetische Wellen . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.7 Harmonisch oszillierende Quellen j für n = 3 . . . . . . . . . .
Lösung durch Separationsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.1 ¤A = 0 - Abseparation der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.2 Ebene Wellenlösungen von ¤A = 0 . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.3 Kirchhoffs Beugungsnäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.4 Wärmeleitungsgleichung - Abseparation der Zeit . . . . . . . .
2.4.5 Galileigruppe und Wärmeleitungsgleichung . . . . . . . . . . .
2.4.6 Kartesische Separation von (∆ + λ) g = 0 auf Rn . . . . . . .
2.4.7 Die eingespannte Saite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.8 Wärmeleitung am endlichen Intervall . . . . . . . . . . . . . .
2.4.9 Die eingespannte Rechteckmembran . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.10 ∆g = 0 im Rechteck mit inhomogener Randvorgabe . . . . . .
2.4.11 (∆Ω + λ) g = 0 mit g = 0 auf ∂Ω . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.12 Radiale Separation von (∆ + λ) g = 0 auf R3 \ 0 . . . . . . . .
2.4.13 (∆S2 − μ) Y = 0 - Separation der Winkel . . . . . . . . . . . .
2.4.14 Die allgemeine Legendresche Differentialgleichung . . . . . . .
2.4.15 Die Besselsche Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.16 Die Gammafunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.17 Der Lösungsraum der Besselschen DG . . . . . . . . . . . . .
2.4.18 Eigenschaften von Lösungen der Bessel DG . . . . . . . . . . .
2.4.19 Rekursionsrelationen für Jν . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.20 Radial separierte Eigenschwingungen ¤A = 0 auf R4 . . . . .
2.4.21 Die eingespannte Kugel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.22 Auslaufende, winkelseparierte Kugelwelle . . . . . . . . . . . .
2.4.23 Radial separierte Lösungen von ∆g = 0 auf R3 \ 0 . . . . . . .
2.4.24 Multipolentwicklung des Potentials einer lokalisierten Ladungsdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.25 Die Kugelflächenfunktionen Ylm . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.26 Radial separierte Eigenschwingungen ¤A = 0 auf R3 . . . . .
2.4.27 Die eingespannte Kreismembran . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.28 Radial separierte Lösungen von ∆g = 0 auf R2 \ 0 . . . . . . .
2.4.29 Poissons Lösungsformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Symmetrische Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Lösung durch Fouriertransformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Übungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 Distributionen
3.1 Distributionen als lineare Funktionale . . .
3.2 Differenzieren von Distributionen . . . . .
3.3 Fundamentallösungen . . . . . . . . . . . .
3.3.1 Gewöhnliche Differentialoperatoren
3.3.2 Laplaceoperator ∆3 . . . . . . . . .
3.3.3 Helmholtzoperator ∆3 + λ . . . . .
3.3.4 Helmholtzoperator ∆2 + λ . . . . .
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. 178
. 178
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. 182
INHALTSVERZEICHNIS
3.4
3.5
3.6
3.7
3.3.5 Wellenoperator ¤2 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.6 Wellenoperator ¤4 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.7 Wellenoperator ¤3 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.8 Klein-Gordon Operator ¤n + κ2 . . . . . . . . . . .
Lösungen von ¤A = j ∈ D0 (Rn ) . . . . . . . . . . . . . . .
3.4.1 Faltung von Distributionen . . . . . . . . . . . . . .
3.4.2 Unterkritisch bewegte Punktquelle, t > 0, n = 1 . .
3.4.3 Bremsstrahlung, n = 1 . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4.4 Überkritisch bewegte Punktquelle, n = 1 . . . . . .
3.4.5 Ruhende pulsierende Punktquelle, n = 3 . . . . . .
3.4.6 Gleichförmig bewegte Punktquelle, n = 3 . . . . . .
3.4.7 Die Potentialformel von Liénard & Wiechert, n = 3
Die Wärmeleitungsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.1 Der Wärmeleitungskern . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.2 Der auskühlende Halbraum . . . . . . . . . . . . .
3.5.3 Eine Lösungsformel zur stetigen Anfangsvorgabe . .
3.5.4 Eine Fundamentallösung . . . . . . . . . . . . . . .
Die gezupfte Saite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Übungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
iii
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217
219
Vorwort
Das Manuskript wuchs aus der Vorbereitung meiner Vorlesungen Mathematische
Methoden der Physik II der Wintersemester 2004/5 bis 2011/12 an der Universität
Innsbruck. Sein Hauptgewicht liegt auf jenen linearen, partiellen Differentialgleichungen und den mit ihnen einhergehenden „speziellen Funktionen”, die für ein
Verständnis der Elektrodynamik und Quantenmechanik entscheidend sind. Zudem
wird einleitend etwas vom funktionentheoretischen Werkzeug der Physik bereitgestellt und im Nachspann ein kleiner Ausblick auf Diracs Delta gegeben. Zu Diracs
Delta ist es von den partiellen Differentialgleichungen ja nicht mehr weit.
Einige tiefer in die Physik hineinführende Abschnitte - z.B. der über die Lorentzinvarianz der Wellengleichung, der rein mathematisch gesehen ein linear algebraische Fremdkörper in einem Milieu der Analysis ist, werden nur auf Nachfrage
vorgetragen. Sie wurden aber aufgenommen, um ein für die Physik so wichtiges breiter angelegtes Bild durchschimmern zu lassen. Die Botschaft soll sein: der Gehalt
einer physikalischen Theorie wird umso deutlicher sichtbar, aus je mehr Perspektiven
sie durchleuchtet ist.
Bei Peter Girtler, Laurin Ostermann und Markus Penz bedanke ich mich für
Korrekturen, Verbesserungsvorschläge und Grafiken.
September 2012, Gebhard Grübl
iv
Kapitel 1
Funktionentheorie
Die Funktionentheorie behandelt Funktionen, die auf offenen Teilmengen der komplexen Zahlenebene C definiert sind, Werte in C annehmen und komplex differenzierbar sind; es geht also um spezielle (Tangenten-)Vektorfelder in R2 . Komplexe
Differenzierbarkeit ist weitaus enger gefasst, als die totale Differenzierbarkeit einer
R2 -wertigen Funktion auf R2 und sie ermöglicht erstaunlich starke Schlüsse. Für die
mathematische Physik besonders bedeutend sind einige Integrationssätze. (Cauchyscher Integralsatz, Residuensatz)
1.1
Elementare komplexe Funktionen
Da die komplexen Zahlen schon bekannt sind, genügt eine knappe Wiederholung.
Die Menge R2 = {(a, b) |a, b ∈ R} wird durch die Addition
(a, b) + (u, v) = (a + u, b + v)
und durch die kommutative und assoziative Multiplikation
(a, b) · (u, v) = (au − bv, av + bu)
zu einem Körper. Er heißt (C, +, ·) . Das n-fache Produkt eines Elementes z ∈ C
mit sich wird als n-te Potenz bezeichnet und durch
z n = z · . . . · z (n mal)
notiert. Das Einselement (1, 0) der Multiplikation in C wird als 1C = 1 und das
Element (0, 1) als imaginäre Einheit i notiert. Allgemeiner wird abkürzend für alle
a, b ∈ R
(a, b) = a · 1C + b · i = a + ib
notiert. Die reellen Zahlen a bzw. b heißen Realteil bzw. Imaginärteil von a + ib. Es
gilt i2 = −1. Die euklidische Norm
√
|(a, b)| = a2 + b2
1
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
2
wird als Betrag der komplexen Zahl a + ib bezeichnet. Die reell-lineare Abbildung,
für die 1 7→ 1 und i 7→ −i gilt, heißt komplexe Konjugation. Sie spiegelt an der
reellen Achse und bildet ein beliebiges Element aus C wie folgt ab.
z = a + ib 7→ a − ib =: z
Es gilt |z|2 = z · z. Jedes Element z ∈ C \ 0 hat bezüglich der Multiplikation ein
inverses Element. Es wird als z −1 oder 1/z bezeichnet und es gilt
z −1 =
1
z.
|z|2
Es gilt |w · z| = |w| |z| und daher auch |1/z| = 1/ |z| .
Die Funktion z 7→ 1/z, die auf C \ 0 definiert ist, kann natürlich als Vektorfeld
auf R2 \ 0 veranschaulicht werden. Es gilt für alle (x, y) ∈ R2 \ 0
1
x − iy
1
= 2
= 2
(x, −y) .
2
x + iy
x +y
x + y2
Das Vektorfeld z 7→ 1/z
Zum Vergleich wird das Vektorfeld der auf ganz C definierten Funktion
z = x + iy 7→ z · z = z 2 = x2 − y 2 + i2xy
gezeigt.
Das Vekorfeld z 7→ z 2
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
3
Analog zum reellen Fall sind komplexe Polynome und rationale Funktionen erklärt. Negativ ganze Potenzfunktionen sind für n ∈ N auf C \ 0 durch
z −n :=
1
1
· . . . · (n mal)
z
z
definiert.
Reelle Funktionen, die über Potenzreihen mit dem Konvergenzradius r erklärt
sind, können zu komplexwertigen Funktionen auf einer offenen Kreisscheibe um 0 ∈
C mit Radius r verallgemeinert werden. Ein Beispiel ist die auf ganz C konvergente
Reihe (Exponentialfunktion)
exp : C → C,
z 7→
∞
X
zk
k=0
k!
.
Für α ∈ R folgt daraus Eulers Formel
exp (iα) =
∞
X
k=0
∞
X
ik
αk
k!
X
α2k
α2k+1
+
i
i2k+1
=
(2k)! k=0
(2k + 1)!
k=0
=
∞
X
k=0
2k
(−1)k
∞
∞
X
α2k
α2k+1
+i
(−1)k
(2k)!
(2k + 1)!
k=0
= cos (α) + i sin (α) .
Für jeden Punkt (a, b) ∈ R2 mit (a, b) 6= (0, 0) existiert bekanntlich genau ein
„Polarwinkel” α ∈ (−π, π] mit
√
(a, b) = a2 + b2 (cos (α) , sin (α)) .
Es gilt also
a + ib = |a + ib| exp (iα) .
Die Abbildung arg : C \ 0 → (−π, π] , die jeder von 0 verschiedenen komplexen Zahl
ihren Polarwinkel zuordenet, heißt Argumentfunktion. Sie ist überall, außer in den
Punkten der negativen reellen Achse, stetig. Im Nullpunkt ist sie nicht erklärt.
Für die komplexe Exponentialfunktion folgt analog zur reellen für alle w, z ∈ C
exp (w) exp (z) = exp (w + z) .
Aus
exp (iα) exp (iβ) = exp (i (α + β))
folgt somit für zwei beliebige komplexe Zahlen z = |z| exp (iα) , w = |w| exp (iβ)
z · w = |z| |w| exp (i (α + β)) .
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
4
Damit hat die komplexe Multiplikation eine einfache geometrische Interpretation:
Die Beträge der Faktoren werden multipliziert und ihre Polarwinkel (modulo 2π)
addiert. Für w = |w| exp (iβ) 6= 0 ist somit die Abbildung
Πw : C → C, z 7→ w · z = |w| exp (iβ) · z
eine Drehstreckung um den Winkel β. Aus w = u + iv = |w| (cos β + i sin β) folgt
Πw (a + ib) = au − bv + i (av + bu)
¶µ ¶
µ
a
u −v
=
b
v u
µ
¶µ ¶
cos β − sin β
a
= |w|
.
sin β cos β
b
Die Matrix der (linearen) Multiplikationsabbildung hat also eine recht spezielle
Form. Ihre Spalten sind zwei aufeinander senkrecht stehende Vektoren derselben
Norm. Weiters ist sie orientierungserhaltend, denn es gilt det Πw = |w|2 > 0.
Der komplexe Logarithmus
Seien nun x, y ∈ R. Dann bildet die komplexe Exponentialfunktion wegen
exp (x + iy) = ex (cos y + i sin y)
die vertikale Gerade in C, auf der der Realteil von z konstant ist, also <z = x
für ein festes x ∈ R gilt, auf den Kreis um 0 mit Radius ex ab. In y ist die Abbildung 2π-periodisch. Die Einschränkung der komplexen Exponentialfunktion auf
den offenen Streifen {z ∈ C : −π < =z < π} bildet daher bijektiv auf die geschlitzte
Ebene C \ {z ∈ C : =z = 0, <z ≤ 0} ab.1 Ihre Umkehrfunktion ln heißt Hauptzweig
der komplexen Logarithmusfunktion. Es gilt also für −π < y < π und x ∈ R
¢
¡
¢
¡
x + iy = ln ex+iy = ln ex eiy .
Da |ex+iy | = ex und arg (ex+iy ) = y für alle x ∈ R und y ∈ (−π, π) gilt, folgt für
alle z der geschlitzten Ebene
ln (z) = ln (|z|) + i arg (z) .
Es gilt somit für alle z in der geschlitzten
√ Ebene ln (z) = ln (z).
Sei z.B. z = 1 + i. Dann gilt |z| = 2 und daher
¶
µ
³ π´
√ ³
√
π´ √
1
π
1
= 2 cos + i sin
z = 2 √ + i√
= 2 exp i
.
4
4
4
2
2
Somit gilt ln (1 + i) = ln (2) /2 + iπ/4.
Achtung! Im
√ Allgemeinen gilt ln (w · z) 6= ln (w) + ln (z) . Hier ein Beispiel: z =
w = (−1 + i) / 2. Es gilt dann ln (wz) = −iπ/2 aber ln (w) + ln (z) = 3iπ/2.
1
Hier bezeichnet =z den Imaginärteil von z.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
5
für x ∈
Noch eine¯ kleine
Übung im Logarithmieren: Welchen Wert hat ln x+i
x−i
¯
x+i ¯
x+i
¯
R>0 ? Wegen x−i = 1 ist ln x−i rein imaginär. Wegen
(x + i)2
x+i
x2 − 1 + 2ix
=
=
x−i
1 + x2
1 + x2
liegt
x+i
x−i
in der oberen Halbebene und es gilt
arg
Daher gilt
x+i
= arg (x + i) − arg (x − i)
x−i
µ
¶
1
1
1
= 2 arctan
= arctan − − arctan
x
x
x
³π
´
= 2
− arctan x = π − 2 arctan x ∈ (0, π) .
2
x+i
x+i
= i arg
= i (π − 2 arctan x) ∈ i · (0, π) .
x−i
x−i
Insbesondere folgt daraus
ln
lim ln
x&0
x+i
x+i
= iπ und lim ln
= 0.
x→∞
x−i
x−i
Achtung! Wir haben
ln
x+i
= i (π − 2 arctan x)
x−i
(1.1)
unter der Voraussetzung x > 0 abgeleitet. Kann Gleichung (1.1) auch für x < 0
gelten? Nein, denn der Imaginärteil des Hauptzweig-Logarithmus liegt im Bereich
(−π, π) . Die korrekte Formel für x < 0 ergibt sich z.B. so: Es gilt
−x − i
x+i
=
=
x−i
−x + i
µ
¶
−x + i
.
−x − i
Wegen ln z = ln z folgt nun für x < 0 aus Gleichung (1.1)
ln
−x + i
x+i
= ln
= i (π − 2 arctan (−x)) = i (−π + 2 arctan |x|) ∈ i · (−π, 0) .
x−i
−x − i
Daraus folgt
lim ln
x%0
x+i
x+i
= −iπ und lim ln
= 0.
x→−∞
x−i
x−i
Die komplexe n-te Wurzel
Sei w ∈ C beliebig. Es existiert also ein φ ∈ (−π, π] mit
p w = |w|
¡ exp
¢ (iφ)
¡ . Für¢
welche z ∈ C gilt z n = w? Es sind genau die Zahlen zk = n |w| exp i nφ exp 2πi nk
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
6
mit k = 0, 1, . . . n − 1. Sie heißen für w = 1, also φ = 0 und |w| = 1, die nten Einheitswurzeln. Die Funktion z 7→ z n ist also für n ∈ N und n ≥ 2 auf C
nicht injektiv und besitzt somit keine Umkehrfunktion. Aber die Einschränkung
von z 7→ z n auf den Sektor
π
π
− < arg (z) <
n
n
ist injektiv. Ihre Umkehrfunktion
heißt
Hauptzweig
der n-ten Wurzelfunktion und
√
2
n
wird wie im reellen Fall mit · notiert. Es gilt dann für alle z in der geschlitzten
Ebene C \ {z ∈ C |=z = 0 und <z ≤ 0}
µ
µ
¶ p
¶
√
ln (|z|) + i arg (z)
arg (z)
n
n
z = exp
= |z| exp i
.
n
n
1.2
Komplexe Differenzierbarkeit
Definition 1 Sei Ω ⊂ R2 offen. Eine Funktion f : Ω → R2 heißt in z ∈ Ω reell
total differenzierbar, falls eine R-lineare Abbildung dz f : R2 → R2 existiert, sodass
|f (z + ξ) − f (z) − dz f (ξ)|
= 0.
ξ→0
|ξ|
lim
Falls f in z total differenzierbar ist und überdies ein w ∈ R2 existiert, sodass für
alle ξ ∈ R2 (bezüglich der komplexen Multiplikation) dz f (ξ) = w · ξ gilt, dann heißt
f in z komplex3 differenzierbar. Die komplexe Zahl w wird als f 0 (z) notiert.
Falls f in z komplex differenzierbar ist, dann gilt wegen |v| / |ξ| = |v/ξ|
|f (z + ξ) − f (z) − f 0 (z) · ξ|
0 = lim
ξ→0
|ξ|
¯
¯
¯ f (z + ξ) − f (z) − f 0 (z) · ξ ¯
¯
= lim ¯¯
¯
ξ→0
ξ
¯
¯
¯ f (z + ξ) − f (z)
¯
= lim ¯¯
− f 0 (z)¯¯ .
ξ→0
ξ
Also gilt die aus dem Reellen vertraute Differentiationsformel
f (z + ξ) − f (z)
ξ→0
ξ
f 0 (z) = lim
genau dann, wenn f in z komplex differenzierbar ist. Man beachte, dass diese Formel
im Vektorraum R2 ohne die Definition der komplexen Multiplikation nicht funktioniert. Der folgende Satz wird analog zum reellen Fall bewiesen. Er formuliert Linearität, Produktregel, Quotientenregel und Kettenregel. Doch zuvor das einfachste
Beispiel einer differenzierbaren Funktion.
2
Andere injektive Einschränkungen der Potenzfunktion ergeben andere Versionen der Wurzelfunktionen.
3
Die Bezeichnung „komplex differenzierbar” wird im Gebiet der Funktionentheorie meist zu
„differenzierbar” verkürzt.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
7
Sei K ∈ C. Sei Ω ⊂ C offen und f (z) = K für alle z ∈ Ω. Dann gilt f 0 (z) = 0
für alle z ∈ Ω, da ja
f (z + ξ) − f (z)
=0
ξ
für alle ξ in einer hinreichend kleinen Kreisscheibe um 0.
Satz 2 Seien f und g in z differenzierbar und α ∈ C. Dann gilt
(αf + g)0 (z) = αf 0 (z) + g 0 (z) ,
(f g)0 (z) = f 0 (z) g (z) + f (z) g 0 (z) .
Falls g (z) 6= 0, dann gilt
µ ¶0
f 0 (z) g (z) − f (z) g 0 (z)
f
(z) =
.
g
g2 (z)
Ist g in f (z) und f in z differenzierbar, dann gilt
(g ◦ f )0 (z) = g0 (f (z)) f 0 (z) .
Beispiele
1. Potenzfunktion: Sei f : C → C, mit f (z) = z n für n ∈ N0 . Diese Funktion f
ist überall differenzierbar. Es gilt nämlich für n 6= 0
¶
n−1 µ
X
n
n
n
z k ξ n−k .
(z + ξ) − z =
k
k=0
Daraus folgt
(z + ξ)n − z n
=
(z ) = lim
ξ→0
ξ
n 0
µ
n
n−1
¶
z n−1 = nz n−1 .
2. Exponentialfunktion: Aus (z n )0 = nz n−1 ergibt sich wie im reellen Fall durch
gliedweises Differenzieren der Potenzreihe, dass exp0 = exp .
3. Inverse Potenzfunktion: Sei f : C \ 0 → C, mit f (z) = 1/z n = z −n für n ∈ N.
Diese Funktion f ist überall differenzierbar. Es folgt nämlich aus f (z)z n = 1
mit der Produktregel
n
0 = f 0 (z)z n + f (z)nz n−1 = f 0 (z)z n + .
z
Also gilt für z 6= 0
f 0 (z) = −nz −n−1 .
4. Logarithmus: Wegen exp (ln z) = z für alle z in der geschlitzten Ebene gilt
nach der Kettenregel
1 = exp (ln z) ln0 z = z ln0 z
und daher ln0 z = 1/z.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
8
5. Komplexe Konjugation: Sei f : C → C, mit f (a + ib) = a − ib. (Spiegelung an
der reellen Achse). Da f reell-linear ist, gilt dz f = f. Die Matrix von f ist
µ
¶
1 0
.
0 −1
Daher ist dz f keine Drehstreckung und f ist daher nicht komplex differenzierbar. Dies zeigt sich auch folgendermaßen. Für ε ∈ R und z = a + ib gilt
f (z + ε) − f (z)
(a + ε − ib) − (a − ib)
= lim
= 1,
ε→0
ε→0
ε
ε
f (z + iε) − f (z)
a − i(b + ε) − (a − ib)
lim
= lim
= −1.
ε→0
ε→0
iε
iε
lim
Es existiert also kein komplexer Grenzwert limξ→0
f (z+ξ)−f (z)
.
ξ
Definition 3 Eine Funktion f : Ω → C mit Ω ⊂ C offen und wegzusammenhängend, die überall differenzierbar ist, heißt holomorph (oder auch komplex analytisch).
Existiert zu einer Funktion f : Ω → C mit Ω ⊂ C offen und wegzusammenhängend
eine holomorphe Funktion F mit F 0 = f, dann wird F als eine Stammfunktion von
f bezeichnet.
Für n ∈ Z ist z.B. die Funktion fn : z 7→ z n für n ≥ 0 auf C und für n < 0 auf
1
C \ 0 holomorph. Für n 6= −1 hat fn die Stammfunktion n+1
fn+1 . Die Funktion f−1
hat keine Stammfunktion. Ihre Einschränkung auf die geschlitzte Ebene hat jedoch
den Hauptzweig des Logarithmus als Stammfunktion.
Satz 4 Die Funktion f : Ω → C mit Ω ⊂ C offen und (weg)zusammenhängend,
habe die Stammfunktion F. Dann gilt für jede weitere Stammfunktion G von f, dass
F − G eine konstante Funktion ist.
Beweis. Nach Voraussetzung gilt für die Funktion H = F − G, dass H 0 = 0 auf
Ω. Sei für z = x + iy mit x, y ∈ R und reellwertigen Funktionen u, v
H (x + iy) = u (x, y) + iv (x, y) .
Dann gilt
µ
∂x u ∂y u
∂x v ∂y v
¶
= 0.
Seien p, q ∈ Ω. Dann existiert eine stetige Kurve γ : [0, 1] → Ω mit γ (0) = p und
γ (1) = q. Für diese Kurve gilt
Z
0 = grad (u) = u (q) − u (p) .
γ
Analoges gilt für v. Daraus folgt H (p) = H (q) .
Der folgende Satz gibt eine notwendige und hinreichende Bedingung für Holomorphie an.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
9
Satz 5 Sei Ω ⊂ R2 offen und u, v : Ω → R. Weiter sei f : Ω → C mit f (x + iy) =
u (x, y) + iv(x, y). Die Funktion f ist genau dann holomorph, wenn u, v ∈ C 1 (Ω : R)
und wenn auf ganz Ω die Cauchy-Riemanngleichungen
∂x u = ∂y v,
∂x v = −∂y u
gelten.
Beweis. Die wesentliche Idee ist die folgende. Für die Matrix Jz f des Differentials dz f zur Standardbasis gilt
µ
¶
∂x u (x, y) ∂y u (x, y)
Jx+iy f =
.
∂x v (x, y) ∂y v (x, y)
Dies ist die Matrix einer Drehstreckung genau dann, wenn zwei (von z abhängige)
reelle Zahlen a, b existieren, sodass
µ
¶ µ
¶
∂x u (x, y) ∂y u (x, y)
a −b
=
∂x v (x, y) ∂y v (x, y)
b a
gilt. Dies ist äquivalent zu den Cauchy-Riemanngleichung an der Stelle x + iy. Ein
ausführlicher Beweis ist in Kap. VII. §27, Sect. 1.3 von [3] zu finden.
In den Begriffen der reellen Vektoranalysis drücken sich die Cauchy-Riemanngleichungen in den Aussagen aus, dass die beiden Vektorfelder (u, −v) und (v, u)
sowohl divergenz als auch wirbelfrei sind. Diese beiden Vektorfelder sind die komplexen Funktionen f und if .
Beispiele
Die Exponentialfunktion: Sei f = exp . Dann folgt aus
f (x + iy) = ex eiy = ex (cos y + i sin y) ,
dass u (x, y) = ex cos y,
v (x, y) = ex sin y. Also gilt für alle (x, y) ∈ R2
∂x u (x, y) = ex cos y,
∂x v (x, y) = ex sin y,
∂y u (x, y) = −ex sin y,
∂y v (x, y) = ex cos y.
Die Cauchy-Riemann Gleichungen gelten also überall. Man beachte weiter
∆u (x, y) = ∂x ∂x u (x, y) + ∂y ∂y u (x, y) = ∂x ∂y v (x, y) + ∂y (−∂x v (x, y)) = 0.
Dies liegt offenbar nicht am speziellen Beispiel, sondern an den CR-Gleichungen und
der Tatsache, dass u, v ∈ C 2 . Dies wiederum ist auch nicht auf Einzelbeispiele beschränkt, sondern gilt für alle holomorphen Funktionen, sodass Real- und Imagiärteil
einer beliebigen holomorphen Funktion Lösungen der 2-dimensionalen Laplacegleichung sind. Solche Funktionen werden harmonisch genannt.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
10
Das Vektorfeld f = exp = (u, v) hat die Divergenz
(∂x u + ∂y v) (x, y) = 2∂x u (x, y) = 2ex cos (y)
und die Wirbelstärke
(∂x v − ∂y u) (x, y) = 2∂x v (x, y) = 2ex sin (y)
Das Vektorfeld exp
Das Vektorfeld exp
Die komplexe Konjugation: Es sei f (x + iy) = x − iy, also u (x, y) = x, und
v (x, y) = −y. Daraus folgt für alle (x, y) ∈ R2
∂x u (x, y) = 1,
∂x v (x, y) = 0,
∂y u (x, y) = 0,
∂y v (x, y) = −1.
Die Cauchy-Riemann Gleichungen gelten also nirgends und f ist nirgends komplex
differenzierbar.
1.3
Potenzreihen
Definition 6 Sei cn ∈ C für n ∈ N0 . Dann heißt die Folge (fn ) der Polynome
fn : C → C mit
n
X
ck (z − z0 )k
fn (z) =
k=0
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
11
eine Potenzreihe um z0 . Durch Translation kann immer der Fall z0 = 0 herbeigeführt
werden, sodass im folgenden z0 = 0 gewählt wird.
Satz 7 Sei (fn ) eine Potenzreihe um 0. Die komplexe Zahlenfolge (fn (z1 )) sei konvergent. Sei r < |z1 | . Dann konvergiert die Funktionenfolge (fn ) auf der Kreisscheibe
Kr = {z ∈ C : |z| < r} absolut und gleichmäßig.
Beweis. Sei
fn (z) =
n
X
ck z k .
k=0
¯
ª
©¯
Wegen der Konvergenz von fn (z1 ) ist die Menge ¯ck z1k ¯ : k ∈ N0 beschränkt. Sei
M eine solche Schranke. Dann gilt für jedes z ∈ Kr
¯ ¯k
n
n
n
X
X
X
¯ ¯
¯ k¯
k
k¯ z ¯
¯ck z ¯ =
|ck | |z| =
|ck | |z1 | ¯ ¯
z1
k=0
k=0
k=0
¯
¯
µ
¶
n
n
k
X
X
¯ z ¯k
r
¯
¯
≤ M
¯ z1 ¯ < M
|z1 |
k=0
k=0
µ
¶
n
k
X
r
1
≤ M lim
=M
r .
n→∞
|z
1
−
1|
|z
1|
k=0
Diese z-unabhängige Majorisierung zeigt die gleichmäßige absolute Konvergenz. Die
absolute Konvergenz zieht die Konvergenz von (fn (z)) nach sich.
Definition 8 Sei (fn ) eine Potenzreihe um 0. Dann heißt die Zahl
ρ = sup {|z| : fn (z) ist konvergent}
Konvergenzradius von (fn ) .
Da beispielsweise die reelle Exponentialreihe überall konvergiert, ist der Konvergenzradius der komplexen Exponentialfunktion unendlich.
Eine Potenzreihe um 0 mit endlichem Konvergenzradius hat die Funktion f :
1
C r {i, −i} → C mit f (z) = 1+z
2 . Es gilt ja für |z| < 1
X
1
f (z) =
=
(−1)k z 2k .
2
1+z
k=0
∞
Gliedweise Integration der Potenzreihe von f um 0 liefert
∞
X
(−1)k 2k+1
z3 z5
F (z) =
=z−
z
+
− ...
2k
+
1
3
5
k=0
´
³
z2
z4
Wegen F (z) = z 1 − 3 + 5 − . . . ist die Reihe im Bereich |z| < 1 absolut konP ¡ 2 ¢k
vergent, da sie von der geometrischen Reihe ∞
majorisiert ist. Die Pok=0 |z|
tenzreihe F divergiert jedoch für z = i, da
¶
µ
¶
µ
1 1 1
i2 i4
F (i) = i 1 − + − . . . = i 1 + + + . . . .
3
5
3 5 7
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
12
Wegen
¶
µ
1 1 1 1 1 1
1 1 1
2 1 + + + ... > 1 + + + + + + ... = ∞
3 5 7
2 3 4 5 6 7
P∞
divergiert somit auch die Reihe k=1 1/ (2k + 1) . Die Funktion F ist eine Fortsetzung des reellen Arkustangens in die komplexe Einheitskreisscheibe. Ist sie holomorph? Ist sie wirklich eine Stammfunktion von f ? Hier die Antwort:
¡Pn
¢
k
Satz 9 Sei (fn ) =
c
z
eine Potenzreihe um 0 mit dem Konvergenzradius
k
k=0
ρ. Dann konvergiert die Funktionenfolge (fn ) auf Kρ gegen eine holomorphe Grenzfunktion f und es gilt für alle z ∈ Kρ
0
f (z) = lim
n→∞
n
X
kck z k−1 .
k=1
(Die Ableitung ist also durch gliedweise Differentiation zu erhalten.) Weiters konvergiert die Folge (fn (z)) für kein z mit z > ρ.
1.4
Laurentreihen
P
Sei (fn (z)) mit fn (z) = nk=0 ck z k eine Potenzreihe mit dem Konvergenzradius ρ.
Dann ist die Grenzfunktion f auf Kρ holomorph und mit f ist auch die Funktion
µ ¶ X
∞
1
g : {z ∈ C : |z| > 1/ρ} → C, mit g (z) = f
=
cn z −n
z
n=0
holomorph. Dies motiviert die folgende
Definition 10 Sei ck ∈ C für alle k ∈ Z. Dann ist für n, m ∈ N0 auf C \ 0 die
rationale Funktion
m
X
ck z k
fn,m (z) =
P∞
k=−n
k
erklärt.
k=0 ck z habe den Konvergenzradius R und die PotenzreiP∞ Die Potenzreihe
k
he k=1 c−k z habe den Konvergenzradius ρ = 1/r mit
r < R. Die Funktionenfamile
P−1
(fn,m ) heißt Laurentreihe
um 0. Die Reihe fH (z) = k=−∞ ck z k heißt ihr Hauptteil
P∞
k
und fN (z) = k=0 ck z ihr Nebenteil.
Satz 11 Die Funktionenfolge (fn,n ) einer Laurentreihe konvergiert innerhalb des
Kreisrings r < |z| < R lokal gleichmäßig gegen die holomorphe Grenzfunktion fH +
fN . Ihre Ableitung kann gliedweise gebildet werden.
Laurentreihen produzieren also holomorphe Funktionen. Der folgende Satz macht
darüberhinaus klar, dass die durch Laurentreihen definierten Funktionen alle holomorphen Funktionen umfassen.
Satz 12 (Entwicklungssatz) Sei Ω ⊂ C offen und zusammenhängend. f : Ω → C
sei holomorph. Sei z0 ∈ C. Dann existiert eine Laurentreihe um z0 , die im größten
Kreisring um z0 , der in Ω enthalten ist, gegen f konvergiert.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
13
Abbildung 1.1: Konvergenzbereich einer Laurentreihe
−1
Die Laurentreihe von (1 + z 2 )
um i
Als ein Beispiel für die Behauptung des Entwicklungssatzes bestimmen wir die Laurentreihe der Funktion
f : C r {i, −i} → C mit f (z) =
1
1 + z2
um den Punkt i. Es gilt für |z − i| < 2
1
1
1
1
1
=
=
2
1+z
z − i z + i z − i z − i + 2i
∞ µ ¶k
1
1 1 X i
1 1
=
(z − i)k
=
z − i 2i 1 − 2i (z − i)
z − i 2i k=0 2
µ ¶k
µ ¶k+1
∞
∞
X
X
1 i
1 i
k−1
=
(z − i)
=
(z − i)k .
2i
2
2i
2
k=0
k=−1
Für die Koeffizienten ck der Laurentreihe gilt daher
½ 1 ¡ i ¢k+1
für k ≥ −1
2i 2
ck =
0
sonst
Sie konvergiert im punktierten Kreis um i mit dem Radius 2, d.h. für alle z ∈ C mit
0 < |z − i| < 2.
1.5
Komplexe Kurvenintegration
Sei I = [a, b] ein reelles Intervall und γ : I → C stetig. Dann sind die reellwertigen
Funktionen u und v mit γ = u + iv Riemannintegrierbar. Das Integral von γ über I
ist dann durch
Z
Z
Z
b
b
γ(t)dt =
a
b
u(t)dt + i
a
v(t)dt
a
definiert. Dies entspricht der komponentenweisen Integration einer R2 -wertigen Funktion.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
14
Definition 13 Sei Ω ⊂ C offen und zusammenhängend. Die Funktion f : Ω → C
sei stetig. Sei γ : [a, b] → C stetig und stückweise C 1 . Dann heißt
Z b
Z
f (z) dz =
f (γ (t)) · γ̇(t)dt
γ
a
das komplexe Kurvenintegral von f längs der Kurve γ.
Wie im Fall reeller Kurvenintegrale folgt, dass komplexe Kurvenintegrale ihren
Wert bei Vorschaltung einer orientierungserhaltenden Umparametrisierung nicht ändern. Daher genügt es, das Bild von γ, den sogenannten „Weg”, seine Orientierung
und bei geschlossenen Wegen die Zahl der Umläufe zu kennen, um ein Kurvenintegral
festzulegen. Es wird daher auch von Wegintegralen gesprochen. Hat eine Funktion
f in einer offenen Umgebung von γ eine Stammfunktion F, dann gilt aufgrund der
Kettenregel für komplex differenzierbare Funktionen
f (γ (t)) · γ̇(t) =
d
(F ◦ γ) (t) .
dt
Daraus ergibt sich
Z
γ
f (z) dz = (F ◦ γ) (b) − (F ◦ γ) (a) .
Warnung: Zwar ist jede komplexe Funktion mit Stammfunktion holomorph, aber
nicht jede holomorphe Funktion hat eine Stammfunktion.
Wie im Fall reeller Kurvenintegrale folgt eine Dreiecksungleichung für komplexe
Wegintegrale. Es gilt
¯Z
¯ Z b
¯
¯
¯ f (z) dz ¯ ≤
|f (γ (t)) · γ̇(t)| dt.
¯
¯
γ
a
R R dx
, für das ja
Beispiel 14 Sei R > 0. Dann stimmt das reelle Integral IR = 0 1+x
R2 dz
R
IR = arctan (x)|0 = arctan R gilt, mit dem komplexen Wegintegral γ 1+z2 längs
des Weges γ : [0, R] → C mit γ (t) = t überein. Der Integrand ist holomorph auf
C r {i, −i} . Durch Partialbruchzerlegung des Integranden folgt
¸
Z
Z ∙
dz
1
1
1
IR =
=
−
dz.
2
2i γ z − i z + i
γ 1+z
Da auf Ω+ = C r {z |<z ≤ 0 und =z = 1}
d
1
=
ln (z − i)
z−i
dz
und auf Ω− = C r {z |<z ≤ 0 und =z = −1}
1
d
=
ln (z + i)
z+i
dz
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
15
gilt, und die Kurve γ ihre Werte in Ω+ ∩ Ω− annimmt, folgt
∙Z
¸
Z
d
d
1
IR =
ln (z − i) dz −
ln (z + i) dz
2i γ dz
γ dz
1
[ln (R − i) − ln (−i) − ln (R + i) + ln (i)]
=
2i
³ π´
1 h
πi
=
i arg (R − i) − i −
− i arg (R + i) + i
2i∙
2
2
¸
1
1
π − 2 arctan
= arctan R.
=
2
R
Das Ergebnis der reellen Integration ist also reproduziert.
Das folgende Beispiel ist etwas reichhaltiger. Es enthält zwar ausschließlich holomorphe Integranden, die aber nicht alle in einer offenen Umgebung des Integrationswegs, so wie dies im Beispiel 14 der Fall ist, eine Stammfunktion besitzen.
Beispiel 15 Seien R > 0, τ > 0 und γ : [0, τ ] → C, mit γ(t) = R · exp (it) . Dann
gilt γ̇(t) = iR · exp (it) . Daraus folgt für n ∈ Z \ {−1}
Z τ
Z
n
z dz =
Rn · exp (nit) · iR · exp (it) dt
0
γ
Z τ
n+1
exp ((n + 1) it) dt
= iR
0
n+1
R
[exp ((n + 1) iτ ) − 1] .
n+1
R
Für τ = 2π ist γ geschlossen und es gilt γ z n dz = 0.
Sei nun n = −1. Dann folgt
Z τ
Z
1
dz =
R−1 · exp (−it) · iR · exp (it) dt = iτ .
z
0
γ
=
Für die geschlossene Kurve γ bei τ = 2π, die 0 im Gegenuhrzeigersinn einmal
umläuft, gilt somit
Z
1
dz = 2πi.
γ z
Man beachte: 1) Der Wert des Integrals hängt nicht vom Parameter R ab. 2) Die
Tatsache, dass das Integral von 1/z längs des geschlossenen Kreises nicht 0 ergibt,
liegt daran, dass 1/z in keiner offenen Umgebung des Kreises eine Stammfunktion
besitzt. Der Schlitz im Definitionsbereich des Hauptzweig-Logarithmus ist dem im
Weg.
Die Einsichten aus Beispiel 15 geben ein überraschendes Ergebnis für das Ringintegral einer Laurentreihe. Es ist durch einen einzigen der Entwicklungskoeffizienten
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
16
ck der Reihe bereits festgelegt. Das ergibt sich so: Für alle z ∈ C mit r1 < |z| < r2
gelte
X
f (z) =
ck z k .
k∈Z
Dann folgt für die Kurve γ aus Beispiel (15) im Fall τ = 2π und r1 < R < r2 , dass
Z
f (z) dz = 2πic−1 .
γ
1.5.1
Cauchys Integralsatz
Was ist die reelle Bedeutung eines komplexen Kurvenintegrals? Mit den reellen
Funktionen u, v und x, y, für die f = u + iv und γ = x + iy gilt, folgt f · γ̇ =
uẋ − vẏ + i (uẏ + vẋ) . Daher ist das komplexe Kurvenintegral aus den reellen Kurvenintegralen der beiden Vektorfelder U := (u, −v) und V = (v, u), die mit dem
Standardskalarprodukt gebildet sind, zusammengesetzt. Genauer gilt
Z
Z
Z
Z
< f (z) dz = U und = f (z) dz = V.
γ
γ
γ
γ
Falls f holomorph ist, sind die reellen Vektorfelder U und V wegen der CauchyRiemanngleichungen wirbelfrei. Dies zieht als eine komplexe Version des PoincaréLemmas den folgenden „Integralsatz von Cauchy” nach sich.
Satz 16 (Cauchys Integralsatz) Sei Ω ⊂ C offen und einfach zusammenhängend. Die Abbildung f : Ω → C sei holomorph. Sei γ : [a, b] → Ω eine geschlossene,
stetige, stückweise C 1 -Kurve. Dann gilt
Z
f (z) dz = 0.
γ
1.5.2
Gauß’sche und Fresnelsche Integrale
R∞
pπ
2
In Kapitel 1 von Math Meth 1 wurde gezeigt, dass −∞ e−αx dx =
für alle
α
α ∈ R>0 . Existiert das Integral auch für α ∈ C mit <α > 0? Ja, es existiert sogar
noch für <α = 0, soferne α 6= 0. Genaueres sagt der folgende Satz.
Satz 17 Sei α ∈ C \ 0 mit <α ≥ 0, d.h. es gilt α = |α| eiδ mit − π2 ≤ δ ≤ π2 . Dann
gilt
r
Z ∞
r
π
π −i δ
−αx2
=
e 2.
e
dx =
I (α) :=
α
|α|
−∞
Beweis. Überlege zunächst wie sich das Integral I (α) bei einer Dehnung von α
ändert. Sei λ ∈ R>0 . Dann gilt
√
Z ∞
Z ∞
√
2
λdx
I (α)
1
2
−α( λx)
√ =√
I (λα) =
e
e−αy dy = √ .
λ
λ −∞
λ
−∞
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
17
Es genügt daher I (α) im Fall α = (1 + ia)2 = 1 − a2 + 2ia mit −1 ≤ a ≤ 1 zu
berechnen. Alle anderen Fälle gewinnt man daraus durch Dehnen. Wegen
Z ∞
2
I (α) = 2
e−αx dx
0
genügt es auch, das Integral
I (α)
=
2
Z
∞
2 2
x
e−(1+ia)
dx
0
zu untersuchen.
Es gilt also − π4 ≤ arg (1 + ia) ≤ π4 und für γ : [0, R] → C mit γ (t) = (1 + ia) t
folgt
Z
1
I (α)
2
=
lim
e−z dz.
2
1 + ia R→∞ γ
2
Da z 7→ e−z auf ganz C holomorph ist, gilt nach Cauchys Integralsatz
Z
Z
Z
2
−z 2
−z 2
e dz =
e dz +
e−z dz,
γ
γ1
γ2
wobei γ 1 : [0, R] → C, mit γ 1 (t) = t und γ 2 : [0, R] → C, mit γ 2 (t) = R + iat die
Katheten des Dreiecks mit den Eckpunkten 0, R und R + iaR parametrisieren.
Nun schätzen wir den Beitrag der Kurve γ 2 ab. Es gilt wegen γ̇ 2 (t) = ia
Z R
Z
2
−z 2
e dz = ia
e−(R+iat) dt
γ2
und daher für a 6= 0
¯
¯Z
Z
¯
¯
−z 2
¯
¯
e dz ¯ ≤ |a|
¯
γ2
0
R
Z
¯
¯
¯ −(R+iat)2 ¯
¯e
¯ dt = |a|
−R2
= |a| e
0
0
Z
R
a2 Rt
e
0
R
−R2 +a2 t2
e
dt ≤ |a|
Z
R
¢
¡
I (1 + ia)2 =
dt
0
2
´ e−(1−a2 )R2
|a| e−R ³ a2 R2
1
dt =
−1 ≤
e
≤
.
2
aR
|a| R
|a| R
Für R → ∞ geht der Beitrag von γ 2 gegen 0 und es folgt somit
√
Z
Z
Z R
π
−z 2
−z 2
−t2
e dz = lim
e dz = lim
e dt =
.
lim
R→∞ γ
R→∞ γ
R→∞ 0
2
1
Damit ist
2 +a2 Rt
e−R
√
r
√ 1 − ia
π
π
=
= π
2
1 + ia
1+a
(1 + ia)2
für |a| ≤ 1 gezeigt.
Für α = i π2 ergibt das Gaußsche Integral
r
³ π´ Z ∞
2π √ √
−i π2 x2
I i
=
= 2 −i = (1 − i) .
e
dx =
2
iπ
−∞
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
18
Andererseits gilt
1−i=
Z
∞
−i π2 x2
e
dx =
−∞
Z
∞
−∞
cos
³π
2
2
x
´
dx − i
Z
∞
sin
−∞
³π
2
2
x
´
dx.
Daraus folgen somit die Fresnelschen Integrale
Z ∞
Z ∞
³π ´
³π ´
1
2
x dx =
x2 dx = .
cos
sin
2
2
2
0
0
Dass diese uneigentlichen Integrale existieren, obwohl die Integranden für x → ∞
nicht gegen 0 konvergieren, liegt daran, dass die Spitzen und Täler der Integranden
mit wachsendem x immer schlanker und enger werden und sich abwechselnd aufheben. Die Fresnelschen Funktionen C, S : R → R mit
Z x
Z x
³π ´
³π ´
2
C (x) =
t dt und S (x) =
t2 dt
cos
sin
2
2
0
0
sind offensichtlich ungerade. Sie werden bei der Behandlung der Beugung von Wellen
benötigt. Siehe Figur (1.2).
y
0.75
0.625
0.5
0.375
0.25
0.125
0
1.25
2.5
3.75
5
6.25
7.5
x
Abbildung 1.2: Die Fresnelschen Funktionen C und S (rot)
Hier noch ein zweiter Satz über Gauß’sche Integrale.
R∞
p
2
Satz 18 Für α ∈ C mit <α > 0 und β ∈ C gilt −∞ e−α(x+β) dx = απ .
Beweis. Für =β = 0 ist die Behauptung durch die Substitution y = x + β klar.
Sei
oEdA =βR > 0. Mit der Substitution y = x + <β und b = =β ergibt sich
R ∞ daher
2
∞
−α(x+β)2
e
dx = −∞ e−α(y+ib) dy. Für die Kurve γ : [−R, R] → C mit γ (t) = t+ib
−∞
folgt somit
Z ∞
Z
2
−α(x+β)2
e
dx = lim
e−αz dz.
−∞
R→∞
γ
Wende nun auf das Rechteck mit den Eckpunkten −R, R, R + ib, −R + ib den
Cauchy’schen
Integralsatz an. Die Kante von R nach R + ib trägt zum Ringintegral
R b −α(R+it)
2
mit i 0 e
dt bei.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
19
Für R > b schätzen wir diesen Beitrag ab:
¯
¯Z b
Z b
Z b
¯
¯
−<α(R2 −t2 ) 2=αRt
−<αR2
¯ e−α(R+it)2 dt¯ ≤
e
e
dt ≤ e
eR(<α+2|=α|)t dt
¯
¯
0
0
−<αR2
e
0
¡ (<α+2|=α|)Rb
¢
e
−1
1
R <α + 2 |=α|
−<αR2
1
e
e(<α+2|=α|)Rb → 0 für R → ∞.
≤
R <α + 2 |=α|
=
Analoges gilt für die Kante von −R nach −R + ib. Damit folgt für <α > 0
Z ∞
Z
2
−αz 2
e
dz =
e−αx dx.
lim
R→∞
γ
−∞
Für <α = 0 versagt der obige Beweis! Tatsächlich gilt für <α = 0 und =α 6= 0
die Formel des Satzes nur für reelles β und nicht für alle β ∈ C.
Der Evolutionskern der freien 1d Schrödingergleichung
Bei der Behandlung des Anfangswertproblems der freien Schrödingergleichung kommt
der Funktion u des folgenden Satzes eine wichtige Rolle zu.
R ∞ −i τ k2 ikx
1
Satz 19 Sei u : R \ 0 × R → C mit u (τ , x) = 2π
e 2 e dk. Dann gilt
−∞
r
Z ∞
1 i x2
1
2
2τ
e , |u (τ , x)| =
und
u (τ , x) dx = 1.
u (τ , x) =
2πiτ
2π |τ |
−∞
Beweis. Es gilt nach Satz 18
Z ∞
Z ∞
³
´
2
2
−i τ2 k2 − 2kx
+( x
−( x
−i τ2 (k2 − 2kx
)
τ
τ)
τ)
τ
dk =
e
e
dk
2πu (τ , x) =
−∞
−∞
Z ∞
Z ∞
³
´
2
2
2
τ
x 2
−i τ2 k2 − 2kx
+( x
i x2τ
i x2τ
τ
τ)
e
dk = e
e−i 2 (k− τ ) dk
= e
−∞
−∞
r
Z ∞
2
2
x
τ 2
2π i x
e 2τ .
e−i 2 k dk =
= ei 2τ
iτ
−∞
q
x2
1
Daraus folgt nun u (τ , x) = 2πiτ
ei 2τ und weiter
¯r
¯ s
s
¯
1 ¯¯
1 ¯¯√ ¯¯
1
¯
|u (τ , x)| = ¯
.
¯=
¯ ±i¯ =
¯ 2πiτ ¯
2π |τ |
2π |τ |
Die Funktion u (τ , ·) ist über (−∞, ∞) uneigentlich Riemannintegrabel. Nach Satz
17 gilt für τ > 0
r
r
r
Z ∞
Z ∞
i
1
2
1
2πτ
−(− 2τ
x
) dx =
= 1.
u (τ , x) dx =
e
2πiτ −∞
2πiτ
−i
−∞
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
20
R∞
Wegen u (τ , x) = u (−τ , x) gilt −∞ u (τ , x) dx = 1 auch für alle τ < 0.
Veranschaulichen
und Imaginärteil von u zu einer festen
p wir uns noch
p den Real√
√ √ 1 . Dies ergibt für τ > 0
Zeit τ > 0. Es gilt 1/2πiτ = 1/2πτ −i = 1−i
2 2πτ
∙ µ 2¶
µ 2 ¶¸
x
1−i
x
cos
u (τ , x) = √
+ i sin
2τ
2τ
4πτ
½∙ µ 2 ¶
µ 2 ¶¸
∙ µ 2¶
µ 2 ¶¸¾
x
x
x
x
1
cos
+ sin
+ i sin
− cos
.
= √
2τ
2τ
2τ
2τ
4πτ
Speziell für τ = 1/π folgt, siehe Figur (1.3),
¶
µ
³ π ´i
h³ ³ π ´
³ π ´´io
1 nh ³ π 2 ´
1
,x =
cos
x + sin
x2 + i sin
x2 − cos
x2
.
u
π
2
2
2
2
2
Für τ > 1/π ist der Funktionsgraph gegenüber Figur (1.3) gedehnt und für τ < 1/π
0.5
0.25
0
0
1.25
2.5
3.75
5
-0.25
-0.5
Abbildung 1.3: Real- und Imaginärteil (rot) von x 7→ u
¡
¢
1
,x
2π
ist er gestaucht.
Mit der Substitution τ = ~t/m erhält man für alle (t, x) ∈ (R \ 0) × R
r
¶ s
µ
2
1 i 2x~t
m i mx2
~t
m =
e
,x =
e 2~t .
U (t, x) := u
m
2πi~t
2πi ~t
m
U heißt Evolutionskern der freien, 1d Schrödingergleichung
i~∂t ψ (t, x) = −
~2 2
∂ ψ (t, x) .
2m x
In einer großen Klasse von Lösungen ψ gilt nämlich
Z ∞
U (t, x − y) ψ (0, y) dy.
ψ (t, x) =
−∞
Dies zeigt, dass ψ durch die Vorgabe von ψ (0, ·) bereits festgelegt ist. (Eindeutigkeit
der Lösung des Anfangswertproblems) Im Kapitel über die Wärmeleitungsgleichung
wird eine eng verwandte Lösungsformel etwas genauer behandelt.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
21
Die freie 1d Schrödingerevolution einer Gaußfunktion
Die Abbildung ξ 7→ φ (τ , ξ) des folgenden Satzes ist die (inverse) Fouriertransk2
k2
formierte der Funktion k 7→ e−i 2 τ e− 2 . Die Funktion φ ist eine³ kontinuierliche
´
k2
2
i kξ− k τ
2
der diÜberlagerung von stationären Lösungen Uk (τ , ξ) = e−i 2 τ eikξ = e
1 2
mensionsbereinigten Schrödingergleichung i∂τ U = − 2 ∂ξ U mit der Gewichtsfunktion
k2
k 7→ e− 2 . Sie ist eine der wenigen explizit angebbaren quadratintegrablen Lösungen.
Satz 20 Sei φ : R2 → C mit φ (τ , ξ) =
√1
2π
R∞
k2
k2
e−i 2 τ e− 2 eikξ dk. Dann gilt
−∞
¶
µ
ξ2
1
.
exp −
φ (τ , ξ) = √
2 (1 + iτ )
1 + iτ
(1.2)
Beweis. Durch quadratisches Ergänzen im Exponenten kann dieses Integral auf
2
2
ein Gauß’sches zurückgeführt werden: −i k2 τ − k2 + ikξ =
∙
¸
1 + iτ 2
2ikξ
= −
k −
=
2
1 + iτ
"
µ
¶2 µ
¶2 #
iξ
iξ
iξ
1 + iτ 2
k − 2k
+
−
−
2
1 + iτ
1 + iτ
1 + iτ
#
"µ
¶2 µ
¶2
iξ
1 + iτ
ξ
k−
= −
+
2
1 + iτ
1 + iτ
#
"µ
¶2
ξ2
1 + iτ
iξ
−
= −
k−
2
1 + iτ
2 (1 + iτ )
Daraus ergibt sich
"µ
(
¶Z ∞
¶2 #)
µ
iξ
1 + iτ
1
ξ2
dk
k−
exp −
φ (τ , ξ) = √ exp −
2 (1 + iτ )
2
1 + iτ
2π
−∞
µ
¶
1
ξ2
= √
exp −
.
2 (1 + iτ )
1 + iτ
Wegen
√
√
z = z gilt φ (−τ , ξ) = φ (τ , ξ). Daraus und aus
¶
¶
µ
µ
1
1
ξ2
1 − iτ 2
√
=√
ξ
exp −
exp −
2 (1 + iτ )
2 (1 + τ 2 )
1 + iτ
1 + iτ
folgt offenbar
¶
µ
1
ξ2
|φ (τ , ξ)| = √
.
exp −
1 + τ2
1 + τ2
2
Für ein paar Werte von τ zeigt Figur (1.4) die Funktion ξ 7→ |φ (τ , ξ)|2 . Es gilt nach
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
22
0.75
0.5
0.25
0
-5
-2.5
0
2.5
5
Abbildung 1.4: Die Abbildungen ξ 7→ |φ (τ , ξ)|2 für τ = 0 (schwarz), τ = 1 (magenta)
und τ = 2 (rot)
dem Hauptsatz über die Fouriertransformation (Parseval) für alle τ ∈ R
Z ∞
Z ∞¯
Z ∞
¯
√
2
¯ −i k22 τ − k22 ¯2
2
|φ (τ , ξ)| dξ =
e ¯ dk =
e−k dk = π.
¯e
−∞
−∞
−∞
√
Daher ist die Funktion ξ 7→ |φ (τ , ξ)| / π die Dichte einer Gaußverteilung auf R.
Eine Polardarstellung von φ (τ , ξ) ergibt sich folgendermaßen.
s
√
1 − iτ
1 − iτ
1
1
√
√
=√
=√
4
2
2
1 + iτ
1+τ
1+τ
1 + τ2
2
Die Zahl
√1−iτ
1+τ 2
hat den Betrag 1 und das Argument − arctan τ . Daher gilt
−
ξ2
2(1+τ 2 )
µ
2
¶
τξ
i
−arctan τ
e
2 1+τ 2
e
.
φ (τ , ξ) = √
4
1 + τ2
Nun noch zur physikalisch parametrisierten Lösung: Auswertung von φ auf τ =
~t/mδ 2 und ξ = x/δ für ein δ ∈ R>0 ergibt mit der Substitution q = k/δ
¶
µ
Z ∞
2
2
1
1
~t x
−i k2 ~t2 − k2 ik xδ
mδ e
√
ψ (t, x) : = √ φ
,
e
e dk
=
2
mδ δ
δ
2πδ −∞
r Z ∞
2
~t 2
δ
2q
=
e−i 2m q e−δ 2 eiqx dq.
2π −∞
Es gilt
¯
¯
Z ∞
¯ 1 ³ x ´¯2
√
2
¯
¯
√
|ψ (t, x)| dx =
dx
=
|φ
(τ
,
ξ)|
dξ
=
π.
φ
τ
,
¯ δ
δ ¯
−∞
−∞
−∞
¡ ~t x ¢
Damit gilt für die Funktion Ψ : R2 → C mit Ψ (t, x) = √4 12 φ mδ
2, δ
δ π
Z ∞
~2 2
i~∂t Ψ (t, x) = −
∂ Ψ (t, x) und
|Ψ (t, x)|2 dx = 1.
2m x
−∞
Z
∞
2
Z
∞
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
1.5.3
23
Der Residuensatz
Cauchys Integralsatz stellt fest, dass das Integral einer holomorphen Funktion f
längs einer geschlossenen Kurve verschwindet, falls der Innenbereich der Kurve nur
Punkte enthält, die im Definitionsbereich von f liegen. Lässt sich ähnliches schließen,
wenn einzelne Punkte im Innenbereich der Kurve nicht zum Definitionsbereich von
f gehören? Hier ein erstes Teilergebnis. Es handelt von Integralen längs Kreisen,
innerhalb derer ausschließlich der Kreismittelpunkt nicht zum Definitionsbereich
von f gehört.
Lemma 21 Sei Ω ⊂ C offen und zusammenhängend. Sei f : Ω \ {z1 , . . . zn } → C
holomorph. Sei ε > 0 kleiner als der Radius der punktierten Kreisscheibe um zi , auf
der die Laurentreihe von f um zi ,
f (z) =
∞
X
k=−∞
ck (z − zi )k
konvergiert. Ist γ i,ε eine im Gegenuhrzeigersinn orientierte Parametrisierung der
Kreislinie vom Radius ε um zi , dann gilt
Z
1
f (z) dz = c−1 .
2πi γ i,ε
(Der Koeffizient c−1 heißt Residuum von f bei zi und wird auch als Resi (f ) notiert.)
Beweis. Da f eine Laurentreihendarstellung in einem Bereich 0 < |z − zi | < ρi
hat, gilt wegen der gleichmäßigen Konvergenz der Laurentreihe für ε < ρi
Z
γ i,ε
f (z) dz =
∞
X
k=−∞
ck
Z
γ i,ε
(z − zi )k dz = c−1 2πi.
Definition 22 Sei γ : [a, b] → C \ z0 geschlossen, stetig und stückweise C 1 . Dann
heißt
Z
1
1
dz
ν=
2πi γ z − z0
die Zahl der orientierten Umläufe von γ um z0 . Es gilt ν ∈ Z.
Nun ein Satz, der von allgemeinen, geschlossenen Wegintegralen handelt, deren
Weg höchstens endlich viele Punkte umschließt, die nicht zum Definitionsbereich
des holomorphen Integranden gehören. Der Satz zeigt, dass viele Details des Integranden für den Wert des Integrals bedeutungslos sind. Einzig die Residuen und die
Umlaufzahlen bestimmen den Wert des Integrals.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
24
Satz 23 (Residuensatz) Sei Ω ⊂ C offen und einfach zusammenhängend. Sei
f : Ω \ {z1 , . . . zn } → C holomorph. Sei γ : [a, b] → Ω \ {z1 , . . . zn } geschlossen, stetig
und stückweise C 1 . Die Zahl ν i ∈ Z sei die Zahl der orientierten Umläufe der Kurve
γ um zi . Dann gilt
Z
n
X
f (z) dz = 2πi
ν i · Resi (f )
γ
i=1
Beweis. Mithilfe des Cauchy’schen Integralsatzes wird der Weg γ ([a, b]) in mehrere kleine, miteinander verbundene Kreise um die Punkte zk deformiert, die eventuell mehrfach durchlaufen werden. Die Verbindungsstrecken der Kreise tragen zum
Wegintegral nicht bei, da sie hin und zurück durchlaufen werden.
Hier ein kleines Beispiel. Sei f : C r {i, −i} → C mit
µ
¶
1
1
1
1
1
=
=
−
.
f (z) =
1 + z2
(z − i) (z + i)
2i z − i z + i
und γ : [0, 2π] → C mit
γ (t) = i + reit .
Die Kurve γ umrundet den Ausnahmepunkt i von f einmal auf einem Kreis vom
Radius r im Gegenuhrzeigersinn. Für 0 < r < 2 gilt
Z
Z
Z
dz
dz
dz
1
1
=
−
.
2
2i γ z − i 2i γ z + i
γ 1+z
Das erste Integral hat den Wert 2πi, das zweite ist nach Cauchys Integralsatz gleich
0. Daher ergibt sich
Z
dz
= π.
2
γ 1+z
Das Residuum von f lässt sich an
1
f (z) =
2i
µ
1
1
−
z−i z+i
¶
ablesen. Die Funktion z 7→ 1/ (z + i) hat eine Potenzreihenentwicklung4 um i mit
dem Konvergenzradius 2. Damit ist 2i1 das Residuum von f bei i. Die Umlaufzahl
von γ um i ist 1, jene um −i ist 0. Somit reproduziert der Residuensatz den Wert
2πi · 1 · (1/2i) = π für das gesuchte Integral.
Eine einfache Formel zur Residuenbestimmung in z0 für Funktionen des Typs
f (z) /(z − z0 ) mit f holomorph in einer Umgebung von z0 gibt das folgende Lemma.
Lemma 24 Sei Ω ⊂ C offen (und zusammenhängend) und f : Ω → C sei holomorph. Für z0 ∈ Ω sei g : Ω \ z0 → C, z 7→ f (z) / (z − z0 ) . Die Funktion g ist
holomorph und es gilt für das Residuum von g bei z0
Resz0 (g) = f (z0 ) .
4
Im Abschnitt über Laurentreihen wurde sie bestimmt.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
25
Beweis. Ersetze im Integranden von
Z
f (z)
1
Resz0 (g) =
dz
2πi γ i,ε z − z0
P
k
den Zähler durch f (z) = f (z0 ) + ∞
k=1 ck (z − z0 ) . Damit folgt
Z
Z
∞
X
f (z0 )
1
Resz0 (g) =
dz +
ck
(z − z0 )k−1 dz
2πi γ i,ε z − z0
γ i,ε
k=1
Z
1
f (z0 )
=
dz = f (z0 ) .
2πi γ i,ε z − z0
Korollar 25 (Cauchys Integralformel) Sei Ω ⊂ C offen (und zusammenhängend). Die abgeschlossen Kreisscheibe Kr (z0 ) vom Radius r um z0 sei in Ω enthalten. Sei f : Ω → C holomorph. Sei γ eine im Gegenuhrzeigersinn orientierte C 1 -Parametrisierung des Randes von Kr (z0 ). Dann gilt für alle inneren Punkte
z ∈ Kr (z0 )
Z
f (ξ)
1
dξ.
f (z) =
2πi γ ξ − z
Die Cauchyformel zeigt, wie die Werte, die eine holomorphe Funktion innerhalb
eines Kreises annimmt, durch ihre Werte auf dem Kreis eindeutig festgelegt sind.
Dass eine holomorphe Funktion durch ihre Werte auf einem Kreis bestimmt ist, folgt
schon aus folgendem Sachverhalt. Seien f, g : Ω → C holomorphe Funktionen mit
f (zk ) = g (zk ) für alle zk ∈ G ⊂ Ω. Die Menge G ⊂ Ω sei abzählbar unendlich und
besitze einen Häufungspunkt in Ω. Dann gilt f = g. (Identitätssatz [6])
1.6
Residuenbestimmung durch Ableiten
Der Residuensatz führt die Integration einer holomorphen Funktion f längs eines
geschlossenen Weges, der höchstens endlich viele „Fehlstellen“ des Definitionsbereichs von f umschließt, auf die Berechnung der Residuen von f in den Fehlstellen
zurück. Bisher wissen wir nur, wie diese Residuen durch Integration von f längs
kleiner Kreise um die Fehlstellen zu ermitteln sind. Eine erhebliche Vereinfachung
der Berechnung von Residuen ergibt sich nun daraus, dass sie auf eine (komplexe)
Differentiation zurückgeführt wird. Dazu muss erst die Funktion f in der Umgebung
der Fehlstelle „glattgebügelt“ werden. Wie geht das?
Definition 26 Sei Ω offen und zusammenhängend und f : Ω → C sei holomorph.
Ein Punkt z0 ∈ C, um den eine Kreisscheibe existiert, die mit Ausnahme von z0 in Ω
enthalten ist, heißt eine isolierte Singularität von f. Falls limz→z0 f (z) existiert, heißt
z0 eine hebbare Singularität. Falls für ein k ∈ N der limz→z0 (z − z0 )k f (z) existiert,
heißt z0 Pol von f . Andernfalls heißt die Singularität wesentlich. Im Fall eines Pols
heißt das kleinste k ∈ N, für das limz→z0 (z − z0 )k f (z) existiert, die Ordnung des
Pols.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
26
Gleich ein paar Beispiele: Die Funktion f : C \ 0 → C, mit f (z) = sin (z) /z hat
bei 0 eine hebbare Singularität, denn es gilt
sin z X (−1)k 2k
=
z → 1 für z → 0.
z
(2k
+
1)!
k=0
∞
Die Funktion f : C \ z0 → C, mit f (z) = 1/ (z − z0 )k mit k ∈ N hat bei z0 einen
Pol k-ter Ordnung. Die Funktion f : C \ 0 → C, mit f (z) = exp (1/z) hat bei 0 eine
wesentliche Singularität, denn es gilt ja
1
zke z = zk +
1
1
z k−1 z k−2
+
+ ... + +
+ ...
1!
2!
k! z (k + 1)!
Für jedes k ∈ N ist z 7→ z k e1/z in jedem punktierten Kreis um 0 unbeschränkt.
Der Hauptzweig der Logarithmusfunktion ist im Punkt 0 nicht definiert. Zudem
fehlt die negative reelle Achse im Definitionsbereich Ω der holomorphen Funktion
ln . Wegen ln (z) = ln |z| + i arg (z) ist die Menge {ln (z) |z ∈ Ω und |z| < ε} für
jedes ε > 0 unbeschränkt. Da - wegen des Schnittes - jedoch ln in keiner noch so
kleinen punktierten Umgebung von 0 holomorph ist, ist 0 keine isolierte Singularität
von ln . Obwohl
lim z ln z = 0
z∈Ω,z→0
gilt, ist auch die Funktion z 7→ z ln z in keiner Umgebung von 0 holomorph. Der
Schnitt bleibt immer im Weg.
Satz 27 Sei z0 ein Pol k-ter Ordnung der holomorphen Funktion f. Dann gilt
Resz0 (f ) =
i¯
dk−1 h
1
¯
k
(z
−
z
)
f
(z)
.
¯
0
k−1
(k − 1)! dz
z=z0
(1.3)
Beweis. Die Funktion f (z) hat eine Laurentreihenentwicklung um z0 der Art
f (z) =
∞
X
n=−k
ck (z − z0 )n .
Das Residuum von f ist der Koeffizient c−1 . Die Funktion (z − z0 )k f (z) hat die
Potenzreihenentwicklung
(z − z0 )k f (z) = c−k + c−k+1 (z − z0 )1 + . . . + c−1 (z − z0 )k−1 + c0 (z − z0 )k + . . .
Die (k − 1)-fache Ableitung dieser Potenzreihe bei z0 ergibt daher
µ
d
dz
¶k−1 h
i
(z − z0 )k f (z) = (k − 1)!c−1 .
z0
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
27
Ein häufiger Spezialfall von Formel (1.3) zur Berechnung des Residuums soll
erwähnt werden. Sei g in einer offenen Umgebung Ω von z0 holomorph. Dann gilt
für die auf Ω \ z0 definierte holomorphe Funktion f mit f (z) = g (z) / (z − z0 )k
¯
dk−1 g (z) ¯¯
1
Resz0 (f ) =
.
(k − 1)! dz k−1 ¯z=z0
Ein weiterer Spezialfall ist wie folgt. Seien g und h in einer offenen Umgebung
Ω von z0 holomorph. Die Funktion h habe bei z0 eine einfache Nullstelle, d.h. es
gilt h0 (z0 ) 6= 0. Dann gilt für die auf Ω \ z0 definierte holomorphe Funktion f mit
g(z)
f (z) = h(z)
unter Verwendung der Tangentialapproximation von h bei z0
f (z) =
h0
1
g (z)
g (z)
=
.
0
(z0 ) (z − z0 ) + o (z − z0 )
(z − z0 ) h (z0 ) + ψ (z − z0 )
g(z)
ist in einer Umgebung von z0 holomorph, da limz→z0 ψ (z − z0 ) = 0
z 7→ h0 (z0 )+ψ(z−z
0)
0
und h (z0 ) 6= 0. Die Funktion f hat somit bei z0 einen Pol erster Ordnung und es
folgt aus Gleichung (1.3) mit k = 1
Resz0 (f ) =
−1
Das Residuum von (1 + z 2 )
g (z0 )
.
h0 (z0 )
(1.4)
bei i
−1
Aus der Laurentreihe von (1 + z 2 ) um i ist abzulesen, dass c−1 = 1/2i. Das kann
mit der Ableitungsformel überprüft werden. Wegen
z−i
z−i
1
=
=
lim
z→i 1 + z 2
z→i (z + i) (z − i)
2i
lim
−1
ist die Singularität von (1 + z 2 ) bei z = i ein Pol erster Ordnung. Ihr Residuum
hat nach Gleichung (1.3) tatsächlich den Wert 1/2i.
1.7
Integration mittels Residuensatz
Der Residuensatz ermöglicht die Berechnung von einigen bestimmten Integralen auf
erstaunlich einfache Weise. Zur Illustration diene das folgende Beispiel. Eine weitaus
umfassendere Liste von Beispielen ist in Kap. V, § 3,4 von [6] zu finden.
Gesucht ist der Wert des uneigentlichen, reellen Riemannintegrals
Z R
dx
I := lim IR mit IR =
.
4
R→∞
−R 1 + x
Die komplexe Funktion
©
ª
f : C \ z : z 4 = −1 → C mit f (z) =
1
.
1 + z4
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
28
ist holomorph und hat jeweils eine isolierte
¡ π ¢Singularität in den vier Nullstellen von
4
1 + z . Diese Nullstellen sind zk = exp i 4 k mit k = 1, 3, 5, 7. Die Singularität von
f in zk ist ein Pol erster Ordnung, denn die Tangentialapproximation von 1 + z 4 bei
zk sagt für z → zk
1 + z 4 = 4zk3 (z − zk ) + o (z − zk ) .
Das Resiuum von f bei zk ergibt sich daher mit Gleichung (1.4) zu
³
π ´
1
1
Reszk (f ) = 3 = exp −3i k .
4zk
4
4
Abbildung 1.5: Pole und Integrationsweg
Sei nun weiter γ R : [−R, R] → C mit γ R (t) = t. Das Integral IR stimmt mit dem
komplexen Wegintegral der Funktion f längs der Kurve γ R überein.
Das Integral von f längs der Kurve γ
eR : [0, π] → C, mit γ
eR (t) = R · exp (it) kann
wie folgt abgeschätzt werden. Es gilt für |z|4 > 2 wegen der inversen Dreiecksungleichung5
¯
¯
¯
¯¯ ¯
¯
¯
¡
¢¯ ¯
¯1 + z 4 ¯ = ¯1 − −z 4 ¯ ≥ ¯1 − ¯−z 4 ¯¯ = ¯1 − |z|4 ¯
|z|4
|z|4 |z|4
+
−1>
.
= |z| − 1 =
2
2
2
4
Daraus folgt für R4 > 2
und es gilt
2
1
¯< 4
|(f ◦ γ
eR ) (t)| = ¯
4
¯1 + e
R
γ R (t) ¯
¯Z π
¯
¯
¯
¯
¯
d
eR (t) dt¯¯
f (z) dz ¯¯ = ¯¯
(f ◦ e
γ R ) (t) γ
dt
0
γ
eR
¯
Z π¯
¯
¯
d
¯
eR ) (t) γ
≤
eR (t)¯¯ dt
¯(f ◦ γ
dt
0
2π
<
→ 0 für R → ∞.
R3
¯Z
¯
¯
¯
5
Die inverse Dreiecksungleichung |v − w| ≥ ||v| − |w|| eines normierten Vektorraums V folgt so.
Es gilt für alle v, w ∈ V
|v| = |v − w + w| ≤ |v − w| + |w| .
Also gilt |v − w| ≥ |v| − |w| . Wegen |v − w| = |w − v| ≥ |w| − |v| gilt somit |v − w| ≥ ||v| − |w|| .
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
29
Daher folgt mit dem Residuensatz
∙Z
¸
Z
X
f (z) dz +
f (z) dz = 2πi
Reszk (f )
I = lim
R→∞
γR
γ
eR
k=1,3
¸
∙
³
³
π
π´
π ´i iπ
1+i 1−i
2πi h
=√ .
exp −3i
+ exp −3i 3 =
− √ + √
=
4
4
4
2
2
2
2
1.7.1
Fourierdarstellung einiger Fundamentallösungen
Im Kapitel über die Fouriertransformation wurde in der Vorlesung Math Meth I
die folgende Integraldarstellung der retardierten Fundamentallösung der gedämpften
Schwingungsgleichung y 00 + 2γy 0 + ω20 y = 0 mit 0 < γ < ω 0 aus dem Umkehrsatz
erschlossen.
Z R
1
exp (−γt) sin (Ωt)
eiωt
gret (t) = Θ (t)
=−
lim
dω (1.5)
Ω
2π R→∞ −R (ω − ω + ) (ω − ω − )
p
Dabei gilt Ω = ω20 − γ 2 > 0 und ω± = ±Ω + iγ.
Besonders suggestiv ist die zu Gleichung (1.5) äquivalente Formel
1
lim
gret (t) =
2π R→∞
Z
R
−R
eiωt
dω,
p (ω)
(1.6)
wobei p (ω) = ω 20 − ω2 + 2iγω das charakteristische Polynom der Differentiationsvorschrift Ly = ω20 y + 2γy 0 + y 00 ist, das mit y (t) = eiωt durch
Ly = p (ω) y
definiert ist. Es gilt ja
− (ω − ω+ ) (ω − ω− ) = p (ω) .
Formal ergibt sich aus Gleichung (1.6) durch Vertauschung von L mit dem unRR
eigentlichen Integral limR→∞ −R
1
lim
Lgret (t) =
2π R→∞
Z
R
−R
p (ω) eiωt
dω = δ (t) .
p (ω)
Natürlich darf dieses Argument nicht beim Wort genommen werden. Aber es ist
zumindest eine Merkhilfe.
Die Integralformel (1.5) soll nun am Residuensatz überprüft werden. Dazu wird
das Integral als Wegintegral entlang γ R : [−R, R] → C mit γ R (s) = s, also entlang
der reellen Achse der komplexen ω-Ebene von −R nach R aufgefasst. Die komplexe
Funktion f : C \ {ω + , ω− } → C mit f (z) = eizt / (z − ω+ ) (z − ω − ) ist holomorph.
Die Punkte ω + , ω − sind Pole erster Ordnung mit den Residuen
Resω± (f ) = ±
eiω± t
e−γt e±iΩt
.
=±
ω+ − ω−
2Ω
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
30
p
Es gilt |ω ± | = Ω2 + γ 2 = ω 0 und =ω± > 0.
RR
Für t ≥ 0 und R 6= ω 0 kann das Integral −R f (ω) dω durch den Halbkreisbogen
γ
eR : [0, π] → C mit γ
eR (s) = Reis mit dem Radius R in der oberen Halbebene zu
einem geschlossenen Wegintegral ergänzt werden. Wir zeigen nun, dass der Beitrag
des Halbkreises für R → ∞ verschwindet. Für t ≥ 0 gilt |eizt | ≤ 1 für alle z mit =z ≥
0. Für R > 2ω 0 folgt daraus unter Verwendung der inversen Dreiecksungleichung
|Reis − ω ± | ≥ |R − ω 0 | = R − ω 0 > R/2 die Abschätzung
|f ◦ γ
eR (s)| ≤
Damit gilt
¯ Z
¯Z
¯
¯
¯≤
¯
f
(z)
dz
¯
¯
γ
eR
π
0
1
4
.
<
|Reis − ω + | |Reis − ω− |
R2
¯
¯
¯
¯
d
¯(f ◦ γ
¯ dt < 4π → 0 für R → ∞.
e
)
(t)
(t)
γ
e
R
R
¯
¯
dt
R
Mit dem Residuensatz folgt daraus
Z R
eiωt
dω =
lim
R→∞ −R (ω − ω + ) (ω − ω − )
lim
R→∞
∙Z
= 2πie−γt
f (z) dz +
γR
iΩt
e
Z
f (z) dz
γ
eR
¸
− e−iΩt
sin (Ωt)
= −2πe−γt
.
2Ω
Ω
Für t ≤ 0 kann das Wegintegral durch einen Halbkreisbogen in der unteren Halbebene geschlossen werden. Der geschlossene Integrationsweg umschließt keinen Pol.
Daher hat das Ringintegral den Wert 0. Wieder verschwindet der Beitrag des Halbkreisbogens für R → ∞. Dies zeigt die Gültigkeit der Integraldarstellung (1.5).
Der Spezialfall γ = 0, der ungedämpften Schwingung, soll noch etwas genauer
betrachtet werden. Aus Gleichung (1.5) folgt durch
p punktweisen Grenzübergang
γ & 0 bei festem ω0 unter Verwendung von Ω = ω20 − γ 2 > 0 und ω± = ±Ω + iγ
gret (t) = Θ (t)
sin (ω 0 t)
ω0
Z R
eiωt
1
= − lim lim
dω
2π γ&0 R→∞ −R (ω − ω0 − iγ) (ω + ω 0 − iγ)
Z R
eiωt
1
= − lim lim
dω.
2π γ&0 R→∞ −R ω2 − ω20 − iωγ
Für die avancierte Fundamentallösung gav mit gav (t) = gret (−t) folgt
Z R
1
sin (Ωt)
ei(−ω)t
= − lim lim
dω
gav (t) = −Θ (−t)
Ω
2π γ&0 R→∞ −R ω 2 − ω 20 − iωγ
Z R
eiωt
1
= − lim lim
dω.
2π γ&0 R→∞ −R ω2 − ω20 + iωγ
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
31
Schließlich definieren wir für ω0 > 0 die Funktion gF : R → C mit
Z R
eiωt
1
gF (t) : = − lim lim
dω
2π γ&0 R→∞ −R (ω − ω 0 + iγ) (ω + ω0 − iγ)
Z R
eiωt
1
= − lim lim
dω.
2π γ&0 R→∞ −R ω 2 − ω 20 + iγ
Schaffen wir es gF zu berechnen? Mit dem Residuensatz folgt aus der Definition von
gF (t)
2πiei(−ω0 +iγ)t
−2πiei(ω0 −iγ)t
1
1
Θ (t) lim
− Θ (−t) lim
γ&0 2 (−ω 0 + iγ)
γ&0 2 (ω 0 − iγ)
2π
2π
¤
i £
i −iω0 |t|
e
.
=
Θ (t) e−iω0 t + Θ (−t) eiω0 t =
2ω 0
2ω0
gF (t) = −
gF ist also genau die im Abschnitt von MM1 über die Fundamentallösungen der
Schwingungsgleichung erwähnte Feynmansche Fundamentallösung.
1.7.2
Fourierdarstellung der Heavisidefunktion
Sei γ ∈ R>0 . Für fγ : R → C gelte fγ (t) = Θ (t) e−γt , wobei Θ (t) = 1 für t ≥ 0 und
Θ (t) = 0 sonst. Dann gilt
Z ∞
√
−i
2π (Ffγ ) (ω) =
e−iωt fγ (t) dt =
.
ω − iγ
−∞
Die Funktion |Ff | ist nicht über ganz R integrierbar, sodass der Umkehrsatz nicht
anzuwenden ist. Trotzdem lässt sich mithilfe des Residuensatzes zeigen, dass die
Umkehrformel für alle t 6= 0 gilt, dass also
Z ∞
eiωt
1
dω.
fγ (t) =
2πi −∞ ω − iγ
Für t 6= 0 haben die Oszillationen der Exponentialfunktion eine konvergenzerzeugende Wirkung.
R R eiωt
dω als komplexes Wegintegral aufUm das zu zeigen, wird das Integral −R ω−iγ
izt
e
ist holomorph. Der Punkt iγ
gefasst. Der Integrand g : C \ iγ → C mit g (z) = z−iγ
−γt
ist ein Pol erster Ordnung von g mit dem Residuum
R R eiωte .
Für t > 0 und R > 2γ wird das Integral −R ω−iγ dω in der oberen Halbebene
zu einem Ringintegral entlang eines Rechtecks der Höhe R geschlossen. Nach dem
Residuensatz gilt für das Ringintegral
I
g (z) dz = 2πie−γt .
Falls der Beitrag der drei zusätzlichen Wegstücke entlang des Rechtecks im Limes
R → ∞ verschwindet, folgt f (t) = e−γt also für t > 0.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
32
Nun zur Abschätzung der Wegintegrale entlang der drei Zusatzwege. Zunächst
gilt für die vertikalen Wegstücke, d.h. das Integral von ±R nach ±R + iR
Z R
Z R
e−st
±iRt
ds.
g (±R + is) ds = e
0
0 ±R + i (s − γ)
Mit der Dreiecksungleichung folgt
¯Z R
¯
Z
¯
¯
¯
¯
g (±R + is) ds¯ ≤
¯
R
ds
|±R + i (s − γ)|
0
0
Z R
1
≤ sup
e−st ds
0<s<R |±R + i (s − γ)| 0
1 1 − e−Rt
→ 0 für R → ∞.
=
R
t
Das horizontale Geradenstück von R + iR nach −R + iR ergibt
Z R
Z R
eist
−Rt
ds.
g (s + iR) ds = −e
−
−R
−R s + i (R − γ)
e−st
Mit der Dreiecksungleichung folgt
¯ Z R
¯
Z
¯
¯
−Rt
¯−
g (s + iR) ds¯¯ ≤ e
¯
R
ds
−R |s + i (R − γ)|
Z R
1
−Rt
sup
ds
≤ e
−R<s<R |s + i (R − γ)| −R
e−Rt
=
2R < 4e−Rt → 0 für R → ∞.
R−γ
−R
Die letzte Ungleichung folgt dabei wegen R > 2γ. Damit ist gezeigt, dass die Beiträge
der zusätzlichen Wegstücke für R → ∞ verschwinden.
Im Fall t < 0 wird der Integrationsweg
in der unteren Halbebene geschlossen.
H
Da kein Pol umlaufen wird, gilt g (z) dz = 0. Die Abschätzungen der Beiträge von
den Zusatzwegen sind analog durchzuführen.
Damit ist obige Behauptung gezeigt. Die Fourierdarstellung der Heavisidefunktion ergibt sich daraus durch den Grenzübergang γ → 0. Es gilt für alle t 6= 0
Z ∞
1
eiωt
Θ (t) =
lim
dω.
2πi γ↓0 −∞ ω − iγ
Daraus folgt mit der Substitution ω 0 = −ω für alle t 6= 0, dass
Z ∞ i(−ω)t
Z ∞
0
e
eiω t
1
1
lim
dω =
lim
dω 0
Θ (−t) =
2πi γ↓0 −∞ ω − iγ
2πi γ↓0 −∞ −ω0 − iγ
Z ∞ iω0 t
e
1
lim
dω 0 .
= −
0
2πi γ↓0 −∞ ω + iγ
Es gilt also
lim
γ↓0
Z
∞
eiωt
dω = ±2πiΘ (±t) .
−∞ ω ∓ iγ
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
1.8
33
Übungsbeispiele
1. Seien w, z ∈ C. Zeigen Sie: w · z = z · w,
|w · z| = |w| |z| ,
|1/z| = 1/ |z| .
2. Geben Sie für die (vier) Zahlen z ∈ C, für die z 4 = −1 gilt, die folgenden
Größen an: |z| , <z, =z, arg (z) .
√ ¢
¡√
¢
¡
3. arg 1 + i 3 =?, arg 3 − i =? Berechnen Sie Betrag und Argument von
p
p
√
√
3
3
1 + i 3 und von
3 − i für den Hauptzweig der Wurzelfunktion.
4. Kontrollieren Sie für die folgenden Funktionen f , ob die Cauchy-Riemannschen
Differentialgleichungen gelten.
f : C → C mit f (z) = z 2 .
f : C \ 0 → C mit f (z) = 1/z.
f : C → C mit f (z) = sin (z) .
f : C → C mit f (x + iy) = x2 − y 2 + iαxy für x, y ∈ R und festes α ∈ R.
Legen Sie eine Liste jener harmonischen Funktionen an, die dieses Beispiel
abwirft. Geben Sie auch die Kartenausdrücke dieser Funktionen in Polarkoordinaten an.
Abbildung 1.6: Die harmonische Funktion sin(x) cosh (y)
5. Für welche (a, b) ∈ R2 existiert eine holomorphe Funktion f : C → C, sodass
für alle x, y ∈ R
(<f ) (x + iy) = x2 + 2axy + by 2
(1.7)
gilt? Geben Sie zu jedem solchen Paar (a, b) alle holomorphen Funktionen f
an, für die Gleichung (1.7) gilt.
Hinweis: Was lässt sich aus ∆ (<f ) = 0 über b erschließen? Lösen Sie dann
mit diesem Wissen die Cauchy-Riemann Gleichungen.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
34
6. Sei K1 = {z ∈ C : |z| < 1} und g : K1 → C mit
g (z) =
X∞
n=1
(−1)n−1
zn
z 2 z´3
=z−
+
− ...
n
2
3
Die unendliche Reihe ist durch die geometrische Reihe, die den Konvergenzradius 1 hat, majorisiert. Daher ist g holomorph. Zeigen Sie mithilfe von Kettenund Quotientenregel, dass für alle z ∈ K1
d eg(z)
= 0.
dz 1 + z
Schließen Sie daraus, dass g (z) = ln (1 + z) , wobei ln der Hauptzweig der
Logarithmusfunktion ist. Welche Potenzreihe hat die Funktion ln um einen
allgemeinen Punkt x ∈ C mit x = <x > 0?
7. (Komplexe Wegintegration) Sei R > 0 und γ 1 : [−2R, 0] → C, t 7→ t + R.
Weiter sei γ 2 : [0, π] → C, t 7→ R·exp (it) . Die stetige, geschlossene, stückweise
C 1 -Kurve γ : [−2R, π] → C mit
½
γ 1 (t) für t ≤ 0
γ (t) =
γ 2 (t) für t > 0
parametrisiert daher einen in der oberen komplexen Halbebene liegenden Halbkreis um 0 (samt Durchmesser). Sei α ∈ R und f : C → C mit
f (x + iy) = x2 − y 2 + iαxy
für x, y ∈ R. Zeigen Sie
Z
2R3
(2 − α) .
3
γ
R
Nota bene: f ist holomorph ⇔ α = 2 ⇔ γ f (z) dz = 0.
f (z) dz =
8. (Residuensatz) Seien x ∈ R und λ ∈ R>0 . Zeigen Sie mithilfe des Residuensatzes
Z K
exp (ikx)
π
dk = e−λ|x| .
lim
2
2
K→∞ −K k + λ
λ
Überprüfen Sie damit damit den Fourierschen Umkehrsatz und die in Math.
Meth. I berechnete Fouriertransformierte von e−λ|x| :
r
Z ∞ −ikx
λ
e
2
−λ|x|
√ e
dx =
.
π k 2 + λ2
2π
−∞
Hinweis: Schließen Sie für x ≥ 0 den Integrationsweg durch einen Halbkreisbogen in der oberen komplexen Halbebene. Den Fall x < 0 führen Sie durch
die Substitution k 0 = −k auf x > 0 zurück.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
35
9. (Residuensatz) Sei x ∈ R3 \ 0, κ ∈ R>0 und r = |x| . Zeigen Sie durch Integration mit Kugelkoordinaten, dass für die 3-dimensionale Kugel KR um 0 mit
Radius R > 0
µZ π
¶
Z
Z R
eihk,xi 3
q2
1
1
iqr cos θ
dk =
e
sin θdθ dq
(2π)3 KR |k|2 + κ2
(2π)2 0 q 2 + κ2
0
µZ π
¶
Z R
q
d iqr cos θ
i
=
e
dθ dq
r (2π)2 0 q2 + κ2
0 dθ
Z R
¡ −iqr
¢
q
i
=
− eiqr dq
e
2
2
2
r (2π) 0 q + κ
Z R
i
qe−iqr
=
dq
r (2π)2 −R (q − iκ) (q + iκ)
e−κr
→
=: Y (x) für R → ∞.
4πr
Der letzte Schritt folgt aus dem Residuensatz, da der ergänzende Halbkreisbogen in der unteren Halbebene im Limes R → ∞ keinen Beitrag liefert.6 (Siehe
[3], Vol. I, §28.7.4) Zeigen Sie, dass (−∆ + κ2 ) Y = 0 auf R3 \ 0. Zeigen Sie
für das Flussintegral
nach außen orientierte 2-Sphäre
R von −grad (Y ) durch die−κr
mit Radius r, dass S2 −grad (Y ) = (1 + κr) e . Fig. 1.7 zeigt den Graph von
r
(1 + x) e−x für 0 < x < 5.
1
0.8
0.6
0.4
0.2
0
1.25
2.5
3.75
5
Abbildung 1.7:
10. Prüfen Sie für den Hauptzweig der Logarithmusfunktion die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen. Kontrollieren Sie, ob Ihre Formeln für
< log (x + iy) und = log (x + iy)
wirklich das Vektorfeld von Fig. 1.8 ergeben. Auf Fallunterscheidung im Definitionsbereich achten, damit der Schnitt auf der negativ reellen Achse liegt!
6
− (Q/ε0 ) grad (Y ) modelliert das elektrostatische Feld einer Punktladung der Stärke Q, die
in ein neutrales, ionisiertes Medium eingebracht ist. Das Medium schirmt die Punktladung nach
außen hin zunehmend ab, indem Ionenladung Qr die Kugel um 0 vom Radius r verlässt. Qr steigt
im Bereich 0 < r < ∞ monoton von 0 auf Q an. κ heißt Debye-Länge.
KAPITEL 1. FUNKTIONENTHEORIE
36
3
2
1
0
1
2
3
3
2
1
0
1
2
3
Abbildung 1.8: Hauptzweig des Logarithmus als Vektorfeld
Kapitel 2
Partielle Differentialgleichungen
Gewöhnliche Differentialgleichungen formulieren die Bewegungsgesetze vereinzelter
ausdehnungsloser Materiebausteine, der sogenannten „Massenpunkte”. Ihre Lösungen sind Abbildungen eines reellen Zeitintervalls in einen zusammengesetzten Galileischen Konfigurationsraum. Elektrodynamik, Kontinuumsmechanik und orthodoxe
Quantentheorie hingegen sehen die Geschichte eines materiellen Systems nicht als
Aggregat von Weltlinien, sondern als eine Funktion entweder auf der Einsteinschen
Raumzeit oder auf einer Galileischen Konfigurationsraumzeit. Diese Funktion repräsentiert etwa Massendichte, Ladungsstromdichte und elektromagnetisches Feld oder
Aufenthaltswahrscheinlichkeit in ihrem raumzeitlichen Verlauf. Naturgesetze bringen die Felder in jedem Punkt p der Raumzeit mit bestimmten (höheren) Ableitungen der Felder im selben Punkt p in Beziehung. (Die Natur scheint von Nahewirkung
beherrscht zu sein.) Die Felder lösen also Systeme von partiellen Differentialgleichungen. Von den wichtigsten und einfachsten Typen solcher Gleichungen handelt dieses
Kapitel. Da wir es fast ausschließlich mit reellwertigen Feldern zu tun haben, wird
die Notation C m (Ω : R) zu C m (Ω) verkürzt.
2.1
Laplace Gleichung
In diesem Abschnitt werden einige Eigenschaften von Funktionen g mit ∆g = 0
gezeigt. Systematische Rechenmethoden zum Auffinden von solchen Funktionen,
den Lösungen der Laplacegleichung, werden erst in späteren Abschnitten behandelt.
Definition 28 Sei Ω ⊂ Rn offen. Eine C 2 -Funktion g : Ω → R mit ∆g = 0 heißt
harmonisch. Ist Ω beschränkt, wird der Rand von Ω als ∂Ω und der Abschluss von
Ω als Ω notiert. h : ∂Ω → R und g : Ω → R seien stetig und g sei harmonisch auf
Ω. Gilt g = h auf ∂Ω, dann wird g als Lösung des Dirichletschen Randwertproblems
(DRWP) zur Laplacegleichung auf Ω mit Randvorgabe h bezeichnet.
Im Fall der Elektrostatik gibt g den Verlauf des Potentials in einem ladungsfreien
Gebiet Ω wieder.
Die Funktion g : R2 → R mit g (x, y) = a (x2 − y 2 ) + bxy + cx + dy + e ist für
beliebige Konstante a, b . . . ∈ R harmonisch. Wenig überraschend gibt es unendlich
37
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
38
viele Lösungen von ∆g = 0. Sind zwei Funktionen auf Ω harmonisch, dann sind auch
alle reellen Linearkombinationen dieser Funktionen harmonisch. Die Menge aller auf
Ω harmonischen Funktionen ist also ein reeller Vektorraum. Wie können einzelne
Lösungen von ∆g = 0 (auf Ω) eingegrenzt werden? Unter gewissen Vorausstzungen
erweist sich das DRWP als eine Zusatzbedingung, die erfüllbar ist und sogar eine
eindeutige Lösung auszeichnet. Zu jeder stetigen Randvorgabe h auf ∂Ω gehört dann
genau eine harmonische Funktion auf Ω mit stetiger Fortsetzung nach Ω.
Für h = 0 ist g = 0 eine Lösung des DRWP. Man nennt es das homogene
DRWP zur Laplacegleichung auf Ω. Existiert auch für allgemeine Funktion h eine
Lösung? Ist Ω etwa eine Kreisscheibe, dann existiert eine explizit konstruierte Abbildung, Poissons Integralformel, die zu jeder stetigen Randvorgabe h eine Lösung
g [h] angibt.
Für allgemeine Grundmenge Ω mit Randvorgabe h 6= 0 existiert jedoch fallweise
gar keine Lösung des DRWP. Erst zusätzliche Bedingungen an Ω garantieren die
Existenz einer Lösung des DRWP zu jedem stetigen h. Gibt es für eine solche Menge
Ω Lösungen g zu jedem stetigen h, dann sind sie in der Regel nur näherungsweise und
maschinell zu berechnen. Nur für symmetrische Gebiete wie Rechteck, Quader oder
Kugelschale kann eine Lösungsabbildung h 7→ g [h] weitgehend konstruiert werden.
Falls das DRWP zur Laplacegleichung mit Randvorgabe h eine Lösung g [h] hat,
ist diese Lösung dann eindeutig? Diese Frage ist vergleichsweise einfach zu klären.
Satz 29 Sei Ω ⊂ Rn offen, beschränkt und stückweise glatt berandet. Sind g1 , g2
Lösungen des DRWP von ∆g = 0 auf Ω zur Randvorgabe h ∈ C 0 (∂Ω) , dann gilt
g1 = g2 .
Beweis. Für u = g1 −g2 gilt ∆u = 0 auf Ω und u = 0 auf ∂Ω. Wegen ∆u = 0 gilt
div (u · grad (u)) = hgrad (u) , grad (u)i auf Ω. Integration mit dem Satz von Gauß
ergibt wegen u = 0 auf ∂Ω
Z
Z
2 n
0≤
|grad (u)| d x =
u hgrad (u) , df i = 0.
Ω
∂Ω
Also gilt grad (u) = 0 auf Ω. Aus u = 0 auf ∂Ω, folgt u = 0.
Das homogene DRWP zu ∆g = 0 hat also für stückweise glatt berandete Ω genau
eine Lösung g, nämlich g = 0. Analog ist für konstante Randvorgabe h = h0 die
konstante Funktion g = h0 die eindeutige Lösung des DRWP.
Existiert für gegebenes Ω zu jedem h ∈ C 0 (∂Ω) eine Lösung des DRWP zu ∆g =
0, dann zeigt die Eindeutigkeit dieser Lösung, dass weitere Vorgaben das Problem
überbestimmen und i.a. dazu führen, dass es keine Lösung hat. Ist hingegen h nur
auf einem Stück des Randes vorgegeben, dann gibt es unendliche viele harmonische
Funktionen, die diese unvollständige Randvorgabe erfüllen.
Die eindeutige Zuordnung h 7→ g [h] eines DRWP realisiert ein Ideal der klassischen Physik: Verstehe welche Größen, wie etwa h, innerhalb welcher Grenzen frei
veränderbar sind und erkenne wie andere Größen, wie etwa g, dadurch bestimmt
werden. Verstehe wann eine physikalische Situation eindeutig festgelegt ist.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
39
Die Eindeutigkeit der Lösung eines DRWP zu ∆g = 0 auf Ω gilt auch für Ω ohne
stückweise glatten Rand. Dies kann mithilfe eines Maximumprinzips für harmonische Funktionen bewiesen werden, das besagt, dass eine harmonische Funktion ihre
Maxima und Minima am Rand ihres Definitionsbereichs annimmt.
Satz 30 Sei Ω ⊂ Rn offen, beschränkt. Die Funktion g : Ω → R sei stetig und
harmonisch auf Ω. Sei x ∈ Ω. Dann gilt das schwache Maximumsprinzip
min {g (y) : y ∈ ∂Ω} ≤ g (x) ≤ max {g (y) : y ∈ ∂Ω} .
Ist Ω zusammenhängend und gilt für ein x ∈ Ω entweder g (x) = max {g (y) : y ∈ ∂Ω}
oder g (x) = min {g (y) : y ∈ ∂Ω} , dann ist g konstant. (Starkes Maximumsprinzip)
Beweis. Sei gε : Ω → R mit gε (x) = g (x) + ε |x|2 für ε > 0. Daraus folgt
∆gε = 2εn > 0. Nehme nun an, dass gε in einem inneren Punkt y von Ω maximal
ist. Dann folgt ∂i2 gε ≤ 0 für alle i = 1, . . . n. Daraus wiederum folgt ∆gε ≤ 0,
was im Widerspruch zu ∆gε > 0 steht. gε nimmt also auf Ω kein Maximum an. Als
stetige Funktion nimmt gε aber auf Ω ein Maximum an. Dieses wird somit auf einem
Randpunkt x0 ∈ ∂Ω angenommen. Daher gilt für alle x ∈ Ω
g (x) = gε (x) − ε |x|2 ≤ gε (x) ≤ gε (x0 ) = g (x0 ) + ε |x0 |2
©
ª
≤ g (x0 ) + ε max |y|2 |y ∈ ∂Ω ≤ max g + ε max |·|2 .
∂Ω
∂Ω
Für alle > 0 und für alle x ∈ Ω gilt also
g (x) ≤ max g + ε max |·|2 .
∂Ω
∂Ω
Durch Grenzübergang ε ↓ 0 folgt daraus, dass g (x) ≤ max∂Ω g für alle x ∈ Ω.
Ersetzt man nun g durch −g, so folgt, da ja auch −g harmonisch ist, −g (x) ≤
max∂Ω (−g) = − min∂Ω g. Somit gilt min∂Ω g ≤ g (x) für alle x ∈ Ω. Damit ist das
schwache Maximumsprinzip bewiesen. Zum Beweis des starken Maximumsprinzips
siehe etwa Kap. 6.3 in [9].
Nach dem Maximumsprinzip hat eine Punktladung unter dem Einfluss eines
harmonischen elektrostatischen Potentials g keine stabile Gleichgewichtslage im Inneren des Definitionsbereiches von g. Figur (2.1) illustriert das Maximumsprinzip
an g : [−1, 1]2 → R mit g (x, y) = x2 − y 2 .
Sind g1 und g2 Lösungen desselben DRWP von ∆g = 0. Dann ist g = g1 − g2
harmonisch und es gilt g = 0 auf ∂Ω. Somit folgt aus dem Maximumsprinzip 0 ≤
g (x) ≤ 0 für alle x ∈ Ω. Also gilt g = 0. Eine weitere Folge des Maximumsprinzips
ist die Mittelwerteigenschaft harmonischer Funktionen.
Satz 31 Sei Ω ⊂ Rn offen, beschränkt und zusammenhängend. Die Funktion g :
Ω → R sei stetig und harmonisch auf Ω. Die abgeschlossene Kugel K x,R um einen
Punkt x ∈ Ω sei in Ω enthalten. Der Flächeninhalt von ∂Kx,R wird mit ω n (R)
bezeichnet. Dann gilt mit dem Flächenelement dω von ∂Kx,R
Z
1
g (x) =
gdω.
ω n (R) ∂Kx,R
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
40
Abbildung 2.1: Die Funktion x2 − y 2 über dem Einheitsquadrat [−1, 1]2 .
Beweis. Wegen der Drehinvarianz von ∆ ist mit g|K x,R auch jede Drehung
von g|K x,R um x eine auf K x,R stetige Funktion, die auf Kx,R harmonisch ist.
Sie hat im Punkt x den Wert g (x) . Mittelung über alle Drehungen von g|K x,R
ergibt eine drehinvariante (im Inneren harmonische) Funktion gx auf K x,R mit
g x (x) = g (x)R . Auf dem Rand ∂Kx,R ist gx konstant, nimmt also überall den Wert
g x,R = ωn1(R) ∂Kx,R gdω an. Da die einzige Lösung des Dirichletproblems in der Kugel
Kx,R zur konstanten Randvorgabe g x,R die konstante Funktion mit dem Wert g x,R
ist, folgt die Behauptung.
Sehen wir uns die Mittelwerteigenschaft am Beispiel der harmonischen Funktion
u : R2 → R mit u (x, y) = x2 −y 2 an. Für einen beliebig gewählten Punkt (x, y) ∈ R2
und ein r > 0 ist γ : [0, 2π] → R2 mit γ (t) = (x + r cos t, y + r sin t) eine Parametrisierung des Kreises vom Radius r um den Mittelpunkt (x, y) . Die Mittelung von
u über diesen Kreis ergibt tatsächlich den Wert von u im Kreismittelpunkt, wie die
folgende kurze Rechnung zeigt.
Z 2π
Z 2π
£
¤
1
1
u ◦ γ (t) dt =
(x + r cos t)2 − (y + r sin t)2 dt
2π 0
2π 0
Z 2π
£
¡
¢¤
1
u (x, y) + 2r (x cos t − y sin t) + r2 cos2 t − sin2 t dt
=
2π 0
Z
Z
r2 2π
r 2π
(x cos t − y sin t) dt +
cos (2t) dt
= u (x, y) +
π 0
2π 0
= u (x, y) .
2.1.1
Greensche Funktionen
Sei Ω ⊂ R3 beschränkt, offen und glatt berandet. Die Funktionen u, v ∈ C 2 (Ω : R)
seien zusammen mit ihren ersten Ableitungen stetig nach Ω fortsetzbar. Aus dem
Gauß’schen Satz folgt dann, dass
Z
Z
u · n [v] dσ =
(hgrad (u) , grad (v)i + u∆v) d3 x.
(2.1)
∂Ω
Ω
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
41
Hierbei bezeichnet n das nach außen gerichtete Einheitsnormalenvektorfeld auf ∂Ω
und dσ bezeichnet das induzierte skalare Flächenelement von ∂Ω. Die stetige Funktion n [u] : ∂Ω → R stimmt am Punkt x ∈ ∂Ω mit dem Grenzwert der Richtungsableitung limy→x hnx , grady (u)i überein. Diese „erste” Green’sche Formel ergibt sich
aus dem Gauß’schen Integralsatz mit
div (u · grad (v)) = hgrad (u) , grad (v)i + u∆v.
Durch Vertauschen von u und v in Gleichung (2.1) und Subtraktion der dabei entstehenden Gleichung von Gleichung (2.1) folgt die „zweite” Green’sche Formel
Z
Z
(u · n [v] − v · n [u]) dσ =
(u∆v − v∆u) d3 x.
(2.2)
∂Ω
Ω
Sei nun u für ein k ≥ 0 eine Lösung der (inhomogenen) Helmholtzgleichung
(∆ + k2 ) u = j auf Ω, wobei die Quelle j eine stetige Fortsetzung nach Ω habe. Die
Funktion
cos (k |x − y|)
vy : R3 r y → R mit vy (x) = −
(2.3)
4π |x − y|
erfüllt auf R3 r y die Gleichung (∆ + k2 ) vy = 0. (Übung) Der Grenzfall k = 0 führt
zurück zu der in y singulären Lösung −1/4πr der Laplacegleichung, die uns schon
aus Math Meth 1 bekannt ist.
Ist y ∈ Ω, dann liegt für hinreichend kleines ε > 0 die abgeschlossene Kugel K y,ε
in Ω. Für ein solches ε bezeichne Ω0 = Ω \ Ky,ε . Es gilt dann
Z
Z
Z
¡
¢ 3
cos (k |x − y|)
3
2
j (x) d3 x.
(u∆vy − vy ∆u) d x = −
vy ∆ + k ud x =
4π
|x
−
y|
0
0
0
Ω
Ω
Ω
Aufgrund der zweiten Green’schen Formel (2.2) gilt aber auch
Z
Z
3
(u∆vy − vy ∆u) d x =
(u · n [vy ] − vy · n [u]) dσ.
Ω0
∂Ω0
Das Oberflächenintegral zerfällt in die beiden Anteile
Z
Z
Z
(un [vy ] − vy n [u]) dσ =
(un [vy ] − vy n [u]) dσ −
∂Ω0
∂Ω
∂Ky,ε
(un [vy ] − vy n [u]) dσ,
wobei auf ∂Ky,ε das Normalenfeld n aus Ky,ε heraus orientiert gewählt ist. Es soll
nun im Integral über ∂Ky,ε der Grenzübergang zu ε → 0 durchgeführt werden. Es
gilt dσ = ε2 dω auf ∂Ky,ε und daher
Z
Z
cos (kε)
2
lim
ε (u · n [vy ] − vy · n [u]) dω = lim
ε2 u (y + εn)
dω = u (y) .
ε→0 ∂K
ε→0 ∂K
4πε2
y,ε
y,ε
Da der Integrand des Volumsintegrals
Z
cos (k |x − y|)
j (x) d3 x
4π |x − y|
Ω0
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
42
eine integrable Singularität bei x = y hat, kann der Limes ε → 0 in diesem Integral
durchgeführt werden, sodass folgt
Z
Z
cos (k |x − y|)
j (x) d3 x.
(u · n [vy ] − vy · n [u]) dσ −
u (y) =
4π |x − y|
∂Ω
Ω
Wir fassen zusammen.
Satz 32 Sei k ≥ 0 und sei Ω ⊂ R3 beschränkt, offen und glatt berandet. n bezeichne das nach außen orientierte Einheitsnormalenfeld von ∂Ω. Die Funktion
u ∈ C 2 (Ω : R) sei zusammen mit ihren ersten Ableitungen stetig nach Ω fortsetzbar.
Auch die Funktion j := (∆ + k2 ) u sei stetig nach Ω fortsetzbar. Dann gilt für jeden
Punkt y ∈ Ω mit der Definition von Gleichung (2.3)
Z
Z
3
u (y) =
vy (x) j (x) d x +
(u (x) · nx [vy ] − vy (x) · nx [u]) dx σ.
(2.4)
∂Ω
Ω
Dieser Satz gibt uns keine Lösungsformel für die inhomogene Helmholtz- bzw.
mit k = 0 für die Poissongleichung, da die Randvorgaben für u und n [u] nicht
unabhängig voneinander wählbar sind.1 Gleichung (2.4) stellt also vielmehr eine
Integralgleichung dar, die jedoch den Ausgangspunkt für die Entwicklung von Lösungsformeln darstellt. Für den Fall k = 0, den Fall der Poissongleichung also, soll
dies etwas angedeutet werden.
Zunächst sei noch k2 ≥ 0 unterstellt. Dann lässt sich Gleichung (2.4) verallgemeinern, indem die Funktion vy auf Ω r y durch die Funktion gy = vy + hy ersetzt
wird, wobei hy ∈ C 2 (Ω : R) samt allen ersten Ableitungen ∂i hy eine stetige Fortsetzung nach Ω besitzen möge. Weiter gelte (∆ + k2 ) hy = 0 auf Ω. Unter diesen
Voraussetzungen folgt
Z
Z
3
gy (x) j (x) d x +
(u (x) · nx [gy ] − gy (x) · nx [u]) dx σ.
u (y) =
∂Ω
Ω
Falls nun für jedes y ∈ Ω eine solche Funktion hy existiert, für die hy = −vy auf ∂Ω
gilt, dann ergibt sich wegen gy |∂Ω = 0
Z
Z
3
u (y) =
gy (x) j (x) d x +
u (x) · nx [gy ] dx σ.
Ω
∂Ω
Dies aber ist eine Lösungsformel für die inhomogene Helmholtzgleichung mit inhomogener Dirichletscher Randvorgabe.
Die Frage blieb offen, ob eine solche Funktion gy zu jedem y in einer vorgegeben
Menge Ω existiert. Für k > 0 ist dies i.A. nicht der Fall.2 Für k = 0 und hinreichend
1
Vom Dirichletproblem der Laplacegleichung her ist ja bereits klar, dass schon die Vorgabe von
u am Rand ∂Ω eine harmonische Funktion u vollständig festlegt.
2
Ein einfaches Beispiel dafür ist die Gleichung u00 + u = 0 auf dem Intervall Ω = (0, π) mit
den Randvorgaben u (0) = 0 und u (π) = 1. Unter allen Lösungen u (x) = a cos x + b sin x der
Differentialgleichung erfüllt keine einzige beide Randvorgaben. Unter den Lösungen u (x) = a + bx
der Gleichung u00 = 0 befindet sich jedoch sehr wohl eine, nämlich die Funktion u (x) = x/π.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
43
glatt berandetes Ω hingegen ist die Existenz von gy für alle y ∈ Ω gesichert. Da es
sogar zu jedem y ∈ Ω genau eine harmonische Funktion hy zur Randvorgabe −vy |∂Ω
gibt, ist die sogenannte Green’sche Funktion
G : {(x, y) : x, y ∈ Ω mit x 6= y} → R mit G (x, y) = gx (y)
eindeutig bestimmt. Ist sie bekannt, dann reduziert sich die Bestimmung einer Lösung u der Poissongleichung auf Ω mit Inhomogenität j und Dirichletvorgabe u0 am
Rand ∂Ω zu einer Integrationsaufgabe, denn es gilt dann die Greensche Lösungsformel
Z
Z
3
u (x) =
G (x, y) j (y) d y +
ny [G (x, ·)] u0 (y) dy σ.
Ω
∂Ω
Für j = 0 spezialisiert sie sich zu einer Lösungsformel des DRWP zur Laplacegleichung.
2.2
d’Alemberts homogene Wellengleichung
In diesem Abschnitt wird der Prototyp aller Bewegungsgleichungen schwingungsfähiger Felder behandelt. Man denke etwa an die Auslenkung eines langen, gespannten
Seils aus seiner Ruhelage. Diese Wellengleichung von d’Alembert ist eine der einfachsten partiellen Differentialgleichungen. Wie sieht sie aus?
Eine Gummiband („Saite“) sei zwischen zwei feste Punkte einer Ebene gespannt.
In Gleichgewichtslage belege es die Punktmenge {(x, y) ∈ R2 : 0 ≤ x ≤ L, y = 0} .
Bei schwacher, auf die Ebene beschränkter Auslenkung aus der Gleichgewichtslage
werde der Punkt (x, 0) der Saite in die Lage (x, u (x)) gebracht. u (x) heißt Auslenkung3 der Saite an der Stelle x. Es gelte u (0) = u (L) = 0. In diesem Fall belegt die
Saite den Graphen der Funktion u, also die Menge {(x, u (x)) |0 ≤ x ≤ L} ⊂ R2 . Natürlich gibt es auch Auslenkungen einer Saite, die nicht den Graphen einer Funktion
u : I → R bilden. (Figur 2.2)
Abbildung 2.2: Moderat (grün), extrem (rot) und gar nicht (schwarz) deformierte
Saite
3
Ist die Saite in einigen Punkten markiert, dann lässt sich die Annahme, dass der Punkt (x, 0)
in einen Punkt (x, u (x)) übergeht, überprüfen.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
44
Wir nehmen nun an, dass eine schwach ausgelenkte Saite, die ungestört schwingt,
zu jeder Zeit t eine Punktmenge belegt, die der Graph einer Funktion u (t, ·) :
[0, L] → R mit u (t, 0) = u (t, L) = 0 ist. Die Funktion u : R × [0, L] → R sei
stetig und eine C 2 -Funktion auf R × (0, L) . Auf das Saitenstück, das über dem Intervall [0, x] liegt, wirkt im Punkt (x, u (t, x)) eine Zugkraft F (t, x) , die tangential
zum Graphen liegt und vom Saitenstück über [x, L] ausgeübt wird. Es gilt also
¶
µ
|F (t, x)|
1
.
F (t, x) = q
∂x u (t, x)
2
1 + (∂x u (t, x))
Die Befestigung in (0, 0) wirkt auf die Saite mit der Kraft −F (t, 0) ein. Somit sagt
Newtons Bewegungsgleichung für den Schwerpunkt des Saitenstücks über [0, x]
¶
µ
Z x
ξ
2
∂t
dξ = F (t, x) − F (t, 0) .
ρ (t, ξ)
u (t, ξ)
0
Hier sei ρ : R × [0, L] → R>0 stetig und auf R × (0, L) eine C 2 -Funktion, die die
Massendichte
der Saite angibt. D.h. die Masse des Saitenstücks über [0, x] zur Zeit
Rx
t ist 0 ρ (t, ξ) dξ.
Unterstellt man nun, dass ρ (t, ξ) = ρ (0, ξ) für alle t, folgt die zeitliche Konstanz
der x-Koordinate des Saitenschwerpunkts und somit
|F (t, x)|
|F (t, 0)|
q
=q
.
2
2
1 + (∂x u (t, x))
1 + (∂x u (t, 0))
Damit ergibt sich die y-Komponente der Bewegungsgleichung zu
Z x
|F (t, 0)|
2
ρ (0, ξ) u (t, ξ) dξ = q
[∂x u (t, x) − ∂x u (t, 0)] .
∂t
2
0
1 + (∂x u (t, 0))
Ableitung dieser Gleichung nach x ergibt wegen der Vertauschbarkeit von ∂x mit ∂t2
|F (t, 0)|
ρ (0, x) ∂t2 u (t, x) = q
∂x2 u (t, x) .
2
1 + (∂x u (t, 0))
Es gilt dann mit c (t, x)2 =
√|F (t,0)|
ρ(0,x)
1+(∂x u(t,0))2
die Schwingungsgleichung
¢
¡
c (t, x)−2 ∂t2 − ∂x2 u (t, x) = 0.
q
Sind ρ und |F (t, 0)| / 1 + (∂x u (t, 0))2 annähernd konstant, kann die Funktion c2
ohne großen Fehler durch eine positive Konstante ersetzt werden.
Die antiken Beobachtungen über die Abhängigkeit der Tonhöhe einer schwingenden Saite von ihrer Länge und Spannkraft4 werden heute als Sternstunden der
4
Die Saitenspannung wurde mittels Gewichten geregelt.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
45
Geistesgeschichte gesehen. Pythagoras fand heraus, dass der Klang zweier gleichzeitig schwingender Saiten nur dann als angenehm empfunden wird, wenn (bei gleicher
Spannung) die Längen der Saiten zueinander in einem einfachen rationalen Verhältnis wie 1/2, 2/3, 3/4. . . stehen. (Das war ohne Frequenzbegriff die einzige damalige
Möglichkeit die Tonlage von Saiten zu objektivieren.)
Galilei griff schon als Halbwüchsiger das Thema auf und beobachtete dank seiner
legendären Akribie, dass die Spannkraft einer Saite vervierfacht werden muss, wenn
sie um eine Oktave höher, also mit doppelter Frequenz, erklingen soll.5 Pythagoras hatte noch geglaubt, aus seinen Beobachtungen einen linearen Zusammenhang
zwischen Frequenz und Spannung ablesen zu können. (D Whitehouse, Galileo, Evergreen, Köln, 2009) Was Galilei mit Pythagoras verband, war sein Staunen darüber,
dass im Gesetzesbuch der Natur Zahlen eine so große Bedeutung haben. Die beiden
haben wohl schon so etwas wie Wigners „unreasonable effectiveness of mathematics“
erblickt.
Definition 33 Sei c ∈ R>0 und sei A ∈ C 2 (Rn+1 ) . Falls
µ
¶
1 2
2
2
∂ − ∂x1 − . . . − ∂xn A (t, x) = 0
c2 t
für alle (t, x) ∈ Rn+1 gilt, dann heißt A Lösung der d’Alembertschen Wellengleichung. Die lineare Abbildung ¤ : C 2 (Rn+1 ) → C (Rn+1 ) mit
µ
¶
µ
¶
1 2
1 2
2
2
¤A =
∂ − ∂x1 − . . . − ∂xn A =
∂ − ∆n A
c2 t
c2 t
heißt d’Alemberts Wellenoperator auf C 2 (Rn+1 ) .
Bemerkung 34 Die Funktion A = 0 auf Rn+1 ist eine Lösung der d’AWG; sie
heißt die triviale Lösung. Sind A1 und A2 Lösungen der d’AWG und ist λ ∈ R,
dann ist auch λA1 + A2 eine Lösung. Die Menge aller Lösungen der d’AWG ist
also ein reeller Vektorraum. Dieser ist unendlichdimensional, wie der folgende Abschnitt zeigt. Ein qualitatives Bild vom Kurzzeitverhalten der Lösungen liefert die
Verbalisierung von d’AWG: Die zeitliche Änderung einer Lösung der d’AWG ist so,
dass die Beschleunigung der ’Auslenkung’ zur Zeit t in jedem Punkt x mit c2 mal
der Summe der Krümmungen der Auslenkung zur Zeit t im Punkt x in Richtung
der kartesischen Koordinatenachsen übereinstimmt. Wir beachten (erleichtert), dass
∆A (t, x) nicht von der speziellen Wahl der kartesischen Koordinaten abhängt.
2.2.1
Eine Lösungsformel für n = 1
Die Funktion Af,g : R2 → R mit Af,g (t, x) = f (x − ct) + g (x + ct) ist für f, g ∈
C 2 (R) eine Lösung der 2-dim d’AWG. (Mit Kettenregel nachrechnen.) Die Abbildung 2.3 zeigt den Fall f (x) = exp (−x2 ) = −g (x) . Ein Berg und ein Tal laufen
aufeinander zu, interferieren kurz und entfernen sich wieder voneinander. Zur Zeit
5
Wegen c =
p
F/ρ und ν = c/L erklärt die hier gegebene Ableitung diesen Sachverhalt.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
46
t = 0 löschen sich die beiden gegenläufigen Wellenpakete vollständig aus. Es gilt
A (0, ·) = 0. Dass die Welle danach „weiterlebt”, liegt daran, dass ∂t A (0, ·) 6= 0.
Siehe Abbildung (2.3).
Abbildung 2.3: Interferenz zweier Gaußpakete
Prominente Lösungen ergeben sich für f (x) = cos (kx) mit k > 0
Af,0 (t, x) = cos (k (x − ct)) , A0,f (t, x) = cos (k (x + ct)) ,
Af,−f (t, x) = cos (kx − ckt) − cos (kx + ckt) = 2 sin (ckt) sin (kx) .
Es sind dies eine rechts- bzw. linksläufige monochromatische Welle und die Überlagerung dieser beiden, eine Stehwelle. In diesen Lösungen schwingt die Auslenkung
an einem festen Ort mit der Kreisfrequenz ω = ck.
Eine rechtsläufige Welle Af,0 , die als Schwebung bezeichnet wird, und in der
konstruktive mit destruktiver Interferenz ¡abwechselt,
die Funk¢ ergibt
¡ k2 +k1 beispielsweise
¢
1
tion6 f (x) = cos (k1 x)+cos (k2 x) = 2 cos k2 −k
x
cos
x
mit
k
,
k
∈
R>0 und
1 2
2
2
|k1 − k2 | ¿ k1 + k2 . Figur (2.4) zeigt Af,0 im Fall k1 = 2π und k2 = 2π · 1, 15 zur
Zeit t = 0.
Der folgende Satz zeigt, dass jede Lösung der 2-dim d’AWG in der Menge der
Lösungen {Af,g : f, g ∈ C 2 (R)} enthalten ist. Überdies zeigt er, dass jede Lösung A
durch ihre „Anfangswerte” A(0, ·) und ∂t A (0, ·) eindeutig bestimmt ist.
Satz 35 (d’Alemberts Lösungsformel) Seien u ∈ C 2 (R) , v ∈ C 1 (R) . Dann
existiert genau eine Lösung A der 2-dimensionalen d’Alembertschen Wellengleichung
mit A (0, x) = u (x) und ∂t A (0, x) = v (x) für alle x ∈ R. Für diese Lösung gilt für
alle (t, x) ∈ R2
Z
1
1 x+ct
A (t, x) = (u (x − ct) + u (x + ct)) +
v (ξ) dξ.
(2.5)
2
2c x−ct
6
Am festen Ort x hört man einen Ton der Frequenz πc (k2 + k1 ) abwechselnd lauter und leiser.
Dieses An- und Abschwellen geschieht mit der Frequenz πc |k2 − k1 | . Bringen Sie zwei gleiche
Weingläser zum Klingen. Die niedrigsten und dominierenden Eigenfrequenzen der beiden Gläser
sind nicht exakt gleich und daher hören Sie eine Schwebung.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
47
y
1.5
1
0.5
0
-5
-2.5
0
-0.5
2.5
5
x
-1
-1.5
Abbildung 2.4: Eine Schwebung
Beweis. Sei Ψ = (t, x) die Standardkarte von R2 . Sei Φ = (ct + x, ct − x) . Dann
gelten wegen
X2 ¡
¢
∂iΨ =
∂iΨ Φj ∂jΦ
j=1
¡ Φ
¢
Ψ
Φ
die Beziehungen ∂1 = c ∂1 + ∂2 und ∂2Ψ = ∂1Φ − ∂2Φ . Daraus folgt, dass
1 ¡ ¢2 ¡ ¢2
¤ = 2 ∂1Ψ − ∂2Ψ = 4∂1Φ ∂2Φ .
c
Es gilt somit ¤A = 0 genau dann, wenn ∂2Φ A = p (Φ2 ) für ein p ∈ C 1 (R) . Dies
wiederum gilt genau dann, wenn A = q (Φ1 ) + P (Φ2 ) für ein q ∈ C 2 (R) und P eine
Stammfunktion von p. Damit ist A (t, x) = f (x − ct) + g (x + ct) mit f, g ∈ C 2 (R)
gezeigt. Es gilt daher
u (x) = f (x) + g (x) ,
v (x) = c (g0 (x) − f 0 (x)) .
Integration der zweiten Gleichung von 0 bis x ergibt
Z
1 x
v (ξ) dξ = g (x) − f (x) − g (0) + f (0) .
c 0
Addiert man diese Gleichung zur ersten, folgt mit K = g (0) − f (0)
Z
1 x
v (ξ) dξ.
2g (x) = K + u (x) +
c 0
Subtraktion ergibt
Z
1 x
v (ξ) dξ.
2f (x) = −K + u (x) −
c 0
Daraus folgt
A (t, x) = f (x − ct) + g (x + ct)
½
¾
Z
Z
1 x−ct
1 x+ct
1
u (x − ct) + u (x + ct) −
v (ξ) dξ +
v (ξ) dξ
=
2
c 0
c 0
½
¾
Z
1 x+ct
1
u (x − ct) + u (x + ct) +
v (ξ) dξ .
=
2
c x−ct
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
48
Bemerkung 36 (Anfangswertproblem) Der Satz 35 zeigt, dass das Anfangswertproblem zur 2d d’AWG wohlgestellt ist. Damit ist folgendes gemeint. Differentialgleichung und Zusatzbedingung (hier die Anfangsvorgaben) sind so, dass
• zu jeder zulässigen Anfangsvorgabe mindestens eine Lösung der PDG existiert,
• zu jeder zulässigen Anfangsvorgabe höchstens eine Lösung der PDG existiert,
• die eindeutige Lösung zur Anfangsvorgabe stetig von dieser abhängt.
Wie ist d’Alemberts Lösungsformel zu modifizieren, wenn die Anfangsvorgaben
nicht zur Zeit 0 sondern zu irgendeiner Zeit τ vorliegen? Für welche Lösung Aτ der
d’AWG gilt also Aτ (τ , ·) = u und ∂t Aτ (τ , ·) = v?
Für A gelte ¤A = 0 und A (0, ·) = u und ∂t A (0, ·) = v. Sei Aτ die Funktion mit
Aτ (t, x) = A (t − τ , x) . Für sie gilt ¤Aτ = 0 mit Aτ (τ , ·) = u und ∂t Aτ (τ , ·) = v.
Somit lautet die Lösungsformel für Anfangsvorgaben (u, v) zur Zeit τ
Z
1 x+c(t−τ )
1
Aτ (t, x) = (u (x − c (t − τ )) + u (x + c (t − τ ))) +
v (ξ) dξ.
2
2c x−c(t−τ )
Erproben wir noch d’Alemberts Lösungsformel an der Lösung7 A mit A (t, x) = t
für alle t, x ∈ R. Es gilt u (x) = A (0, x) = 0 und v (x) = ∂t A (t, x) = 1 für alle x ∈ R.
Es ergibt sich nun tatsächlich
¯x+ct
Z
Z
1 x+ct
1 x+ct
ξ ¯¯
v (ξ) dξ =
1dξ = ¯
2c x−ct
2c x−ct
2c x−ct
1
=
[(x + ct) − (x − ct)] = t = A (t, x) .
2c
Lokalität
Sei (u, v) eine zulässige Anfangsvorgabe, für die u = v = 0 außerhalb des (endlichen, abgeschlossenen) Intervalls I ⊂ R gilt. A sei die zugehörige Lösung der 2-dim
d’AWG. Für (t, x) ∈ R2 gelte c2 t2 < (x − y)2 für alle y ∈ I. Dann folgt aus Gleichung
(2.5), dass A (t, x) = 0. Ist also die Welle zur Zeit 0 im Bereich |x| < R lokalisiert,
so ist sie zur Zeit t im Bereich |x| < R + c |t| lokalisiert. Die Ausweitung des Raumgebietes, in dem die Funktionen A (t, ·) und ∂t A (t, ·) von 0 verschieden sein können,
ist durch die Geschwindigkeit c begrenzt. Dieser Sachverhalt wird Lokalität der Wellenausbreitung genannt. Sie gilt auch für viele andere Wellengleichungen, etwa für
die lokalisierten Lösungen von (¤ + κ2 ) A = 0.
Die Ableitungen ∂t A (t, x) und ∂x A (t, x) einer Lösung von ¤A = 0 sind sogar
einzig und allein durch die Anfangsvorgaben u, v in einer beliebig kleinen Umgebung
der „retardierten Stellen“ x ± ct bestimmt, denn es gilt
c 0
1
{u (x + ct) − u0 (x − ct)} + {v (x + ct) + v (x − ct)} ,
2
2
1 0
1
0
∂x A (t, x) =
{u (x + ct) + u (x − ct)} + {v (x + ct) − v (x − ct)} .
2
2c
∂t A (t, x) =
7
Diese Lösung hat allerdings nichts Wellenartiges.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
49
Dies merkt man sich mit dem Slogan „Die Ableitungen breiten sich mit genau der
Geschwindigkeit c aus“. Hier ein Beispiel dafür, was das nach sich zieht: Sei u (x) =
v (x) = 0 für alle x außerhalb des Intervalls
I =¤ [a,£b] ⊂ R. Für
£ a−x b−x
¤ ein festes x > b folgt
x−b x−a
∂t A (t, x) = ∂x A (t, x) = 0 für alle t ∈
/ c , c ∪ c , c .
2.2.2
Passiver Galilei’scher Dopplereffekt
Sei (e0 , e1 ) die Standardbasis von R2 , sodass id = (e0 , e1 ) · (t, x)T gilt. Sei v ∈ R.
Für die galileitransformierte Basis
µ
¶
1 0
(f0 , f1 ) = (e0 , e1 ) ·
v 1
gelte id = (f0 , f1 ) · (t0 , x0 )T , sodass
µ
¶ µ 0 ¶ µ ¶
t
1 0
t
=
·
0
x
x
v 1
folgt. Die Lösung Af,g = f (x − ct) + g (x + ct) hat daher den galileitransformierten
Kartenausdruck
Af,g = f (x0 + vt0 − ct0 ) + g (x0 + vt0 + ct0 ) .
Der f -Anteil bewegt sich in der Karte (t0 , x0 )T mit der Geschwindigkeit c−v und der
g-Anteil mit Geschwindigkeit c + v. Speziell für f (x) = sin kx und g (x) = cos kx
folgt
³
³
³
³
v ´ 0´
v ´ 0´
Af,g = sin k x0 − c 1 −
t + cos k x0 + c 1 +
t .
c
c
¡
¢
0
= ω¢ 1 − vc <
Für 0 < v < c ist die Frequenz des (rechtsläufigen) Sinusanteils zu ω
¡
ω verkleinert und die des (linksläufigen) Cosinusanteils zu ω0 = ω 1 + vc > ω vergrößert. Die Wellenzahl ist hingegen unverändert. Dieser Sachverhalt wird passiver
Dopllereffekt genannt. Er ist an Schallwellen zu beobachten.
Es gilt natürlich
µ
¶
1 2
2
∂ 0 − ∂x0 Af,g 6= 0,
c2 t
da sonst die rechtsläufige und die linksläufige Ausbreitungsgeschwindigkeit von Af,g
bezüglich der Karte (t0 , x0 )T mit c übereinstimmen würden. Der Kartenausdruck des
Wellenoperators ¤, den wir ja unter Bezugnahme auf eine speziell gewählte Karte
von R2 definiert haben, ändert sich daher bei einem galileischen Kartenwechsel. Es
gilt nämlich für die bewegte Karte (t0 , x0 )T = (t, x − vt)T , dass
¶
¶
µ
µ
³ v ´2
1
v
1 2
1 2
2
2
2
2
0 − v∂x0 ) − ∂ 0 =
0 ∂x0 +
=
−
2
∂
−
∂
(∂
∂
−
∂
∂
∂x20 .
0
0
t
t
x
x
x
c2 t
c2
c2 t
c2
c
Diese „passive“ Überlegung kann auch in eine „aktive“ umgemünzt werden. Sei
Γ : R2 → R2 jene lineare Abbildung, die die Standardbasis (e0 , e1 ) in die Basis
(f0 , f1 ) überführt. Dann gilt
¶ µ ¶
µ
µ ¶
t
1 0
t
.
·
◦Γ=
x
v 1
x
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
50
Die Hintereinanderschaltung A ◦ Γ−1 für Af,g = f (x − ct) + g (x + ct) ergibt daher
Af,g ◦ Γ−1 = f (x + vt − ct) + g (x + vt + ct) .
Die Funktion A ◦ Γ−1 ist für v 6= 0 und für A 6= 0 keine Lösung von d’Alemberts
Wellengleichung. Daher lässt sich der aktive Dopplereffekt auch an Af,g ◦ Γ−1 nicht
ablesen. Um diesen zu sehen, muss vielmehr die Wellengleichung mit bewegter Sinusquelle gelöst werden.
Licht kann fern von Ladungen etwas vereinfacht als Lösung Af,g von ¤A = 0
beschrieben werden. Ist die richtungsabhängige Wellenausbreitungsgeschwindigkeit
von Af,g bezüglich (t0 , x0 ) mit einer in Achsenrichtung gleichförmig bewegten Fizeaustange8 zu sehen? Nein! Alle Versuche, bewegungsinduzierte Asymmetrien in
ansonsten symmetrischen Experimenten9 zu finden, fielen bis heute negativ aus. Die
Geschwindigkeit des schwingenden Mediums (Äther) lässt sich im Fall von Licht
nicht ermitteln, da Licht immer an Licht gemessen wird. Die Lichtgeschwindigkeit
ist unabhängig von einer (konstanten) Bewegung der Vermessungsapparatur.
Daraus folgerte Einstein, dass der galileische Kartenwechsel nicht jene inertialen Karten verbindet, die durch zwei zueinander konstant bewegte Vermessungsnetze physikalisch realisiert sind. Solche „Bezugssyteme“ funktionieren ja selbst auch
nach den Gesetzen des Elektromagnetismus. Einstein suchte daher nach den (linearen) Kartenwechseln, die den Kartenausdruck des Wellenoperators und damit die
Lichtgeschwindigkeit unverändert lassen. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass eine gleichförmige Gesamtbewegung einer Lösung von ¤A = 0 keinen Einfluss auf
die inneren Verhältnisse dieser Lösung hat. Sie breitet sich in alle Richtungen mit
derselben Geschwindigkeit aus.
Ein Analogon zur galileischen Symmetrie der Mechanik war so für elektromagnetische Felder gefunden. Merkwürdige Phänomene sind die Folge: Ob zwei Raumzeitpunkte gleichzeitig sind, das hängt davon ab, auf welche inertiale Karte man
sich bezieht. Die absolute Gleichzeitigkeit der galileischen Physik ging also verloren. Ebenso hängen die Abmessungen eines Körpers oder die Dauer eines Vorgangs
vom relativen Bewegungszustand des Bezugssystems ab. All dies wird im nächsten
Abschnitt etwas angedeutet.
2.2.3
Die Lorentzinvarianz des Wellenoperators
Sei φ ∈ C 2 (Rn : R) und sei R : Rn → Rn eine Drehspiegelung. Dann gilt ∆ (φ ◦ R) =
(∆φ) ◦ R. Man sagt der Laplaceoperator ist invariant unter Drehspiegelungen. Dar8
An den Enden einer Stange befinden sich zwei durchlöcherte Kreisscheiben. Blickt man längs
der Stange durch die Löcher der Scheiben auf eine Lichtquelle, so sieht man Licht. Rotiert die Stange
genügend schnell, so gelangt das Licht, das durch ein Loch der ersten Scheibe hindurchtritt, nicht
mehr durch das dahinter befindliche Loch der zweiten Scheibe, da sich dieses weggedreht hat. Es
bleibt dunkel. Erst bei einer weiteren Erhöhung der Drehgeschwindigkeit der Scheiben wird es
wieder hell. Sind Länge und Winkelgeschwindigkeit der Achse bekannt, so lässt sich daraus die
Lichtgeschwindigkeit ermitteln.
9
Das berühmteste ist Michelson’s Interferenzexperiment. Vereinfacht gesagt sucht es nach Laufzeitunterschieden längs zweier aufeinander senkrechter deckungsgleicher Fizeaustangen. Eine der
beiden Stangen ist dabei parallel zur Bewegung ausgerichtet.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
51
aus folgt für φ : Rn → R mit ∆φ = 0, dass auch ∆ (φ ◦ R) = 0 gilt. Gibt es
einen analogen Sachverhalt im Fall von d’Alemberts Wellengleichung ¤A = 0? Wir
schildern hier den räumlich 1d Fall.
Was entspricht den Drehungen von V = R2 im Fall des Wellenoperators? Zu0
1 T
nächst vereinfachen wir den
´ mithilfe der Karte Φ = (x , x ) =
³¡ Wellenoperator
¡
¢
¢
2
2
(ct, x)T . Dann gilt ¤ =
. Dem euklidischen Skalarprodukt, das
∂0Φ − ∂1Φ
im Laplaceoperator ∂x2 + ∂y2 steckt, entspricht beim Wellenoperator die Bilinearform
G : V × V → R mit der Gram’schen Matrix
¶
µ
1 0
Ge =
0 −1
zur Basis e = (e0 , e1 ) von V mit Φ (e0 ) = (1, 0)T und Φ (e1 ) = (0, 1)T . Damit gilt
1
X
¡ −1 ¢μν Φ Φ
∂μ ∂ν .
Ge
¤=
μ,ν=0
So wie die Drehungspiegelungenen die Invarianzen des euklidischen Skalarproduktes
sind, gibt es Invarianzen von G. Und diese führen zu Invarianzen des Wellenoperators.
Sei also Λ : R2 → R2 linear mit
G (Λv, Λw) = G (v, w) für alle v, w ∈ R2 .
(2.6)
Die Menge aller solchen linearen Abbildungen Λ bildet offenbar bezüglich der Hintereinanderausführung eine Gruppe, die Lorentzgruppe O (1, 1) . Wie können die
Elemente der Lorentzgruppe explizit angegeben werden?
Das Bild der Standardbasis e = (e0 , e1 ) unter Λ ∈ O (1, 1) ist ein Paar von
Vektoren
µ
¶
a b
(Λe0 , Λe1 ) = (e0 , e1 )
c d
mit a2 − c2 = 1, b2 − d2 = −1 und ab − cd = 0. Lösen dieses Gleichungssystems
für a, b, c, d ∈ R zeigt, dass (a, b, c, d) genau dann eine Lösung ist, wenn Konstante
τ , ε ∈ {1, −1} und β ∈ (−1, 1) existieren, sodass
µ
¶
µ
¶
µ
¶
1
a b
τ εβ
M (Λ, e)00 M (Λ, e)01
=p
=:
.
c d
M (Λ, e)10 M (Λ, e)11
1 − β2 τ β ε
Die Elemente Λ mit ε = τ = 1 bilden eine Untergruppe von O (1, 1) , die eigentliche,
orthochrone Lorentzgruppe SO+ (1, 1) .
Für die Matrix von Λ ∈ O (1, 1) zur Basis e gilt wegen Gleichung (2.6)
1
X
ρ,σ=0
¡ −1 ¢μν
¡
¢ρσ
ν
M (Λ, e)μρ G−1
M
(Λ,
e)
=
Ge
.
e
σ
(2.7)
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
52
Überprüfen wir damit unser Ergebnis für die Matrix M (Λ, e) . Tatsächlich gilt:
¶T
1
τ εβ
p
p
2
τβ ε
1−β
1 − β2
¶
¶ µ
¶µ
µ
1
1 0
τ τβ
τ −εβ
.
=
=
2
0 −1
εβ
ε
τ
β
−ε
1−β
1
µ
τ εβ
τβ ε
¶µ
1 0
0 −1
¶µ
Wir benützen nun Gleichung (2.7), um die Lorentzinvarianz des Wellenoperators zu
zeigen. Damit ist folgendes gemeint.
Satz 37
10
Sei A ∈ C 2 (R2 : R) und Λ ∈ O (1, 1) . Dann gilt ¤ (A ◦ Λ) = (¤A) ◦ Λ.
Beweis. Es gilt nach der Kettenregel mit den Abkürzungen ∂μ = ∂μΦ , Λμν =
¡
¢μν
M (Λ, e)μν und η μν = G−1
e
1
X
μ,ν=0
μν
η ∂μ ∂ν (A ◦ Λ) =
=
1
X
μ,ν=0
1
X
ρ,σ=0
η
μν
1
X
ρ,σ=0
Λρμ Λσν (∂ρ ∂σ A) ◦ Λ
η ρσ (∂ρ ∂σ A) ◦ Λ = (¤A) ◦ Λ.
Damit ist nun klar, dass für Λ ∈ O (1, 1) aus ¤A = 0 auch ¤ (A ◦ Λ−1 ) = 0
folgt, sodass die „Anwendung“ einer Lorentztansformation Λ auf eine Lösung A von
d’Alemberts Wellengleichung die neue Lösung A ◦ Λ−1 liefert. Die Lösungsmenge
der dAWG ist also invariant unter der Linksoperation μ : O (1, 1) × C 2 (R2 : R) →
C 2 (R2 : R) der Lorentzgruppe mit μ (Λ, A) = A ◦ Λ−1 . Überdies ist der KartenausT
T
druck von A◦Λ−1 bezüglich der bewegten Karte Ψ = (x00 , x01 ) = M (Λ−1 , e) (x0 , x1 )
T
derselbe11 wie jener von A bezüglich Φ = (x0 , x1 ) . Dies zeigt man so: Für alle
p ∈ R2 gilt
¡
¢
A (p) = A ◦ Λ−1 (Λp)
und Ψ (Λp) = M (Λ−1 , e) Φ (Λp) = M (Λ−1 , e) · M (Λ, e) · Φ (p) = Φ (p) . Der Kartenausdruck AΦ ist implizit durch A = AΦ ◦ Φ definiert. Analog gilt A ◦ Λ−1 =
Ψ
(A ◦ Λ−1 ) ◦ Ψ. Somit folgt für alle p
¡
¡
¢
¡
¢Ψ
¢Ψ
AΦ ◦ Φ (p) = A (p) = A ◦ Λ−1 (Λp) = A ◦ Λ−1 ◦ Ψ (Λp) = A ◦ Λ−1 ◦ Φ (p) .
Ψ
Dies ist äquivalent zu AΦ = (A ◦ Λ−1 ) .
10
Dies scheint Woldemar Voigt um 1887 als erster erkannt zu haben. Er wurde jedenfalls von Hermann Minkowski in seinem Vortrag vor der „80. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Cöln am 21. September 1908“ diesbezüglich zitiert. Siehe auch
http://de.wikipedia.org/wiki/Woldemar_Voigt. Erst Albert Einstein jedoch hat den Stier bei den
Hörnern gepackt und daraus die physikalische Konsequenz gezogen.
11
Die internen Relationen von A und A ◦ Λ−1 sind also gleich.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
53
Zeitdilatation
Ein (ausdehnungsloser) Gegenstand entstehe im Raumzeitpunkt 0, belege die Raumzeitpunkt [0, T ] · e0 und vergehe im Raumzeitpunkt T e0 . Er besteht also während
der Zeit 0 < x0 < T und ruht relativ zur Basis e. Der Gegenstand, d.h. die Strecke
[0, T ] · e0 , werde nun der Lorentztransformation Λ ∈ SO+ (1, 1) mit
¶
µ
1
1 β
mit β ∈ (−1, 1)
(2.8)
M (Λ, e) = p
1 − β2 β 1
unterworfen. Das Relativitätsprinzip sagt, dass auch der lorentztransformierte Gegenstand möglich
ist. Er belegt die Raumzeitpunkte [0, T ] · Λe0 . Wegen Λe0 =
p
(e0 + βe1 ) / 1 − β 2 gilt x1 (Λe0 ) = βx0 (Λe0 ) = βct (Λe0 ) und x1 = βx0 = cβt
auf der Strecke [0, T ] · Λe0 . Der lorentztransformierte Gegenstand bewegt sich daher
mit der Geschwindigkeit v = cβ.12 Sein Geburtsraumzeitpunkt 0 wird von Λ auf 0
abgebildet, der seines Todes auf
T Λe0 =
T (e0 + βe1 )
p
.
1 − β2
Die Lebensdauer des Gegenstandes
p hat sich daher durch die Lorentztransformation
0
auf die Zeitspanne 0 < x < T / 1 − β 2 gedeht.
Lorentzkontraktion
Ein ausgedehnter Gegenstand belege zu allen Zeiten x0 das Intervall 0 < x1 < L.
Er besetzt also die Raumzeitpunkte S = R · e0 + (0, L) · e1 . Diese Menge wird von
der Lorentztransformation (2.8) auf den Streifen ΛS abgebildet. Wo befindet sich
der rechte Rand von ΛS zur Zeit x0 = 0? Der rechte Rand von ΛS ist die Menge
Λ (Le1 + R · e0 ) . Es gilt für ξ ∈ R
µ
¶ µ ¶
µ
¶
(e0 , e1 )
(e0 , e1 )
1 β
ξ
ξ + βL
·
·
=p
·
.
Λ (Le1 + ξ · e0 ) = p
β 1
L
βξ + L
1 − β2
1 − β2
x0 [Λ (Le1 + ξ · e0 )] = 0 gilt genau dann, wenn ξ = −βL. Daher ist der Punkt
q
1 − β2
e = L 1 − β 2 e1
Λ (Le1 − βL · e0 ) = L p
2 1
1−β
0
der rechte
p Randpunkt von ΛS mit x = 0. Die Länge des bewegten Gegenstands ist
also L 1 − β 2 . Der lorentztransformierte Gegenstand ist verkürzt!
12
Man sagt daher, dass Λ von Gleichung (2.8) den ruhenden Gegenstand auf Geschwindigkeit
cβ transformiert.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
54
Geschwindigkeitsaddition
Welche Geschwindigkeit cβ hat die Hintereinandersetzung von zwei Lorentztransβ 1 +β 2
formationen mit den Geschwindigkeiten cβ 1 und cβ 2 ? Es gilt β = 1+β
, denn:
1β2
¶
¶
µ
µ
1
1
1 β2
1 β1
p
·p
·
·
β2 1
β1 1
1 − β 22
1 − β 21
µ
¶
1
1 + β1β2 β1 + β2
p
= p
β1 + β2 1 + β1β2
1 − β 22 1 − β 21
!
Ã
¶
µ
β 1 +β 2
1
1
1 + β 1β 2
1 β
1+β 1 β 2
p
.
=p
·
= p
β 1 +β 2
2
β
1
1
1 − β 22 1 − β 21
1
−
β
1+β 1 β 2
Die letzte Gleichheit folgt dabei so
¶2
µ
β1 + β2
(1 + β 1 β 2 )2 − (β 1 + β 2 )2
2
1−β = 1−
=
1 + β1β 2
(1 + β 1 β 2 )2
¢¡
¢
¡
1 − β 21 1 − β 22
1 + β 21 β 22 − β 21 − β 22
=
=
.
(1 + β 1 β 2 )2
(1 + β 1 β 2 )2
Relativistischer Dopplereffekt
Sei Af,g = f (x1 − x0 ) + g (x1 + x0 ) mit f, g ∈ C 2 (R : R) . Es gilt somit ¤A = 0. Wir
bestimmen nun Af,g ◦ Λ−1 für die Lorentztransformation Λ aus Gleichung (2.8). Aus
µ 0 ¶
µ 0 ¶
x
x
◦ Λ = M (Λ, e) ·
x1
x1
folgt
¢
¡ 1
x − x0 ◦ Λ−1 =
Daher gilt
s
¢
¡
¢
1+β ¡ 1
· x − x0 und x1 + x0 ◦ Λ−1 =
1−β
Af,g ◦ Λ−1 = f
Ãs
s
¢
1−β ¡ 1
· x + x0 .
1+β
!
Ãs
!
¡
¢
¢
1+β ¡ 1
1
−
β
x − x0 + g
· x1 + x0 .
1−β
1+β
Für β > 0 wird also der rechtläufige Lösungsteil komprimiert und der linksläufige
gedehnt.
Speziell für f (x) = sin kx = g (x) folgt etwa
à s
!
à s
!
¡
¡
¢
¢
1
+
β
1
−
β
Af,g ◦ Λ−1 = sin k
· x1 − x0 + sin k
· x1 + x0 .
1−β
1+β
q
und für
Für die Frequenz ω + (β) des rechtsläufigen Anteils gilt ω + (β) = ω 1+β
1−β
q
= ω + (−β) , wobei ω = ck. Figur 2.5
jene des linksläufigen Anteils ω − (β) = ω 1−β
1+β
zeigt β 7→ ω + (β) /ω für −1 < β < 0.9.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
55
3
2.5
2
1.5
1
0.5
0
-1
-0.75
-0.5
-0.25
0
0.25
0.5
0.75
Abbildung 2.5: Dopplerverschiebung der Frequenz: ω+ (β) /ω
2.2.4
Kontinuitätsgleichung und lokale Energieerhaltung
Satz 35 macht klar, dass das dort formulierte Anfangswertproblem der d’AWG genau
eine Lösung hat. Der angeführte Beweis des Satzes besteht aus zwei Schritten. Erst
wird gezeigt, dass jede Lösung von ¤A = 0 vom Typ Af,g ist, und dann wird gezeigt,
dass die Anfangsvorgabe (u, v) die Funktionen f, g bis auf eine einzige Konstante
festlegt. Diese Konstante hat allerdings auf Af,g keinen Einfluss.
Die Eindeutigkeit der Lösung des Anfangswertproblems zu ¤A = 0 kann jedoch
auch ohne Kenntnis einer Lösungsformel bewiesen werden. Diese in den folgenden
beiden Abschnitten vorgestellte Überlegung funktioniert für beliebige räumliche Dimension und auch für allgemeinere Wellengleichungen, wie etwa (¤ + κ2 ) A = 0. Das
wesentliche Instrument dabei ist die Ausnutzung des lokalen Energieerhaltungssatzes
im Verbund mit einer oberen Schranke für die Norm der Energiestromdichte.
Definition 38 Für A ∈ C 2 (Rn+1 ) gelte
¤A = P
0. Dann heißt
die nichtnegative
¡
2
n
2¢
1 1
n+1
Funktion εA : R
→ R mit εA = 2 c2 (∂t A) + i=1 (∂xi A) Energiedichte von
A. Das Vektorfeld TA (t, ·) : Rn → Rn mit13
TA (t, x) = −∂t A (t, x)
n
X
i=1
(∂xi A) (t, x) ei = −∂t A (t, x) gradx A (t, ·)
heißt Energiestromdichte von A zur Zeit t. Hier bezeichnet ei das i-te Element der
Standardbasis.
Satz 39 Sei t ∈ R und A ∈ C 2 (Rn+1 : R) mit ¤A = 0. Dann gilt
cεA (t, ·) und
∂t εA (t, ·) = −divTA (t, ·) .
13
14
|TA (t, ·)| ≤
(2.9)
Der Gradient der Funktion A (t, ·) : Rn → R wird also mit dem Standardskalarprodukt von
R gebildet.
14
In der Sprache von Minkowskis Raum-Zeit bedeutet dies, dass der Energiestrom ein zukunftsgerichtetes zeit- oder lichtartiges Vektorfeld ist.
n
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
56
Beweis. Die Schranke für die Energiestromdichte ergibt sich aus
#2
"
n
n
2
X
X
c 1
2
2
2
2 2
(∂t A) +
(∂xi A)
−
(∂xi A)2 (∂t A)2
c εA − |TA | =
2
4 c
i=1
i=1
#2
"
n
X
c2 1
2
=
(∂
A)
−
(∂xi A)2 ≥ 0.
t
4 c2
i=1
Durch partielles Ableiten der Energiedichte εA der Lösung A nach t erhält man
X
1
∂t εA (t, x) = (∂t A) (t, x) 2 ∂t2 A (t, x) +
(∂xi A) (t, x) ∂t ∂xi A (t, x)
c
i=1
n
= (∂t A) (t, x) ¤A (t, x) +
n
X
∂xi [(∂xi A) (t, x) ∂t A (t, x)]
i=1
=
n
X
∂xi [(∂xi A) (t, x) ∂t A (t, x)] .
i=1
Warum wird TA (t, ·) als Energiestromdichte bezeichnet? Das liegt im folgenden
Satz über die Kontinuitätsgleichung begründet.
Satz 40 Sei ∆ ⊂ Rn offen, beschränkt und stückweise glatt berandet. Für die Funktionen ρ ∈ C 1 (Rn+1 : R) und j ∈ C 1 (Rn+1 : Rn ) gelte ∂t ρ (t, x) = −divx j (t, ·) für
alle t ∈ R. (Kontinuitätsgleichung) Dann gilt für alle t ∈ R
Z
Z
d
n
ρ (t, x) d x = −
hnx , j (t, x)i dx σ.
dt ∆
∂∆
Hier ist nx die nach außen gerichtete auf 1 normierte Flächennormale im Punkt x
des Randes ∂∆ von ∆. Das (skalare) Flächenelement von ∂∆ im Punkt x wird mit
dx σ bezeichnet.
Beweis. Integration der linken Seite der Kontinuitätsgleichung über das Gebiet
∆ ergibt
Z
Z
d
n
∂t ρ (t, x) d x =
ρ (t, x) dn x.
dt ∆
∆
Integration der rechten Seite ergibt mit dem Gauß’schen Satz
Z
Z
n
−
divx j (t, ·) d x = −
hnx , j (t, x)i dx σ.
∂∆
∆
Das Oberflächenintegral
F (t) =
Z
∂∆
hnx , j (t, x)i dx σ
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
57
ist der Fluss von j (t, ·) durch die Oberfläche ∂∆. Es gilt also
Z
d
ρ (t, x) dn x = −F (t) .
dt ∆
Dieser Satz zeigt also, dass das Integral von ρ (t, ·) über ein Raumgebiet ∆ sich
zur Zeit t nur dann ändern kann, wenn das Vektorfeld j (t, ·) auf der Oberfläche von
∆ nicht überall 0 ist. Es ist wie mit der Zahl der Personen in einem Zimmer. Sie
ändert sich für gewöhnlich15 nur, wenn jemand den Raum durch eine Tür betritt
oder verlässt.
Gleichung (2.9) wird als Kontinuitätsgleichung der Energiedichte bezeichnet. Sie
sagt, dass die Feldenergie einer Lösung A von ¤A = 0 nicht entsteht oder vergeht
sondern sich lediglich von hier nach dort verlagert. Die Ungleichung |TA (t, ·)| ≤
cεA (t, ·) schließlich sagt, dass Energie nur dort strömen kann, wo eine vorhanden
ist, da aus εA (t, x) = 0 ja TA (t, x) = 0 folgt. Die Kontinuitätsgleichung
alleine würde
R
dies noch nicht sicherstellen. Wird also EA,∆ (t) = ∆ εA (t, x) dn x als die im Gebiet
∆ enthaltene Energie einer Lösung A der d’AWG aufgefasst, dann ist
¸
Z t2
Z t2 ∙Z
EA,∆ (t1 ) − EA,∆ (t2 ) =
FA,∂∆ (t) dt =
hnx , TA (t, x)i dx σ dt
t1
t1
∂∆
jene Energie, die während des Zeitintervalls [t1 , t2 ] das Gebiet ∆ durch dessen Rand
verlässt. Daher wird TA (t, ·) als Energiestromdichte bezeichnet. Gilt ∂t A (t, x) = 0
auf ∂∆, dann gilt auch TA (t, x) = 0 auf ∂∆ und folglich weiter ĖA,∆ (t) = 0.
In Punkten (t, x) , wo ε (t, x) 6= 0 gilt, ist durch TA (t, x) = εA (t, x) v (t, x) eine
Strömungsgeschwindigkeit v (t, x) der Energiedichte gegeben. Kann die Energiedichte einer Lösung A mit beliebig großer Geschwindigkeit strömen? Nein, denn es gilt
ja cεA ≥ |TA | . Die Strömungsgeschwindigkeit der Energiedichte kann also höchstens
den Betrag c haben. Dies zieht den folgenden Satz nach sich.
R
Satz 41 Sei A ∈ C 2 (Rn+1 : R) mit ¤A = 0. Sei EA,R (t, x) = |y−x|<R εA (t, y) dn y.
(Energie von A, die zur Zeit t in einer Kugel vom Radius R um x enthalten ist.)
Dann gilt EA,R (t, x) ≤ EA,R+c|τ | (t + τ , x) für alle τ ∈ R.
Beweis. Wegen der Translationsinvarianz von ¤ genügt es, den Fall t = 0 und
x = 0 zu betrachten. Sei τ > 0 und sei K der Kegelstumpf mit der Bodenfläche
ª
©
B = (0, y) ∈ Rn+1 : |y| < R
und mit der Deckfläche
©
ª
D = (τ , y) ∈ Rn+1 : |y| < R + cτ .
Die Mantelfläche des Kegelstumpfes ist die Menge
M = {(t, (R + ct) k) : 0 < t < τ , k ∈ Rn , |k| = 1} .
15
Todesfälle und Geburten sind also außer Betracht.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
58
Die Tangentialvektoren der Mantelfläche im Punkt (t, (R + ct) k) mit 0 < t < τ , k ∈
Rn , |k| = 1 bilden den Vektorraum
R · (1, ck) ⊕ {(0, q) : q ∈ Rn und hq, ki = 0} .
Sei JA = (εA , TA ) auf Rn+1 . Aus ∂t εA (t, x) = −divx TA (t, ·) folgt divJA =
0. Eine auswärts gerichtete, euklidisch auf 1 normierte Flächennormale im Punkt
1
(t, (R + ct) k) des Mantels von K ist der Vektor √1+c
2 (−c, k) . Integration von
divJA = 0 über K ergibt mit dem Gauß’schen Satz
Z
Z
n+1
divJA d x =
hJA , df i
0 =
K
∂K
Z
Z
Z
n
n
=
εA (τ , x) d x −
εA (0, x) d x +
hJA , df i
D
B
M
= EA,R+cτ (τ , 0) − EA,R (0, 0) +
¶
Z τ µZ
1
√
[cεA (t, (R + ct) k) − hTA (t, (R + ct) k) , ki] dk Ω dt.
−
1 + c2
0
Sn
Hier bezeichnet S n die Einheitssphäre im Rn und dk Ω das skalare Flächenelement
von S n an der Stelle k ∈ S n . Mit Cauchy-Schwartz folgt
|hTA (t, x) , ki| ≤ |TA (t, x)| |k| = |TA (t, x)| .
Wegen |TA | ≤ cεA gilt cεA − hTA , ki ≥ 0 und es folgt
0 ≤ EA,R+cτ (τ , 0) − EA,R (0, 0) .
Der Beweis im Fall τ < 0 geht analog.
Energiestrom einer ebenen Welle
Sei f ∈ C 2 (R) und k ∈ Rn . Dann gilt ¤A = 0 für A : Rn+1 → R mit A (t, x) =
f (c |k| t − hk, xi) . Für die Energiedichte und die Energiestromdichte von A folgt
εA = |k|2 (f 0 )2 und TA = c |k| k (f 0 )2 = cεA k/ |k| . Die Energiedichte strömt mit der
Grenzgeschwindigkeit c in die Richtung von k.
Sei nun auch g ∈ C 2 (R) . Dann gilt ¤A = 0 für A : Rn+1 → R mit A (t, x) =
f (c |k| t − hk, xi) + g (c |k| t + hk, xi) . Für die Energiedichte von A folgt
h
i
2
2
εA (t, x) = |k|2 (f 0 (c |k| t − hk, xi)) + (g 0 (c |k| t + hk, xi)) .
Für den Energiestrom gilt
i
h
2
2
TA (t, x) = c |k| k (f 0 (c |k| t − hk, xi)) − (g 0 (c |k| t + hk, xi)) .
Die Energiedichte strömt dort, wo sie ungleich 0 ist, mit der Geschwindigkeit
(f 0 (c |k| t − hk, xi))2 − (g0 (c |k| t + hk, xi))2 k
c
·
.
(f 0 (c |k| t − hk, xi))2 + (g 0 (c |k| t + hk, xi))2 |k|
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
59
Energiestrom einer stehenden Welle.
Für ein k > 0 gelte A (t, x) = 2 cos (ckt) sin (kx) für alle (t, x) ∈ R2 . Somit gilt mit
f (x) = g (x) = sin (kx)
A (t, x) = f [k (x − ct)] + g [k (x + ct)] .
Für die Energiedichte ergibt sich daraus
ª
©
εA (t, x) = k2 cos2 [k (x − ct)] + cos2 [k (x + ct)]
½
¾
1
2
= k 1 + (cos [2k (x − ct)] + cos [2k (x + ct)])
2
2
= k [1 + cos (2ckt) cos (2kx)] .
Für die Energiestromdichte folgt
ª
©
TA1 (t, x) = ck 2 cos2 [k (x − ct)] − cos2 [k (x + ct)]
ck 2
=
{cos [2k (x − ct)] − cos [2k (x + ct)]}
2
= ck 2 sin (2ckt) sin (2kx) .
Die Abbildung (2.6) zeigt Momentaufnahmen der stehenden Welle im Bereich einer halben Wellenlänge zu den Zeiten ckt ∈ π8 · {0, 1, 2, 3, 4} in den Farben schwarz,
rot, grün, blau, magenta. Die Abbildung (2.7) zeigt Momentaufnahmen der Energie-
Abbildung 2.6: Halbe Stehwelle während Viertelperiode
dichte im Bereich einer halben Wellenlänge zu den Zeiten ckt ∈ π8 ·{0, 1, 2, 3, 4} in den
Farben schwarz, rot, grün, blau, magenta. Zu Zeiten großer Auslenkung konzentriert
sich die Energiedichte bei den Schwingungsknoten; zu den Zeiten großer Geschwindigkeit konzentriert sie sich auf halbem Weg zwischen benachbarten Knoten. Die
Energiedichte schwingt als stehende Welle um ihren Mittelwert mit der doppelten
Frequenz der Lösung A. Durch die Knoten fließt keine Energie; sie verlagert sich nur
innerhalb des Intervalls zwischen zwei benachbarten Knoten. Der zeitliche Mittelwert der Energiedichte über eine Periode ist in jedem Punkt x derselbe.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
60
Abbildung 2.7: Energiedichte einer halben Stehwelle
Lokale ohne globale Erhaltung
Hier ein Beispiel dafür, dass eine Kontinuitätsgleichung auch dann nicht notwendig
eine Erhaltungsgröße ergibt, wenn die Dichte ρ (t, ·) für alle
t über ganz Rn absolut
√
2
integrierbar ist. Sei ρ : R2 → R mit ρ (t, x) = e−t e−x / π. Dann gilt ∂t ρ (t, x) =
R x −ξ2
2 √
−e−t e−x / π = −∂x j (t, x) mit j (t, x) = e−t −∞ e√π dξ. Es konvergiert ρ (t, x) für
x → ∞ zwar gegen 0, nicht aber j (t, x) . Der Fluss von j aus dem Intervall [−L, L]
beträgt zur Zeit t
Z
Z L −ξ2
e
d L
−t
√ dξ = e−t erf (L) .
ρ (t, x) dx = [j (t, L) − j (t, −L)] = e
−
dt −L
π
−L
Dieser Fluss ist streng monoton wachsendRin L. Für L → ∞ konvergiert er gegen
∞
e−t . Die Dichte ρ strömt nach +∞ ab und −∞ ρ (t, x) dx ist keine Erhaltungsgröße.
Dies passt zum Befund, dass die Strömungsgeschwindigkeit im Punkt (t, x)
√
Z x
π x2
j (t, x)
x2
−ξ 2
e dξ =
=e
e [1 + erf (x)]
ρ (t, x)
2
−∞
für x → ∞ unbeschränkt anwächst. Derartiges ist jedoch im Fall der Feldenergie
einer Lösung von ¤A = 0 nicht möglich.
Strömung durch dichtelosen Raum
Hier noch ein Beispiel dafür, dass die Kontinuitätsgleichung durchaus die Möglichkeit zulässt, dass Masse, Energie, Aufenthaltswahrscheinlichkeit oder elektrische Ladung in Hall verschwindet und gleichzeitig in Zirl auftaucht. Um solchen Spuk zu
unterbinden, bedarf es weiter gehender Gesetze, die für ρ (t, x) = 0 ⇒ j (t, x) = 0
sorgen.16
16
Bei der phänomenologischen Beschreibung makroskopischer Ladungs- und Stromdichten wird
diese Regel auch vielfach (mit gutem Grund) ignoriert. Ein Beispiel liefert der Kreisstrom, der in
einer Leiterschleife induziert wird, wenn ein Stabmagnet durch die Schleife geschoben wird. Die
makroskopisch gemittelte Ladungsdichte ist immer und überall Null, nicht jedoch die Stromdichte.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
61
Sei f : R → R≥0 stetig und nicht die Nullfunktion. Es gelte f (x) = 0 für
alle x ∈ R mit |x| > L für ein hinreichend großes L > 0. Die Funktion F sei
jene Stammfunktion von f, für die F (x) = 0 für x < −L. Sie steigt im Intervall
RL
I = [−L, L] monoton von 0 auf den Wert m = −L f (ξ) dx > 0 an. Sei für t ≥ 0
¡
¢
ρ (t, x) = e−t f (x + x0 ) + 1 − e−t f (x − x0 ) .
Für x0 > L verschwindet also zu positiven Zeiten Masse aus dem Intervall
I − x0 = [−x0 − L, −x0 + L]
und taucht ohne Verzögerung im selben Ausmaß im dazu disjunkten Intervall I + x0
wieder auf. Für die Gesamtmasse gilt zu allen Zeiten t ≥ 0
Z ∞
ρ (t, x) dx = m.
−∞
Eine Massenstromdichte j, für die ∂t ρ (t, x) = −∂x j (t, x) gilt, ist durch
j (t, x) = e−t (F (x + x0 ) − F (x − x0 ))
gegeben. Die Stromdichte j (t, ·) steigt im Intervall I − x0 monoton auf e−t m an, ist
dann konstant und sinkt im Intervall I + x0 wieder auf 0 ab. Zwischen den beiden
Intervallen gilt ρ (t, x) = 0 und j (t, x) 6= 0. Die Strömungsgeschwindigkeit ist dort
unendlich groß. Figur 2.8 zeigt eine solche Situation. Derartiges ist jedoch im Fall
der Feldenergie einer Lösung von ¤A = 0 nicht möglich.
Abbildung 2.8: Momentaufnahme von Dichte ρ (schwarz) und Strom j (rot)
2.2.5
Eindeutigkeit der Lösung des Anfangswertproblems
Legt eine Anfangsvorgabe (u, v) eine eindeutige Lösung von ¤A = 0 fest? Der
folgende sehr allgemeine Eindeutigkeitssatz für die Lösung des Anfangswertproblems
der dAWG beantwortet diese Frage mit ’Ja’.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
62
Satz 42 Für A1 , A2 ∈ C 2 (Rn ) gelte ¤Ai = 0. Aus
A1 (0, ·) = A2 (0, ·) und ∂t A1 (0, ·) = ∂t A2 (0, ·)
folgt dann A1 = A2 .
Beweis. Die Funktion A = A1 − A2 ist offenbar eine Lösung von ¤A = 0 mit
A (0, x) = ∂t A (0, x) = 0 für alle x ∈ Rn . Aus Satz 41 folgt mit t = −τ , x = 0 und
R>0
"
#
Z
n
X
1
2
2
0 ≤
(∂t A (t, x)) +
(∂xi A (t, x)) dn x
2
c
|x|<R
i=1
"
#
Z
n
X
1
2
2
≤
(∂t A (0, x)) +
(∂xi A (0, x)) dn x = 0.
2
c
|x|<R+c|t|
i=1
Also gilt
Z
|x|<R
"
#
n
X
1
2
2
(∂t A (t, x)) +
(∂xi A (t, x)) dn x = 0
c2
i=1
Da der Integrand nichtnegativ und stetig ist, folgt ∂t A (t, x) = 0 für alle (t, x) ∈
R1+n . Also gilt A (t, x) = A (0, x) = 0 für alle (t, x) ∈ R1+n . Somit gilt A1 = A2 .
2.2.6
Gesamtenergieerhaltung
Was lässt sich über die im gesamten Raum enthaltene Energie EA (t) einer Lösung A
aussagen? Sei A ∈ C 2 (Rn+1 ) eine Lösung von ¤A = 0 zur Anfangsvorgabe (u, v) ∈
C 2 (Rn ) × C 1 (Rn ) . Das Integral
#
Z "
n
X
1 2
1
I=
v (x) +
(∂xi u)2 (x) dn x ≥ 0
2 Rn c2
i=1
existiere. Dies ist natürlich nicht für alle Lösungen der Fall. Das „Gesamtenergieintegral”
#
Z "
n
X
1
1
2
2
(∂t A) (t, x) +
(∂xi A) (t, x) dn x
EA (t) =
2 Rn c2
i=1
existiere für alle t ∈ R. Es gilt also EA (0) = I. Ist die Ableitung von EA nach t für
alle t ∈ R mit dem Integral über Rn vertauschbar, und gilt für alle x außerhalb eines
Würfels [−L, L]n , dass εA (t, x) = 0, dann folgt durch Differentiation von εA (t, x)
n Z
X
dEA
(t) =
∂xi [(∂xi A) (t, x) ∂t A (t, x)] dn x
n
dt
[−L,L]
i=1
n Z
X
i
n−1
=
[(∂xi A) (t, x) ∂t A (t, x)]xxi =L
x = 0.
=−L d
i=1
[−L,L]n−1
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
63
Es variiert also die Gesamtenergie der Lösung A nicht mit t.
Die Annahmen obiger Raterei lassen sich zum Beispiel für solche u, v tatsächlich
rechtfertigen, für die ein R > 0 existiert, sodass u (x) = v (x) = 0 für alle x mit
|x| > R. Man zeigt dazu für alle t ∈ R, dass A (t, x) = 0 für alle |x| > R + c |t| .
(Lokalitätseigenschaft) Unter diesen Voraussetzungen existiert ein δ > 0, sodass
εA (t0 , ·) für alle t0 mit t − δ < t0 < t + δ außerhalb eines Würfels W = [−L, L]n
verschwindet. Weiters ist εA zusammen mit ∂t εA im Gebiet (t − δ, t + δ) × W stetig.
Dann gilt nach Satz 29, Kap. VI, §7 von [2]
Z
dEA
∂t εA (t, x) dn x
(t) =
dt
W
n Z
X
i
n−1
[(∂xi A) (t, x) ∂t A (t, x)]xxi =L
x = 0,
=
=−L d
i=1
[−L,L]n−1
also EA (t) = I für alle t ∈ R. Zumindest für lokalisierte Lösungen von ¤A = 0
ist somit die Gesamtenergie wohldefiniert und zeitlich konstant. Man bezeichnet
deshalb die Gesamtenergie von solchen Lösungen als Erhaltungsgröße.
2.2.7
Eine Lösungsformel für n = 3
Satz 43 (Kirchhoff) Sei u ∈ C 3 (R3 ) und v ∈ C 2 (R3 ) . Dann existiert genau eine
Funktion A ∈ C 2 (R4 ) mit ¤A = 0 und mit A (0, x) = u (x) und ∂t A (0, x) = v (x)
für alle x ∈ R3 . Es gilt für alle (t, x) ∈ R4
½ Z
¾
Z
t
t
A (t, x) =
v (x + c |t| n) dΩn + ∂t
u (x + c |t| n) dΩn .
4π S2
4π S2
Die Integration der Vektorvariable n ∈ R3 geht dabei über die Kugeloberfläche S2 mit
Radius 1. In sphärischen Koordinaten (θ, φ) mit n = (sin θ cos φ, sin θ sin φ, cos θ) gilt
für das Flächenelement dΩn = sin θdθdφ.
Beweis. Der folgende Beweis nach der Methode des sphärischen Mittels stammt
von Poisson. Wähle einen Punkt y ∈ R3 . Drehe A um den Punkt y mit einer räumlichen Drehung R gemäß (R ∗ A) (t, x) = A (t, y + R−1 (x − y)) . Die Funktion R ∗ A
ist wieder eine Lösung der Wellengleichung, da ∆ translations- und drehinvariant
ist. Mittle nun über alle so verdrehten Lösungen (mit dem drehinvarianten Maß der
Drehgruppe). Das Ergebnis ist eine drehinvariante Lösung Ay der 4d Wellengleichung mit
Z
1
Ay (t, x) =
A (t, y + |x| n) dΩn .
4π S2
Es gilt für alle t ∈ R
Ay (t, 0) = A (t, y) .
Die 4d Wellengleichung ¤Ay = 0 ist mit der Substitution Ay (t, ·) = a (t, r) /r
der 2d Wellengleichung für a über der positiven Halbachse mit der Randbedingung
limr→0 a (t, r) = 0 äquivalent. Die Anfangsvorgaben für a sind
Z
Z
r
r
u (y + rn) dΩn und ∂t a (0, r) =
v (y + rn) dΩn .
a (0, r) =
4π S2
4π S2
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
64
Die ungerade Fortsetzung der Anfangsvorgaben von a nach R ist für alle x ∈ R
durch (U, V ) mit
Z
x
u (y + |x| n) dΩn ,
U (x) =
4π S2
Z
x
V (x) =
v (y + |x| n) dΩn
4π S2
gegeben. Die Funktion e
a ∈ C 3 (R2 ) mit ¤e
a = 0 und e
a (0, x) = U (x) und ∂te
a (0, x) =
V (x) folgt nun mit d’Alemberts Lösungsformel für alle (t, x) ∈ R2 zu
Z
1
1 x+ct
e
a (t, x) = [U (x + ct) + U (x − ct)] +
V (ξ) dξ.
2
2c x−ct
e
a ist ungerade in x. Aus
e
a (t, x) − e
a (t, 0)
= ∂xe
a (t, 0) .
x→0
x
A (t, y) = Ay (t, 0) = lim
ergibt sich daraus schließlich die Formel des Satzes:
1 0
1
[U (ct) + U 0 (−ct)] + [V (ct) − V (−ct)]
2
2c
1
0
= U (ct) + V (ct)
¸
∙ Zc
Z
1 ct
1 ∂ ct
u (y + |ct| n) dΩn +
v (y + |ct| n) dΩn .
=
c ∂t 4π S2
c 4π S2
∂xe
a (t, 0) =
Eine unbeschränkte Lösung
Sei u = 0 und v (x) = c |x|2 . Es gilt
Z
Z
1
v (x + c |t| n) dΩn =
|x + c |t| n|2 dΩn
c S2
2
ZS
© 2
ª
=
|x| + 2c |t| hx, ni + c2 t2 dΩn
S2
Z 2π
Z π
¡ 2
¢
2 2
= 4π |x| + c t + 2c |t| |x|
cos (θ) sin (θ) dθ
dφ
0
0
Z π
¡
¢
1 d
= 4π |x|2 + c2 t2 + 4πc |t| |x|
sin2 (θ) dθ
2
dθ
0
¡ 2
¢
2 2
= 4π |x| + c t .
¢
¡
Also gilt A (t, x) = ct |x|2 + c2 t2 . Die Lösung ist also drehinvariant.
Kontrolle der Lösung A. Es gilt A (0, x) = 0 und ∂t A (0, x) = c |x|2 . Weiter folgt
∂t2 A (t, x) = 6c3 t und
¢¡
¢
¡
∆A (t, x) = ct ∂x2 + ∂y2 + ∂z2 x2 + y 2 + z 2 = 6ct.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
65
¡
¢
Abbildung 2.9: Momentaufnahmen von A = ct r2 + (ct)2
Also gilt ¤A = 0.
©
ª
Figur (2.9) zeigt Momentaufnahmen von A zu den Zeiten ct ∈ − 32 , −1, 1, 32 als
Funktion von |x| .
Für die Energiedichte und den Energiestrom der Lösung A = ct (r2 + c2 t2 ) folgt:
ª
1 © 4
|x| + 10c2 t2 |x|2 + 9c4 t4 ,
2
2c ©
ª
TA (t, x) = −2t |x|2 + 3c2 t2 x.
εA (t, x) =
Zu negativen Zeiten strömt Energie radial nach außen und zu positiven radial nach
innen.
Beinahe eine Explosionslösung
Wir betrachten nun eine Anfangsbedingung, bei der die schwingende Größe A zur
Zeit t = 0 in einem kugelförmigen Gebiet einen 0-Durchgang macht und außerhalb
davon bei 0 ruht. Man kann sich dabei eine Druckwelle vorstellen, die sich durch
die Luft nach einer explosionsartigen Verbrennung ausbreitet. A beschreibt dann die
Abweichung vom ausgeglichenen Gleichgewichtsdruck.
Für die „Anfangsdruckabweichung“ u gelte also u (x) = 0 für alle x ∈ R3 . Die
zeitliche Änderung der Druckabweichung sei jedoch ungleich 0 : für ein R ∈ R>0
und ein a ∈ R gelte v (x) = a ∈ R für alle x ∈ R3 mit |x| ≤ R und v (x) = 0 für
alle x ∈ R3 mit |x| > R. Die Funktion v ist also auf einer Kugeloberfläche mit dem
Radius R unstetig. Sie springt in einem Punkt x mit |x| = R vom Wert a auf 0. Sie
ist als Anfangsvorgabe daher unzulässig. Trotzdem kann sie in Kirchhoffs Formel
eingesetzt werden und ergibt eine unstetige Funktion A. Wozu kann die gut sein?
e zu einer
A approximiert wohl - in einem noch unklaren Sinn - die Lösung A
zulässigen Anfangsvorgabe (0, ve) mit einer C 2 -Funktion ve, die sich nur in einer Kugelschale mit den Radien R ± ε von v unterscheidet, wo sie monoton von a auf 0
absinke. Es gilt somit |v (x) − e
v (x)| = 0 für ||x| − R| ≥ ε und
|v (x) − ve (x)| ≤ 1 für ||x| − R| < ε.
¯
¯
¯
¯
e
Daraus lässt sich der Fehler ¯A (t, x) − A (t, x)¯ abschätzen. Wir tun dies nicht, sondern berechnen einmal die Funktion A, die von Kirchhoffs Lösungsformel geliefert
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
66
wird. Es gilt
t
A (t, x) =
4π
Z
S2
v (x + c |t| n) dΩn =
ª¯
at ¯¯©
n ∈ S2 : |x + c |t| n| < R ¯ .
4π
Hier bezeichnet |X| den Flächeninhalt einer (messbaren) Teilmenge X einer Kugeloberfläche. Wir benötigen ihn für die Menge
©
ª
Xt = n ∈ S2 : |x + c |t| n| < R .
|Xt | ist der Raumwinkel, den das Schnittgebilde der offenen Kugel um 0 vom Radius
R mit der Oberfläche der Kugel um x mit dem Radius ct bezüglich x abdeckt.17 Es
folgt für t > 0
|{ξ ∈ R3 : |ξ| = ct und |x + ξ| < R}|
|Xt | =
.
(ct)2
Durch Bestimmung des Flächeninhalts von Xt ergibt sich (Übung!) für |x| > R
und t > 0, also außerhalb des Gebiets nichtverschwindender Anfangsvorgabe v mit
A0 = aR/c
⎧
∙
³
´2 ¸
⎨ A0 R
|x|−ct
1−
für |x| − R < ct < |x| + R
4 |x|
R
A (t, x) =
.
⎩
0
sonst
Innerhalb des Gebietes, in dem v von 0 verschieden ist, also für 0 < |x| < R folgt
für t > 0
⎧
ct
für 0 ≤ ct ≤ R − |x|
⎪
⎪
∙ A0³R
⎨
´2 ¸
A0 R
A (t, x) =
1 − |x|−ct
für R − |x| < ct < R + |x| .
4 |x|
R
⎪
⎪
⎩
0
R + |x| ≤ ct
Für x = 0 und t > 0 folgt A (t, 0) = A0 ct/R für ct ≤ R und A (t, 0) = 0 für ct > R.
Die Funktion A ist also im Bereich t ≥ 0 überall außer im Punkt mit ct = R und
x = 0 stetig.
Im Explosionsgebiet |x| < R steigt der Überdruck nach der Explosion linear in t
solange an, bis das erste „Signal“ von der Kugeloberfläche den Punkt x erreicht. Anschließend geht für |x| < R/2 der Überdruck monoton auf 0 zurück. Dies dauert bis
das letzte Signal von der Kugeloberfläche den Punkt x erreicht hat. Der Maximalwert des Überdrucks am Ort x beträgt A0 (R − |x|) /R. Je größer der Abstand vom
Explosionszentrum x = 0, umso kleiner ist er. Für |x| > R/2 steigt der Überdruck
bis zur Zeit t mit ct = |x| weiter an und fällt dann bis zur Zeit ct = |x| + R monoton
R
auf 0 ab. Der Maximalwert ist A40 |x|
. Bei Annäherung an die Kugeloberfläche von
innen geht er gegen A0 /4.
Außerhalb des Explosionsgebietes erreicht eine Druckwelle einen Punkt x zur
Zeit t mit ct = |x| − R. Der Druck steigt dann bis zur Zeit t mit ct = |x| monoton
17
Das Schnittgebilde wird als Kugelkalotte bezeichnet.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
67
an, um dann bis zur Zeit t mit ct = |x| + R wieder auf den Normalwert zurückzugehen, bei dem er dann bleibt. Die Dauer der Druckwelle entspricht also genau der
Signallaufzeit für eine Strecke der Länge 2R, also des Kugeldurchmessers. Das Einsetzen der Druckwelle ist durch die Signallaufzeit für die kürzeste Strecke zwischen
x und der Kugeloberfläche bestimmt. Der Maximalwert der Druckwelle am Ort x
R
mit |x| > R beträgt A40 |x|
. Bei Annäherung an die Kugeloberfläche von außen geht
er gegen A0 /4. Die Funktion A nimmt also ihr absolutes Maximum A0 bei x = 0
zur Zeit t = R/c an.
0.5
0.375
0.25
0.125
0
0
1
2
3
4
Abbildung 2.10: ct/R 7→ A (t, x) /A0 für |x| = 2R (schwarz) und |x| = R/2 (rot).
Wegen der Anfangsvorgabe u = 0 folgt aus der Kirchhoffschen Formel A (t, x) =
−A (−t, x) . Daher braucht A (t, x) für t < 0 nicht extra berechnet zu werden.
Lokalität und Huygensches Prinzip
Wie im 2-dimensionalen Fall ist aus der Lösungsformel die Lokalitätseigenschaft
der Lösungen abzulesen. Sie ist im 4-dimensionalen Fall sogar noch etwas stärker
als für d = 2. Zur Erinnerung: Für d = 2 hängt A (t, x) von der Vorgabe u über
deren Werte in x ± ct ab, von der Anfangsvorgabe v aber über deren Werte im
gesamten Intervall [x − c |t| , x + c |t|] . Für d = 4 hingegen, hängt A (t, x) nur von
den Anfangsvorgaben auf der Oberfläche einer Kugel um x mit dem Radis c |t| ab.
Die Anfangsvorgaben im Inneren dieser Kugel beeinflussen A (t, x) nicht. Sie breiten
sich also mit genau der Geschwindigkeit c und nicht nur mit einer Geschwindigkeit
≤ c aus. Die Abhängigkeit von den Anfangsdaten ist linear; verschwinden u und v
auf einer Kugel um x mit dem Radius c |t| , dann gilt A (t, x) = 0.
Verschwinden also die Anfangsvorgaben u und v außerhalb eines kompakten
Gebietes Ω ⊂ R3 , so gilt für einen fest gewählten Punkt x außerhalb von Ω, dass
A (t, x) = 0 für alle t > 0 mit
ct < min {|x − y| |y ∈ Ω} oder ct > max {|x − y| |y ∈ Ω} .
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
68
Dies ist eine mathematische Fassung von Huygens Prinzip.18
Moral: die Anfangsvorgabe erreicht einen Punkt x zu keiner Zeit t > 0, für die
0 × Ω zur Gänze außerhalb oder innerhalb des Rückwärtskegels mit der Spitze (t, x)
liegt. Die Anfangsvorgabe in Ω erzeugt also im Punkt x ein „Signal“, das außerhalb
jener Zeiten verschwindet, zu denen x von Ω aus durch ein (fiktives) kräftefreies
Teilchen der Geschwindigkeit c zu erreichen ist. Oder auch: für t > 0 kann das Signal
in x, nämlich die Abbildung t 7→ A (t, x) nur zu jenen Zeiten von 0 verschieden sein,
zu denen der Rückwärtskegelmantel von (t, x) das Gebiet 0 × Ω gerade schneidet.
2.2.8
Eine Lösungsformel für n = 2
Satz 44 Sei (u, v) ∈ C 3 (R2 : R) × C 2 (R2 : R) . Dann existiert genau eine Funktion
A ∈ C 2 (R × R2 : R) mit ¤A = 0 und A (0, ·) = u und ∂t A (0, ·) = v für alle x ∈ R2 .
Für diese Funktion gilt
⎫
⎧
Z
Z
⎨
t
v (x + ctn) 2
u (x + ctn) 2 ⎬
t
q
q
A (t, x) =
d n + ∂t
dn .
⎭
⎩ 2π |n|<1
2π |n|<1
1 − |n|2
1 − |n|2
Beweis. Die Eindeutigkeit von A folgt aus der lokalen Energieerhaltung. Die
Lösungsformel folgt mit Hadamards Absteigemethode: Der Funktion A : R×R2 → R
e : R × R3 → R zugeordnet, für die
ist genau eine Funktion A
e (t, x, z) = A (t, x)
A
e = 0. Ihre Anfangsvorgaben (e
für alle (t, x, z) ∈ R × R2 × R. Für sie gilt ¤A
³ u, ve´)
eu
sind durch u
e (x, z) = u (x) und ve (x, z) = v (x) gegeben. Daher gilt für A,
e, ve
Kirchhoffs Formel für den räumlich 3d Fall für alle (t, x, z) ∈ R × R2 × R
Z
t
e
A (t, x, z) =
ve (x + c |t| n, z + c |t| ζ) dΩ(n,ζ)
4π (n,ζ)∈S2
½ Z
¾
t
+∂t
u
e (x + c |t| n, z + c |t| ζ) dΩ(n,ζ) .
4π (n,ζ)∈S2
Dies ist äquivalent zu
½ Z
¾
Z
t
t
v (x + c |t| n) dΩ(n,ζ) +∂t
u (x + c |t| n) dΩ(n,ζ) .
A (t, x) =
4π |n|2 +ζ 2 =1
4π |n|2 +ζ 2 =1
Forme nun das Integral
Z
Z
Iv (t, x) :=
v (x + c |t| n) dΩ(n,ζ) = 2
|n|2 +ζ 2 =1
18
(Eine analoge Aussage gilt für t < 0.)
|n|2 +ζ 2 =1,ζ>0
v (x + c |t| n) dΩ(n,ζ)
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
69
weiter um. Parametrisiereqdazu die Halbkugel aller Punkte (n, ζ) ∈ S2 , auf der
ζ > 0. Es gilt dort ζ = 1 − |n|2 , wobei n ∈ R2 mit |n| < 1. Wir wählen als
Parametrisierung die Abbildung Φ der offenen Einheitskreisscheibe in den R3 mit
´
³
√
Φ : (a, b) 7→ a, b, 1 − a2 − b2 .
´
´
³
³
−a
√ −b
und
∂
. Daraus folgt
Φ
(a,
b)
=
0,
1,
Es gilt ∂1 Φ (a, b) = 1, 0, √1−a
2
2 −b2
1−a2 −b2
für das Integral
Z
v (x + c |t| (a, b)) |∂1 Φ (a, b) × ∂2 Φ (a, b)| dadb
Iv (t, x) = 2
a2 +b2 <1
Z
Z
v (x + c |t| (a, b))
v (x + ctn) 2
√
q
dadb = 2
d n.
= 2
2
1 − a2 − b2
a2 +b2 <1
|n|<1
1 − |n|
Analoges gilt für Iu .
Für Lösungen A ∈ C 2 (R3 ) gilt also zwar Lokalität aber nicht das Huygensche
Prinzip. Der Wert A (t, x) braucht nicht 0 zu sein, wenn die Anfangsvorgaben u und
v in einer Kugelschale um x mit den Radien c |t| ± ε verschwinden. d’Alemberts
Wellen breiten sich in der Ebene mit allen Geschwindigkeiten ≤ c aus. Hadamards
Absteigemethode gibt auch ein eingängiges physikalisches Bild dafür warum dies so
ist: Ein Signal A (t, 0) , das den Punkt 0 ∈ R2 zu einer Zeit t > 0 erreicht, kann als
e (t, 0, 0) aufgefasst aus einem Punkt (x, z) ∈ R2 × R mit |x|2 + z 2 = (ct)2
Signal A
kommen. In der 2dimensionalen
q Projektion scheint das Signal für die Strecke x die
scheinbar zu lange Zeit t =
2.3
1
c
|x|2 + z 2 > |x| /c zu benötigen.
d’Alemberts inhomogene Wellengleichung
Wie können Schwingungen angeregt werden, wenn anfänglich alles ruht? Das einfachste Modell für derartige Vorgänge ergibt sich durch Einführung einer Inhomogenität in die d’AWG. Sie beschreibt eine zeit- und ortsabhängige Kraft, die auf das
schwingungsfähige Medium wirkt. Im Fall des elektromagnetischen Feldes modelliert
die Inhomogenität Ladungs- oder Stromdichtekomponenten.
Definition 45 Sei (u, v, j) ∈ C 2 (Rn ) × C 1 (Rn ) × C (Rn+1 ) . Eine Funktion A ∈
C 2 (Rn+1 ) mit ¤A = j und A (0, x) = u (x) , ∂t A (0, x) = v (x) für alle x ∈ Rn heißt
Lösung von d’AWG mit Inhomogenität j und Anfangsvorgaben (u, v) .
2.3.1
Eine Lösungsformel für n = 1
Unter einer etwas weitergehenden Annahme über die Quelle j gilt der folgende
Existenz- und Eindeutigkeitssatz für die Lösung des Anfangswertproblems der inhomogenen dAWG. Siehe auch §12.4 in [11].
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
70
Satz 46 (Duhamel) Sei (u, v, j) ∈ C 2 (R)×C 1 (R) ×C 1 (R2 ) . Dann existiert genau
eine Lösung von d’AWG mit Inhomogenität j und Anfangsdaten (u, v) . Für diese
Lösung A gilt für alle (t, x) ∈ R2
!
Z x+ct
Z ÃZ x+c(t−s)
v (ξ)
c t
u (x + ct) + u (x − ct)
+
dξ +
A (t, x) =
j (s, ξ) dξ ds.
2
2c
2 0
x−ct
x−c(t−s)
Bemerkung 47 Der erste Teil der Lösung, der von den Anfangsdaten bestimmt
wird, nämlich
Z
1
1 x+ct
A0 (t, x) = (u (x + ct) + u (x − ct)) +
v (ξ) dξ,
2
2c x−ct
ist die eindeutige Lösung von ¤A0 = 0 zu den Anfangsvorgaben (u, v) . Der durch
das Doppelintegral bestimmte zweite Teil,
!
Z ÃZ x+c(t−s)
c t
Ap (t, x) =
j (s, ξ) dξ ds,
2 0
x−c(t−s)
ist die Lösung von ¤Ap = j zu verschwindenden („homogenen”) Anfangsdaten. Der
Wert A (t, x) wird für t > 0 von den Daten im Intervall [x − ct, x + ct] und der
Inhomogenität im Kegel
∪0<s<t {(s, ξ) : x − c (t − s) < ξ < x + c (t − s)}
bestimmt. Der Einfluss der Inhomogenität breitet sich also nicht schneller als mit c
aus. Der Einfluss, den j (s, ·) für s < 0 auf A (t, ·) im Bereich t > 0 nimmt, steckt
in (u, v) .
Beweis. Sei f : [a, b] × [a, b] → R eine C 1 -Funktion und sei a ≤ x ≤ b. Dann gilt
nach Lemma 48
Z x
Z x
f (x, y) dy = f (x, x) +
∂x f (x, y) dy.
∂x
a
a
Daraus folgt19
c
∂t Ap (t, x) =
2
Z
x+c(t−t)
x−c(t−t)
c2
= 0+
2
Z
0
t
c
j (t, ξ) dξ +
2
Z
0
t
∂t
ÃZ
x+c(t−s)
x−c(t−s)
!
j (s, ξ) dξ ds
[j (s, x + c (t − s)) + j (s, x − c (t − s))] ds.
19
Diese Formel belegt, dass ∂t Ap (t, x) = 0, wenn j (s, x + c (t − s)) = 0 und j (s, x − c (t − s)) =
0 für alle Zeiten s zwischen 0 und t.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
71
Weiter gilt
½
¾
Z
c t
j (t, x) +
[∂x j (s, x + c (t − s)) − ∂x j (s, x − c (t − s))] ds ,
2 0
Z
c t
(j (s, x + c (t − s)) − j (s, x − c (t − s))) ds,
∂x Ap (t, x) =
2 0
Z
c t
2
[∂x j (s, x + c (t − s)) − ∂x j (s, x − c (t − s))] ds.
∂x Ap (t, x) =
2 0
∂t2 Ap (t, x)
=
c2
Somit gilt ¤Ap = j. Weiters trägt Ap zu den Anfangsvorgaben nicht bei, denn
Ap (0, x) = ∂t Ap (0, x) = 0. Die Funktion Ap ist also eine Lösung der inhomogenen Gleichung zu homogenen Anfangsvorgaben. Addition der durch d’Alemberts
Lösungsformel bestimmten Funktion A0 mit ¤A0 = 0 zu den Anfangsdaten (u, v)
ergibt schließlich eine Lösung von ¤A = j zu den Anfangsvorgaben (u, v). Gibt es
noch andere Lösungen von ¤A = j zu den Anfangsvorgaben (u, v)?
Nein, denn wären A1 und A2 zwei verschiedene Lösungen von ¤A = j zu denselben Anfangsbedingungen, dann wäre A1 − A2 eine nichttriviale Lösung von ¤A = 0
mit verschwindenden Anfangsvorgaben. Eine solche gibt es nach Satz 35 jedoch
nicht.
Lemma 48 Sei f : [a, b] × [a, b] → R eine C 1 -Funktion und sei a ≤ x ≤ b. Dann
gilt
Z x
Z x
f (x, y) dy = f (x, x) +
∂x f (x, y) dy.
∂x
a
Beweis. Sei F (x) =
a
Rx
a
f (x, y) dy. Dann gilt
¾
½Z x+ε
Z x
1
f (x + ε, y) dy −
f (x, y) dy
F (x) = lim
ε→0 ε
a
a
½Z x+ε
¾
Z x
1
= lim
f (x + ε, y) dy +
[f (x + ε, y) − f (x, y)] dy .
ε→0 ε
x
a
0
Nach dem Mittelwertsatz der Integralrechnung existiert ein η ∈ (x, x + ε) , mit
Z x+ε
f (x + ε, y) dy = εf (x + ε, η) ,
x
R x+ε
sodass limε→0 1ε x f (x + ε, y) dy = f (x, x) folgt.
Für das verbleibende zweite Integral folgt nach einem Satz - siehe etwa Kap.
V, §23.2.3 in Vol. I von [3] - über die Ableitung von Parameterintegralen mit C 1 Integrand, dass für alle s ∈ [a, b]
Z
Z s
1 s
lim
[f (x + ε, y) − f (x, y)] dy =
∂x f (x, y) dy.
ε→0 ε a
a
Für s = x ergibt sich somit die Behauptung des Satzes.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
72
Beispiel 49 Bestimme die Lösung der d’AWG mit der Inhomogenität j, für die
j (t, x) = ctx, zu den Anfangsvorgaben u = 0 = v. Duhamels Lösungsformel ergibt
Ã
!
2 Z t Z x+c(t−s)
c
A (t, x) =
sξdξ ds
2 0
x−c(t−s)
Z
¤
c2 t s £
(x + c (t − s))2 − (x − c (t − s))2 ds
=
2 0 2
Z
Z t
c2 t
3
s4xc (t − s) ds = c x
s (t − s) ds
=
4 0
0
∙ 2
¸s=t
s
s3
3
= (ct)3 x/6.
= cx t −
2
3 s=0
Wie ist Duhamels Lösungsformel zu modifizieren, wenn die Anfangsvorgaben
nicht zur Zeit 0 sondern zu irgendeiner Zeit τ vorliegen? Für welche Lösung Aτ der
inhomogenen d’AWG gilt also Aτ (τ , ·) = u und ∂t Aτ (τ , ·) = v?
Für A gelte ¤A = j und A (0, ·) = u und ∂t A (0, ·) = v. Sei Aτ die Funktion mit
Aτ (t, x) = A (t − τ , x) . Für sie gilt ¤Aτ = jτ mit Aτ (τ , ·) = u und ∂t Aτ (τ , ·) = v.
Die Funktion Aτ erfüllt zwar die gewünschten Anfangsvorgaben, ist aber Lösung zur
zeitverschobenen Inhomogenität. Das kann in der Lösungsformel durch Ersetzung
von j durch j−τ kompensiert werden. Somit lautet die Lösungsformel für ¤A = j
bei Anfangsvorgaben (u, v) zur Zeit τ
Z
1 x+c(t−τ )
1
(u (x + c (t − τ )) + u (x − c (t − τ ))) +
v (ξ) dξ
Aτ (t, x) =
2
2c x−c(t−τ )
ÃZ
!
Z
x+c((t−τ )−s)
c (t−τ )
j−τ (s, ξ) dξ ds
+
2 0
x−c((t−τ )−s)
Z
1
1 x+c(t−τ )
=
(u (x + c (t − τ )) + u (x − c (t − τ ))) +
v (ξ) dξ
2
2c x−c(t−τ )
!
Z ÃZ x+c(t−s)
c t
j (s, ξ) dξ ds.
+
2 τ
x−c(t−s)
Existiert eine Zeit τ , sodass j (t, ·) = 0 für alle t < τ , dann gilt
!
!
Z ÃZ x+c(t−s)
Z ÃZ x+c(t−s)
c t
c t
j (s, ξ) dξ ds =
j (s, ξ) dξ ds.
2 τ
2 −∞
x−c(t−s)
x−c(t−s)
Die partikuläre Lösung
c
Aret (t, x) =
2
Z
t
−∞
ÃZ
x+c(t−s)
x−c(t−s)
!
j (s, ξ) dξ ds
heißt retardierte Lösung von d’Alemberts inhomogener Wellengleichung. Es ist dies
jene Lösung, die von einer Quelle in einem anfänglich ruhenden Medium erzeugt
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
73
wird. Die zeitgespiegelte Funktion Aav mit Aav (t, x) = Aret (−t, x) ist eine Lösung
der inhomogenen Wellengleichung mit zeitgespiegelter Quelle. Es ist dies jene Lösung, die von der zeitgespiegelten Quelle vollständig ausgelöscht wird.
Die Funktion gret : R × R → R mit
¾
½ c
c
für ct > |x|
2
= Θ (ct − |x|)
gret (t, x) =
0 sonst
2
gilt offenbar
Aret (t, x) = (gret ∗ j) (t, x) =
Z
R2
gret (t − s, x − y) j (s, y) dyds.
Aret ist also die Faltung der sogenannten retardierten Green’schen Funktion von ¤2
mit der Quelle j. In allen Stetigkeitspunkten (t, x) gilt übrigens ¤gret (t, x) = 0.
2.3.2
Eine Lösungsformel für n = 3
Satz 50 Sei (u, v, j) ∈ C 3 (R3 )×C 2 (R3 )×C 2 (R4 ) . Dann existiert genau eine Lösung
von ¤A = j zu den Anfangsdaten (u, v) . Für diese Lösung A gilt für alle (t, x) ∈ R4
½ Z
¾
Z
t
t
A (t, x) =
v (x + c |t| n) dΩn + ∂t
u (x + c |t| n) dΩn
4π S2
4π S2
¸
∙Z
Z t
t−s
2
j (s, x + c |t − s| n) dΩn ds.
+c
4π
0
S2
Beweis. Der Beweis dieser Verallgemeinerung von Kirchhoffs Lösungsformel
wird im folgenden Abschnitt über Duhamels Prinzip ausgeführt.
Bemerkung 51 Der Wert A (t, x) wird für t > 0 von den Daten auf der Oberfläche
einer Kugel um x mit dem Radius ct und von der Inhomogenität am Kegelmantel
∪0<s<t {(s, ξ) : |x − ξ| = c (t − s)}
bestimmt. Der Einfluss der Inhomogenität breitet sich also mit genau der Geschwindigkeit c aus. Ist eine Quelle nur im Inneren des von (t, x) ausgehenden Rückwärtskegels von 0 verschieden, dann trägt sie zum Signal A (t > 0, x) nichts bei.
Welche Lösung A ergibt sich bei homogenen Anfangsvorgaben zu einer Zeit τ ,
für die gilt, dass j (t, ·) = 0 für alle t < τ ? Es gilt dann für alle t ∈ R
∙Z
¸
Z t−τ
t−τ −s
2
j−τ (s, x + c |t − τ − s| n) dΩn ds
A (t, x) = c
4π
0
S2
¸
∙Z
Z t−τ
t−τ −s
2
j (s + τ , x + c |t − τ − s| n) dΩn ds
= c
4π
0
S2
∙Z
¸
Z t
t − s0
2
0
0
j (s , x + c |t − s | n) dΩn ds0 .
= c
4π
τ
S2
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
74
Wegen j (s0 , ·) = 0 für alle s0 < τ , ist klar, dass A (t, ·) = 0 für alle t < τ . Für t > τ
kann die untere Integrationsgrenze τ ohne Änderung des Integrals durch −∞ ersetzt
werden. Es gilt dann wegen t > s0
¸
∙Z
Z t
(t − s0 )2
j (s0 , x + c (t − s0 ) n)
2
A (t, x) = c
dΩn ds0 .
0
4π
t
−
s
2
S
−∞
Mit der Substitution c (t − s0 ) n = ξ folgt mit λ = |ξ| = c (t − s0 )
¡
¢
Z
Z
j t − λc , x + λn
c2 ∞ dλ λ2
dΩn
A (t, x) =
4π 0 c c2 S2
λ/c
³
´
Z j t − |ξ| , x + ξ
c
1
=
d3 ξ.
4π R3
|ξ|
Mit der Substitution y = x + ξ ergibt sich daraus
³
´
Z j t − |x−y| , y
c
d3 y.
A (t, x) =
4π |x − y|
R3
Damit ist das folgende Korollar gezeigt.
Korollar 52 Sei j ∈ C 2 (R4 ) . Es existiere ein T ∈ R mit j (t, ·) = 0 für alle
t < T. Dann existiert genau ein Aret ∈ C 2 (R4 ) mit ¤Aret = j und Aret (T, ·) =
∂t Aret (T, ·) = 0. Für diese sogenannte retardierte Lösung gilt für alle (t, x) ∈ R4
³
´
Z j t − |x−y| , y
c
d3 y.
Aret (t, x) =
4π |x − y|
R3
Insbesondere gilt Aret (t, ·) = 0 für alle t < T.
Es existiert keine Funktion gret , sodass Aret = gret ∗ j. Im Kapitel über Distributionen werden wir jedoch eine Distribution Gret bilden, für die Aret = Gret ∗ j gilt.
Diverse Green’schen Funktionen werden dort zu sogenannten Fundamentallösungen
verallgemeinert.
2.3.3
Duhamels Prinzip
Die Lösungsformel für die inhomogene d’Alembertgleichung in den Fällen n = 1
oder auch n = 3 zeigt eine merkwürdige Parallelität zur Lösungsformel für das
Anfangswertproblem der homogenen Gleichung mit Anfangsvorgabe des Typs u = 0.
Diese Parallelität gilt für beliebige Raumdimension und wurde von Duhamel erkannt,
als er die Lösung des Anfangswertproblems der inhomogenen Gleichung auf jene der
homogenen Gleichung zurückführte.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
75
Satz 53 Sei j ∈ C 2 (R × Rn ) und es sei eine Funktion Φ ∈ C (R × Rn × R) gegeben,
sodass Φ (·, ·, τ ) ∈ C 2 (R × Rn ) für jedes τ ∈ R und sodass
¶
µ
1 2
∂ − ∆x Φ (t, x; τ ) = 0
c2 t
für alle (t, x, τ ) ∈ R × Rn × R. Weiter seien die Anfangsbedingungen Φ (τ , x; τ ) = 0
und ∂t Φ (τ , x; τ ) = j (τ , x) für alle (x, τ ) ∈ Rn ×R erfüllt. Dann gilt für die Funktion
A : R × Rn → R mit
Z
t
A (t, x) = c2
Φ (t, x, τ ) dτ ,
0
dass ¤A = j mit der Anfangsvorgabe A (0, ·) = ∂t A (0, ·) = 0.
Beweis. Erstens gilt für alle x ∈ Rn
Z 0
2
A (0, x) = c
Φ (0, x, τ ) dτ = 0.
0
Zweitens gilt wegen Φ (t, x, t) = 0
∙
¸
Z t
∂t A (t, x) = c Φ (t, x, t) +
∂t Φ (t, x, τ ) dτ
0
Z t
2
∂t Φ (t, x, τ ) dτ .
= c
2
0
Offenbar gilt also auch ∂t A (0, x) = 0 für alle x ∈ Rn .
Nun ist nachzuweisen, dass A die Wellengleichung löst. Dazu benötigen wir ∂t2 A.
Es gilt
∙
¸
Z t
2
2
2
∂t A (t, x) = c ∂t Φ (t, x, τ )|τ =t +
∂t Φ (t, x, τ ) dτ
0
∙
¸
Z t
2
2
∂t Φ (t, x, τ ) dτ .
= c j (t, x) +
0
Daraus folgt
¤A (t, x) = j (t, x) + c
2
Z
0
t
¤Φ (t, x, τ ) dτ = j (t, x) .
Anwendung dieses Satzes auf die inhomogene Wellengleichung mit n = 3 : Die
Funktion Φ ist aus Kirchhoffs Lösungsformel abzulesen. Für die Lösung des Anfangswertproblems der homogenen Gleichung mit Anfangsvorgabe zur Zeit t = τ
mit u = 0 und v (x) = j (τ , x) gilt
Z
t−τ
Φ (t, x, τ ) =
j (τ , x + c |t − τ | n) dΩn .
4π S2
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
76
Sie ist tatsächlich in der vom Satz vorausgesetzten Stetigkeits- und Differenzierbarkeitsklasse, da der Integrand j (τ , x + c |t − τ | n) auch durch j (τ , x + c (t − τ ) n)
ersetzt werden kann. (Substituiere n0 = −n für t < τ .) Daraus folgt nun für die
Lösung der inhomogenen Gleichung mit homogener Anfangsvorgabe zur Zeit t = 0
¸
∙Z
Z t
t−τ
2
A (t, x) = c
j (τ , x + c |t − τ | n) dΩn dτ .
4π
S2
0
2.3.4
Eine Lösungsformel für n = 2
Duhamels Prinzip verwandelt die Lösungsformel der homogenen Gleichung für n = 2
in eine Lösungsformel der inhomogenen Gleichung und liefert den folgenden Satz.
Satz 54 Ist j ∈ C 2 (R3 : R) , dann gilt für die eindeutige C 2 -Lösung von ¤A = j zur
homogenen Anfangsvorgabe A (0, ·) = ∂t A (0, ·) = 0 für alle (t, x) ∈ R × R2
⎞
⎛
Z t
Z
t−s⎝
j (s, x + c (t − s) n) 2 ⎠
q
A (t, x) = c2
d n ds.
2π
2
0
|n|<1
1 − |n|
Gilt überdies für ein T ∈ R, dass j (t, ·) = 0 für alle t < T, dann sei Aret die eindeutige C 2 -Lösung von ¤A = j zur homogenen Anfangsvorgabe A (T, ·) = ∂t A (T, ·) = 0.
Dann gilt für alle (t, x) ∈ R × R2
⎞
⎛
Z t
Z
t−s⎝
j (s, x + c (t − s) n) 2 ⎠
q
Aret (t, x) = c2
d n ds.
2
−∞ 2π
|n|<1
1 − |n|
Insbesondere gilt Aret (t, ·) = 0 für alle t < T.
Wir zeigen nun, dass - ähnlich wie für n = 1 - die Funktion Aret die Faltung
einer lokal integrablen Funktion gret : R × R2 → R mit der Quelle j ist. Das folgt
aus dem Satz durch Erweitern des Integranden mit c (t − s)
⎛
⎞
Z t 2
Z
2
c (t − s) ⎝
j (s, x + c (t − s) n) 2 ⎠
q
Aret (t, x) = c
d n ds,
2π
2
−∞
|n|<1 c (t − s)
1 − |n|
und einigen anschließenden Substitutionen der räumlichen Integrationsvariablen
⎞
⎛
Z t 2
Z
2
2
c (t − s) ⎝
j (s, x + ξ)
dξ
⎠ ds
q
Aret (t, x) = c
2
2π
2
2 c2 (t − s)
−∞
|ξ|<c(t−s)
2
c (t − s) − |ξ|
⎞
⎛
Z t
Z
j (s, y)
c
⎝
q
d2 y ⎠ ds
=
2π −∞
|y−x|<c(t−s)
c2 (t − s)2 − |x − y|2
¡
¢
Z Z
Θ (t − s) Θ c2 (t − s)2 − |x − y|2
c
q
j (s, y) d2 yds
=
2π R R2
c2 (t − s)2 − |x − y|2
Z Z
=
gret (t − s, x − y) j (s, y) d2 yds = (gret ∗ j) (t, x) .
R
R2
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
77
Dabei gilt für alle (t, x) ∈ R × R2
)
( c
1
√
für
t
>
0
und
ct
>
|x|
c Θ (ct − |x|)
2π
c2 t2 −|x|2
q
=
gret (t, x) =
.
2π
2
0
sonst
2
2
c t − |x|
Die retardierte Green’sche Funktion gret ist nur im Inneren des Vorwärtslichtkegels mit Spitze in 0 von 0 verschieden. Bei Annäherung an den Kegelmantel aus
dem Kegelinneren wächst die Funktion unbeschränkt an. Sie ist aber lokal integrabel,
denn für alle T > 0 gilt (Integration in Polarkoordinaten!)
!
¶
Z T µZ
Z T ÃZ
dxdy
rdr
p
√
dz
dz = 2π
z 2 − r2
z 2 − (x2 + y 2 )
0
0
x2 +y2 <z 2
r<z
¶
Z Tµ Z
√
2
2
−
∂r z − r dr dz
= 2π
0
r<z
Z T
= 2π
zdz = πT 2 .
0
Eine kleine Nebenrechnung zeigt übrigens, dass in jedem Punkt (t, x) , der nicht
am Vorwärtslichtkegelmantel liegt, ¤gret (t, x) = 0 gilt.
2.3.5
Maxwellgleichungen und Potential
Dieser Exkurs in die Elektrodynamik zeigt, wie aus Lösungen von d’Alemberts Gleichung Lösungen von Maxwells Gleichungen zu gewinnen sind. Die weitreichende
Bedeutung von d’Alemberts Gleichung für die heutige Physik ist zu einem guten
Teil in jenem Zusammenhang begründet, der nun ausgebreitet wird.
Die grundlegenden Kenngrößen eines elektrodynamischen Systems sind die elektrische Feldstärke E und die magnetische Flussdichte B. Beide sind (zeitabhängige)
Vektorfelder am Ortsraum einer inertialen Blätterung der Raumzeit, also Abbildungen
E, B : R × R3 → R3 .
Zu jeder Zeit t liegen also zwei Vektorfelder E (t) , B (t) : R3 → R3 vor. Ihre Wirkung
auf elektrisch geladene Materie drückt sich in der Lorentz-Newtonschen Bewegungsgleichung eines geladenen Massenpunktes aus. Ist γ : R → R3 die C 2 -Raumkurve
des Massenpunktes der Masse m > 0 und der elektrischen Ladung q, dann gilt
m
d2
γ (t) = q [E (t, γ (t)) + γ̇ (t) × B (t, γ (t))] .
dt2
Die physikalische Dimension von E stimmt also mit jener von B γ̇ überein. Es gilt
also [E] = [cB] . Wodurch sind E und B selbst weiter eingeschränkt?
Bezüglich einer inertialen Blätterung der Raumzeit gelten für die beiden zeitabhängigen C 1 -Vektorfelder E, B : R × R3 → R3 die Maxwellgleichungen. Zunächst
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
78
sind das die homogenen Gleichungen, die nicht von den vorhandenen Ladungen und
Stömen abhängen, nämlich
divB = 0,
(2.10)
rotE = −∂t B.
Die erste Gleichung besagt, dass der magnetische Fluss durch jede geschlossene
Oberfläche gleich 0 ist. Man sagt daher, dass es keine magnetische Monopole gebe,
oder auch, dass der magnetische Fluss quellenfrei sei. Die zweite drückt Faradays
Induktionsgesetz aus, dass eine lokale zeitliche Änderung des magnetischen Flusses
dem E-Feld einen lokalen Wirbel aufzwingt.
Sind ρ : R × R3 → R und j : R × R3 → R3 die elektrische Ladungs- und
Stromdichte, es gilt also [cρ] = [j] , dann erfüllen E, B überdies die inhomogenen
Maxwellgleichungen
ρ
, rotB = μ0 j + ε0 μ0 ∂t E,
(2.11)
ε0
wobei ε0 und μ0 die elektrischen und magnetischen Feldkonstanten sind, die ε0 μ0 =
1/c2 erfüllen. Die erste Gleichung ist das Gesetz von Gauß, dass der elektrische
Fluss durch eine geschlossene Oberfläche (bis auf den Faktor 1/ε0 ) mit der umhüllten Gesamtladung übereinstimmt. Die zweite Gleichung ist Maxwells Verallgemeinerung von Amperes Einsicht, dass Ströme von magnetischen Wirbeln umgeben sind.
Die von Maxwell hinzugefügte Verschiebungsstromdichte ε0 ∂t E ermöglicht es erst,
Stromdichtefelder j mit divj 6= 0 zu betrachten, denn Ableiten der ersten inhomogenen Maxwellgleichung nach t und Bildung der Divergenz der zweiten inhomogenen
Maxwellgleichung ergibt im Falle von C 2 -Vektorfeldern E, B wegen div (rot) = 0
divE =
∂t divE =
∂t ρ
und divj + ε0 ∂t divE = 0
ε0
und somit die Kontinuitätsgleichung
0 = ∂t ρ + divj.
Sie formuliert die lokale Erhaltung der elektrischen Ladung.
Eine parameterreduzierte Form der Maxwellgleichungen erfüllen die Vektorfelder
b
b (ct) = cB (t) , b
E (ct) = E (t) , B
j (ct) = j (t) und die Funktion b
j 0 (ct) = cρ (t) . Für
sie gilt
b = 0, ∂0 B
b = −rotE,
b
div B
b = rotB
b − cμ0b
b = cμ0b
j 0 , ∂0 E
j.
div E
b und div E
b
Die „skalaren” Gleichungen für div B
die vektoriellen Evolutionsgleichungen
Ã
! µ
¶Ã
b
E
0
rot
∂0
=
b
−rot 0
B
sind Nebenbedingungen, die durch
b
E
b
B
!
−
µ
cμ0b
j
0
¶
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
79
j = 0 zeitlich stabilisiert werden, denn
aufgrund der Kontinuitätsgleichung ∂0b
j 0 +divb
wegen
!
µ
¶Ã
µ
¶
¶
µ
¶µ
b
div 0
E
div 0
cμ0b
j
j0
cμ0b
∂0
= ∂0
=−
b
0 div
0 div
0
0
B
´
³
0
b (t, x) für jedes feste
b
b
sind die Abbildungen t 7→ div E − cμ0 j (t, x) und t 7→ div B
b B
b ∈ C 2 (R × R3 : R3 ) konstant.
x ∈ R3 und für E,
b B
b ∈ C 2 (R × R3 : R3 ) und für
Iteration der Evolutionsgleichungen ergibt für E,
0
b
j = 0, b
j=0
!
Ã
!
¶Ã
µ
b
b
E
0
rot
E
∂02
= ∂0
b
b
−rot
0
B
B
!
µ
¶Ã
b
rotrot
0
E
= −
b .
0
rotrot
B
Hier bedeutet für ein C 1 -Vektorfeld V auf einem 3d Vektorraum
rotrotV := rot (rotV ) .
Bei Zerlegung
V bezüglich einer positiv orientierten ONB (e1 , e2 , e3 ) von R3
P von
i
gemäß V = i V ei ergibt eine kleine Nebenrechnung
X¡
¢
rot (rotV ) = −
∆V i ei + grad (divV ) .
i
b = div B
b = 0 gilt somit für die Komponentenfunktionen20 E
bi
bi und B
Wegen div E
b und B
b d’Alemberts Wellengleichung
von E
b i = 0.
bi = ¤B
¤E
Seien im Weiteren E und B Funktionen vom C 2 -Typ. Die Divergenzfreiheit von
B, die in der ersten homogenen Maxwellgleichung festgestellt wird, impliziert, dass
B ein Vektorpotential hat, dass also ein C 3 -Vektorfeld A : R × R3 → R3 mit
cB (t, ·) = rotA (t, ·) für alle t ∈ R
(2.12)
existiert. Die zweite homogene Maxwellgleichung bewirkt dann, dass für alle t
¶
µ
1
rot E (t, ·) + ∂t A (t, ·) = 0.
c
Somit hat E (t, ·) + 1c ∂t A (t, ·) für alle t ein skalares Potential. Es existiert also eine
C 2 -Funktion Φ : R × R3 → R mit E (t, ·) + 1c ∂t A (t, ·) = −gradΦ (t, ·) . Äquivalent
dazu ist
1
E (t, ·) = −gradx Φ (t, ·) − ∂t A (t, ·) .
(2.13)
c
20
Bezüglich einer beliebig orientierten ONB.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
80
Funktionen E und B mit derartigen Potentialdarstellungen sind natürlich konstruktionsbedingt Lösungen der homogenen Maxwellgleichungen.
Einsetzen der Potentialdarstellungen in 2.11 ergibt erstens
µ
¶
ρ
1
1
1
∂t Φ + divA
= −∆Φ − ∂t divA = ¤Φ − ∂t
ε0
c
c
c
und zweitens
µ
¶
1
1
cμ0 j = rotrotA − ∂t −gradΦ − ∂t A
c
c
¶
µ
1 2
∂ A + rotrotA + cε0 μ0 grad∂t Φ.
=
c2 t
Wird nun
einer (festen!) Basis (e1 , e2 , e3 ) des R3 zerlegt, dann gilt mit
P3 A nach
A (t, x) = i=1 Ai (t, x) ei
rotrotA = grad
3
X
i=1
3
X
¡
¢
∂i A −
∆Ai ei .
i
i=1
Daher folgt mit der analogen Zerlegung der Stromdichte
µ
¶
1
i
i
cμ0 j = ¤A + ∂i
∂t Φ + divA für alle i = 1, 2, 3.
c
Mit den Definitionen A0 = A0 = Φ, Ai := −Ai , ji := −j i und cρ = j 0
und bei Verwendung der Karte (x0 , x1 , x2 , x3 ) mit x0 = ct gilt für die zugehörigen
bi (x) = Ai (ct, x1 , x2 , x3 ) etc.
Kartenausdücke A
X3
bμ − ∂μ
bν = cμ0b
¤A
∂ν A
jμ für alle μ = 0, . . . 3.
ν=0
P
bν ist dies d’Alemberts Wellengleichung. Der
Bis auf den Zusatzterm ∂μ 3ν=0 ∂ν A
bμ zum
Zusatzterm kann aber durch geschickte Wahl der vier Potentialfunktionen A
bμ +∂μ Λ,
b0μ = A
Verschwinden gebracht werden. Es gilt nämlich bei einer Umeichung A
die ja die Felder E und B unverändert lässt, mit einer C 3 -Funktion Λ : R × R3 → R
X3
X3
b0ν =
bν + ¤Λ.
∂ν A
∂ν A
ν=0
ν=0
P
bν gewählt - und eine solche existiert
Wird für Λ eine Funktion mit ¤Λ = − 3ν=0 ∂ν A
b0μ die Lorentzbedingung
ja -, dann erfüllen die umgeeichten Potentialfunktionen A
P3
b0ν
ν=0 ∂ν A = 0 und damit auch d’Alemberts inhomogene Wellengleichung. Es gilt
also der folgende Satz.
Satz 55 Zu jeder C 2 -Lösung
P (E, B) der Maxwellgleichungen (2.10) und (2.11) mit
C 1 -Quellfunktionen ρ, j = 3i=1 j i ei auf R × R3 existieren C 3 -Funktionen Aμ : R ×
R3 → R für μ = 0, . . . 3, sodass
E i (t, x) = ∂0 Ai (ct, x) − ∂i A0 (ct, x) ,
cB 3 (t, x) = ∂1 A2 (ct, x) − ∂2 A1 (ct, x) (zyklisch)
X3
∂ν Aν = 0.
¤Aμ = cμ0 jμ und
ν=0
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
81
Dabei gilt cμ0 j0 = ρ/ε0 und ji = −j i für i = 1, 2, 3.
2.3.6
Ebene elektromagnetische Wellen
Sind Ladungs- und Stromdichte für alle21 (t, x) ∈ R×R3 gleich Null, dann lassen sich
spezielle, globale Lösungen der Maxwellgleichungen recht einfach über einen Ansatz
b B
b Lösungen von d’Alemberts
konstruieren. Da die Komponenten der Vektorfelder E,
Gleichung sind, drängt sich der Ansatz einer ebenen Welle geradezu auf:
Ã
!
¶
µ
b
E
α cos (ωt − k · x)
(2.14)
b (t, x) = β cos (ωt − k · x + δ) .
B
Dabei seien α, β ∈ R3 , k ∈ R3 r 0, ω = |k| und δ ∈ [0, π) .
b = 0 ist von diesem Ansatz offenbar genau dann
Die skalare Gleichung div E
erfüllt, wenn für alle t, x
0 = α · k sin (ωt − k · x) .
Dies gilt genau dann, wenn α · k = 0, wenn also der Amplitudenvektor α des elektrischen Feldes senkrecht zum Wellenzahlvektor k steht. Analog folgt, dass β · k = 0
b = 0.
genau dann, wenn div B
Nun zu den Evolutionsgleichungen. Es gilt
Ã
!
¶
µ
b
α sin (ωt − k · x)
E
∂t
b (t, x) = −ω β sin (ωt − k · x + δ) .
B
Für einen konstanten Vektor α ∈ R3 und eine differenzierbare Funktion f : R3 → R
gilt rot (fα) = grad (f ) × α. Daraus folgt
b (t, x) = sin (ωt − k · x) (k × α) und rotB
b (t, x) = sin (ωt − k · x + δ) (k × β) .
rotE
Somit gilt
µ
0
rot
−rot 0
¶Ã
b
E
b
B
!
(t, x) =
µ
sin (ωt − k · x + δ) (k × β)
− sin (ωt − k · x) (k × α)
¶
.
Die Evolutionsgleichung ist daher äquivalent zu δ = 0 und
µ ¶
µ
¶
µ
¶
1
1
α
−k × β
β×k
=
.
=
k×α
β
|k|
|k| −α × k
Damit ist gezeigt, dass der Ansatz (2.14) mit k 6= 0 genau dann eine Lösung von
Maxwells Gleichungen mit verschwindenden Quellen liefert, wenn (α, β, k) eine positiv orientierte Basis ist und wenn |α| = |β| gilt. Diese ebenen Wellenlösungen
Ã
!
¶
µ
b
α
E
(t, x) = cos (ωt − k · x)
k
b
×α
B
|k|
k,α
21
t bezeichnet die mit c multiplizierte physikalisch dimensionierte Zeitkoordinate.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
82
b (t, x) wie
und ihre zeitlichen Translate werden als linear polarisiert bezeichnet, da E
b (t, x) jeweils Elemente einer festen Gerade des R3 sind. Beide Geraden stehen
B
zueinander und auf den Ausbreitungs- bzw. Wellenzahlvektor k senkrecht.
Durch Übelagerung zweier gegeneinander zeitversetzter Lösungen mit demselben Ausbreitungsvektor k aber mit zwei linear unabhängigen Amplitudenvektoren
b (t, x) im Allgemeinen nicht für alle
entstehen ebene Wellen, deren Auslenkung E
(t, x) auf ein und derselben Gerade liegt. Für sie nimmt die Funktion Funktion
b (t, x) bei festem x nur Werte auf einer Ellipse in einer Ebene senkrecht zu k
t 7→ E
b (t, x) . Die Ellipse, auf der B
b (t, x)
um den Mittelpunkt 0 an. Analoges gilt für t 7→ B
b (t, x) durch eine Drehung um 90◦ um die Richtung k (im
liegt, geht aus jener von E
Rechtsschraubensinn) hervor.
Eine spezielle Form der elliptisch polarisierten Lösungen sind die zirkular polarisierten. Im Hinblick auf die Quantentheorie des Lichtes wählen wir zu ihrer Konstruktion einen aufschlussreichen Umweg über komplexwertige Lösungen. Sei also
mit α, β ∈ C 1 (R : C3 ) für alle x ∈ R3 und für ein k ∈ R3 r 0
Ã
!
µ
¶
b
E
α (t)
ik·x
b (t, x) = β (t) e .
B
Durch Einsetzen in die parameterreduzierten skalaren Maxwellgleichungen folgt
!
¶
¶Ã
µ
µ ¶ µ
b
k · α (t)
div 0
E
0
ik·x
=
b (t, x) = i k · β (t) e .
0 div
0
B
Somit ist die Transversalitätsbedingung
k · α (t) = k · β (t) = 0
für alle t ∈ R äquivalent zu den skalaren Maxwellgleichungen.
Analog ergeben sich die vektoriellen Maxwellgleichungen
!
Ã
! µ
¶Ã
b
b
E
E
0
rot
=
∂t
b
b
−rot 0
B
B
als äquivalent zu
µ
α̇ (t)
β̇ (t)
¶
=i
µ
0 1
−1 0
¶µ
k × α (t)
k × β (t)
¶
.
Dies ist ein homogen C-lineares System gewöhnlicher Differentialgleichungen erster Ordnung auf dem Vektorraum C2 ⊗ C3 mit dem autonomen Tangentenvektorfeld
¶
µ
0 1
⊗ Lk =: σ ⊗ Lk ,
X=i
−1 0
wobei Lk : C3 → C3 die lineare Abbildung mit Lk (v) = k × v ist.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
83
Zur Bestimmung eines Fundamentalsystems von maximalen Integralkurven des
Vektorfeldes X bietet sich der Weg über die Diagonalisierung von X an. Dazu sind
die Eigenräume und Eigenwerte der beiden linearen Abbildungen σ und Lk zu ermitteln.
Die lineare Abbildung σ hat die beiden Eigenvektoren φ± = (1, ∓i)t ∈ C2 mit
den zugehörigen Eigenwerten ±1, da
¶
¶
µ
¶ µ
¶
µ
¶µ
µ
1
±1
∓i
1
0 1
.
=±
=
=i
i
∓i
−i
−1
∓i
−1 0
Es gilt also σφ± = ±φ± .
Die lineare Abbildung Lk hat wegen k × k = 0 den Eigenvektor k zum Eigenwert
0. Ist weiters (e1 (k) , e2 (k) , k) eine (von k abhängige!) positiv orientierte orthogonale
Basis von R3 , dann gilt
Lk e1 (k) = |k| e2 (k) und Lk e2 (k) = − |k| e1 (k) .
Daraus ergibt sich für die beiden (komplexen!) Vektoren
1
ε± (k) = √ (e1 (k) ± ie2 (k))
2
die Eigenwertgleichung
|k|
|k|
Lk ε± (k) = √ (e2 (k) ∓ ie1 (k)) = ∓i √ (±ie2 (k) + e1 (k)) = ∓i |k| ε± (k) .
2
2
Somit sind die vier Vektoren φλ ⊗ ετ (k) mit λ, τ ∈ {1, −1} Eigenvektoren von
X mit
X (φλ ⊗ ετ (k)) = −iλτ |k| (φλ ⊗ ετ (k)) .
Sie erfüllen gemäß Konstruktion die Transversalitätsbedingung k ·ετ = 0. Die beiden
weiteren Eigenvektoren φλ ⊗ k zum Eigenwert 0 erfüllen die Transversalitätsbedingung nicht.
Daher bilden die vier Integralkurven von X
Φλ,τ (t) = e−iλτ |k|t (φλ ⊗ ετ (k))
ein Fundamentalsystem im Raum der maximalen Integralkurven von X, welche die
Transversalitätsbedingung erfüllen.
Die zwei zu λ = τ gehörigen Lösungen der Maxwellgleichungen erfüllen für alle
(t, x) ∈ R × R3 und mit τ ∈ {1, −1} , k ∈ R3 r 0
Ã
!
b
E
(t, x) = (φτ ⊗ ετ (k)) e−i(|k|t−k·x)
b
B
k,τ
µ
¶
e−i(|k|t−k·x)
1
√
⊗ (e1 (k) + iτ e2 (k)) .
=
iτ
2
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
84
Physikalisch interpretierte Lösungen ergeben22 sich daraus durch die Bildung von
Real- oder auch Imaginärteil:
Ã
!
à cos(|k|t−k·x)
!
sin(|k|t−k·x)
√
√
b
e
(k)
+
τ
e
(k)
E
1
2
2
2
Uk,τ (t, x) := <
(t, x) =
.
sin(|k|t−k·x)
cos(|k|t−k·x)
b
√
√
B
e1 (k) −
e2 (k)
τ
2
2
k,τ
bk,τ =1 (t, x) ∈ R3
Für jeden beliebigen festen Punkt x ∈ R3 ist die Abbildung t 7→ <E
eine Überlagerung des reellen Einheitskreises um 0 in der Ebene senkrecht zu k.
Der Kreis wird bei Betrachtung in Richtung k im Gegenuhrzeigersinn durchlaufen.
bk,τ =1 (t, x) . Diese geht jedoch der Abbildung
Dasselbe gilt für die Funktion t 7→ <B
bk,τ =1 (t, x) um 90◦ voraus. Die elektromagnetische Welle Uk,τ =1 wird als
t 7→ <E
rechtszirkular polarisiert bezeichnet, da bei festen Werten t, k die Kurve
µ
¶
k
k
bk,τ =1 t, x = ξ
+ <E
∈ R3
R 3 ξ 7→ ξ
|k|
|k|
bk,τ =−1 und <B
bk,τ =−1
eine Rechtsschraubenlinie ist. Aus analogem Grund wird <E
als linkszirkular bezeichnet. Hier geht jedoch das elektrische dem magnetischen
Feld um 90◦ voraus. In beiden
Fällen τ = ±1 ist für alle t, x das Vektorsystem
³
´
bk,τ (t, x) , <B
bk,τ (t, x) , k eine positiv orientierte, also rechtshändige, Orthogo<E
nalbasis.
2.3.7
Harmonisch oszillierende Quellen j für n = 3
Die Formel von Korollar 52 zur Bildung von Aret ergibt auch bei bestimmten Typen
von Quellen, für die kein T ∈ R existiert, sodass j (t, ·) = 0 für alle t < T, eine
Lösung der d’AWG. Es reicht z.B. aus, dass die Funktion x 7→ j (t, x) zu allen
Zeiten t außerhalb einer Kugel mit einem von t unabhängigen Radius verschwindet.
Der y-Integrationsbereich ist dann auf eine endliche Kugel beschränkt. Es gibt dann
aber auch kein T, für das Aret (t, ·) = 0 für alle t < T.
Hier ein Beispiel einer harmonisch mit der Frequenz ω ≥ 0 oszillierenden Quelle.
Es sei h ∈ C 2 (R3 : R) und es gebe ein R > 0, sodass h (x) = 0 für alle x ∈ R3 mit
|x| > R. Weiter gelte j (t, x) = cos (ωt) h (x) für alle (t, x) ∈ R × R3 . Dann ergibt
die Formel des Korollars zur Berechnung von Aret die Funktion Cret : R × R3 → R
mit
´i
h ³
µ
¶
Z cos ω t − |x−y| h (y)
Z
c
e−ik|x−y| h (y) 3
3
iωt
Cret (t, x) =
d y=< e
dy ,
4π |x − y|
R3
R3 4π |x − y|
wobei k = ω/c gesetzt wurde. Analog ergibt sich
´i
h ³
µ
¶
Z sin ω t − |x−y| h (y)
Z
c
e−ik|x−y| h (y) 3
3
iωt
d y== e
dy
Sret (t, x) =
4π |x − y|
R3
R3 4π |x − y|
22
Weil die Maxwellgleichungen reell sind!
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
85
aus der Inhomogenität j (t, x) = sin (ωt) h (x) . Die C-wertige Hilfsfunktion Aret mit
Z
e−ik|x−y| h (y) 3
iωt
Aret (t, x) = e g (x) und g (x) =
dy
R3 4π |x − y|
vereinigt die beiden reellen Funktionen Cret und Sret zu einer komplexen Lösung der
inhomogenen d’AWG
¤Aret (t, x) = eiωt h (x) ,
gemäß Aret = Cret + iSret . Für Cret und Sret gilt
¤Cret (t, x) = cos (ωt) h (x) und ¤Sret (t, x) = sin (ωt) h (x) .
Die Funktion Sret kann aus Cret durch Zeittranslation um π/2 erzeugt werden und
eröffnet daher keine wesentliche neue Einsichten. Cret schwingt wie die Quelle j
harmonisch und zwar mit derselben Frequenz wie die Quelle j. Es existiert daher,
außer für g = 0 keine Zeit T, sodass Cret (t, .) = cos ωt<g − sin ωt=g = 0 für alle
t < T.
Für die C-wertige Funktion g gilt wegen ¤Aret (t, x) = eiωt h (x) , dass
µ
¶
ω2
iωt
− 2 − ∆ g = eiωt h.
e
c
Also ist g eine (komplexe) Lösung der inhomogenen Helmholtzgleichung
¢
¡
∆ + k2 g = −h.
Wegen =h = 0 gilt weiter (∆ + k2 ) <g = −h und (∆ + k2 ) =g = 0.
Wir haben mit
Z
cos (k |x − y|) h (y) 3
<g (x) =
dy
4π |x − y|
R3
somit eine Lösungsformel für die inhomogene Helmholtzgleichung mit C 2 -Inhomogenität −h in der Hand. Die Funktion =g, für die ja
Z
sin (k |x − y|) h (y) 3
dy
=g (x) =
4π |x − y|
R3
gilt, ist hingegen für k > 0 eine nichttriviale reelle Lösung der homogenen Helmholtzgleichung, d.h. =g ist ein Eigenvektor von −∆ zum Eigenwert k2 > 0.
Im statischen Grenzfall ω = 0 ergibt sich g zu
Z
h (y)
g (x) =
d3 y.
(2.15)
4π
|x
−
y|
3
R
Für diese Funktion gilt der folgende aufschlussreiche Satz.
Satz 56 Sei h ∈ C 2 (R3 : R) und es existiere ein R > 0, sodass h (x) = 0 für alle
x ∈ R3 mit |x| > R. Die Funktion g : R3 → R aus Gleichung (2.15) ist dann die
einzige (reelle) C 2 Funktion mit ∆g = −h, die für alle x ∈ S2 die Randbedingung
limλ→∞ g (λx) = 0 erfüllt.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
86
Beweis. Siehe etwa, Korollar 2 zu Satz 4 in §16 von [5].
Für h = 0 gilt offenbar g = 0. Die Randbedingung limλ→∞ g (λx) = 0 für alle
x ∈ S2 steht also in Analogie zur homogenen Dirichletschen Randbedingung im Fall
eines beschränkten Gebietes. Sie legt eine eindeutige Lösung der 3d Poissongleichung
∆g = −h auf R3 fest. Ein analoger Satz gilt auch für die Poissongleichung in n > 3
Dimensionen, nicht jedoch für n = 1 oder n = 2.
Für R/ |x| → 0, also in großer Entfernung von der Quelle, hat die Funktion Aret
das Verhalten einer auslaufenden Kugelwelle. Es gilt nämlich für |y| / |x| → 0
s
q
hx, yi |y|2
|x|2 − 2 hx, yi + |y|2 = |x| 1 − 2
+ 2
|x − y| =
|x|2
|x|
Ã
!
À
¿
|y|2
x y
,
+
= |x| 1 −
+ ...
|x| |x|
2 |x|2
À
µ ¶
¿
|y|
x
,y + O
.
= |x| −
|x|
|x|
Deshalb gilt für |y| / |x| → 0
−ik|x−y|
e
|x − y|
³
³ ´´
x
|y|
e−ik|x| e−ikh |x| ,yi 1 + O |x|
³
³ ´´
=
|y|
|x| 1 + O |x|
x
µ
µ ¶¶
e−ik|x| eikh |x| ,yi
|y|
=
1+O
.
|x|
|x|
Daraus folgt mit r = |x| und n = x/ |x| ∈ R3 für R/r → 0
µ
µ ¶¶
Z
ei(ωt−kr)
R
ikhn,yi
3
Aret (t, x) =
.
e
h (y) d y 1 + O
4πr
r
R3
Die Richtungsabhängigkeit der auslaufenden Kugelwelle, der sich die Lösung Aret
in großer Entfernung von der Quelle anschmiegt, wird also von der (invers) Fouriertransformierten F −1 h des räumlichen Anteils der Quelle bestimmt. Relevant ist
dabei jedoch lediglich die Einschränkung der Fouriertransformierten F −1 h auf eine
Sphäre vom Radius k = ω/c.23
2.4
Lösung durch Separationsansatz
Bisher wurden einige explizite Lösungsformeln für das Anfangswertproblem der
d’AWG vorgestellt. Für nur wenige Anfangsdaten und Inhomogenitäten können
jedoch die in den Lösungsformeln vorkommenden Integrale tatsächlich berechnet
23
Hat die Quellfunktion h keine Fourierkomponeneten mit der Wellenzahl k, so kann sie mit
der Frequenz ω = ck auch nicht abstrahlen. Die räumliche Quellfunktion eines (monofrequenten)
Senders muss also mit der Betriebsfrequenz verträglich sein.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
87
werden. Daher kommt weiteren Lösungsmethoden große Bedeutung zu. Außerdem
ist man gelegentlich an besonders einfach strukturierten Lösungen interessiert. In
diesem Abschnitt wird gezeigt, wie sich solche spezielle Lösungen einer partiellen
Differentialgleichung unter bestimmten Umständen durch das Lösen gewöhnlicher
Differentialgleichungen gewinnen lassen. Der entscheidende Trick dabei ist, eine Lösung der partiellen Differentialgleichung als Produkt von Funktionen anzusetzen,
deren Definitionsbereiche kleinere Dimensionen haben. Als Beispiel zur Darstellung
dieses Tricks wählen wir die bereits vertraute d’AWG auf R1+n . Die gewöhnlichen
Differentialgleichungen, auf die wir dabei geführt werden, erlauben einen Blick auf
das weite Feld der „speziellen Funktionen der mathematischen Physik”. [8], [10]
2.4.1
¤A = 0 - Abseparation der Zeit
Satz 57 Sei (f, g) ∈ C 2 (R) × C 2 (Rn ) . Dann ist A : R1+n → R mit A (t, x) =
f (t) g (x) genau dann eine nichttriviale Lösung der d’AWG, wenn ein λ ∈ R existiert, sodass
f 00 + c2 λf = 0,
∆g + λg = 0.
(2.16)
(2.17)
Beweis. Sei A (t, x) = f (t) g (x) . Dann gilt
c2 ¤A (t, x) = f 00 (t) g (x) − c2 f (t) ∆g (x) .
Da A 6= 0, existiert ein t0 ∈ R mit f (t0 ) 6= 0. Daher folgt aus ¤A (t, x) = 0, dass
für alle x ∈ Rn
f 00 (t0 )
g (x) − c2 ∆g (x) = 0.
f (t0 )
00
Mit λ = − cf2 f(t(t00)) folgt, dass ∆g + λg = 0. Da A 6= 0, existiert ein x0 ∈ Rn mit
g (x0 ) 6= 0. Daher gilt für alle t ∈ R
f 00 (t) − c2
∆g (x0 )
f (t) = 0.
g (x0 )
0)
Es folgt also mit μ = − ∆g(x
, dass
g(x0 )
f 00 + c2 μf = 0.
00
Durch Spezialisierung auf t = t0 ergibt sich daraus λ = − cf2 f(t(t00)) = μ. Damit ist
gezeigt, dass ¤A = 0 die Gleichungen 2.16 und 2.17 nach sich zieht. Die Umkehrung
des Schlusses zeigt man durch direktes Nachrechnen.
Der Satz zeigt also, wie die Lösungen der n + 1-dimensionalen d’AWG vom Typ
f (t) g (x) aus Lösungen einer sehr einfachen gewöhnlichen Differentialgleichung und
aus Lösungen einer n-dimensionalen partiellen Differentialgleichung erhalten werden
können. Sie heißen stationäre Lösungen.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
88
Satz 58 Sei (f, g) ∈ C 2 (R) × C 2 (Rn ) . Sei A : R1+n → R mit A (t, x) = f (t) g (x)
eine nichttriviale, beschränkte Lösung von ¤A = 0. Dann existiert (α, β, k) ∈ R ×
R × R≥0 mit f (t) = α cos (ckt) + β sin (ckt) und ∆g + k2 g = 0.
Beweis. Der Raum der maximalen Lösungen von Gleichung 2.16 ist bereits
bekannt. Für c2 λ = −κ2 < 0 bilden die beiden Funktionen (sinh (κt) , cosh (κt)) eine
Basis dieses Raumes. Für c2 λ = c2 k2 > 0 ist (sin (ckt) , cos (ckt)) eine Basis. Für
λ = 0 schließlich, ist (1, t) eine Basis. Aus der Beschränktheit von A folgt jene von f.
Aus der Beschränktheit von f folgt λ ≥ 0. Die unbeschränkte Lösungskomponente
im Fall λ = 0 wird durch die Kombination von sin und cos wegen sin (0 · t) = 0
ausgeschlossen.
Definition 59 Eine Funktion g ∈ C 2 (Rn ) mit ∆g + k2 g = 0 für ein k ∈ R>0 heißt
Lösung der (homogenen) n-dimensionalen Helmholtzgleichung.
Beschränkte stationäre Lösungen von ¤A = 0 heißen Eigenschwingungen von ¤.
Der räumliche Anteil g einer Eigenschwingung A heißt Eigenmode. Diese gibt wegen
A (t, x) = f (t) g (x) bis auf den Faktor f (t) die Momentaufnahme des Schwingungsprofils zur jeder Zeit t.
2.4.2
Ebene Wellenlösungen von ¤A = 0
Sei k ∈ Rn und h·, ·i das Standardskalarprodukt von Rn . Dann sind die C 2 (Rn )Funktionen x 7→ cos hk, xi und x 7→ sin hk, xi Lösungen der Helmholtzgleichung
∆g + k2 g = 0 mit k2 = hk, ki = |k|2 . Seien δ, α, β ∈ R und ω = c |k| . Die C 2 (Rn+1 )Funktion
A (t, x) = cos (ωt − δ) [α cos hk, xi + β sin hk, xi]
ist eine beschränkte, stationäre Lösung der d’AWG. In der Physik wird sie als stehende Welle bezeichnet.
Wandernde Wellenlösungen ergeben sich durch lineares Kombinieren bestimmter
stehender Wellen:
Ck (t, x) = cos (ωt − hk, xi) = cos (ωt) cos hk, xi + sin (ωt) sin hk, xi ,
Sk (t, x) = sin (ωt − hk, xi) = sin (ωt) cos hk, xi − cos (ωt) sin hk, xi .
Die Niveauflächen der Funktionen Ck (t, ·) und Sk (t, ·) sind die Ebenen
{x ∈ Rn : ωt − hk, xi = d} .
Sie stehen senkrecht auf k und verschieben sich unter t → t + τ um τ ω/ |k| = τ c
in Richtung von k. Ihre Verschiebungsgeschwindigkeit („Phasengeschwindigkeit”)
ist also gleich c. Die Funktionen Ck (t, ·) und Sk (t, ·) gehen bei einer Translation
um 2π
in Richtung des Wellenzahlvektors k in sich über. Die Zahl 2π/ |k| wird als
|k|
Wellenlänge der Lösungen Ck und Sk bezeichnet. Ck und Sk heißen harmonische24
ebene Wellenlösungen von ¤A = 0.
24
Allgemeinere Lösungen des Typs A (t, x) = f (ωt ± hk, xi) besitzen natürlich auch Ebenen als
Niveauflächen von A (t, ·), jedoch sind die Abbildungen A (·, x) bei festem x keine harmonischen
Schwingungen, d.h. Lösungen einer Schwingungsgleichung.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
89
Umgekehrt sind stehende Wellen Überlagerungen gegenläufiger harmonischer
ebener Wellen:
(Ck + C−k ) (t, x) = 2 cos (ωt) cos hk, xi .
Auch die Überlagerung zweier nicht exakt gegenläufiger Wellen führt zu einer
interessanten Lösung. Sei k = (p, q, 0) und k0 = (p, −q, 0) . Dann gilt
A (t, x, y, z) = (Ck + Ck0 ) (t, x, y, z) = cos (ωt − px − qy) + cos (ωt − px + qy)
= 2 cos (ωt − px) cos (qy) .
´
³ 2
Die Funktion X : (t, x) 7→ cos (ωt − px) erfüllt wegen ¤X = − ωc2 − p2 X =
−q 2 X die Wellengleichung (¤ + q 2 ) X = 0. Die Einschränkung von Ck + Ck0 auf
x = 0 ergibt die Funktion Y (t, y, z) = 2 cos (ωt) cos (qy) . Es gilt (¤ + p2 ) Y = 0
und Y ist eine stehende Wellenlösung. Wird der Ausrichtungsfehler q der beiden
fast gegenläufigen Wellen kleiner gemacht, vergrößert sich die Wellenlänge der Stehwelle Y. Diese Stehwelle moduliert auch den zeitgemittelten Energiestrom durch die
Punkte der Ebene x = 0 und sorgt so auch bei rasch oszillierenden Lösungen für
beobachtbare Interferenzerscheinungen.25 Dies sieht man wie folgt.
Die Flächendichte des Energiestroms durch die Fläche x = 0 im Punkt (0, y, z) ist
in positive x-Richtung durch
hTA (t, 0, y, z) , ex i = −∂t A (t, 0, y, z) ∂x A (t, 0, y, z) = 4pω sin2 (ωt) cos2 (qy)
gegeben. Die Mittelung von Rt 7→ hTA (t, 0, y, z) , ex i über eine zeitliche Periode der
2π
Dauer T = 2π/ω ergibt mit 0 sin2 (u) du = π
ω
2π
Z
2.4.3
0
2π/ω
2pω
cos2 (qy)
hTA (t, 0, y, z) , ex i dt =
π
Z
2π
sin2 (u) du = 2pω cos2 (qy) .
0
Kirchhoffs Beugungsnäherung
d’Alemberts Wellengleichung beschreibt eine von Hindernissen ungestörte Wellenausbreitung. Ist der Raum von Hindernissen durchsetzt, dann ist d’Alemberts Gleichung zu modifizieren. Dies kann auf viele verschiedene Weisen geschehen. So kann
der Parameter c von einer Konstante zu einer raum- und zeitabhängigen Funktion
gemacht werden, Randbedingungen an den Grenzen der Hindernisse können eingeführt werden oder eine dynamische Inhomogenität j kann als eventuell nichtlineare
Funktion der Lösungsfunktion hinzugenommen werden. Kirchhoffs Modell der Beugung von Wellen soll als Beispiel für ein derartiges Vorgehen geschildert werden.
Fällt eine d’Alembertsche Welle A auf einen Schirm mit einigen Löchern, dann
gilt im hindernisfreien Bereich Ω hinter dem Schirm zu allen Zeiten die ungestörte
25
Auch für Licht kann derart die Variation, die sich über Längen von ca. 0, 5 μm abspielt, auf Distanzen von einigen mm gebracht werden. (Fresnel’scher Doppelspiegel; siehe etwa
http://leifi.physik.uni-muenchen.de/web_ph12/versuche/06fresnel/doppelspiegel.htm)
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
90
Gleichung ¤A = 0. Wir nehmen Ω ⊂ R3 als offen, beschränkt und wegzusammenhängend an. Den Schirm wählen wir mit etwas Willkür26 als Rand von Ω. Um
den Fall einer laufenden monofrequenten Welle zu erhalten, wird angenommen, dass
A (t, x) = <e−iωt u (x) mit ω > 0 gilt. Die komplexwertige Funktion u erfüllt dann
im Bereich Ω die Gleichung
¡
¢
∆ + k2 u = 0
mit k = ω/c. Analog zu Satz 32 gilt dann mit
G±
y (x) = −
e±ik|x−y|
für alle x ∈ R3 r y
4π |x − y|
für alle y ∈ Ω die Integralgleichung
Z
¢
¡
£ ¤
±
u (y) =
(x)
·
n
[u]
dx σ.
u (x) · nx G±
−
G
x
y
y
∂Ω
Die entscheidende Annahme besteht nun darin, in der Integralgleichung die Werte
u (x) und nx [u] für alle x ∈ ∂Ω, die innerhalb einer Schirmöffnung liegen, durch die
Werte einer ungestörten (komplexen) Ganzraumlösung zu ersetzen. In allen anderen
Punkten von ∂Ω wird u (x)und nx [u] durch 0 ersetzt. Das Integral erstreckt sich
daher nur über die Öffnungen in ∂Ω. Die gewählte Ganzraumlösung kann dabei von
einer Quelle außerhalb von Ω ausgehen oder auch als ebene Welle den ganzen Raum
erfüllen.
Bei Verwendung der singulären Lösungen G+
y der Helmholtzgleichung ergibt die−iωt
u+ (x) , die sich von den Öffnungen des
se Prozedur zumindest eine Welle <e
Schirms her durch Ω ausbreitet. Bei Verwendung von G−
y laufen die Wellen auf die
Öffnungen zu. Es sind zeitgespiegelte Versionen der mit G+
y konstruierten Funktionen. Im Allgemeinen werden diese so gewonnen Wellen in Ω zwar Lösungen der
d’Alembertgleichung sein, die Randvorgaben aber nicht reproduzieren. Trotzdem
geben sie ein auch quantitativ brauchbares Bild der Beugungserscheinungen von
Wellen, wie es schon von Huygens erdacht war. Beispiele dazu sind in Texten über
Optik oder Elektrodynamik zu finden, etwa H Hänsel, W Neumann, Physik (Elektrizität, Optik, Raum und Zeit), Spektrum, Heidelberg, 1993)
Den Ausgangspunkt derartiger Erklärungen von Beugung bildet jedenfalls „Kirchhoffs Beugungsformel”
Z
¢
¡
£ ¤
+
u (x) =
(2.18)
u0 (y) · ny G+
x − Gx (y) · ny [u0 ] dy σ,
B
in der B die Blendenöffnung, also ein Flächenstück im R3 bezeichnet, auf dem eine
(gut begründete!) Vorgabe u0 , n [u0 ] gewählt ist.
26
Die Angabe „hinter” dem Schirm ist natürlich zu ungenau, denn wo verläuft in einem Loch des
Schirmes die Grenze zwischen dem Bereich hinter bzw. vor dem Schirm? Hier sind also willkürliche
Festsetzungen zu treffen.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
2.4.4
91
Wärmeleitungsgleichung - Abseparation der Zeit
In manchen Fällen erweist es sich als nützlich, komplexwertige Produktlösungen
einer linearen, reellen, partiellen Differentialgleichung zu suchen. Real- und Imaginärteil solcher Lösungen ergeben dann reelle Lösungen der reellen PDG, die im
Allgemeinen jedoch keine Produktlösungen mehr sind. Als Beispiel betrachen wir
die Wärmeleitungsgleichung ∂t u = κ∂x2 u.
Satz 60 Seien f, g ∈ C 2 (R : C) r 0 und sei u (t, x) = f (t) g (x) für alle (t, x) ∈ R2 .
Sei κ ∈ R>0 . Dann sind (1) und (2) äquivalent.
(1) (∂t − κ∂x2 ) u = 0
(2) Es existiert ein λ ∈ C mit f 0 = λf und g00 = λκ g.
Beweis. Aus ∂t u (t, x) = f 0 (t) g (x) und κ∂x2 u (t, x) = κf (t) g00 (x) folgt durch
Spezialisierung auf ein t0 mit f (t0 ) 6= 0, dass für alle x ∈ R
f 0 (t0 )
g (x) = κg00 (x) .
f (t0 )
Setze
f 0 (t0 )
f (t0 )
= λ. Spezialisierung auf ein x0 mit g (x0 ) 6= 0 ergibt für alle t ∈ R
f 0 (t) = κ
g 00 (x0 )
f (t) .
g (x0 )
Der Spezialfall t = t0 dieser Gleichung ergibt schließlich, dass
κ
g 00 (x0 )
= λ.
g (x0 )
Daher ergeben sich für beliebige A, B, z ∈ C die Produktlösungen u (t, x) =
f (t) g (x) der Wärmeleitungsgleichung mit
¢
2 ¡
u (t, x) = eκz t Aezx + Be−zx .
Durch Spezialisierung von z ergibt sich für z = q ∈ R>0
¢
2 ¡
u (t, x) = eκq t Aeqx + Be−qx .
Für A, B ∈ R ist u also eine reelle, zeitlich exponentiell anwachsende Lösung der
Wärmeleitungsgleichung. Die unendlich fernen „Enden“ der reellen Achse „heizen
ein“ oder „kühlen“.
Die Wahl z = iq ergibt (mit neuen Koeffizienten A, B)
2
u (t, x) = e−κq t (A cos qx + B sin qx) .
Für reelle A, B ist dies eine zeitlich abklingende Lösung mit stehendem räumlichem
Profil. Die anfänglichen Temperaturunterschiede zwischen verschiedenen Örtern gleichen sich aus. Siehe Fig. 2.11.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
92
Abbildung 2.11: e−t cos x
Für z = a + ib mit a, b ∈ R ergibt sich wegen z 2 = a2 − b2 + 2iab
¢
2 ¡
u (t, x) = eκz t Aezx + Be−zx
¡
¢
2
2
= eκ(a −b )t+2iκabt Aeax eibx + Be−ax e−ibx .
Durch die Wahl A = 0 und B = 1 und Bildung des Realteils ergibt sich mit
ω = 2κab die reelle Lösung
<u (t, x) = e−ax eκ(a
2 −b2
)t cos (ωt − bx) .
Für a = b > 0 kann die Einschränkung dieser Lösung auf R>0 × R>0 als die Temperaturverteilung im Halbraum x > 0 interpretiert werden, dessen Grenzfläche bei
x = 0 eine periodische Temperaturschwankung aufgezwungen bekommt. Das Temperaturfeld ist dann eine nach rechts laufende räumlich ausdämpfende ebene Welle.
Anwendung findet diese Lösung bei der Beschreibung der tages- und jahreszeitlichen Schwankungen der Bodentemperatur. Siehe Kap. 7 in [7]. Eine höherfrequente
Temperaturvorgabe dringt weniger tief ein. An einem Ort der Entfernung x von der
Grenzfläche hinkt die
√ Temperaturoszillation der angelegten Temperatur um eine
Zeit δt = bx/ω = x/ 2κω hinterher. So können es Murmeltiere im Winter wärmer
haben als im Sommer.
2.4.5
Galileigruppe und Wärmeleitungsgleichung
Der folgende Satz kann dazu benützt werden, um aus einer Lösung der Wärmeleitungsgleichung (WLG) eine eventuell neue zu gewinnen.
Satz 61 Sei κ ∈ R>0 und sei I ⊂ R ein offenes (eventuell uneigentliches) Intervall.
Für u : I × R → C gelte (∂t − κ∂x2 ) u = 0. Für ein v ∈ R sei die Funktion u
e :
I × R → C durch
v2
v
u
e (t, x) = e 4κ t e− 2κ x u (t, x − vt)
definiert. Dann gilt (∂t − κ∂x2 ) u
e = 0.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
93
Beweis. Es gilt
e) (t, x) = e
(∂t u
v2
t
4κ
v
− 2κ
x
e
µ
¶
v2
u (t, x − vt) − v (∂x u) (t, x − vt) + (∂t u) (t, x − vt) .
4κ
Die räumlichen Ableitungen ergeben
³ v
´
v2
v
(∂x u
e) (t, x) = e 4κ t e− 2κ x − u (t, x − vt) + (∂x u) (t, x − vt)
2κ
und (∂x2 u
e) (t, x) =
¢ ¸
∙ ¡ v ¢¡ v
− 2κ − 2κ u (t, x − vt) + (∂x u) (t, x − vt)
e e
v
− 2κ
(∂x u) (t, x − vt) + (∂x2 u) (t, x − vt)
∙³ ´
¸
¡ 2 ¢
v2
v
v 2
v
t
−
x
= e 4κ e 2κ
u (t, x − vt) − (∂x u) (t, x − vt) + ∂x u (t, x − vt) .
2κ
κ
v2
t
4κ
v
− 2κ
x
v2
v
Daraus folgt (∂t − κ∂x2 ) u
e (t, x) = e 4κ t e− 2κ x (∂t − κ∂x2 ) u (t, x) = 0.
Die Anwendung der Galileitransformation u 7→ u
e auf die Lösung uz (t, x) =
κz 2 t+zx
e
mit z ∈ C ergibt
v2
v2
v
v
uez (t, x) = e 4κ t e− 2κ x u (t, x − vt) = e 4κ t e− 2κ x eκz
³
v2
−zv+κz 2
4κ
´
2 t+z(x−vt)
2
v
v
t (z− v )x
= e
e 2κ = eκ(z− 2κ ) t e(z− 2κ )x
v (t, x) .
= uz− 2κ
Tatsächlich ist uez eine Lösung der WLG, wenngleich eine vom bereits bekannten
Typ. Interessantere Lösungen sind durch Galileitransformation der räumlich und
zeitlich abklingenden Lösungen zu erhalten, die (über q integrierte) Überlagerungen
von Lösungen des Typs
2
uiq (t, x) = e−κq t eiqx
sind. Solche werden im Kapitel über Distributionen und WLG auftreten.
2.4.6
Kartesische Separation von (∆ + λ) g = 0 auf Rn
Satz 62 Seien g1 , . . . gn ∈ C 2 (R) und g : Rn → R, x 7→ g1 (x1 ) g2 (x2 ) . . . gn (xn ) sei
nicht die Nullfunktion. Zu g existiert genau dann ein λ ∈ R mit ∆g + λg = 0, wenn
Zahlen λ1 , . . . λn ∈ R mit λ1 + . . . + λn = λ existieren, für die gi00 + λi gi = 0.
Korollar 63 Die Funktion g ist genau dann beschränkt, wenn für alle i ∈ {1, . . . n}
gi eine Linearkombination von cos (ki xi ) und sin (ki xi )
gilt, dass λi =: ki2 ≥ 0 undP
2
ist. Es gilt dann k := λ = ni=1 ki2 .
Beweis. Sei zunächst g (x) = g1 (x1 ) g2 (x2 ) . . . gn (xn ) mit gi00 + λi gi = 0. Daraus
folgt durch einfaches Nachrechnen, dass ∆g + λg = 0 für λ = λ1 + . . . + λn . Damit
ist die eine Richtung der Behauptung des Satzes gezeigt.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
94
Die Umkehrung folgt so. Für g (x) = g1 (x1 ) f (x2 , . . . xn ) mit f (x2 , . . . xn ) =
g2 (x2 ) . . . gn (xn ) folgt aus ∆g + λg = 0, dass
¡ ¢ ¡
¢
¡ ¢
¡
¢
¡ ¢ ¡
¢
g100 x1 f x2 , . . . xn + g1 x1 ∆f x2 , . . . xn + λg1 x1 f x2 , . . . xn = 0.
Es gelte f (x20 , . . . xn0 ) 6= 0. Dann gilt mit λ1 = λ +
∆f (x20 ,...xn
0)
f (x20 ,...xn
0)
auf R
g100 + λ1 g1 = 0.
Sei nun g1 (x10 ) 6= 0. Dann folgt auf Rn−1
¶
µ
g100 (x10 )
f = ∆f + (λ − λ1 ) f = 0.
∆f + λ +
g1 (x10 )
Die n-fache Anwendung dieses Schlusses ergibt nun die Behauptung. Die Beschränktheit von g liegt genau dann vor, wenn alle Funktionen gi beschränkt sind. Dies ist
genau dann der Fall, wenn λi ≥ 0 und wenn im Fall λi = 0 die Lösung von gi00 = 0
keine Komponente zur Basisfunktion xi hat. Damit folgt das Korollar.
2.4.7
Die eingespannte Saite
Natürlich sind endliche Summen von Lösungen einer linearen partiellen Differentialgleichung auch Lösungen dieser Gleichung. So ergeben endliche Summen von
faktorisierenden Lösungen schon eine recht reichhaltige Teilmenge der Lösungsmenge, wenn auch bei weitem noch nicht die ganze. Wir illustrieren dieses auf Fourier
zurückgehende Lösungsverfahren am Beispiel der 2-dim d’AWG mit Anfangs- und
Randvorgaben.
Welche nichttrivialen, stationären Lösungen von ¤A = 0 auf R × (0, L) erfüllen
für alle t ∈ R die Randbedingungen limx→0 A (t, x) = limx→L A (t, x) = 0? Solche Randbedingungen heißen homogene Dirichletsche Randbedingungen. Sei also
A (t, x) = f (t) g (x) . Dann gilt f 00 + c2 λf = 0 und g 00 + λg = 0 für ein λ ∈ R.
Die Randbedingung limx→0 g (x) = limx→L g (x) = 0 gilt nach Kap. 2.3.6 der Vor¡ nπ ¢2
lesung Math. Meth. 1 genau dann,
wenn
ein
n
∈
N
existiert,
sodass
λ
=
L
¡
¢
und g (x) = A · gn (x) := A sin nπ
x für ein A ∈ R. Somit besteht die Menge der
L
faktorisierenden Lösungen des obigen Randwertproblems aus genau den stehenden
Wellenlösungen
³ nπ ´
x
(2.19)
A (t, x) = (α cos (ω n t) + β sin (ω n t)) sin
L
, n ∈ N und α, β ∈ R. Unbeschränkte Lösungen werden hier von den
wobei ω n = c nπ
L
Randbedingungen unmöglich gemacht!
Die stehenden Wellenlösungen aus Gleichung (2.19) sind also die Eigenschwingungen der am Rand eingespannten Saite. Die Frequenzen ω n ∈ cπ
N heißen EiL
genfrequenzen der eingespannten Saite. Die Frequenz ω 1 heißt Grundfrequenz. Die
Menge der Eigenfrequenzen wird als das Spektrum der Eigenfrequenzen bezeichnet.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
95
Es besteht im Fall der eingespannten Saite aus allen positiv ganzzahligen Vielfachen
der Grundfrequenz.
Endliche Summen von Eigenschwingungen sind natürlich weitere Lösungen der
d’AWG auf R×(0, L) und erfüllen die Einspannbedingung am Rand. Sie faktorisieren
nicht und sind daher keine stehenden Wellen. Sie sind jedoch in t periodisch mit der
Periode 2π/ω 1 = 2L/c.
Welche Anfangsdaten sind mit endlichen Linearkombinationen realisierbar? Für
eine solche Lösung gilt für alle (t, x) ∈ R × (0, L)
³ nπ ´
A (t, x) =
x .
(An cos (ωn t) + Bn sin (ω n t)) sin
L
n=1
N
X
e der Funktion A auf ganz R × R. Die
Die rechte Seite ergibt eine Fortsetzung A
e
Anfangsdaten (u, v) von A ergeben sich zu
e (0, x) =
u (x) = A
³ nπ ´
x ,
An sin
L
n=1
N
X
e (0, x) =
v (x) = ∂t A
³ nπ ´
Bn ωn sin
x .
L
n=1
N
X
u und v sind daher ungerade trigonometrische Polynome der Periode 2L. (Summanden mit cos-Funktionen fehlen!) Durch den Grenzübergang zu N → ∞ können alle
ungeraden 2L-periodischen Funktion u ∈ C 2 (R) , v ∈ C 1 (R) punktweise gleichmäßig
konvergent approximiert werden. (Siehe Math. Meth. 1, Kap. 3.1.5, Satz 151)
Die Fourierkoeffizienten An und Bn zu vorgegebenen Daten (u, v) ∈ C 2 (R) ×
RL
C 1 (R) ergeben sich aus der Orthogonalitätsrelation27 0 gn gm (x) dx = L2 δ nm zu
An
Bn
27
Z
³ nπ ´
2 L
=
u (x) sin
x dx
L 0
L
Z L
Z L
³ nπ ´
³ nπ ´
2
2
=
v (x) sin
v (x) sin
x dx =
x dx.
Lωn 0
L
cnπ 0
L
Dies sind natürlich genau die Orthogonalitätsrelationen, welche die Koeffizienten der SinusReihe einer ungeraden L-periodischen Funktion regeln. (Siehe Math. Meth. 1) Ohne Rückgriff auf
RL
die komplexe Version der Fourierreihe kann man sie so zeigen: 0 gn gm (x) dx =
=
Z
0
=
=
L
2
L
sin
Z
1
0
Z 1
³ nπ ´
³ mπ ´
sin (nπx) sin (mπx) dx
x sin
x dx = L
L
L
0
[cos ((n − m) πx) − cos ((n + m) πx)] dx
⎧ ³
´¯1
⎪
sin((n−m)πx)
sin((n+m)πx) ¯
⎨
−
¯
L
(n−m)π
(n+m)π
0
³
´¯1
¯
2⎪
⎩
1 − sin((n+m)πx)
¯
(n+m)π
0
für n, m ∈ N mit n 6= m
für n = m ∈ N
=
L
δ nm
2
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
96
Nicht alle Daten (u, v) ∈ C 2 (R) × C 1 (R) sind dabei jedoch zulässig, sondern nur
ungerade und 2L-periodische! Dies impliziert etwa u00 (0) = u00 (L) = 0.
Damit ist eine Funktion A ∈ C 2 (R × (0, L)) mit ¤A = 0 zu beliebigen zulässigen
Anfangsvorgaben konstruiert. Sie wird als Lösung des Anfangs-Randwertproblems
der eingespannten Saite mit den Vorgaben (u, v) bezeichnet. Existiert eine weitere
davon verschiedene Lösung des Problems? Wie im Fall der Ganzraumlösung kann die
Energieerhaltung zum Beweis der Eindeutigkeit der Lösung herangezogen werden.
Das Energieintegral ist dabei auf das Intervall (0, L) zu beschränken. Die Randterme
bei der partiellen Integration verschwinden aufgrund der Einspannbedingung.
Der folgende Satz fasst das Ergebnis obiger Überlegung zusammen.
Satz 64 (Fouriers Lösungsformel) Seien u ∈ C 2 (R) und v ∈ C 1 (R) beide ungerade und 2L-periodisch. Dann existiert genau eine Funktion A ∈ C 2 (R × (0, L)) mit
¤A = 0, der Randbedingung limx→0 A (t, x) = limx→L A (t, x) = 0 für alle t ∈ R und
den Anfangsvorgaben A (0, x) = u (x) und ∂t A (0, x) = v (x) für alle x ∈ (0, L) . Für
diese Funktion gilt für alle (t, x) ∈ R × (0, L) mit ω n = n cπ
L
³ nπ ´
x ,
A (t, x) = lim
(An cos (ω n t) + Bn sin (ω n t)) sin
N→∞
L
n=1
Z
Z L
³ nπ ´
³ nπ ´
2 L
2
x dx und Bn =
x dx.
u (x) sin
v (x) sin
An =
L 0
L
cnπ 0
L
N
X
Ein paar Momentaufnahmen der Lösung
A (t, x) = cos (ω 1 t) g1 (x) + cos (ω 2 t) g2 (x)
während der ersten halben Periode zeigt Abbildung 2.12. Sie zeigt die Funktion
A (t, ·) zu den Zeiten ω1 t ∈ π4 · {0, 1, 2, 3, 4} . Die zeitliche Reihenfolge ist rot, grün,
blau, magenta, schwarz. Während der zweiten Halbperiode werden die Momentauf-
1.5
1
0.5
0
0
0.25
0.5
0.75
1
-0.5
-1
-1.5
Abbildung 2.12: Momentaufnahmen einer instationären Saitenschwingung
nahmen von Bild 2.12 zu den Zeiten ω1 t ∈
folge durchlaufen.
π
4
· {4, 5, 6, 7, 8} in umgekehrter Reihen-
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
97
Parabolisch ausgelenkte Saite
In Fouriers Lösungsformel können natürlich auch Funktionen u, v eingesetzt werden, die keine zulässigen Anfangsvorgaben im Sinne des Fourier’schen Lösungssatzes sind. Die Funktion A, die sich dabei ergibt, ist dann i.A. keine C 2 -Funktion, und
somit auch keine Lösung von d’Alemberts Wellengleichung, auch wenn ihr Graph
einer Welle noch so ähnlich sieht. Dazu ein warnendes Beispiel. Es verletzt die C 2 Voraussetzung an u lediglich in den Punkten L · Z, insbesonders also in den Randpunkten x = 0 und x = L der Saite. Ansonsten, insbesoders im Bereich (0, L) ist
u sogar eine C ∞ -Funktion. Dieser scheinbar unbedeutende Defekt macht sich jedoch
zu einer späteren Zeit im Bereich (0, L) bemerkbar: Die Funktion A ist in einigen
Punkten im inneren Bereich x ∈ (0, 1) keine C 2 -Funktion.
¡
¢
Sei L > 0. Für die Anfangsauslenkung u gelte u (x) = Lx 1 − Lx für alle x mit
0 < x < L. Für die Anfangsgeschwindigkeit v gelte v = 0. Daraus folgt Bn = 0 für
alle n ∈ N und
Z 1
4
n
x (1 − x) sin (nπx) dx =
An = 2
3 (1 − (−1) )
(nπ)
0
½ 8
für n ungerade
(nπ)3
=
.
0
für n gerade
R1
Wie ergibt sich das? So: (nπ)2 0 x (1 − x) sin (nπx) dx =
¾
Z 1
Z 1½
d
d2
d
= −
x (1 − x) 2 sin (nπx) dx =
[x (1 − x)]
sin (nπx) dx
dx
dx
dx
0
0
¸
Z 1∙
Z 1
d
d
sin (nπx) dx = −
(1 − 2x) sin (nπx) dx
(1 − 2x)
=
dx
dx
0
0
Z 1
2
2
(1 − cos (nπ)) =
(1 − (−1)n ) .
sin (nπx) dx =
= 2
nπ
nπ
0
Fouriers Formel ergibt somit die Funktion A mit
¢
¡
µ ¶3 X
∞
³
cos (2n + 1) π ct
2
x´
L
A (t, x) =
.
sin
(2n
+
1)
π
π n=0
L
(2n + 1)3
A enthält nur Terme mit den ungeradzahligen¡Vielfachen der
¢ Grundfrequenz ω 1 =
x
cπ/L. Jede der beitragenden Eigenmoden sin (2n + 1) π L ist gerade unter Spiegelung am Punkt x = L/2. Daher genügt es, die Funktion A im Bereich 0 < x <
L/2,¡ also im Bereich
einer halben Saitenlänge zu untersuchen. Jede der Funktionen
¢
cos (2n + 1) π ct
ist
gerade unter Spiegelung am Punkt t mit ct = L und ungerade
L
unter Spiegelung am Punkt t mit ct = L/2. Daher genügt es, die Funktion A im
Zeitbereich 0 < ct < L/2, also im Bereich der ersten Viertelperiode, zu untersuchen.
Überall sonst ergibt sich die Funktion aus ihre Symmetrie.
Figur 2.13 zeigt Momentaufnahmen der Saite während der ersten Viertelperiode
nach der Anfangszeit 0. Die Graphen lassen vermuten, dass A (t, ·) aus zwei Geradenstücken besteht, zwischen denen ein Parabelstück stetig differenzierbar einen
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
98
Übergang
¢ ¡ Dies
¢ ist tatsächlich so, denn es gilt A (t, x) = p (t, x) für alle
¡ herstellt.
L
L
(t, x) ∈ 0, 2c × 0, 2 mit
¢x
( ¡
für 0 < x < ct < L2
1 −³2 ct
L L
´
¡
¡
¢
¢
.
p (t, x) =
2
2
1
für 0 < ct < x < L2
− ct
+ Lx − 12
4
L
Der Beweis dafür wird gleich gegeben. Zuerst eine kurze Diskussion der Funktion A.
Für eine Zeit t während der ersten Viertelperiode, also für 0 < ct < L/2 ist die
Funktion A (t, ·) im Intervall (0, L) zwar eine C 1 -Funktion, in den beiden Punkten
x1 = ct und x2 = L − ct, dort wo der Übergang zwischen Gerade und Parabel liegt,
ist sie jedoch nicht zwei mal differenzierbar. Abseits der Nahtlinien x = ct bzw.
x = L − ct ist die Funktion A Lösung von d’Alemberts Wellengleichung. (Übung!)
Den Zonen linearer Ortsabhängigkeit von A entsprechen lineare Phasen der
Schwingung t 7→ A (t, x) an einem fest gewählten Ort x. Siehe Figur 2.14.
Abbildung 2.13: Schnappschüsse von A für ct/L = k/10 für k = 0, . . . 5
0.1
0.05
0
0
0.5
1
1.5
2
ct/L
-0.05
-0.1
Abbildung 2.14: Zeitverlauf der Auslenkung bei x = L/8
Die stetige Funktion ∂t A wird später in einem Kapitel über distributionelle Lösungen der Wellengleichung diskutiert. Sie erfüllt wie A die Randbedingungen der
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
99
eingespannten Saite. Es gilt
¡
¢
∞
³
−8c X sin (2n + 1) π ct
x´
L
.
sin
(2n
+
1)
π
∂t A (t, x) =
L n=0 [(2n + 1) π]2
L
¡
¢
Mit sin α − (2n + 1) π2 = − (−1)n cos α folgt daraus
die
¡ für
¢ um eine Viertelperiode
L
0
0
zeitverschobenen Funktion A mit A (t, x) = ∂t A t − 2c , x
¡
¢
∞
n
³
8c X (−1) cos (2n + 1) π ct
x´
0
L
A (t, x) =
.
sin
(2n
+
1)
π
L n=0
L
[(2n + 1) π]2
A0 wird als die Lösung der „gezupfte“ Saite bezeichnet.
¡ L ¢ ¡ L¢
Nun zum Beweis von A (t, x) = p (t, x) für alle (t, x) ∈ 0, 2c
× 0, 2 . Für
0 < τ < 1/2 sei fτ : R → R ungerade und periodisch mit der Periode 2 und es gelte
(
(1 −³2τ ) x
´ für 0 < x < τ
¡
¢
fτ (x) =
.
2
1
für τ < x < 12
− τ 2 + x − 12
4
Somit gilt p (t, x) = fτ (ξ) für t mit ct/L = τ ∈ (0, 1/2) und ξ = x/L ∈ (0, 1/2) . Die
Funktion fτ hat eine Fourierreihendarstellung der Art
Z 1
∞
X
cn sin (nπx) mit cn = 2
fτ (x) sin (nπx) dx.
fτ (x) =
0
n=1
Zum Beweis von A (t, x) = p (t, x) ist daher nachzurechnen, dass
½
0
für gerades n ∈ N
cn =
8
cos (nπτ ) für ungerades n ∈ N .
(nπ)3
Für gerades n ist der Integrand fτ (x) sin (nπx) ungerade unter Spiegelung am
Mittelpunkt 1/2 des Integrationsbereiches (0, 1) . Daher gilt cn = 0 für gerades n.
Für ungerades n ist der Integrand gerade unter Spiegelung bei 1/2. Daher gilt für
ungerades n ∈ N
Z 1/2
Z 1/2
cn
1
d
fτ (x) sin (nπx) dx = −
fτ (x)
=
cos (nπx) dx
4
nπ 0
dx
0
(
)
Z 1/2
1
− fτ (x) cos (nπx)|1/2
=
fτ0 (x) cos (nπx) dx .
0 +
nπ
0
¡ 1¢
Wegen fτ (0) = 0 = cos nπ 2 verschwindet der Randterm und es gilt
Z 1/2
nπ
cn =
fτ0 (x) cos (nπx) dx
4
0
Z τ
Z 1/2
0
=
fτ (x) cos (nπx) dx +
fτ0 (x) cos (nπx) dx
0
τ
Z 1/2
Z τ
1
d
=
(1 − 2τ ) cos (nπx) dx +
fτ0 (x)
sin (nπx) dx
nπ τ
dx
0
#
"
Z 1/2
1
1 − 2τ
1/2
fτ00 (x) sin (nπx) dx .
sin (nπτ ) +
f 0 (x) sin (nπx)|τ −
=
nπ
nπ τ
τ
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
Wegen fτ0
¡1¢
2
100
= 0 und fτ0 (τ ) = 1 − 2τ gilt für den Randterm
1/2
fτ0 (x) sin (nπx)|τ
= − (1 − 2τ ) sin (nπτ ) .
Somit folgt unter Verwendung von fτ00 (x) = −2 für x ∈ (τ , 1/2)
¯1/2
Z 1/2
8
8 cos (nπx) ¯¯
cn =
sin (nπx) dx = −
(nπ)2 τ
(nπ)3 ¯τ
µ
µ
¶¶
1
8
cos (nπτ ) − cos nπ
.
=
2
(nπ)3
¡
¢
Da n ungerade ist, folgt cos nπ 12 = 0. Also gilt
cn =
8
cos (nπτ ) .
(nπ)3
Vergleich zwischen Fouriers und d’Alemberts Lösungsformeln
Wie hängt Fouriers Lösungsformel von Satz 64 mit d’Alemberts Lösungsformel zusammen? Aus Satz 64 ist klar, dass jede Lösung des Problems der eingespannten
e=0
e ∈ C 2 (R2 ) auf R×(0, L) ist, für die ¤A
Saite die Einschränkung einer Funktion A
e = Af,g gilt. Wie begilt28 . Es muss also Funktionen f, g ∈ C 2 (R) geben, sodass A
stimmen sich f und g aus den Folgen der Fourierkoeffizienten (An ) , (Bn )? Bis auf
eine additive Konstante sind ja f und g durch die Anfangsdaten (u, v) und somit
auch durch die Fourierkoeffizienten eindeutig bestimmt.
Sei also für alle (t, x) ∈ R2
e (t, x) =
A
∞ ³
³ nπ ´
³ nπ ´
³ nπ ´´
X
x .
An cos c t + Bn sin c t sin
L
L
L
n=1
Daraus folgt
∞
´
´
³ nπ
³ nπ
1X
e
(x − ct) + Bn cos
(x − ct)
An sin
A (t, x) =
2 n=1
L
L
∞
³ nπ
³ nπ
´
´
1X
+
An sin
(x + ct) − Bn cos
(x + ct) .
2 n=1
L
L
e (t, x) = f (x − ct) + g (x + ct) genau dann, wenn für ein B0 ∈ R
Somit gilt A
∞
³ π ´
³ π ´i
1 Xh
f (x) =
An sin n x + Bn cos n x + B0 ,
2 n=1
L
L
∞
³ π ´
³ π ´i
1 Xh
An sin n x − Bn cos n x − B0 .
g (x) =
2 n=1
L
L
28
e (t, ·) für alle t ∈ R ungerade und 2L-periodisch.
Überdies ist A
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
101
Die Funktionen f, g ∈ C 2 (R) sind also 2L-periodisch. Es gilt g (x) = −f (−x) für
alle x ∈ R.
Sei umgekehrt f ∈ C 2 (R) 2L-periodisch und g (x) = −f (−x) . Dann erfüllt
Af,g für alle t ∈ R die Einspannbedingung Af,g (t, 0) = Af,g (t, L) = 0. Weiters
sind Af,g (0, ·) ∈ C 2 (R) und ∂t Af,g (0, ·) ∈ C 1 (R) ungerade und 2L-periodisch. (Als
Übung nachrechnen!) Somit ist die Einschränkung von Af,g auf R×(0, L) die Lösung
eines Anfangswertproblems der eingespannten Saite.
Reflexion eines Kurzzeitpulses
Mit d’Alemberts Lösungsformel ist die Reflexion eines scharf lokalisierten Pulses
an einem Intervallende zu sehen. Wie wird ein Berg, der auf das Ende zuläuft,
reflektiert? Bleibt es ein Berg?
Sei f ∈ C 2 (R) 2L-periodisch und g (x) = −f (−x) für alle x ∈ R. Sei f ≥ 0. Dann
gilt g ≤ 0 und die Lösung Af,g ist ein 2L-periodischer Kamm von Bergen, der nach
rechts wandert und ein 2L-periodischer Kamm von Tälern, der nach links wandert.
Bei scharfer Lokalisierung von f innerhalb vom physikalisch interpretierten Intervall
[0, L] befindet sich in diesem Intervall dann „meistens” jeweils nur eine Spitze oder
eine Senke. Wenn eine Spitze das Intervall [0, L] nach rechts verlässt, betritt eine
Senke das Intervall von rechts. Dies erweckt den Eindruck als würde die Spitze
am rechten Ende reflektiert und ihr dabei ein Vorzeichenwechsel aufgeprägt.29 Die
Abbildungen
¡ ¢ (2.15, 2.16, 2.17) zeigen drei Schnappschüsse für das Beispiel f (x) =
sin100 π2 x . Dabei gilt L = 1. Physikalisch interpretiert wird also nur der Bereich
0 < x < 1; der Rest ist mathematische Fiktion, die beim Denken hilft, und daher
zu würdigen ist. Aus Fouriers Lösungsformel lässt sich nämlich das Phänomen der
Reflexion nicht so einfach ablesen.
1
0.5
0
0
0.5
1
1.5
2
-0.5
-1
Abbildung 2.15: Ein Signal läuft von 0 nach 1
29
Es ist als würde die Lösung bei der Reflexion mit eiπ multipliziert. Daher die Rede vom
Phasensprung um π bei der Reflexion einer Welle an einem „festen” Ende. Physikalisch ist der
Vorgang ja recht plausibel, da die Halterung des Seiles, die das Ende fixiert, auf den Berg mit nach
unten gerichteten Kräften reagiert und einwirkt, die letztlich das nach oben ausgelenkte Seil nach
unten holen.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
102
0.75
0.5
0.25
0
0
0.5
1
1.5
2
-0.25
-0.5
-0.75
Abbildung 2.16: Die Reflexion beginnt
0.75
0.5
0.25
0
0
0.5
1
1.5
2
-0.25
-0.5
-0.75
Abbildung 2.17: Die Reflexion endet
2.4.8
Wärmeleitung am endlichen Intervall
Fourier wurde beim Lösen der Wärmeleitungsgleichung am endlichen Intervall auf
die nach ihm benannte Reihenentwicklung aufmerksam. Daher seien auch einige
Anfangs-Randwert-Probleme der WLG kurz behandelt.
Für die auf dem Streifen R>0 × (0, L) beschränkten, reellen Produktlösungen
u (t, x) = f (t) g (x) der Wärmeleitungsgleichung ∂t u = κ∂x2 u mit κ ∈ R>0 gilt für
alle (t, x) ∈ R>0 × (0, L)
2
u (t, x) = e−κq t (A cos qx + B sin qx)
mit beliebigen Konstanten A, B, q ∈ R. Welche dieser Lösungen erfüllen die Randvorgabe
lim u (t, x) = lim u (t, x) = 0
x→0
x→L
für alle t > 0? Es sind jene mit A = 0 und q ∈ Lπ N. Durch Überlagern solcher Lösungen ergibt sich eine Lösung mit allgemeinerer Anfangsvorgabe und verschwindenden
Randwerten. Was genau soll unter einer Lösung dieses Anfangsrandwertproblems
verstanden werden?
Definition 65 Sei u : R≥0 × [0, 1] → R stetig und auf Ω = R>0 × (0, 1) einmal
nach dem ersten und zweimal nach dem zweiten Argument partiell differenzierbar.
Sei f : [0, L] → R stetig und stückweise C 1 . Es gelte f (0) = f (L) = 0. Die Funktion u heißt Lösung des Anfangsrandwertproblems der Wärmeleitungsgleichung zur
Anfangsvorgabe f und zur homogenen Dirichletschen Randvorgabe, falls
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
103
• u (0, x) = f (x) für alle x ∈ [0, L] ,
• u (t, 0) = u (t, L) = 0 für alle t > 0,
• ∂t u (t, x) = κ∂x2 u (t, x) für alle (t, x) ∈ Ω.
Der folgende Satz klärt, dass zu jedem zulässigen f genau eine Lösung u existiert,
und er gibt auch gleich noch eine Lösungsformel an.
Satz 66 Sei f : [0, L] → R stetig und stückweise C 1 mit f (0) = f (L) = 0. Dann
existiert genau eine Lösung u der Wärmeleitungsgleichung zur Anfangsvorgabe f
und homogener Dirichletscher Randvorgabe. Es gilt u|Ω ∈ C ∞ (Ω : R) und für alle
(t, x) ∈ Ω
u (t, x) =
∞
X
k=1
2
−κ( kπ
t
L )
ck e
Z
³ x´
³ x´
2 L
mit ck =
dx.
sin kπ
f (x) sin kπ
L
L 0
L
Beweis. Siehe Kap. III, §6.4.3-7 in Vol. 2 von [3]. Die Eindeutigkeit der Lösung
kann wie bei der Laplacegleichung über ein Maximumsprinzip
gezeigt werden.
¡
¢
x
x
Beispiel: Für die Anfangsvorgabe f (x) = L 1 − L auf [0, L] folgt wie beim
analogen Beispiel zur schwingenden Saite
2 κt
µ ¶3 X
∞
³
e−((2n+1)π) L2
2
x´
u (t, x) =
.
sin (2n + 1) π
π n=0 (2n + 1)3
L
Figur 2.18 zeigt die Partialsumme dieser Fourierreihenlösung bis zu n = 5.
Abbildung 2.18: Lösung der WLG mit parabolischer Anfangsbedingung
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
104
Wärmeleitungskerne - Jacobis Thetafunktion
2
Für q ∈ R sei uq (t, x) = e−κq t eiqx auf R>0 × R. Für welche dieser komplexen,
beschränkten Produktlösungen von ∂t u (t, x) = κ∂x2 u (t, x) gilt
uq (t, 0) = uq (t, L) ,
∂x uq (t, 0) = ∂x uq (t, L)
für alle t > 0, die sogenannte periodische Randbedingung? Dies ist genau dann der
· Z.
Fall, wenn q ∈ 2π
L
Eine Lösung u : R>0 × R → R der Wärmeleitungsgleichung ∂t u = κ∂x2 u zu Lperiodischen Randbedingung und L-periodischer Anfangsvorgabe30 f ∈ C 1 (R : R)
ergibt sich analog zum Fall der Dirichlet Randbedingung durch Überlagerung jener
uq , die L-periodisch sind.
Satz 67 Sei f ∈ C 1 (R : R) eine L-periodische Funktion und u : R>0 ×R → R erfülle
u (t, x) =
X
2
−κ(k 2π
t ik 2π
x
L )
L
ck e
e
k∈Z
1
mit ck =
L
Z
L
2π
e−ik L y f (y) dy.
(2.20)
0
Dann gilt u ∈ C ∞ (R>0 × R : R) und
• ∂t u = κ∂x2 u,
• u (t, ·) ist L-periodisch für alle t > 0,
• limt↓0 u (t, x) = f (x) für alle x ∈ R.
Beweis. Da nach dem Beweis von Satz 3 in §23 von Ref. [4] die Fourierreihe von
f ∈ C 1 (R : R) in jedem Punkt x ∈ R absolut konvergent ist, insbesondere also
X
|ck | < ∞
k∈Z
gilt, folgt die (t, x)-unabhängige Majorisierung der Fourierreihe von u (t, x)
¯
¯
¯ X
¯X
2
2π
¯
−κ(k L ) t ik 2π
x¯
L
ck e
e
|ck | < ∞.
¯≤
¯
¯
¯
k∈Z
k∈Z
Daher konvergiert die Fourierreihe auf R>0 ×R gleichmäßig gegen eine stetige Grenzfunktion u. (Satz 23, Kap. II.4.2 in [1]) Zudem ist sie in jedem Punkt (t, x) absolut
konvergent.
Die Reihen, die durch gliedweises mehrmaliges Differenzieren der Fourierreihe
(2.20) entstehen, konvergieren auch gleichmäßig. Daher (Satz 35, Kap. II.7.1, Ref.
[1]) stimmen die (mehrmaligen) Ableitungen von u nach x und t mit den Grenzfunktionen der entsprechend gliedweise abgeleiteten Reihen überein. Somit kann u
30
Es genügt auch f stetig und stückweise C 1 vorauszusetzen.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
105
beliebig oft stetig differenziert werden. Jeder Summand der Fourierreihe (2.20) erfüllt aber die Wärmeleitungsgleichung. Somit gilt ∂t u = κ∂x2 u. Die L-Periodizität
von u (t, ·) folgt aus der Periodizität der einzelnen Summanden.
Nun zur Erfüllung der Anfangsvorgabe. Diese folgt für alle x ∈ R nach Satz 24
in Kap. II.4.3 von Ref. [1] aus der gleichmäßigen Konvergenz der Fourierreihe von u
durch gliedweise Ausführung des Grenzübergangs limt↓0 .
X
X
2π 2
2π
2π
lim u (t, x) =
lim ck e−κ(k L ) t eik L x =
ck eik L x = f (x)
t↓0
k∈Z
t↓0
k∈Z
Die auf [0, L] gleichmäßig-absolute Konvergenz der Funktionenreihe
X
2π 2
2π
e−κ(k L ) t eik L (x−y) f (y)
y 7→
k∈Z
ermöglicht die folgende Vertauschung von Summe und Integration (siehe Satz 27,
Kap. VI.3.1 in Ref. [2]) für alle (t, x) ∈ R>0 × R
Z L
X
2 1
2π
−κ(k 2π
t
)
L
u (t, x) =
e
eik L (x−y) f (y) dy
L 0
k∈Z
Z LX
Z L
2
2π
1
−κ(k 2π
t
ik
(x−y)
)
L
e
e L
f (y) dy =
K (t, x − y) f (y) dy.
=
L 0 k∈Z
0
Die durch die Fourierreihe unter dem Integral definierte Funktion K : R>0 ×R →
R heißt periodischer Wärmeleitungskern. Sie ist eine C ∞ -Funktion. Bei festem t
ist K (t, ·) eine L-periodische Funktion. K hängt mit Jacobis Thetafunktion Θ :
C × H>0 → C folgendermaßen zusammen
µ
¶
X
X iπk2 4πκit
2
2π
x
4πκ
x
−κ(k 2π
t
ik
x
2πik
)
2
L
L
LK (t, x) =
,i 2 t ,
e
e L =
e
e L =Θ
L
L
k∈Z
k∈Z
wobei für alle z ∈ C und für alle τ ∈ H>0 = {z ∈ C : =z > 0} gilt
Θ (z, τ ) =
X
iπk2 τ 2πikz
e
e
=1+2
k∈Z
∞
X
2
eiπk τ cos (2πkz) .
k=1
Bei festem τ ∈ H>0 ist Θ (·, τ ) auf ganz C holomorph und bei festem z ∈ C ist
Θ (z, ·) auf ganz H>0 holomorph.
P
−πk2 t
Figur (2.19) zeigt (x, t) 7→ Θ (x, it) = 1 + 2 ∞
cos (2πkx) . Es gilt
k=1 e
½
∞ für x ∈ Z
lim Θ (x, it) =
0 sonst
t&0
und limt→∞ Θ (x, it) = 1 für alle x ∈ R. Die anfängliche Temperaturverteilung ist ein
δ-Kamm, lokalisiert auf Z. Er gleicht sich zu einer konstanten Temperaturverteilung
aus. Dabei gilt für alle t > 0
Z 1
Z 1
∞
X
−πk2 t
Θ (x, it) dx = 1 + 2
e
cos (2πkx) dx = 1.
0
k=1
0
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
3
106
Theta
2.5
2
1.5
1
0.5
0.75
1
0.5
0.25
0 0
0.2
0.4
0.6
0.8
1
t
Abbildung 2.19: Θ (x, it) für 0 < x < 1 und 0.1 < t < 1
Ungerade Anfangsvorgaben
Sei f ∈ C 1 (R : R) eine ungerade L-periodischeFunktion. Für die von Formel (2.20)
gegebene Lösung u der Wärmeleitungsgleichung gilt für alle (t, x) ∈ R>0 × R
Z L
K (t, x − y) f (y) dy.
u (t, x) =
0
Da K (t, ·) und f beide L-periodisch sind, ist dies auch y 7→ K (t, x − y) f (y) .
Daraus folgt für (t, x) ∈ R>0 × R
Z L/2
K (t, x − y) f (y) dy
u (t, x) =
−L/2
0
=
Z
−L/2
Z 0
= −
=
Z
0
K (t, x − y) f (y) dy +
Z
0
K (t, x + z) f (−z) dz +
L/2
L/2
K (t, x + y) f (−y) dy +
Z
L/2
Z
Z
K (t, x − y) f (y) dy
L/2
0
L/2
K (t, x − y) f (y) dy
0
L/2
Z
K (t, x − y) f (y) dy
L/2
K (t, x + y) f (y) dy +
K (t, x − y) f (y) dy
= −
0
0
Z L/2
=
(K (t, x − y) − K (t, x + y)) f (y) dy.
0
Da K (t, ·) gerade ist, folgt
Z L/2
u (t, −x) =
(K (t, −x − y) − K (t, −x + y)) f (y) dy = −u (t, x) ,
0
¡ L¢
¡
¢
¡ L¢
L
Insbesondere
also
u
(t,
0)
=
0
und,
wegen
u
t,
=
−u
t,
−
=
−u
t, 2 , auch
2
2
¡ L¢
u t, 2 = 0. Die Funktion u löst somit auf [0, L/2] das Anfangswertproblem mit
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
107
homogenen Dirichletrandvorgaben und Anfangsvorgabe f. Der Wärmeleitungskern
des homogenen Dirichletproblems ist also die Funktion D : R>0 × R × R → R mit
D (t; x, y) = K (t, x − y) − K (t, x + y) .
Für alle (t, x) ∈ R>0 × R gilt daher
u (t, x) =
Z
L/2
D (t; x, y) f (y) dy.
0
Es folgt somit für L = 2π und κ = 1
∙ µ
¶
µ
¶¸
x−y t
x+y t
1
Θ
,i
−Θ
,i
D (t; x, y) =
2π
2π
π
2π
π
∞
1 X −k2 t
=
e
[cos (k (x − y)) − cos (k (x + y))]
π k=1
=
1 X −k2 t
e
[cos (k (x − y)) − cos (k (x + y))]
π k=1
∞
2 X −k2 t
=
e
sin (kx) sin (ky) .
π k=1
∞
Figur (2.20) zeigt Schnappschüsse des Wärmeleitungskerns D (t, x, y) für y = π/2
und 0 < x < π zu den Zeiten t = π/1000, t = π/100 und t = π/10.
Abbildung 2.20: D (t, x, y = π/2) für t = π/1000, t = π/100, t = π/10
Eine unstetige Anfangsvorgabe
Welche Funktion produziert Fouriers Lösungsformel (2.20) wenn die Funktion f
nicht von C 1 -Typ ist? Was passiert, wenn f gar unstetig ist? Erkunden wir an einem
Beispiel welche Probleme entstehen. Sei f : R → R die 2π-periodische ungerade
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
108
Funktion mit f (x) = 1 für x ∈ (0, π) . Ergibt Formel (2.20) eine periodische Lösung
der Wärmeleitungsgleichung auf R>0 × R?
Aus dem Kapitel über Fourierreihen ist uns bekannt, dass für alle x ∈ R gilt
4 X sin ((2k + 1) x)
.
f (x) =
π k=0
2k + 1
∞
Dass diese Reihe für alle x konvergiert,
verdankt sie den Vorzeichenwechseln der
Pn
1
Zahlen sin ((2k + 1) x) , denn k=0 2k+1 → ∞ für n → ∞. Die Fourierreihe von f
konvergiert also in x ∈
/ π · Z nicht absolut. Sie konvergiert auch nicht gleichmäßig
auf einem Intervall, das die Sprungstelle 0 von f enthält.
Formel (2.20) mit L = 2π und κ = 1 ergibt für alle (t, x) ∈ R>0 × R
4 X e−(2k+1) t
sin ((2k + 1) x)
u (t, x) =
π k=0 2k + 1
∞
2
(2.21)
Tatsächlich sorgt das exponentielle Abklingen der Fourierkoeffizienten dafür, dass die
Reihe von u (t, x) in jedem Streifen {(t, x) : t ≥ ε > 0, x ∈ R} gleichmäßig-absolut
konvergiert, und dass u ∈ C ∞ (R>0 × R : R) . Durch gliedweises Differenzieren folgt
weiter, dass ∂t u = ∂x2 u.
Unbeantwortet bleibt hier die Frage, ob für alle x ∈ R
lim u (t, x) = f (x)
t↓0
gilt. Da die Reihe (2.21) für festes x ∈ (0, 1) für kein ε > 0 im Intervall 0 <
t < ε gleichmäßig konvergiert, ist der Grenzübergang t → 0 nicht so ohneweiteres
gliedweise auszuführen. Figur (2.21) zeigt die Partialsumme von u bis k = 40 und
lässt vermuten, dass limt↓0 u (t, x) = f (x) .
Abbildung 2.21: Zerfall der Rechtecksverteilung
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
2.4.9
109
Die eingespannte Rechteckmembran
Für welche stationären Lösungen von ¤A = 0 auf R × (0, a) × (0, b) gilt, dass die
Ortsfunktion g in kartesischen Koordinaten faktorisiert und die homogenen Randbedingungen
lim g (x, y) = lim g (x, y) = 0 für alle y ∈ (0, b)
x→0
x→a
lim g (x, y) = lim g (x, y) = 0 für alle x ∈ (0, a)
y→0
y→b
erfüllt? Sei also A (t, x, y) = f (t) g1 (x) g2 (y) mit (g1 , g2 ) ∈ C 2 ((0, a)) × C 2 ((0, b)) .
Wir wissen, dass A die Wellengleichung genau dann löst, wenn Zahlen λ, λ1 , λ2 ∈ R
mit λ = λ1 + λ2 existieren, sodass
00
00
f 00 + c2 λf = 0, g1 + λ1 g1 = 0, g2 + λ2 g2 = 0.
Die Randbedingungen an g1 und g2 sind genau dann erfüllt, wenn A, B ∈ R und
n, m ∈ N existieren, sodass
³ π ´
2
λ1 = (nπ/a) , g1 (x) = A sin n x ,
³ aπ ´
2
λ2 = (mπ/b) , g2 (y) = B sin m y .
b
Damit sind die gesuchten kartesisch faktorisierenden stationären Lösungen, die Eigenschwingungen der am Rand eingespannten Rechteckmembran, genau die Funktionen A : R × (0, a) × (0, b) → R mit
³ π ´
³ π ´
A (t, x, y) = [An,m cos (ωn,m t) + Bn,m sin (ω n,m t)] sin n x sin m y .
a
b
Dabei gilt n, m ∈ N und für die Eigenfrequenzen
r³ ´
n 2 ³ m ´2
ω n,m = cπ
+
.
a
b
Die Abbildungen (2.22), (2.23) zeigen die Eigenmoden
³ π ´
³ π ´
gn,m (x, y) = sin n x sin m y
a
b
für n = 1 = m und für n = 1, m = 2 als Funktion von x/a und y/b. Die Nullstellenmengen, oder Knotenlinien, der Eigenmoden gn,m sind Geradenstücke. Sie trennen
jeweils Gebiete voneinander, auf denen gn,m unterschiedliches Vorzeichen hat.
Falls zwei Eigenmoden dieselbe Eigenfrequenz besitzen, sind ihre Linearkombinationen auch Eigenmoden. Diese besitzen dann kompliziertere Knotenlinien. Abbildung 2.24 zeigt für a = b die Eigenmode g1,3 + g3,1 . Abbildung 2.25 zeigt die
Mode g1,3 − 23 g3,1 und Abbildung 2.26 zeigt ihre Knotenlinien. Weitere Beispiele für
Knotenlinien, die alle auf ein Buch von Pockels über partielle Differentialgleichungen
aus dem Jahr 1891 zurückgehen, sind in Kap. 10.4 von [9] zu finden. Interessant ist
auch das Übungsbeispiel 3 zu Kapitel 10.4 von [9].
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
1
0.75
0.5
0.25
0
0.25
0.25
0.5
0.5
0.75
0.75
1
1
Abbildung 2.22: Die Eigenmode g1,1
1
0.5
0
0
0.25
0.25
0.5
0.5
-0.5
0.75
0.75
1
1
Abbildung 2.23: Die Eigenmode g1,2
1
0.5
1
0.75
0.5
0.25
0
-0.5
0
0.25
0.5
0.75
1
-1
-1.5
-2
Abbildung 2.24: Die Eigenmode g1,3 + g3,1
110
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
111
Abbildung 2.25: Die Eigenmode g1,3 − 23 g3,1
Abbildung 2.26: Die Knotenlinien von g1,3 − 23 g3,1
Die Nullstellenmengen der Eigenmoden von transversal schwingenden Platten,
für deren Auslenkung die Gleichung 4. Ordnung (κ2 ∂t2 − c2 ∆2 ) A = 0 gilt, sind
als Chladnische Klangfiguren31 zu beobachten. Zeitgenossen Chladnis waren fasziniert von seinem Experiment, das Töne sichtbar macht. Der gelernte Jurist Chladni
tingelte mit seinen Demonstrationen durch die Lande und konnte davon leben. Napoleon, der sich aus seiner Jugend ein Faible für Mathematik und Physik erhalten
hatte, setzte ein Preisgeld auf die Berechnung von Klangfiguren aus. Das Problem
war jedoch stabiler als Napoleons eroberungsfinanzierte Diktatur. Erst 1815 - Napoleon schlief schon auf Helena seinen Machtrausch aus - wurde der französischen
Mathematikerin Sophie Germain32 der Preis zuerkannt.
Ähnlich wie bei der eingespannten Saite können Eigenschwingungen linear kombiniert werden. Damit lassen sich sehr allgemeine Anfangsvorgaben für A (0, ·) ,
∂t A (0, ·) auf (0, a) × (0, b) erfüllen, soferne sie sich mit den Randbedingungen vertragen. Die Konstanten An,m und Bn,m bestimmen sich dabei aus den Fourierreihen
der Anfangsvorgaben. Falls Frequenzen ω n,m , die zur Fourierreihe allgemeiner Anfangsvorgaben beitragen, zueinander in einem irrationalen Verhältnis stehen, ist die
31
32
http://de.wikipedia.org/wiki/Chladnische_Klangfigur
http://de.wikipedia.org/wiki/Sophie_Germain
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
112
zugehörige Lösung A in t nicht periodisch.
Mit welchen Frequenzen schwingt eine Membran, die am Rand zeitunabhängige,
aber inhomogene Randvorgaben erfüllt? Die folgenden Lösungen entsprechen der
physikalischen Vorstellung, dass die Membran um eine statische Ruhelage schwingt.
Sei g : R = [0, a] × [0, b] → R die Lösung des DRWP ∆g = 0 auf R mit
Randvorgabe g|∂R = h, wobei h : ∂R → R stetig sei. Dann sind die Funktionen
A : R × R → R mit
A (t, x) = [A cos (ω n,m t) + B sin (ωn,m t)] gn,m (x, y) + g (x, y)
Lösungen von ¤A = 0 mit A (t, ·)|∂R = h. Eine inhomogene statische Vorspannung
der Rechteckmembran ändert also nichts an ihren Eigenfrequenzen. Im folgenden
Abschnitt wird die Konstruktion der Lösungsabbildung h 7→ g [h] für das DRWP zu
∆g = 0 auf Rechtecken beschrieben.
2.4.10
∆g = 0 im Rechteck mit inhomogener Randvorgabe
Sei Ω ⊂ Rn offen und wegzusammenhängend. Eine Funktion g ∈ C 2 (Ω : R) mit
∆g = 0 heißt harmonisch. Seien g1 , g2 ∈ C 2 (R) . Dann ist die Funktion g mit
g (x, y) = g1 (x) g2 (y) genau dann harmonisch, wenn ein λ ∈ R existiert, sodass
g100 + λg1 = 0 und g200 − λg2 = 0. Für λ > 0 ist g1 eine trigonometrische Funktion und
g2 eine Hyperbelfunktion. Für λ < 0 ist g1 hyperbolisch und g2 trigonometrisch. Für
λ = 0 sind g1 , g2 inhomogen linear.
Seien nun a, b ∈ R>0 . Welche der kartesisch faktorisierenden harmonischen Funktionen g 6= 0 erfüllen die folgenden Vorgaben auf dem Rand des Rechtecks R =
(0, a) × (0, b)?
• g (0, y) = 0 = g (a, y) für alle y ∈ (0, b) ,
• g (x, 0) = 0 für alle x ∈ (0, a) ,
• g (x, b) = f (x) für alle x ∈ (0, a) , wobei f ∈ C 2 (R) ungerade und 2aperiodisch ist.33
¡ ¢2
Die erste Randbedingung gilt genau dann, wenn λ = kπ
und
a
¶
µ
kπx
g1 (x) = B sin
a
für ein k ∈ N und ein B ∈ R. Die zweite Randbedingung gilt genau dann, wenn
¶
µ
kπy
g2 (y) = A sinh
a
für ein k > 0 und ein A ∈ R. Für alle endlichen Linearkombinationen der Funktionen
uk : R2 → R mit
¶
µ
¶
µ
kπy
kπx
sinh
uk (x, y) = sin
a
a
33
Daraus folgt f (0) = f (a) = 0.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
113
gelten somit die ersten beiden Randvorgaben. Die dritte Randvorgabe ergibt sich
aus der Sinusreihenentwicklung der ungeraden, 2a-periodischen Funktion f. Und
zwar so. Sei (bk )k∈N eine reelle Folge und sei
¡ ¢
¡ ¢
∞
X
sin kπx
sinh kπy
a
¡ kπb ¢ a .
g (x, y) =
bk
sinh a
k=1
Die dritte Randvorgabe gilt genau dann, wenn
¶
µ
Z
2 a
kπx
f (x) dx.
sin
bk =
a 0
a
Mitteilung ohne Beweis: Die Folge der Partialsummen von g konvergiert auf dem
Abschluss des Rechtecks R gegen eine stetige Funktion, die auf R harmonisch ist.
Außerhalb des Rechtecks konvergiert die Funktionenfolge g nicht unbedingt.
Lässt sich auch eine Lösung zu einer unstetigen Randvorgabe finden? Hier ein
Beispiel. Für g : R → R gelte ∆g = 0 in R. Die Randvorgaben brauchen nur im
Sinne von Limiten zu gelten. Die dritte Randvorgabe etwa wird zu
lim g (x, y) = 1 für alle x ∈ (0, a)
y↑b
modifiziert. Man wird also die unstetige 2a-periodische ungerade Funktion mit f (x) =
1 für 0 < x < a in eine Sinusreihe entwickeln. Es ergibt sich bk = 0 für gerades k
und bk = 4/kπ für ungerades k. Also folgt
¡ ¢
¡ ¢
∞
sinh kπy
4 X 1 sin kπx
a
¡ kπb ¢ a .
g (x, y) =
π k=0 2k + 1
sinh a
Die Abbildung (2.27) zeigt die Partialsumme dieser Lösung bis k = 20.
Abbildung 2.27: ∆g = 0 mit unstetiger Randvorgabe
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
2.4.11
114
(∆Ω + λ) g = 0 mit g = 0 auf ∂Ω
Bei der Berechnung der stationären Lösungen von Saite und Rechtecksmembran
wurde klar, dass die Helmholtzgleichung ∆g + λg = 0 auf einem Intervall oder
Rechteck zusammen mit der homogenen Dirichletschen Randbedingung nur für bestimmte Werte λ nichtriviale Lösungen g hat. Alle diese Werte λ sind positiv. Dies
ist kein seltsamer Zufall, wie nun klar gemacht werden soll.
n
Definition
¡ ¢ 68 Sei Ω ⊂ R offen, beschränkt und stückweise glatt berandet. Sei
0
V = C Ω und V0 ⊂ V sei die Teilmenge aller stetigen Funktionen f : Ω → R mit
1. f = 0 auf ∂Ω,
2. f |Ω ∈ C 2 (Ω)
3. die Ableitungen ∂i f, ∂i ∂j f haben eine stetige Fortsetzungen nach Ω für alle i, j.
Satz 69 Erfüllt eine Funktion g ∈ V0 \ 0 für ein λ ∈ R die Gleichung −∆g = λg
auf Ω, dann folgt λ > 0.
Beweis. Es gilt div [g · grad (g)] = |grad (g)|2 + g · ∆g = |grad (g)|2 − λg 2 .
Integration über Ω mit dem Satz von Gauß ergibt wegen g = 0 auf ∂Ω
Z
Z
2 n
0=
|grad (g)| d x − λ g 2 dn x.
Ω
Ω
R
R
Daraus folgt wegen g 6= 0, dass λ = Ω |grad (g)|2 dn x/ Ω g 2 dn x. Da g am Rand
verschwindet, aber nicht die 0-Funktion ist, gilt grad (g) 6= 0 und somit λ > 0.
Die Zahlen λ, für die ein g ∈ V0 \ 0 existiert, sodass −∆g = λg auf Ω gilt, heißen
Eigenwerte von −∆Ω mit homogenen Dirichletschen Randbedingungen. Eine Funktion g ∈ V0 \0 mit −∆g = λg auf Ω heißt Eigenfunktion von ∆ auf Ω zur homogenen
Dirichletschen Randvorgabe. Warnung: Es gibt andere Arten von Randwertproblemen für −∆Ω , die nicht zu ausschließlich positiven Eigenwerten führen.
Die sich abzeichnende Analogie zu Eigenwertproblemen der linearen Algebra
reicht weiter. Setze für u, v ∈ V
Z
hu, vi =
u · vdn x.
Ω
Die Abbildung h·, ·i : V ×V → R ist ein Skalarprodukt von V. (Bilinear, symmetrisch,
hu, ui ≥ 0 und hu, ui = 0 genau dann, wenn u = 0.) Es gilt ∆ (V0 ) ⊂ V und ∆ ist
symmetrisch im folgenden Sinn.
Satz 70 Für alle u, v ∈ V0 gilt hu, ∆vi = h∆u, vi oder explizit
Z
Z
n
u (∆v) d x =
(∆u) vdn x.
Ω
Ω
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
115
Beweis. Für u, v ∈ V gilt div [u · grad (v) − v · grad (u)] = u∆v − v∆u auf Ω.
Integration mit dem Satz von Gauß ergibt wegen u = v = 0 auf ∂Ω die Behauptung.
Eigenvektoren einer symmetrischen linearen Abbildung zu verschiedenen Eigenwerten sind orthogonal. Überträgt sich das auf den Laplaceoperator mit homogenen
Dirichletschen Randbedingungen?
Satz 71 Sind f und g Eigenfunktionen von −∆ auf Ω zu verschiedenen Eigenwerten, dann gilt hf, gi = 0.
Beweis. Es gilt nach Voraussetzung −∆f = λf und −∆g = μg auf Ω für ein
Paar (λ, μ) ∈ R2 mit λ 6= μ. Daraus folgt f ∆g−g∆f = (λ − μ) f ·g. Integration über
Ω ergibt (λ − μ) hf, gi = hf, ∆gi − h∆f, gi = 0. Aus λ − μ 6= 0 folgt die Behauptung.
Aus der Orthogonalität von zwei Eigenmoden f, g zu verschiedenen Eigenwerten
folgt, dass die Funktion f g nicht auf ganz Ω die Ungleichung fg ≥ 0 erfüllen kann.
Genauso ist fg ≤ 0 ausgeschlossen.
Die Analogie zu den Eigenwertproblemen der linearen Algebra geht noch viel
weiter als dies hier ausgebreitet ist. Aus den Eigenvektoren von −∆Ω mit homogener Dirichletscher Randvorgabe lässt sich eine Orthonormalbasis des Raumes aller
Funktionen f : Ω → R bilden, für die |f |2 über Ω integrierbar ist. Damit lässt
sich die Fouriersche Lösungsmethode der eingespannten Saite auf offene, beschränkte und stückweise glatt berandete Definitionsbereiche Ω ⊂ Rn von Lösungen der
dAWG verallgemeinern. Siehe etwa Kap.V, §15, Vol 2 von [3].
2.4.12
Radiale Separation von (∆ + λ) g = 0 auf R3 \ 0
Parameterreduktion: Für g ∈ C 2 (Rn \ 0) und λ ∈ R \ 0 gilt (∆ + λ) g =³0 genau
´
p
dann, wenn für die gestreckte Funktion h : Rn \ 0 → R mit g (x) = h
|λ|x
die Gleichung (∆ + λ/ |λ|) h = 0 gilt. Es genügt also die drei Fälle λ ∈ {−1, 0, 1}
der Helmholtzgleichung zu studieren. Im Folgenden wird der Fall n = 3 im Detail
betrachtet.
Sei 0 6= g ∈ C 2 (R3 \ 0) und λ ∈ R. Es existiere eine Funktion f ∈ C 2 (R>0 ) und
eine dehnungsinvariante34 Funktion Ye ∈ C 2 (R3 \ 0) , sodass
g (x) = f (|x|) Ye (x)
für alle x ∈ R3 \ 0 gilt. Ist Φ = (r, θ, φ) die sphärischen Karte, dann existiert
eine Funktion Y : (0, π) × (0, 2π) → R, sodass auf dem Definitionsbereich U der
sphärischen Karte Ye = Y (θ, φ) gilt. Auf U gilt somit
g = f (r) Y (θ, φ) .
34
Es gilt also Ye (αx) = Ye (x) für alle α > 0.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
116
¡
¢
Daraus ergibt sich mit der Kurznotation (∂r , ∂θ , ∂φ ) = ∂1Φ , ∂2Φ , ∂3Φ auf U
½
∙
¸
¾
1
2
1
1
2
2
∆g + λg =
∂r + ∂r + 2
∂θ sin (θ) ∂θ +
∂ +λ g
r
r sin (θ)
sin2 (θ) φ
∙
¸
2 0
f (r)
00
= f (r) + f (r) Y (θ, φ) + 2 ∆S2 Y (θ, φ) + λf (r) Y (θ, φ) .
r
r
Hier wird abgekürzt35
∆S2
¸
1
1
2
∂θ sin (θ) ∂θ +
=
∂ .
sin (θ)
sin2 (θ) φ
∙
Multiplikation mit r2 und Division mit Y (θ0 , φ0 ) 6= 0 zeigt dann, dass ∆g +λg =
0 auf U die Gleichung
∙
¸
2 0
2
00
(2.22)
r f (r) + f (r) + λf (r) + μf (r) = 0
r
auf R>0 mit
μ=
(∆S2 Y ) (θ0 , φ0 )
Y (θ0 , φ0 )
impliziert. Weiters folgt
∆S2 Y (θ, φ) +
h
r02 f 00 (r0 ) +
2 0
f
r0
i
(r0 ) + λf (r0 )
f (r0 )
Y (θ, φ) = 0.
Spezialisierung auf (θ0 , φ0 ) ergibt dann
Sei nun h : R>0
∆S2 Y (θ, φ) − μY (θ, φ) = 0.
√
→ R so, dass f (r) = h (r) / r für alle r > 0. Dann folgt
¸
∙
√
1 0
1
0
f (r) =
h (r) r − √ h (r) .
r
2 r
Daher gilt
∙
¸0
r1/2
3/2 0
r h (r) −
h (r)
2
∙
¸
3 1/2 0
h (r) r1/2 0
3/2 00
r h (r) + r h (r) − 1/2 −
h (r)
=
2
4r
2
∙
¸
h0 (r) h (r)
3/2
00
h (r) +
.
−
= r
r
4r2
¡ 2 0 ¢0
r f (r) =
35
Das ist der sphärische Kartenausdruck des Laplace-Beltramioperators zur Riemann’schen Geometrie der 2-Sphäre. In der Quantenmechanik tritt −~2 ∆S 2 als „Operator des Drehimpulsquadrats” auf.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
117
Wegen r2 f 00 (r) + 2rf 0 (r) = ∂r (r2 ∂r f ) (r) ist somit Gleichung 2.22 äquivalent zu
¶
µ
μ − 14
1 0
00
h (r) = 0
(2.23)
h (r) + h (r) + λ +
r
r2
auf R>0 . Der folgende Satz hält dieses Zwischenergebnis fest.
Satz 72 Sei g ∈ C 2 (R3 \ 0) nicht die 0-Funktion und sei λ ∈ R. Es gebe√Funktionen
h : R>0 → R und Y : (0, π) × (0, 2π) → R, sodass g = Y (θ, φ) h (r) / r auf dem
Definitionsbereich U der sphärischen Koordinaten. Dann sind die beiden folgenden
Aussagen äquivalent:
1. Es gilt ∆g + λg = 0 auf U.
2. Es existiert ein μ ∈ R, sodass
¶
µ
μ − 14
1 0
00
h (x) = 0 für alle x > 0 und
h (x) + h (x) + λ +
x
x2
∆S2 Y − μY = 0 auf (0, π) × (0, 2π) .
2.4.13
(∆S2 − μ) Y = 0 - Separation der Winkel
Ye ∈ C 2 (R3 \ 0) und Ye = Y (θ, φ) auf U impliziert, dass limθ→0 Y (θ, φ) existiert und
unabhängig von φ ist. Was folgt daraus?
Lemma 73 Sei c ∈ R und sei 0 6= y ∈ C 2 ((0, 2π)) mit y 00 + cy = 0. Dann sind die
Bedingungen 1) und 2) äquivalent.
1. limx→0 y (x) = limx→2π y (x) und limx→0 y 0 (x) = limx→2π y 0 (x) .
2. Es gilt c = n2 für ein n ∈ N0 und für c = 0 ist y konstant.
Beweis. Aus der Differentialgleichung für y folgt, dass A, B ∈ R existieren,
sodass
⎧
für c = 0
⎨
√
√ Ax + B,
cx) ¢ für c > 0
A cos
y (x) =
¡√( cx)¢ + B sin ( ¡√
⎩
A cosh −cx + B sinh −cx für c < 0
gilt.
Für c = 0 ergeben sich die Randwerte y (0) := limx→0 y (0) etc. zu
µ
¶ µ
¶ µ
¶ µ
¶
y (0)
B
y (2π)
2πA + B
=
,
=
y 0 (0)
A
y 0 (2π)
A
Bedingung 1) gilt genau dann, wenn A = 0. Im Fall c = 0 gilt 1) genau dann, wenn
y konstant ist.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
118
√
Für c > 0 ergeben sich mit α = 2π c die Randwerte zu
¶
µ
¶
µ
A
y (0)
√
=
,
y 0 (0)
cB
µ
¶
µ
¶
y (2π)
A
cos
α
+
B
sin
α
√
=
.
y 0 (2π)
c [−A sin α + B cos α]
Bedingung 1) sagt also, dass (A, B)t ein Eigenvektor der Matrix
¶
µ
cos α sin α
− sin α cos α
zum Eigenwert 1 ist. Ein solcher existiert genau dann, wenn
¶
µ
cos α − 1
sin α
= 0.
det
− sin α cos α − 1
Dies ist äquivalent zu
0 = (cos α − 1)2 + sin2 α = 2 (1 − cos α) .
√
Dies ist für c > 0 √
genau dann der Fall, wenn 2π c ∈ 2πN. Im Fall c > 0 gilt 1)
genau dann, wenn c ∈ N.
√
Für c < 0 gilt Bedingung 1) genau dann, wenn mit α = 2π −c
µ
¶
cosh α − 1
sinh α
det
= 0.
sinh α
cosh α − 1
Dies ist äquivalent zu cosh α = 1, also α = 0, was im Widerspruch zu c < 0 steht.
Für c < 0 gilt also 1) keinesfalls.
Lemma 74 Sei 0 6= Ye ∈ C 2 (R3 \ 0) dehnungsinvariant. Seien A : (0, π) → R
und B : (0, 2π) → R so, dass am Definitionsbereich der sphärischen Karte Ye =
A (θ) B (φ) = Y (θ, φ) gilt. Für ein μ ∈ R gelte ∆S2 Y − μY = 0 auf (0, π) × (0, 2π) .
Dann gilt: 1) Es existiert ein m ∈ N0 , sodass B 00 + m2 B = 0 auf (0, 2π) . 2) Für
m = 0 ist B konstant. 3) Für alle θ ∈ (0, π)
£
¤
0
sin (θ) [sin (θ) A0 (θ)] − μ sin2 (θ) + m2 A (θ) = 0.
(2.24)
Beweis. Einsetzen von Y (θ, φ) = A (θ) B (φ) in ∆S2 Y = μY ergibt
∙
¸
1
1
2
μA (θ) B (φ) =
∂θ sin (θ) ∂θ +
∂ A (θ) B (φ)
sin (θ)
sin2 (θ) φ
B (φ)
A (θ) 00
∂θ [sin (θ) A0 (θ)] +
=
B (φ) .
sin (θ)
sin2 (θ)
Für θ0 so, dass A (θ0 ) 6= 0, folgt daraus durch Einschränkung auf θ = θ0 und
Multiplikation mit sin2 (θ0 ) /A (θ0 ) die gewöhnliche Differentialgleichung
B 00 (φ) + αB (φ) = 0
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
119
mit der Separationskonstante
¸
∙
sin (θ0 )
0
0
2
[sin (θ0 ) A (θ0 )] − μ sin (θ0 ) .
α=
A (θ0 )
Für φ0 so, dass B (φ0 ) 6= 0, folgt daraus durch Einschränkung auf φ = φ0 und
Multiplikation mit sin2 (θ) /B (φ0 ) die gewöhnliche Differentialgleichung
£
¤
sin (θ) ∂θ [sin (θ) A0 (θ)] − α + μ sin2 (θ) A (θ) = 0.
Die Bedingung Ye ∈ C 2 (R3 \ 0) impliziert
lim B (φ) = lim B (φ) und lim B 0 (φ) = lim B 0 (φ) .
φ→0
φ→2π
φ→0
φ→2π
Die Differentialgleichung B 00 (φ) + αB (φ) = 0 hat nach Lemma 73 genau dann
maximale Lösungen, für die diese Randbedingung gilt, wenn α = m2 für ein m ∈ N0 .
Im Fall m = 0 genügt nur die konstante Lösung der Randbedingung; für m ∈ N gilt
die Randbedingung für jedes Element des Lösungsraums.
2.4.14
Die allgemeine Legendresche Differentialgleichung
Lemma 75 Für A : (0, π) → R und P : (−1, 1) → R gelte P (cos θ) = A (θ) . Dann
ist A eine maximale Lösung von Gleichung (2.24) mit μ ∈ R und m ∈ N0 auf (0, π)
genau dann, wenn für P auf (−1, 1) die allgemeine Legendresche Differentialgleichung (2.25) gilt.
¶
µ
¡
¢ 00
m2
2
0
1 − x P (x) − 2xP (x) − μ +
P (x) = 0
(2.25)
1 − x2
Beweis. Es gilt P (x) = A (θ) mit x = cos θ und daher
¡
¢
sin (θ) A0 (θ) = − sin2 (θ) P 0 (cos (θ)) = x2 − 1 P 0 (x) ,
¡
¢ £¡
¢
¤0
0
sin (θ) (sin (θ) A0 (θ)) = x2 − 1 x2 − 1 P 0 (x) .
Damit gilt
¡
¢
0
sin (θ) (sin (θ) A0 (θ)) − μ sin2 (θ) + m2 A (θ)
¢
¢
¢ £¡
¢
¤0 ¡ ¡
¡
= x2 − 1 x2 − 1 P 0 (x) − μ 1 − x2 + m2 P (x)
¶
¾
µ
½
¡
¤0
¢ £¡
¢ 0
m2
2
2
= 1−x
P (x) .
1 − x P (x) − μ +
1 − x2
In Kap. 2.3.3 der Vorlesung Math. Meth. 1 wurde der Spezialfall m = 0 und
μ = −l (l + 1) für ein l ∈ N0 der allgemeinen Legendreschen Differentialgleichung
behandelt. Die Einschränkung μ = −l (l + 1) für ein l ∈ N0 ergibt sich im gegenwärtigen Kontext aus dem Faktum, dass eine Lösung P in die Randpunkte des Intervalls
(−1, 1) stetig fortsetzbar sein muss, wenn die Funktion Y sphärischer Kartenausdruck einer dehnungsinvarianten Funktion Ye ∈ C 2 (R3 \ 0) ist. Genaueres sagt der
folgende Satz.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
120
Satz 76 Die Differentialgleichung (2.25) mit (μ, m) ∈ R × N0 hat nichttriviale maximale Lösungen mit stetiger Fortsetzung nach [−1, 1] genau dann, wenn ein l ∈ N0
mit l ≥ m existiert, sodass −μ = l (l + 1) . Jede solche Lösung von
¶
µ
¡
¢ 00
m2
2
0
1 − x P (x) − 2xP (x) + l (l + 1) −
P (x) = 0
1 − x2
ist ein Vielfaches der zugeordneten Legendrefunktion Plm : (−1, 1) → R, mit
µ ¶m
q
d
m
m
Pl (x) =
(1 − x2 )
Pl (x) ,
dx
µ ¶l
¢l
¡ 2
d
1
x −1 .
Pl (x) = l
2 l! dx
Beweis. Sei y eine Lösung der Legendreschen Gleichung (2.25) zum Parameter
m = 0. Wir rechnen zunächst nach, dass dann für beliebiges m ∈ N die Funktion36
¡
¢m/2 (m)
w (x) = 1 − x2
y (x) für alle x ∈ (−1, 1)
eine Lösung von Gleichung (2.25) ist. Es gelte also für alle x ∈ (−1, 1)
¢
¡
1 − x2 y 00 (x) − 2xy 0 (x) − μy (x) = 0.
(2.26)
Wir leiten Gleichung (2.26) m mal mithilfe der Leibnitzregel ab. Es gilt
¤(m)
¡
¢
¢
£¡
= 1 − x2 y (m+2) (x) − 2mxy (m+1) (x) − m (m − 1) y (m) (x) ,
1 − x2 y 00 (x)
(m)
[−2xy 0 (x)]
= −2xy (m+1) (x) − 2my (m) (x) .
Damit ergibt sich für v (x) = y (m) (x)
¢
¡
1 − x2 v 00 (x) − 2 (m + 1) xv 0 (x) − (μ + m (m + 1)) v (x) = 0.
(2.27)
−m/2
w (x)
Setze nun in die Differentialgleichung (2.27) den Ansatz v (x) = (1 − x2 )
ein. Es gilt
∙
¸
¡
¢
d
mx
d
2 −m/2
+
v (x) = 1 − x
w (x) ,
dx
1 − x2 dx
∙
¸∙
¸
¡
¢
d2
mx
mx
d
d
2 −m/2
w (x)
v (x) = 1 − x
+
+
dx2
1 − x2 dx 1 − x2 dx
"µ
#
¶2
¶0
µ
2
¢
¡
mx
mx
2mx
d
d
−m/2
+
+
+ 2 w (x)
= 1 − x2
1 − x2
1 − x2 dx
1 − x2
dx
Mit
36 (m)
y
µ
mx
1 − x2
¶2
+
µ
mx
1 − x2
¶0
bezeichnet die m-fache Ableitung von y.
=
m2 x2 + m (1 + x2 )
(1 − x2 )2
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
folgt daraus mit einigen Nebenrechnungen
µ
¡
¢ 00
2
0
1 − x w (x) − 2xw (x) − μ +
m2
1 − x2
¶
121
w (x) = 0.
Der Lösungsraum von Gleichung (2.25) hat für m = 0 genau dann nichttriviale,
stetig nach ±1 fortsetzbare Lösungen, wenn μ = −l (l + 1) für ein l ∈ N0 . (Siehe PS
zu MMP 1) Diese sind Vielfache der Legendrepolynome Pl , Polynome vom Grad l.
Ihre Ableitungen bis zum Grad l führen daher mit
¡
¢m/2 (m)
w (x) = 1 − x2
Pl (x) für alle x ∈ (−1, 1)
auf nichttriviale Lösungen von Gleichung (2.25), die nach [−1, 1] stetig fortsetzbar
sind. Eine m-fache Ableitung von Pl mit m > l führt auf die 0-Lösung. Für jede
unbeschränkte Lösunge y einer Legendreschen Differentialgleichung zu m = 0 und
beliebigem μ ∈ R ist auch die zugehörige Funktion w unbeschränkt. Das ist am
Vorfaktor der Reihenlösungen abzulesen.
Es gilt Pl0 = Pl , limx→±1 Pl (x) = (±1)l und für 0 < m gilt limx→±1 Plm (x) = 0.
Daher haben die (reellen) tesseralen Kugelfunktionen
Plm (cos θ) cos (mφ) und Plm (cos θ) sin (mφ) mit m, l ∈ N0 und m ≤ l
φ-unabhängige Limiten für θ → 0 und θ → π. Die zugehörigen Funktionen Yelm
sind in C 2 (R3 \ 0) . Für Plm gilt Plm (−x) = (−1)l+m Plm (x) , da Plm aus der gel
raden Funktion const · (x2 − 1) durch l + m maliges Ableiten und anschließendes
m/2
entsteht.
Multiplizieren mit der geraden Funktion (1 − x2 )
Korollar 77 Zu einer Funktion Y : (0, π) × (0, 2π) → R mit ∆S2 Y − μY = 0 und
Y 6= 0 existiert genau dann eine dehnungsinvariante Funktion Ye ∈ C 2 (R3 \ 0) mit
Y (θ, φ) = Ye am Definitionsbereich von θ und φ, wenn −μ = l (l + 1) für ein l ∈ N0
gilt. Für jede solche Funktion Y existieren Zahlen Am , Bm ∈ R, sodass
Y (θ, φ) =
l
X
Plm (cos θ) [Am cos (mφ) + Bm sin (mφ)] ,
(2.28)
m=0
d.h. der Eigenraum von −∆S2 zum Eigenwert l (l + 1) hat die Dimension 2l + 1.
Die Invarianz von ∆ unter Drehspiegelungen hat nun die folgende Konsequenz.
Ist eine dehnungsinvariante Funktion Yel ∈ C 2 (R3 \ 0) Eigenvektor von −∆, d.h.
es gilt −∆Yel = l (l + 1) Yel für ein l ∈ N0 , dann ist auch für jede Drehspiegelung
R : R3 → R3 die Funktion Yel ◦ R ein dehnungsinvarianter
³
´Eigenvektor von³−∆ zum
´ ³
´
e
e
e
selben Eigenwert l (l + 1) , denn −∆ Yl ◦ R = −∆Yl ◦ R = l (l + 1) Yl ◦ R .
Daher entspricht auch der Funktion Yel ◦ R eine Linearkombination wie in Gleichung
(2.28). Speziell für die Spiegelung −idR3 gilt37 Yel (−x) = (−1)l Yel (x) für alle x ∈
R3 \ 0. Warum? Aus
(cos θ, cos φ, sin φ) (−x) = (− cos θ, cos (φ + π) , sin (φ + π)) (x)
37
Die Physik sagt dazu: der Eigenraum von −∆S 2 zum Eigenwert l (l + 1) hat die Parität (−1)l .
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
122
und Plm (−x) = (−1)l+m Plm (x) folgt [Plm (cos θ) (cos (mφ) , sin (mφ))] (−x) =
= {Plm (− cos θ) [cos (mφ + mπ) , sin (mφ + mπ)]} (x)
= (−1)l+m {Plm (cos θ) [(−1)m cos (mφ) , (−1)m sin (mφ)]} (x)
= (−1)l {Plm (cos θ) [cos (mφ) , sin (mφ)]} (x) .
Abbildung (2.28) zeigt einige der Funktionen Plm , und zwar
√
1 − x2 ,
P11 (x) =
√
√
¢2
1 d3 ¡ 2
P21 (x) =
1 − x2
−
1
=
3x
1 − x2 ,
x
8 dx3
¡
¢2
¡
¢ 1 d4 ¡ 2
¢
x − 1 = 3 1 − x2 .
P22 (x) = 1 − x2
4
8 dx
y
3
2
1
0
-1
-0.5
0
0.5
1
x
-1
Abbildung 2.28: P11 , P21 , P22 (schwarz, rot, grün)
2.4.15
Die Besselsche Differentialgleichung
In Satz 72 ist die radiale Gleichung für eine radial separierte Lösung der Helmholtzgleichung angegeben. Diese Gleichung enthält einen reellen Parameter μ, der nach
Korollar (77) nur einen der Werte −l (l + 1) für l ∈ N0 annehmen kann. Wegen
µ
¶2
1
1
1
μ − = −l (l + 1) − = − l +
4
4
2
spezialisiert sich die radiale Gleichung damit zu
Ã
¢ !
¡
1 2
l
+
1
2
h00 (x) + h0 (x) + λ −
h (x) = 0 für alle x > 0.
x
x2
Für λ genügt es, die drei Werte λ ∈ {−1, 0, 1} zu studieren. Die Fälle λ = ±1
führen auf Differentialgleichungen des Besselschen Typs. Der Fall λ = 0 ist elementar
zu lösen.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
Definition 78 Sei ν 2 ∈ R≥0 . Eine Funktion h : R>0 → R, für die
¶
µ
1 0
ν2
00
h (x) + h (x) + 1 − 2 h (x) = 0 für alle x > 0
x
x
123
(2.29)
gilt, heißt maximale Lösung der Besselschen Differentialgleichung zum Parameter
ν 2.
Eine Funktion h : R>0 → R, für die
¶
µ
1 0
ν2
00
(2.30)
h (x) + h (x) − 1 + 2 h (x) = 0 für alle x > 0
x
x
gilt, heißt maximale Lösung der modifizierten Besselschen Differentialgleichung zum
Parameter ν 2 .
Für die Besselsche Differentialgleichung zu ν 2 = m2 mit m ∈ N0 kann mit der
Methode des Potenzreihenansatzes eine maximale Lösung relativ einfach bestimmt
werden. (Siehe Übungen) Im Fall mit ν 2 6= m2 funktioniert ein verallgemeinerter
Potenzreihenansatz zwar auch, doch wird dann für die Auflösung der Rekursion als
Hilfsmittel die Eulersche Gammafunktion benötigt. Daher wenden wir uns zunächst
der Gammafunktion zu, bevor der Lösungsraum der Besselschen Differentialgleichung zu allgemeinem Parameter ν 2 ∈ R≥0 ein wenig untersucht wird.
2.4.16
Die Gammafunktion
Leonhard Euler erfand die Gammafunktion als stetige reelle Interpolation der Abbildung n 7→ n! für n ∈ N0 . Für die Funktion Γ : R\ (−N0 ) → R gelte für alle
x>0
Z ∞
tx−1 e−t dt.
Γ (x) =
0
Warum existiert das uneigentliche Integral? Der Integrand ist positiv und durch
tx−1 majorisiert. Wegen
Z t0
1 ¯
tx
tx−1 dt = tx ¯t00 = 0
x
x
0
ist der Beitrag vom Intervall (0, t0 ) endlich. Wegen limt→∞ (tx+1 e−t ) = 0 existiert
ein t0 sodass tx+1 e−t < 1 für alle t > t0 . Daraus folgt tx−1 e−t < t−2 für alle t > t0
und weiter
Z ∞
Z ∞
x−1 −t
t e dt <
t−2 dt = t−1
0 .
t0
t0
Damit ist Γ (x) für alle x > 0 eine positive reelle Zahl. Dass die Abbildung Γ auf
R>0 die Faktoriellen interpoliert, zeigt das folgende Lemma.
Lemma 79 Für
> 0 gilt Γ (x + 1) = xΓ (x) und für n ∈ N gilt Γ (n + 1) = n!.
¡ ¢x√
Weiter gilt Γ 12 = π.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
124
Beweis. Für x > 0 folgt durch partielles Integrieren
Z ∞
Z ∞
¡ ¢0
x −t
t e dt = −
tx e−t dt
Γ (x + 1) =
0
Z ∞0
¯
∞
= − tx e−t ¯0 + x
tx−1 e−t dt = xΓ (x) .
0
Daraus folgt
Γ (n + 1) = nΓ (n) = n (n − 1) Γ (n − 1) = n (n − 1) . . . 2 · 1 · Γ (1) = n!Γ (1) .
Mit
Z
∞
Γ (1) =
t0 e−t dt = 1
¡1¢ 0
folgt Γ (n + 1) = n!. Der Wert Γ 2 ergibt sich mithilfe von Kap. 1.3 der Vorlesung
Math. Meth. 1.
µ ¶ Z ∞
Z ∞
Z ∞
√
1 −u2
1
2
−1/2 −t
=
e 2udu =
t
e dt =
e−u du = π.
Γ
2
u
0
0
−∞
Definition 80 Die Funktion Γ : R\ (−N0 ) → R mit
Z ∞
tx−1 e−t dt
Γ (x) =
0
für x > 0 und Γ (x + 1) = xΓ (x) für alle x ∈ R\ (−N0 ) heißt Gammafunktion.
¡ ¢
¡ ¢ √
√
Für x = −1/2 gilt etwa − 12 Γ − 12 = Γ 12 = π. Also gilt Γ (−1/2) = −2 π.
Für −n < x < −n + 1 folgt
1
1
1
... ·
· Γ (x + n) .
Γ (x) = ·
x x+1
x+n−1
In Punkte x ∈ −N0 hat Γ keine stetige Fortsetzung, da limx↓0 Γ (x) = ∞. Offensichtlich hat die Funktion Γ keine Nullstelle.
¡
¢
√
π.
Lemma 81 Für n ∈ N0 gilt Γ n + 12 = (2n)!
n!4n
Beweis.
¶
µ
¶ µ
¶ µ
¶
µ
1
1
1
1
= Γ n− +1 = n−
Γ n−
Γ n+
2
2
2
2
¶µ
¶ µ
¶ µ
¶
µ
1
1
1
1
n−1−
... 1 −
Γ 1−
=
n−
2
2
2
2
√
1
= n (2n − 1) (2n − 3) . . . (3) (1) π
2
(2n − 2)
4 2 √
1 2n
(2n − 1)
(2n − 3) . . . 3 1 π
= n
2 2n
2n − 2
4 2
√
(2n)!
1
π
= n
2 2n · 2 (n − 1) · 2 (n − 2) . . . · 2 (2) · 2 (1)
µ ¶2
(2n)! √
1
π.
=
n
2
n!
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
125
y
20
10
0
-1.25
0
1.25
2.5
3.75
5
x
-10
-20
Abbildung 2.29: Die Gammafunktion
2.4.17
Der Lösungsraum der Besselschen DG
Für die Funktion g ∈ C 2√
(R3 \ 0) gelte auf dem Kartenbereich U der sphärischen
Karte g = h (r) Y (θ, φ) / r. Wir wissen: g ist genau dann eine Lösung der Helmholtzgleichung ∆g + g = 0 auf R3 \ 0, wenn h eine maximale Lösung der Bes¡
¢2
selschen Differentialgleichung (2.29) zum Parameter ν 2 = l + 12 ist, und wenn
∆S2 Y + l (l + 1) Y = 0 für ein l ∈ N0 . Können wir uns eine Basis im Raum der
maximalen Lösungen dieser Besselschen Differentialgleichung verschaffen?
Satz 82 Für ν ∈ R und ν ∈
/ −N ist durch
Jν (x) =
∞
³ x ´ν X
2
k=0
³ x ´2k
(−1)k
.
k!Γ (k + 1 + ν) 2
(2.31)
eine Funktion Jν : R>0 → R, die Besselfunktion der Ordnung ν, wohldefiniert. Jν
ist eine maximale Lösung der Besselschen Differentialgleichung mit Paramater ν 2 ,
d.h. es gilt x2 Jν00 (x) + xJν0 (x) + (x2 − ν 2 ) Jν (x) = 0 für alle x > 0. Für ν ∈ R \ Z
ist das Paar (Jν , J−ν ) ein Fundamentalsystem dieser Differentialgleichung.
definierte Funktion
Bemerkung
83 Für ν = l + 12 mit l ∈ N0 hat die auf R>0 √
√
Jν / · eine stetige Fortsetzung nach x = 0, die Funktion J−ν / · jedoch nicht. Es
kommt also nur
√ (ein Vielfaches von) Jl+1/2 als Radialfunktion h einer Lösung g =3
h (r) Y (θ, φ) / r der Helmholtzgleichung
∆g +g = 0 mit stetiger Fortsetzung auf R
√
in Frage. Die Funktionen J(l+1/2) / · heißen sphärische Besselfunktionen der ersten
Art. Sie sind in C ∞ (R>0 ) und sind beschränkt.
Beweis. Es würde genügen folgendes zu verifizieren.
1. Die im Satz angeführten Besselfunktionen Jν mit ν ∈ R \ (−N) sind auf ganz
R>0 definiert und 2 mal stetig differenzierbar.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
126
2. Jν löst die Besselsche Differentialgleichung zum Parameter ν 2 .
3. Für ν ∈
/ Z sind die beiden Funktionen J±ν linear unabhängig.
Im folgenden soll aber auch gezeigt werden, wie man auf die Funktionen Jν
geführt wird. Zunächst eine Bemerkung zur allgemeinen Orientierung: Sei I ⊂ R>0
ein offenes Intervall. Dann heißt eine Funktion h : I → R mit
¶
µ
1 0
ν2
00
h (x) + h (x) + 1 − 2 h (x) = 0 für alle x ∈ I
(2.32)
x
x
eine Lösung der Besselschen Differentialgleichung zum Parameter ν 2 ≥ 0. Die Differentialgleichung (2.29) ist gewöhnlich, zweiter Ordnung, homogen linear und hat
nicht konstante Koeffizienten. Nach der allgemeinen Theorie gilt für jede maximale
Lösung I = R>0 . Der Raum der maximalen Lösungen hat die Dimension 2.
Versuche nun für h den Frobeniusansatz
h(x) = xα
∞
X
ck xk =
k=0
∞
X
ck xα+k
k=0
mit Konstanten ck ∈ R und α ∈ R. Ohne Einschränkung der Allgemeinheit kann
c0 6= 0 vorausgesetzt werden.38
Es gilt für 0 < x < ρ, wobei ρ der vorläufig noch unbekannten Konvergenzradius
ρ der Potenzreihe ist,
0
h (x) =
∞
X
α+k−1
(α + k) ck x
=x
k=0
h00 (x) =
∞
X
k=0
α
∞
X
(α + k) ck xk−1 ,
k=0
(α + k) (α + k − 1) ck xα+k−2 = xα
∞
X
k=0
(α + k) (α + k − 1) ck xk−2 .
Einsetzen der Reihen h, h0 und h00 in Gleichung (2.29) ergibt
(∞
)
∞
X£
X
¤
ck xk
0 = xα
(α + k)(α + k − 1) + (α + k) − ν 2 ck xk−2 +
( k=0
)
∞
∞
X
X
£
¤
ck xk .
(α + k)2 − ν 2 ck xk−2 +
= xα
k=0
k=0
k=0
Mit der Substitution k = j + 2 in der ersten Summe folgt für diese
∞
X
£
¤
(α + k)2 − ν 2 ck xk−2
k=0
=
∞
X
¡ 2
£
¢
¤
£
¤
α − ν 2 c0 x−2 + (α + 1)2 − ν 2 c1 x−1 +
(α + j + 2)2 − ν 2 cj+2 xj .
j=0
P∞
P∞
38
Denn für c0 = 0 gilt y(x) = xα+1 k=0 ck+1 xk = xα+1 k=0 b
ck xk . Dieser Prozess der Vergrößerung von α wird so lange fortgesetzt, bis die Reihe mit einem von 0 verschiedenen konstanten
Term beginnt.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
127
Damit ist h genau dann Lösung von Gleichung (2.29), wenn
∞
X
£
¢
¤
©£
¤
ª
¡ 2
2
−2
2
2
−1
(α + k + 2)2 − ν 2 ck+2 + ck xk = 0
α − ν c0 x + (α + 1) − ν c1 x +
k=0
für alle x ∈ R mit |x| < ρ. Dies ist genau dann der Fall, wenn
¡ 2
¢
α − ν 2 c0 = 0,
¤
£
(α + 1)2 − ν 2 c1 = 0,
¤
£
(α + k + 2)2 − ν 2 ck+2 + ck = 0 für alle k ∈ N0 .
Diese drei Bedingung sind wegen c0 =
6 0 äquivalent zu
¢
¡ 2
(2.33a)
α − ν 2 = 0,
(2.33b)
(2α + 1) c1 = 0,
(2.33c)
(k + 2) [2α + (k + 2)] ck+2 + ck = 0 für alle k ∈ N0 .
√
Die erste Bedingung (2.33a) ist äquivalent zu α = ± ν 2 . Die zweite Bedingung
(2.33b) ist für α 6= −1/2 äquivalent zu c1 = 0. Im Fall α = −1/2 kann der Schluss
auf c1 = 0 nicht gezogen werden. Die dritte Bedingung (2.33c) gibt eine Rekursion
der Koeffizienten an. Dabei entkoppelt die Teilfolge der c2j von jener der c2j+1 . Daher liefern beide Teilfolgen für sich Lösungen der Besselschen Differentialgleichung.
Wir ermitteln die Lösungen, die sich aus der Teilfolge (c2j )j∈N0 ergeben, denn die
Lösungen, die sich aus der Teilfolge (c2j+1 )j∈N0 ergeben, widersprechen der Voraus√
setzung c0 6= 0. Daher genügt es, die Folge (c2j )j∈N0 in den beiden Fällen α = ± ν 2
zu bestimmen. Siehe Figur 2.30.
Abbildung 2.30: Rekursion der c2j
Falls für ein k ∈ 2N0 der Faktor in Gleichung (2.33c) bei ck+2 Null ist, folgt
daraus, dass ck = ck−2 = . . . = c0 = 0. Dies steht im Widerspruch zur Annahme
c0 6= 0. Deshalb folgt für alle k ∈ 2N0
[2α + (k + 2)] 6= 0.
Dies ist äquivalent zu α + j + 1 6= 0 für alle j ∈ N0 und weiter zu α ∈
/ −N.
Für α ∈
/ −N gilt also [2α + (k + 2)] 6= 0 für alle k ∈ 2N0 . Damit legt die Rekursion alle Koeffizienten c2j durch c0 fest. Für die Koeffizienten c2j mit j ∈ N0
gilt
c2j
c2j+2 = −
,
4(j + 1) [ν + (j + 1)]
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
128
wobei α = ν gesetzt wurde. Hier ist ν eine der beiden Wurzeln von ν 2 und es gilt
ν ∈ R \ (−N) .
Mit der Bezeichnung e
cj = c2j ist die Rekursion äquivalent zu
e
cj = −
e
cj−1
für alle j ∈ N.
4j (ν + j)
Die Auflösung der Rekursion von e
cj in j Schritten auf e
c0 = c0 ergibt daher
µ ¶j
1
1
1
·
· c0 .
·
e
cj = −
4
j · (j − 1) · . . . · 2 · 1 (ν + j) · (ν + j − 1) · . . . · (ν + 1)
Für die Gammafunktion gilt für ν + j + 1 ∈ R \ (−N0 )
Γ (ν + j + 1) = (ν + j) Γ (ν + j) = . . .
= (ν + j) · (ν + j − 1) · . . . · (ν + 1) · Γ (ν + 1)
Damit gilt
und somit
Γ (ν + 1)
1
=
(ν + j) · (ν + j − 1) · . . . · (ν + 1)
Γ (ν + j + 1)
Mit der Wahl c0 :=
µ ¶j
1
1
Γ (ν + 1)
e
cj = −
· ·
· c0 .
4
j! Γ (ν + j + 1)
1
2ν Γ(ν+1)
h(x) =
=
ergibt sich somit
∞
³ x ´ν X
2
j=0
∞
³ x ´ν X
2
j=0
³ x ´2j
(−1)j
j!Γ (ν + j + 1) 2
³ x ´2j
(−1)j
=: Jν (x).
Γ (j + 1) Γ (j + 1 + ν) 2
Die Konvergenz der Potenzreihe wird mit dem Quotientenkriterium geprüft. Dieses besagt: Sind alle Glieder einer Folge (ak )k∈N für ¯alle k,
¯ die größer als ein N sind,
¯ ak+1 ¯
von 0 verschieden, und existiert ein θ < 1, sodass ¯ ak ¯ ≤ θ für alle k > N, dann
P
ist die Reihe k∈N ak absolut konvergent.
Es folgt mit
³ x ´2k
(−1)k
ak :=
Γ (k + 1) Γ (k + 1 + ν) 2
für x > 0 mit Γ (z + 1) = zΓ (z)
¯
¯
³ ´2
¯ ak+1 ¯
¯ = Γ (k + 1) Γ (k + 1 + ν) x
¯
¯ ak ¯
Γ (k + 2) Γ (k + 2 + ν) 2
x2
.
=
4 (k + 1) (k + 1 + ν)
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
129
¯
¯
¯
¯
= 0. Somit konvergiert die
Es gilt also sogar für jedes x > 0, dass limk→∞ ¯ ak+1
ak ¯
Potenzreihe für alle x ∈ R.
Für ν ∈ R \ (−N) gilt also
Jν (x) = xν
1
2ν Γ (ν
+ 1)
(1 + ϕν (x))
mit einer Funktion ϕν : R>0 → R, für die limx→0 ϕν (x) = 0. Annahme: Für ν ∈ R\Z
sind die Funktionen Jν und J−ν linear abhängig. Dann gibt es eine reelle Zahl λ 6= 0,
für die Jν = λJ−ν . Daraus folgt für x > 0
xν
¢
¡
1
1
−ν
(x))
=
λx
(x)
.
(1
+
ϕ
1
+
ϕ
ν
−ν
2ν Γ (ν + 1)
2−ν Γ (−ν + 1)
Für hinreichen kleine x > 0 folgt weiter
2ν
x
¢
¡
4ν Γ (ν + 1) 1 + ϕ−ν (x)
=λ
.
Γ (−ν + 1) (1 + ϕν (x))
Für ν > 0 ergibt der Grenzübergang x → 0
0=λ
4ν Γ (ν + 1)
,
Γ (−ν + 1)
also Γ (ν + 1) = 0. Dies ist im Widerspruch zur Nullstellenfreiheit der Gammafunktion. Damit sind für ν ∈ R \ Z die Funktionen Jν und J−ν linear unabhängige
Lösungen der Besselschen Differentialgleichung mit Parameter ν 2 .
Der Fall ν√= 1/2, der ja mit l = 0 korreliert, kann auch direkt mit dem Ansatz
h(x) = q(x)/ x gelöst werden. Es ergibt sich nämlich q 00 + q = 0.
Für n ∈ N0 fehlt uns also noch eine von Jn linear unabhängige zweite Lösung
der Besselgleichung zum Parameter n2 . Ohne Beweis seien einige Sachverhalte aufgelistet.
Satz 84 Sei ν ∈ R \ Z. Die Funktion
Nν =
cos (νπ) Jν − J−ν
: R>0 → R
sin (νπ)
heißt Neumannfunktion mit Index ν. Der Limes limν→n∈Z Nν existiert, ist eine Lösung der Besselgleichung mit Parameter n2 und ist linear unabhängig von Jn . Sei
(1)
nun ν ∈ R. Die zueinander komplexkonjugierten Funktionen Hν = Jν + iNν bzw.
(2)
Hν = Jν − iNν heißen Hankelfunktionen der ersten bzw. zweiten Art. Sie bilden
ein Fundamentalsystem der Besselgleichung mit Parameter ν 2 . Es gilt
r
¡
¢
2 i(x−ν π2 − π4 )
(1)
Hν (x) =
+ O x−3/2 für x → ∞.
e
(2.34)
πx
Für große x streben also die Lösungen der Bessel’schen
√ DG gegen harmonische
Schwingungen der Frequenz 1, deren Amplitude wie 1/ x abnimmt. Im nächsten
Abschnitt soll das klarer werden.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
2.4.18
130
Eigenschaften von Lösungen der Bessel DG
Für y : R>0 → R gelte die Bessel’schen Differentialgleichung
¶
µ
1 0
ν2
00
y (x) + y (x) + 1 − 2 y (x) = 0 auf R>0 .
x
x
Fasst man x als Zeit und y als Ort eines Massenpunkts auf, so ist diese Gleichung für
x2 > ν 2 die Bewegungsgleichung eines harmonischen Oszillators mit zeitabhängiger
Federkonstante und zeitabhängigem Reibungskoeffizienten. Mit wachsender Zeit x
strebt der Reibungskoeffizient gegen 0 und die „Frequenzkonstante“ strebt gegen
1. Asymptotisch sollte y sich daher einer ungedämpften Schwingung der Frequenz
1 nähern. Lässt sich die Amplitude dieser asymptotischen Schwingung berechnen?
Merkwürdigerweise ist die Dämpfung stark genug, die Schwingung langsam aber
doch vollständig auszubremsen, d.h. es gilt y (x) → 0 für x → ∞.
´
³
2
Satz 85 Für jede Funktion y ∈ C 2 (R>0 : R) mit y 00 (x)+ x1 y 0 (x)+ 1 − xν 2 y (x) = 0
auf R>0 gilt limx→∞ y (x) = 0.
√
Beweis. Einsetzen von y (x) = u (x) / x in die Besselsche Differentialgleichung
ergibt y 00 (x) + x1 y 0 (x) =
à √ 0
!
√
xu (x) − u(x)
1
1
2 x
=
∂x (x∂x y) (x) = ∂x x
x
x
x
¶
¶
µ
µ
√ 0
1 √ 00
u (x)
u (x)
1
=
∂x
xu (x) − √
xu (x) + √
=
x
x
2 x
4x x
µ
¶
u (x)
1
u00 (x) +
.
= √
4x2
x
Somit folgt für u die Differentialgleichung auf R>0
¶
µ
1
− ν2
00
4
u (x) = 0.
u (x) + 1 +
x2
Für x2 > ν 2 − 14 ist diese Gleichung zweiter Ordnung vom Typ einer ungedämpften Schwingungsgleichung u00 + ω 2 u = 0 mit zeitabhängiger „Frequenz“ ω, die durch
s
1
− ν2
ω (x) = 1 + 4 2 > 0
x
gegeben ist. Für ν 2 > 1/4 gilt ω < 1 und ω ist streng monoton wachsend. Für
ν 2 < 1/4 ist ω streng monoton fallend. In beiden Fällen gilt limx→∞ ω (x) = 1.
Die Gleichung u00 + ω2 u = 0 ist zum nichtautonomen System erster Ordnung
!µ
¶ Ã
¶
µ 1
0
ω (x)
d
γ 1 (x)
γ (x)
0
=
(x)
γ 2 (x)
−ω (x) − ωω(x)
dx γ 2 (x)
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
131
äquivalent: setze u = γ 1 und u0 = ωγ 2 . Das zeitabhängige Vektorfeld X (x) dieses
Systems γ̇ (x) = X (x) · γ (x) ist für ν 2 > 1/4 im folgenden Sinn „nach innen“
gerichtet:
¶ µ 1 ¶
µ 1 ¶t µ
0
ω
γ
γ
·
·
hγ, X · γi =
2
ω0
γ
γ2
−ω − ω
ω 0 ¡ 2 ¢2
γ
< 0.
= −
ω
q
Längs einer Kreislinie um 0 zeigt das Vektorfeld X (x) zu jeder Zeit x > ν 2 − 14
in das Kreisinnere. Eine Lösung γ, die zur Zeit x0 durch einen Punkt der Kreislinie
geht, kann diesen Kreis also später nie mehr verlassen. In Formeln ausgedrückt:
À
¿
d
d
2
|γ (x)| = 2 γ (x) , γ (x) = 2 hγ (x) , X (x) · γ (x)i < 0.
dx
dx
q
1
2
Dementsprechend ist die Funktion γ = u für ν > 1/4 im Bereich x > ν 2 − 14
gleichmäßig
beschränkt, d.h. es existiert ein C > 0, sodass |u (x)| < C für alle
q
√ = 0.
x > ν 2 − 14 . Als Folge davon gilt limx→∞ y (x) = limx→∞ u(x)
x
Für ν 2 < 1/4 gilt ω 0 < 0 und das Vektorfeld X (x) ist nach außen gerichted. Daher
ist nun eine andere Überlegung anzustellen, die klar legt, dass u auf jedem Intervall
[ε, ∞) mit ε > 0 gleichmäßig beschränkt ist, und dass daher limx→∞ y (x) = 0. Dazu
beachten wir
d
2ω0 ¡ 2 ¢2 2 |ω0 | ¡ 2 ¢2 2 |ω0 | 2
=
≤
|γ|2 = −
|γ| .
γ
γ
dx
ω
ω
ω
0
|
w mit w (ε) = |γ (ε)|2
Die Funktion |γ|2 ist somit durch die Lösung von w0 = 2|ω
ω
2
für ein ε > 0 nach
q oben beschränkt: |γ (x)| ≤ w (x) . Die Differentialgleichung für
w ist mit a =
1
4
− ν 2 > 0 homogen linear
w0 (x) =
Es folgt somit
2
2 |ω 0 (x)|
w (x) = ³
¡ ¢2 ´ w (x) .
ω (x)
x 1 + xa
´−1
R x 2³
ξ 2
dξ
ε ξ 1+( a )
2
ε
R x³
´
2 −1
1+( aξ )
≤ w (ε) e
ε
2 aε (arctan x
−arctan
a
a ) → C 2 für x → ∞.
= w (ε) e
w (x) = w (ε) e
ε
dξ
Somit existiert eine Konstante C, für die u (x) ≤ |γ (x)| ≤ w (x) ≤ C für alle x > ε.
Da ε > 0 beliebig gewählt werden kann, ist u auf jedem Intervall [ε, ∞) mit ε > 0
gleichmäßig beschränkt.
Aus diesem Beweis ist nun überdies klar: Im Grenzfall ν 2 = 1/4 existieren zu
jeder maximalen Lösung der Besselschen Differentialgleichung Zahlen α, β ∈ R mit
1
y (x) = √ (α cos (x) + β sin (x)) .
x
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
132
Daher sindq
auch die beiden Besselfunktionen J1/2 und J−1/2 von diesem Typ. Es gilt
J1/2 (x) =
=
2 sin
√ x,
π x
∞
³ x ´1/2 X
2
k=0
denn J1/2 (x) =
∞
³ x ´2k r 2 X
³ x ´2k+1
(−1)k
(−1)k
¡
¡
¢
¢
=
.
2
x k=0 k!Γ k + 1 + 12
2
k!Γ k + 1 + 12
¡
¢
√
Wegen Γ n + 12 = (2n)!
π folgt daraus J1/2 (x) =
n!4n
r ∞
∞
³ x ´2k+1 r 2 X
2X
(−1)k
(k + 1) (−1)k 22k+2 ³ x ´2k+1
=
=
√
x k=0 k! (2(k+1))!
2
πx k=0 (2k + 2) (2k + 1)! 2
π
k+1
(k+1)!4
r
r
∞
2 X (k + 1) (−1)k 2 2k+1
2 sin x
√ .
=
=
x
πx k=0 (2k + 2) (2k + 1)!
π x
Analog folgt J−1/2 (x) =
q
2 cos
√ x,
π
x
denn J−1/2 (x) =
∞
³ x ´2k r 2 X
(−1)k
(−1)k ³ x ´2k
¡
¡
¢
¢
=
=
1
1
2
2
x
2
k!Γ
k
+
1
−
k!Γ
k
+
2
2
k=0
k=0
r ∞
r
r
∞
2 X (−1)k ³ x ´2k
2 X (−1)k 22k ³ x ´2k
2 cos x
√ .
=
=
=
√
x k=0 k! (2k)!k π 2
πx k=0 (2k)!
2
π x
k!4
∞
³ x ´−1/2 X
Ist über die Nullstellenmenge einer Lösung y der Bessel’schen Differentialgleichung etwas bekannt? Da der Reibungsterm y 0 (x) /x mit wachsendem x immer
kleiner wird und die Frequenz ω (x) gegen 1 konvergiert, ist zu erwarten, dass jede
Lösung y unendlich viele Nulldurchgänge macht und damit auch unendlich viele lokale Extrema hat. Genauere Aussagen über die Nullstellen von y ergeben sich aus
den Sturm’schen Vergleichssätzen. Etwa die folgende.
¡ ¢2
Satz 86 Sei ω2 : I → R>0 stetig mit ω2 (x) > Lπ für alle x ∈ I und ein L > 0.
Für u ∈ C 2 (I) gelte u00 (x) + ω 2 (x) u (x) = 0 auf I = (a, a + L) . Dann hat u in I
mindestens eine Nullstelle.
Beweis. Ist in Kap. II, §4.2.6 von [3] zu finden.
Dieser Satz legt klar, dass jede maximale Lösung der Besselschen DG unendlich
viele Nullstellen hat. Tatsächlich sind es abzählbar unendlich viele. Werden sie nach
steigender Größe nummeriert und mit xn bezeichnet, so gilt limn→∞ (xn+1 − xn ) = π.
(Siehe Kap. II, §4.4.7 von [3] und dort zitierte Literatur.)
2.4.19
Rekursionsrelationen für Jν
Aus der Reihenentwicklung von Jν ist direkt nachzurechnen (Übung), dass für alle
x>0
Jν (x)
∓ Jν0 (x) .
Jν±1 (x) = ν
x
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
133
q
2 sin
√ x durch
Damit gehen die Funktionen Jk+1/2 für alle k ∈ Z aus J1/2 (x) =
π
x
elementare Prozeduren hervor. So ergibt sich z.B. J3/2 aus J1/2 oder auch J−3/2 aus
J−1/2 wie folgt
r µ
¶ r µ
¶
2 1 sin x sin x
2 sin x
cos x
J3/2 (x) =
+ 3/2 − 1/2 =
− cos x ,
π 2 x3/2
2x
x
xπ
x
r ³
r µ
¶
cos x ´
2 1 cos x cos x sin x
2
=
−
sin
x
+
.
+
+
J−3/2 (x) = −
π 2 x3/2
2x3/2
x1/2
xπ
x
Die radial faktorisierenden Lösungen der Helmholtzgleichung auf R3 enthalten
J
(x)
√
mit l ∈ N0 . Daher werden die Funktionen
die Funktionen l+1/2
x
r
π
jl (x) =
J 1 (x) mit l ∈ N0
2x l+ 2
eigens benannt: die sphärischen Besselfunktionen. Es gilt etwa
r
π
sin (x)
J 1 (x) =
.
j0 (x) =
2
2x
x
Lemma 87 Für die Funktionen jl gilt die Rekursion jl+1 (x) = xl jl (x) − jl0 (x) .
Beweis. Die Bessel-Rekursion Jν+1 (x) = ν Jνx(x) −Jν0 (x) impliziert mit ν = l+1/2
r
µ
¶
0
Jl+ 1 +1 (x)
2
1 Jl+ 12 (x) Jl+ 12 (x)
2
√
√
= l+
− √
jl+1 (x) =
π
2
x
x x
x
¶r
µ
0
1
2 jl (x) Jl+ 12 (x)
.
− √
=
l+
2
π x
x
√
0
Wie drückt sich Jl+
x durch jl0 aus?
1 (x) /
2
r
Daher gilt
2 0
j (x) =
π l
Ã
Jl+ 1 (x)
√2
x
0
Jl+
1 (x)
√2
=
x
Somit folgt
r
!0
0
Jl+
1 (x)
1 Jl+ 12 (x)
√
−
= √2
2 x x
x
r µ
¶
2
1 jl (x)
0
j (x) +
.
π l
2 x
r ∙µ
¶
µ
¶¸
2
1 jl (x)
1 jl (x)
0
l+
− jl (x) +
π
2
x
2 x
r µ
¶
2 jl (x)
l
− jl0 (x) .
=
π
x
2
jl+1 (x) =
π
Die Rekursion der jl legt die Funktionen jl für l ∈ N durch die Funktion j0 fest.
Gibt es eine Formel, die jl direkt durch j0 ausdrückt?
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
134
Lemma 88 Sei u0 ∈ C ∞ (R>0 : R) und für alle x > 0 sei
µ
¶l
1
ul (x) = x − ∂x u0 (x) .
x
l
Dann gilt die Rekursion ul+1 (x) = xl ul (x) − u0l (x) .
Beweis. Aus der Definition der ul ergibt sich xl ul (x) − u0l (x) =
" µ
#
µ
¶l
¶l
1
1
= lxl−1 − ∂x u0 (x) − ∂x xl − ∂x u0 (x)
x
x
µ
¶l
µ
¶l+1
1
1
l
l+1
− ∂x
u0 (x) = ul+1 .
= −x ∂x − ∂x u0 (x) = x
x
x
Damit ist nun klar:
Satz 89 (Rayleigh) Für alle l ∈ N0 und für alle x > 0 gilt
µ
¶l
sin (x)
1
jl (x) = x − ∂x
.
x
x
l
2.4.20
Radial separierte Eigenschwingungen ¤A = 0 auf R4
Die bisher dargestellten Ergebnisse über radial separierte stationäre Lösungen der
d’AWG für n = 3 lassen sich zu folgendem Satz zusammenfassen. Plm bezeichnet die
zugeordneten Legendrefunktion.
¡
¢
Satz 90 Eine Funktion A ∈ C 2 R × R3 ist eine beschränkte Lösung von ¤A = 0
√ Y (θ, φ) auf dem Definitionsbereich der sphärischen Karte (r, θ, φ)
mit A = f (t) h(r)
r
genau dann, wenn ein k ∈ R>0 , ein δ ∈ [0, 2π)√, ein l ∈ N0 und Am , Bm ∈ R für
jedes m ∈ {0, 1,
sodass h (r) / r = jl (kr) , f (t) = cos (ckt − δ)
P.l. . l} existieren,
m
und Y (θ, φ) = m=0 Pl (cos θ) [Am cos (mφ) + Bm sin (mφ)] .
Die Abbildung 2.31 zeigt die sphärischen Besselfunktionen jl (x) =
für l = 0, 1, 2. Speziell für l = 0, 1, 2 ergibt dies mit Rayleighs Formel
sin (x)
sin (x) − x cos (x)
, j1 (x) =
,
x
x2
(3 − x2 ) sin (x) − 3x cos (x)
.
j2 (x) =
x3
j0 (x) =
pπ
J 1
2x l+ 2
(x)
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
y
135
1
0.75
0.5
0.25
0
5
10
15
20
x
-0.25
Abbildung 2.31: Sphärische Besselfunktionen jl für l = 0, 1, 2 (schwarz, rot,
grün) und ±1/x (braun)
2.4.21
Die eingespannte Kugel
Die radial separierten Schwingungsmoden gk,l mit k > 0 und l ∈ N0 , für die auf U
r
π Jl+ 12 (kr)
√
gk,l = jl (kr) Yl (θ, φ) =
Yl (θ, φ)
2
kr
mit (∆S2 + l (l + 1)) Yl = 0 gilt, lösen also
¡
¢
∆3 + k 2 gk,l = 0
auf ganz R3 . Wegen Gleichung (2.34) gilt limλ→∞ gk,l (λx) = 0 für alle x 6= 0.
Welche der Moden gk,l erfüllen homogene Dirichletsche Randbedingungen auf
der Oberfläche der Kugel um 0 mit Radius R? Es gilt jl (kR) = 0 für genau jene
k ∈ R>0 , für die kR eine Nullstelle der Besselfunktion Jl+1/2 ist. Jede Besselfunktion
Jl+1/2 hat abzählbar unendlich viele Nullstellen. Die Nullstellen von Jl+1/2 seien
nach steigendem Wert als zl,1 < zl,2 < . . . notiert. Dann gilt für die Mode gk,l mit
k = zl,n /R
³
r´
gk,l = e
Yl (θ, φ) .
gn,l = jl zl,n
R
Die zu gen,l gehörige stehende Welle hat die Eigenfrequenz ω l,n = czl,n /R. Je größer R, umso dichter liegen diese Eigenfrequenzen beisammen. Die beiden kleinsten
Nullstellen von J3/2 sind z1,1 = 4, 4934 und z1,2 = 7, 7253. (Die niedrigen Nullstellen
sind tabelliert, oder auch mit einem Mathematik-Softwarepaket zu berechnen. Für
die hohen gibt es einfache Näherungsformeln.) Für c = 103 m/ s schwingen somit die
beiden Moden ge1,1 und e
g1,2 einer Kugel vom Radius R = 1 m mit den Frequenzen
ω1,1
ω 1,2
≈ 715 Hz, und ν 1,2 =
≈ 1230 Hz.
ν 1,1 =
2π
2π
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
136
(Man beachte den feinen Unterschied zwischen Frequenz und Kreisfrequenz.)
2.4.22
Auslaufende, winkelseparierte Kugelwelle
Stehwellenlösungen wie cos (ckt) cos (kx) von ¤A = 0 auf R2 sind die Überlagerung zweier gegenläufiger monofrequenter Wellen. Gilt etwas ähnliches für die radial
separierte Stehwellenlösung A mit
Jl+ 1 (kr)
√2
Yl (θ, φ)
kr
A = cos (ckt)
auf U? Dabei sind die Konstanten k ∈ R>0 und l ∈ N0 beliebig gewählt und für
Yl (θ, φ) gilt mit reellen Konstanten Am , Bm
Yl (θ, φ) =
l
X
Plm (cos θ) [Am cos (mφ) + Bm sin (mφ)] .
m=0
(1)
(2)
(1)
Aus Jl+ 1 = <Hl+ 1 und Hl+ 1 = Hl+ 1 folgt
2
2
2
2
(1)
(2)
¢ Hl+ 12 (kr) + Hl+ 12 (kr)
1 ¡ ickt
√
A=
e + e−ickt
Yl (θ, φ) .
4
kr
(1)
(2)
Jede der vier Funktionen e±ickt Hl+ 1 (kr) Yl (θ, φ) und e±ickt Hl+ 1 (kr) Yl (θ, φ) ist die
2
2
Einschränkung einer C 2 -Funktion A : R × (R3 \ 0) → C mit ¤A = 0 auf das Gebiet
U. Die¯ jeweilige¯ Funktion A besitzt jedoch keine stetige Fortsetzung nach x = 0,
¯ (1)
¯
denn ¯Hl+ 1 (x)¯ wächst für x & 0 unbeschränkt an.
2
Es gilt nun wegen Gleichung (2.34), dass für kr → ∞
(1)
r i kr±ckt−(l+1) π
Hl+ 1 (kr)
2)
¡
¢
2e(
e±ickt √2
+ O (kr)−2 .
=
π
kr
kr
(1)
Sei Aein ∈ C 2 (R × (R3 \ 0) : C) mit Aein = eickt Hl+ 1 (kr) Yl (θ, φ) auf U. Es gilt
2
¤Aein = 0 und Aein läuft in großer Entfernung, d.h. für kr À 1, auf den Ursprung
(1)
x = 0 zu. Analog läuft die Lösung Aaus mit Aaus |U = e−ickt Hl+ 1 (kr) Yl (θ, φ) nach
außen weg.39 Es gilt somit auf U die Zerlegung
cos (ckt)
2
Jl+ 1 (kr)
√2
Yl (θ, φ) = <Aein + <Aaus ,
kr
wobei für kr → ∞ die folgende ein- bzw. auslaufende Asymptotik vorliegt
r
¢
¡
¡
¢
2 cos kr + ckt − (l + 1) π2
<Aein =
Yl (θ, φ) + O (kr)−2 ,
π
kr
r
¢
¡
¡
¢
2 cos kr − ckt − (l + 1) π2
Yl (θ, φ) + O (kr)−2 .
<Aaus =
π
kr
39
Man beachte, dass Aaus (t, x) = Aein (−t, x) .
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
137
Die Lösung <Aaus beschreibt die Strahlung einer monofrequent modulierten Punktquelle mit einem Multipolmoment der Ordnung l.
2.4.23
Radial separierte Lösungen von ∆g = 0 auf R3 \ 0
Sei g ∈ C 2 (R × (R3 Â0)) mit ∆g = 0 auf R3 Â0. Auf U gilt g =
dann, wenn dort
∙
¸
1 ¡ 2 ¢ 1
h (r)
Y (θ, φ) = 0.
∂r r ∂r + 2 ∆S2
2
r
r
r
Es gilt
1
∂
r2 r
h(r)
Y
r
(θ, φ) genau
(2.35)
(r2 ∂r ) h(r)
=
r
∙ µ 0
¶¸
1
h (r) h (r)
2
= 2 ∂r r
=
− 2
r
r
r
1
= 2 [h0 (r) + rh00 (r) − h0 (r)] =
r
Somit ist Gleichung (2.35) äquivalent zu
1
∂r [rh0 (r) − h (r)]
2
r
1 00
h (r) .
r
1
h (r) ∆S2 Y (θ, φ) = 0.
r2
Es existiert also ein l ∈ N0 mit ∆S2 Y (θ, φ) = −l (l + 1) Y (θ, φ) und
h00 (r) Y (θ, φ) +
l (l + 1)
h (x) = 0 für alle x > 0.
(2.36)
x2
Mit dem Ansatz h (x) = xα ergibt sich als Raum der maximalen Lösungen von
Gleichung (2.36) die Menge aller Funktionen h : R>0 → R mit h (x) = Axl+1 + Bx−l
für A, B ∈ R. Es gilt g ∈ C 2 (R3 ) genau dann, wenn B = 0, da h (x) /x genau
dann eine stetige Fortsetzung nach x = 0 hat, wenn B = 0. Dass diese Fortsetzung
tatsächlich zu einer Funktion g ∈ C 2 (R3 ) gehört, ist für ungerades l überraschend,
ergibt sich aber aus der Beobachtung, dass rl Plm (cos θ) [A cos (mφ) + B sin (mφ)]
mit A, B ∈ R ein homogenes Polynom vom Grad l in (x, y, z) ist.40 Es gilt also der
folgende Satz.
h00 (x) −
Satz 91 Eine Funktion g : R3 \ 0 → R mit g = f (r) Y (θ, φ) auf dem Definitionsbereich der sphärischen Karte (r, θ, φ) ist genau dann harmonisch, wenn ein l ∈ N0
D
und C, D, Am , Bm , ∈ R für alle m ∈ {0, 1, . . . l} existieren, sodass f (r) = Crl + rl+1
und
l
X
Plm (cos θ) [Am cos (mφ) + Bm sin (mφ)] .
Y (θ, φ) =
m=0
g ist genau dann zu einer auf R3 harmonischen Funktion fortsetzbar, wenn D = 0.
Allgemeinere harmonische Funktionen können wieder durch Überlagerung von
sphärisch separierten harmonischen Funktionen erhalten werden. Als ein Beispiel
dafür wird im Folgenden die Zerlegung der im Gebiet |x| > |y| harmonischen Funktion gy (x) = 1/ |x − y| in sphärisch separierte harmonische Funktionen abgeleitet.
40
Das folgt aus der Definition von Plm und mit Moivres Formel für cos (mφ) und sin (mφ) .
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
138
Satz 92 Seien x, y ∈ R3 mit |x| > |y| > 0. Dann gilt mit hx, yi = |x| |y| cos θ
¶l
∞ µ
1
1 X |y|
Pl (cos θ) .
=
|x − y|
|x| l=0 |x|
Die Reihe ist bei festem x als Funktion von y auf {y ∈ R3 : |y| / |x| ≤ ε} für jedes
ε < 1 gleichmäßig konvergent.
Beweis. Mit z = |y| / |x| folgt
¡
¢
|x − y|2 = |x|2 − 2 |x| |y| cos θ + |y|2 = |x|2 1 − 2z cos θ + z 2 .
Das komplexe Polynom pξ : C → C mit cos θ = ξ und
pξ (z) = 1 − 2ξz + z 2
hat die beiden Nullstellen
q
z± = ξ ± i 1 − ξ 2 .
Sie liegen wegen ξ ∈ [−1, 1] auf dem Einheitskreis in der komplexen Ebene.
Sei nun z = a + ib mit a, b ∈ R und a2 + b2 < 1. Dann folgt
pξ (a + ib) = 1 − 2ξa + a2 − b2 + 2ib (a − ξ) .
pξ (a + ib) ist reell, genau dann, wenn b (a − ξ) = 0. Dies ist genau dann der Fall,
wenn b = 0 oder a = ξ. Aus b = 0 folgt
pξ (a + i0) = 1 − 2ξa + a2 = (a − ξ)2 + 1 − ξ 2 > 0,
da 1 > a2 + b2 = a2 und 1 ≥ ξ 2 . Aus a = ξ folgt
¡
¢
pξ (ξ + ib) = 1 − ξ 2 + b2 > 0,
da 1 > a2 + b2 = ξ 2 + b2 . Also nimmt das Polynom pξ auf der offenen Einheitskreisscheibe in C nur Werte in der geschlitzen Ebene
{z ∈ C : =z = 0 ⇒ <z > 0}
√
an. Damit ist die Funktion 1/ pξ auf der offenen Einheitskreisscheibe holomorph
und hat eine Potenzreihenentwicklung um 0 mit dem Konvergenzradius 1. (Entwicklungssatz) Es gibt also Koeffizienten Cl (ξ) , sodass die Reihe
X
1
p
=
Cl (ξ) z l
pξ (z)
l=0
∞
´(k)
³
−1/2
für alle z ∈ C mit |z| < 1 konvergiert. Wegen k!Ck (ξ) = pξ
(0) ist die
Abbildung ξ 7→ Ck (ξ) ein Polynom. Zum Beispiel ergibt sich C0 (ξ) = pξ (0) = 1
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
139
und
1 −3/2
C1 (ξ) = p0ξ (0) = − pξ (0) · (−2ξ) = ξ,
2
i0
1 h −3/2
2C2 (ξ) = p00ξ (0) = − pξ (z) · (−2ξ + 2z) (z = 0)
2
h
i0
−3/2
= pξ (z) · (ξ − z) (z = 0)
¸
∙
3 −5/2
−3/2
= − pξ (z) · (ξ − z) (−2ξ + 2z) − pξ (z) (z = 0)
2
= 3 (ξ − 0)2 − 1 = 3ξ 2 − 1.
Durch Spezialisierung auf z = |y| / |x| folgt für |x| > |y| > 0
¶l
∞ µ
1 X |y|
1
=
Cl (cos θ) .
gy (x) =
|x − y| |x| l=0 |x|
Die Funktion gy : R3 \ y → R3 ist harmonisch. Nochmalige Spezialisierung auf
y = e3 = (0, 0, 1) ergibt mit r = |x| > 1
X 1
1
=
C (cos θ) .
l+1 l
|x − e3 |
r
l=0
∞
Auf dem Kartenbereich der Kugelkoordinaten folgt
¶µ
¶
∞ µ
X
Cl (cos θ)
2
2
∂r + ∂r + ∆S2
0 = ∆ge3 =
r
rl+1
l=0
=
∞
X
1
(l (l + 1) + ∆S2 ) Cl (cos θ) .
l+3
r
l=0
Also gilt für jedes l ∈ N0
∙
¸
1
∂θ (sin θ∂θ ) + l (l + 1) Cl (cos θ) = 0.
sin θ
Mit x = cos θ gilt somit auf (−1, 1) die Legendresche Differentialgleichung
¤0
¢
£¡
1 − x2 Cl0 (x) + l (l + 1) Cl (x) = 0.
Da die Funktionen Cl stetig nach [−1, 1] fortsetzbar sind, existieren cl ∈ R mit
Cl = cl Pl . Hierbei ist Pl das Legendrepolynom vom Grad l. Es bleiben noch die
Konstanten cl zu bestimmen.
Spezialisiere dazu auf cos θ = 1. Für solche x folgt
X 1
1
1
1
1
=
=
=
ge3 (x) = √
r−1
r 1 − 1/r
rl+1
1 − 2r + r2
l=0
∞
∞
X
X
1
1
=
cl Pl (1) =
cl .
l+1
l+1
r
r
l=0
l=0
∞
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
140
Also gilt cl = 1 für alle l ∈ N0 . (In den Fällen l = 0, 1, 2 kann cl = 1 durch einen
Vergleich obiger Ergebnisse für Cl (ξ) mit den expliziten Formeln für Pl aus Math.
Meth. 1 unmittelbar überprüft werden.) Wir fassen zusammen: Für alle z ∈ C mit
|z| < 1 und für alle ξ ∈ [−1, 1] gilt
X
1
1
p
=p
=
Pl (ξ) z l .
2
pξ (z)
1 − 2ξz + z
l=0
∞
Ohne Verwendung des Entwicklungssatzes folgt die gleichmäßige Konvergenz der
Funktionenreihe
¶l
∞ µ
1 X |y|
Pl (cos θ)
gx : y 7−→
|x| l=0 |x|
auf {y ∈ R3 : |y| / |x| ≤ ε} für ε < 1 aus |Pl (x)| ≤ 1 für alle x ∈ [−1, 1] mit der
y-unabhängigen Majorisierung durch die geometrische Reihe so:
¶l
¶l
∞ µ
∞ µ
∞
1 X |y|
1 X |y|
1 X l
1 1
|gx (y)| ≤
|Pl (cos θ)| ≤
≤
ε =
.
|x| l=0 |x|
|x| l=0 |x|
|x| l=0
|x| 1 − ε
Der Beweis der Abschätzung |Pl (x)| ≤ 1 für alle x ∈ [−1, 1] ist in Kap. 5.34 von [8]
ausgeführt.
Im Bereich r < |y| folgt wie oben durch Vertauschen von x mit y die „Innenraumentwicklung“
∞
1 X rl Pl (cos θ)
gy =
.
|y| l=0
|y|l
Die auf ganz R3 harmonischen Funktionen gl mit gl = rl Pl (cos θ) auf U, die
in der Innenraumentwicklung vorkommen, haben für l = 0, 1, 2, 3 die folgenden
kartesischen Kartenausdrücke.
g0 = 1,
r2
g2 =
2
r3
g3 =
2
g1 = r cos θ = z,
¢ 1¡ 2
¡
¢
3 cos2 θ − 1 =
2z − x2 − y 2 ,
2
¢ z¡ 2
¡
¢
cos θ 5 cos2 θ − 3 =
2z − 3x2 − 3y 2 .
2
Jede der Funktionen gl ist um die z-Achse drehinvariant. Der kartesische Kartenausdruck von gl ist ein homogenens Polynom vom Grad l. Die Funktionen gl /r2l+1
der Außenraumentwicklung sind auf R3 \ 0 harmonisch. Wenn Sie Beispiele für harmonische Funktionen suchen, können Sie hier aus dem Vollen schöpfen.
2.4.24
Multipolentwicklung des Potentials einer lokalisierten Ladungsdichte
Satz 92 gibt eine Reihenentwicklung der Funktion 1/r um einen beliebigen Punkt
x ∈ R3 r 0. Der Konvergenzbereich der Reihe ist eine offene Kugel mit Radius
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
141
1/ |x| . In der Elektrostatik ermöglicht diese Reihenentwicklung die Approximation
des Potentials einer Ladungsverteilung, die innerhalb einer Kugel von endlichem
Radius R angesiedelt ist. Dabei hängt jede der Approximationen nur von endlich
vielen pauschalen Kenngrößen der Ladungsdichte, ihren Multipolmomenten, ab.
Die Potentialfunktion einer Punktladung der Stärke q, die in y sitzt, ist Φy =
q
g . Es gilt im Bereich r > |y| die „Außenraumentwicklung“
4πε0 y
gy
1 X l Pl (cos θ)
=
|y|
r l=0
rl
(
)
µ ¶2
µ ¶3
|y| cos θ
|y| 3 cos2 θ − 1
|y| 5 cos3 θ − 3 cos θ
1
1+
+
+
+ ... .
=
r
r
r
2
r
2
∞
Dies ist äquivalent zu
hy, xi 3 hx, yi2 − |y|2 |x|2 5 hx, yi3 − 3 |y|2 |x|2 hx, yi
1
+
+
+
+ ...
gy (x) =
|x|
|x|3
2 |x|5
2 |x|7
Jetzt ist sichtbar: Die Außenraumentwicklung von y 7→ gy (x) ist gerade die Potenzreihendarstellung der Funktion 1/r um den Entwicklungspunkt x ∈ R3 . Dies lässt
sich für die ersten Terme mithilfe der iterierten Richtungsableitung (yx )n [1/r] auch
direkt nachrechnen. (Übung)
Ist ρ : R3 → R eine C ∞ -Funktion mit ρ (x) = 0 für alle x außerhalb einer Kugel
vom Radius R, dann gilt41 für die Funktion Φ mit
Z
ρ (y) 3
1
dy
Φ (x) =
4πε0
|x − y|
−∆Φ = ρ/ε0 auf ganz R3 . Für |x| > R folgt aus der Außenraumentwicklung von
gy durch Vertauschen von Summe und Integral, das sich ja nur über die Kugel
|y| ≤ R erstreckt, die Zerlegung in radial separierte harmonische Summanden
µ
¶
Z
hx, yi
1 X∞ Ml (x)
l
l
d3 y.
mit Ml (x) = l! ρ (y) |y| |x| Pl
Φ (x) =
l=0 l! |x|2l+1
4πε0
|y| |x|
Summe und Integral über die Kugel |y| ≤ R können aufgrund der gleichmäßigen
Konvergenz des Integranden gegen die Grenzfunktion y 7−→ ρ (y) / |x − y| , die wegen
|x| > R eine C ∞ -Funktion ist, vertauscht werden. (Siehe etwa den „kleinen Satz von
Lebesgue“ in Kap. IV, §8.1.6 in Vol 2 von [3].)
Die Funktion Ml : R3 → R ist homogen vom Grad l, d.h. es gilt Ml (λx) =
l
λ Ml (x) für λ > 0. Explizit für l = 0, . . . 3 :
Z
Z
3
M0 (x) =
ρ (y) d y, M1 (x) = hy, xi ρ (y) d3 y,
Z
ª
©
M2 (x) =
3 hx, yi2 − |y|2 |x|2 ρ (y) d3 y,
Z
©
ª
M3 (x) =
15 hx, yi3 − 9 |y|2 |x|2 hx, yi ρ (y) d3 y.
41
Das wird im Kapitel über Fundamentallösungen gezeigt. Ist ρ eine Massendichte und ersetzt
man 1/4πε0 durch −GN , so ist Φ das Gravitationspotential der Massendichte.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
142
Da Pl ein Polynom vom Grad l mit der Parität (−1)l ist, ist die Funktion Ml
ein homogenes Polynom vom Grad l in den Koordinaten von x. Zu jedem solchen
Polynom existiert genau eine symmetrische l-Linearform
Ml : R3 × R3 . . . × R3 → R,
für die Ml (x, . . . x) = Ml (x) gilt. Eine l-Linearform Ml heißt symmetrisch, falls
¡
¢
Ml xπ(1) , . . . xπ(l) = Ml (x1 , . . . xl )
für jede Permutation π und für alle x1 , . . . xl ∈ R3 . Die symmetrische Linearform
Ml ist durch die sogenannte Polarisierungsformel
à l
!
X
X
1
Ml (x1 , x2 , . . . xl ) = l
ε1 ε2 . . . εl Ml
εi xi
2 l! ε =±1,...ε =±1
i=1
1
l
gegeben.
Somit gilt für alle x mit |x| > R und mit der Abkürzung x0 = x/ |x|
½
¾
M0
M1 (x0 ) M2 (x0 , x0 ) M3 (x0 , x0 , x0 )
1
+
+
+
+ . . . mit
Φ (x) =
4πε0 0! |x|
1! |x|2
2! |x|3
3! |x|4
Z
Z
3
ρ (y) d y, M1 (x) = hD, xi mit D = yρ (y) d3 y,
M0 =
Z
ª
©
M2 (u, v) =
3 hy, ui hy, vi − |y|2 hu, vi ρ (y) d3 y und
Z
M3 (u, v, w) = 15 hy, ui hy, vi hy, wi ρ (y) d3 y −
Z
−3 |y|2 (hv, wi hy, ui + hu, wi hy, vi + hu, vi hy, wi) ρ (y) d3 y.
Die Zahl M0 ∈ R heißt Gesamtladung der Ladungsdichte ρ, die Linearform M1
heißt Dipolform und ist durch den Dipolmomentenvektor D ∈ R3 charakterisiert.
M2 bzw M3 heißen Quadrupol- bzw Oktopolmomentenform. Der Beitrag des l-ten
Multipolmoments zum Potential Φ ist homogen vom Grad − (l + 1) in x. Je höher
das Multipolmoment, umso rascher fällt somit sein Beitrag zum Potential mit der
Entfernung vom Ort der Quelle ab.
Wie ändert sich Ml , wenn die Ladungsdichte ρ verschoben, gespiegelt und verdreht wird? Hier ein paar leicht zu beweisende Befunde: M0 ist invariant unter allen
Operationen. Für M0 = 0 ist M1 invariant unter Verschiebungen von ρ und der
Betrag des Dipolvektos D ist invariant unter Drehspiegelungen und Verschiebungen von ρ. Für M0 = 0 = M1 ist M2 translationsinvariant. Allgemeiner gilt: Ist l
die kleinste Zahl mit Ml 6= 0, dann ist Ml translationsinvariant. Für jedes beliebige l gilt: Wird ρ mit der Drehspiegelung R : R3 → R3 in (R∗ρ) (x) = ρ (R−1 x)
„transformiert“, und bezeichnet R ∗ Ml die Multipolform von R∗ρ, dann gilt
¡
¢
(R ∗ Ml ) (x1 , . . . xl ) = Ml R−1 x1 , . . . R−1 xl .
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
143
Man sagt: Ml ist kovariant unter Drehungen.
Ist e = (e1 , e2 , e3 ) eine (beliebige) Basis von R3 , dann heißen die 3n reellen Zahlen
Ml (ei1 , . . . eil )
die kovarianten Komponenten des l-ten Multipolmoments
P i zur Basis e. Sie legen die
Funktion Ml eindeutig fest, denn es gilt mit xα = ι xα ei
Ml (x1 , . . . xl ) =
3
X
i1 ,...il =1
Ml (ei1 , . . . ein ) xi11 . . . xill .
Die Multipolkomponenten sind charakteristische Kenngrößen einer Ladungsverteilung. Falls der Lokalisierungsradius einer Ladungsdichte mikroskopisch ist, dann
lassen sich nur ihre niedrigsten Multipolmomente vermessen. Der Rest an Details
von ρ bleibt unerkannt.
Die kovarianten Komponenten von Ml sind, allein schon wegen der Symmetrie von Ml , nicht alle unabhängig voneinander. Es gilt ja Ml (. . . ei . . . ej . . .) =
Ml (. . . ej . . . ei . . .) . Weitere Zusammenhänge zwischen den Komponenten lassen
sich aus ∆gy = 0 auf R3 \ y folgern. So gilt etwa für l ≥ 2 mit der inversen Matrix
G−1 der Gramschen Matrix G zur Basis e mit den Einträgen Gij = hei , ej i
X3
i,j=1
¡ −1 ¢ij
Ml (ei , ej , ei3 , . . . eil ) = 0.
G
Mit den Abkürzungen yi = hei , yi ergibt sich für die kovarianten Komponenten
von Ml für l = 1, 2, 3
Z
M1 (ei ) =
yi ρ (y) d3 y,
Z
©
ª
M2 (ei , ej ) =
3yi yj − |y|2 Gij ρ (y) d3 y,
Z
¡
¢
M3 (ei , ej , ek ) = 3
5yi yj yk − |y|2 (yi Gjk + yj Gki + yk Gij ) ρ (y) d3 y.
2.4.25
Die Kugelflächenfunktionen Ylm
Die große Zahl an faktorisierenden Lösungen linearer partieller Differentialgleichungen, die uns bisher begegneten, sollte uns nicht vergessen lassen, dass faktorisierende
Lösungen nur einen winzigen Ausschnitt der gesamten Lösungsmenge einer partiellen
Differentialgleichung geben. Natürlich sind Summen von faktorisierenden Lösungen
wieder Lösungen.
Bei der schwingenden Saite sahen wir, dass Lösungen zu recht allgemeinen Anfangsbedingungen durch Linearkombinieren von faktorisierenden Lösungen erhalten
werden können. Das entscheidende Faktum ist dabei Entwickelbarkeit der Anfangsdaten in Fouriersche Sinusreihen. Etwas analoges liegt in den räumlich höher dimensionalen Fällen vor. Hier treten Reihenentwicklungen der Anfangsdaten (oder
auch der Randwerte) nach den (Randwerten der) Eigenmoden eines Problems an
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
144
die Stelle der Sinusreihen. Zwei entscheidende Fakten im Gebiet der Fourierreihen
sind die Vollständigkeit und die Orthogonalität des benützen Funktionensystems.
Orthogonalität und Vollständigkeit liegen auch in höher dimensionalen Fällen vor.
Einen kleinen Einblick liefert dieser Abschnitt, wenn auch ohne Beweise.
Zu gegebenem l ∈ N0 spannen die Funktionen
{Plm (cos θ) cos (mφ) : m = 0, . . . l} ∪ {Plm (cos θ) sin (mφ) : m = 1, . . . l}
einen 2l + 1-dimensionalen Funktionenraum auf, dessen Elemente Kartenausdrücke
von reellen, dehnungsinvarianten C 2 -Funktionen auf R3 \ 0 sind. Der Raum der komplexen Linearkombinationen dieser Basisfunktionen ist natürlich komplex 2l + 1dimensional. In ihm existiert nun eine weithin benützte Basis mit besonders angenehmen Eigenschaften. Es ist die folgende.
Definition 93 Sei für m ∈ {−l, −l + 1, . . . − 1} die Funktion Plm : (−1, 1) → R
durch
m/2
¢l
dl+m ¡ 2
(1 − x2 )
m
Pl (x) =
−
1
x
2l l!
dxl+m
definiert.
|m|
Die Funktion Plm ist jedoch für m < 0 keine von Pl gänzlich verschiedene Funktion, deren Eigenschaften wir erst mühsam ermitteln müssen. Auch sie ist Lösung
der allgemeinen Legendreschen Differentialgleichung, denn sie ist ein Vielfaches der
|m|
Funktion Pl , die ja eine Lösung von Legendres Differentialgleichung ist.
(l−m)! m
Lemma 94 Für alle (l, m) ∈ N0 × Z mit |m| ≤ l gilt Pl−m = (−1)m (l+m)!
Pl .
Beweis. In einer Vorüberlegung rechnet man mithilfe der Leibnizregel nach, dass
für alle x ∈ (−1, 1) und für alle l ∈ N0 und m ∈ N0 mit m ≤ l
n
o
n
o
l
l
l+m
∂xl−m (x + 1)l (x − 1)l
(x
+
1)
∂
(x
−
1)
¢m x
¡
= x2 − 1
(l − m)!
(l + m)!
gilt. Zunächst überlegt man, dass
∂xk (x ± 1)l =
l!
(x ± 1)l−k für 0 ≤ k ≤ l und ∂xk (x ± 1)l = 0 für k > l.
(l − k)!
Daraus ergibt sich mit der Leibnizregel
n
o
ih
i
h
¶ ∂ k (x + 1)l ∂ l−m−k (x − 1)l
l−m µ
∂xl−m (x + 1)l (x − 1)l
X
x
x
l−m
=
=
k
(l − m)!
(l
−
m)!
k=0
h
ih
i
l−k
m+k
l!
l!
l−m
(x
+
1)
(x
−
1)
X (l−k)!
(m+k)!
=
k! (l − m − k)!
k=0
2
= (l!)
l−m
X
k=0
(x + 1)l−k (x − 1)m+k
.
k! (l − m − k)! (l − k)! (m + k)!
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
Für die rechte Seite folgt
n
o
l
l
l+m
(x + 1) (x − 1)
∂x
(l + m)!
145
h
ih
i
¶ ∂ k (x + 1)l ∂ l+m−k (x − 1)l
x
x
l+m
=
k
(l + m)!
k=m
h
ih
i
l−k
k−m
l!
l!
l
(x
+
1)
(x
−
1)
X
(l−k)!
(k−m)!
=
k! (l + m − k)!
k=m
∙
¸∙
¸
0
0
l
X
µ
l−m
X
2
= (l!)
= (l!)2
k0 =0
l−m
X
k=0
m
(x+1)l−k −m
(l−k0 −m)!
(x−1)k
(k0 )!
(k0 + m)! (l − k0 )!
(x + 1)l−k−m (x − 1)k
.
k! (l − k − m)! (l − k)! (k + m)!
Multiplikation mit (x2 − 1) schließlich ergibt die Behauptung der Vorüberlegung.
Die Behauptung des Lemmas ist zu
(l + m)!Pl−m = (−1)m (l − m)!Plm
äquivalent. Einsetzen der Definition von Plm zeigt, dass diese Bedingung zu
(l + m)!
−m/2
(1 − x2 )
2l l!
m/2
¢l
¢l
¡
¡
(1 − x2 )
∂xl−m x2 − 1 = (−1)m (l − m)!
∂xl+m x2 − 1
l
2 l!
äquivalent ist. Dies wiederum ist äquivalent zu
l
¢m ∂xl+m (x2 − 1)l
¡ 2
∂xl−m (x2 − 1)
= x −1
.
(l − m)!
(l + m)!
Die Gültigkeit dieser Relation wurde für m ≥ 0 in der Vorüberlegung gezeigt. Somit
gilt
(l − m)! m
P
Pl−m = (−1)m
(l + m)! l
für alle m ≥ 0.
Für negative m folgt daraus mit m = − |m|
−|m|
Plm = Pl
= (−1)|m|
(l − |m|)! |m|
(l + m)! −m
Pl = (−1)−m
P .
(l + |m|)!
(l − m)! l
Somit gilt die Behauptung auch für negative m.
Definition 95 Sei l ∈ N0 und m ∈ {−l, −l + 1, . . . l − 1, l} . Dann heißt die Funktion Ylm : (0, π) × (0, 2π) → C mit
s
l + 12 (l − m)! m
Ylm (θ, φ) = (−1)m
·
P (cos θ) eimφ
2π (l + m)! l
Kugelflächenfunktion vom Typ (l, m) .
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
146
Zwischen Yl−m und Ylm besteht der Zusammenhang Yl−m = (−1)m Ylm .42 Die
niedrigsten Kugelflächenfunktionen sind hier zusammengefasst. Sie ergeben sich direkt aus den expliziten Ausdrücken für Plm .
r
r
¢
3
5 ¡
1
Y00 (θ, φ) = √ , Y10 (θ, φ) =
cos (θ) , Y20 (θ, φ) =
3 cos2 (θ) − 1 ,
4π
16π
4π
r
r
3
15
Y11 (θ, φ) = −
sin (θ) eiφ , Y21 (θ, φ) = −
cos (θ) sin (θ) eiφ ,
8π
8π
r
15
sin2 (θ) e2iφ .
Y22 (θ, φ) =
32π
Der folgende Satz zeigt, dass die (nichtnegative) Funktion |Ylm |2 die Dichte eines
Wahrscheinlichkeitsmaßes auf der Oberfläche der Einheitskugel ist. Da diese Dichte
konstant in φ ist, genügt es ihren Verlauf entlang eines beliebigen Großkreises durch
Nord- und Südpol der Kugelkoordinaten. zu veranschaulichen. Dies wiederum kann
2
mithilfe eines Polardiagramms gemacht werden. Figur (2.32) zeigt |Y20 | .
z
0.2
0
-0.05
0
0.05
-0.2
2
Abbildung 2.32: |Y20 | längs Großkreis durch Pole
Satz 96 Seien (l, m) , (l0 , m0 ) ∈ N0 × Z mit |m| ≤ l und |m0 | ≤ l0 . Dann gilt die
Orthonormierungsbedingung
¶
Z π µZ 2π
m
m0
Yl0 (θ, φ)Yl (θ, φ) dφ sin θdθ = δ l0 l δ m0 m
0
42
0
Es gilt ja
Yl−m (θ, φ)
−m
= (−1)
s
s
l + 12 (l + m)! −m
(cos θ) e−imφ
·
P
2π
(l − m)! l
l + 12 (l + m)!
m (l − m)! m
·
(−1)
P (cos θ) e−imφ
2π
(l − m)!
(l + m)! l
s
l + 12 (l − m)! m
m
m
= (−1) (−1)
·
P (cos θ) e−imφ = (−1)m Ylm (θ, φ).
2π
(l + m)! l
m
= (−1)
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
147
Sei f (θ, φ) Kartenausdruck einer stetigen C-wertigen Funktion auf der Einheitskugel
und sei
¶
Z µZ
π
2π
Ylm (θ, φ)f (θ, φ) dφ sin θdθ.
cl,m :=
0
0
Dann konvergiert die Reihe (fL )
fL (θ, φ) =
L X
l
X
cl,m Ylm (θ, φ)
l=0 m=−l
im quadratischen Mittel gegen f, d.h. es gilt
¶
Z π µZ 2π
2
lim
|f (θ, φ) − fL (θ, φ)| dφ sin θdθ = 0.
L→∞
2.4.26
0
0
Radial separierte Eigenschwingungen ¤A = 0 auf R3
Sei A : R × R2 → R eine nichttriviale Lösung von ¤A = 0 mit A (t, x) = f (t) g (x) .
Es existiert also ein λ ∈ R mit f 00 + c2 λf = 0 und ∆g + λg = 0. Ist A beschränkt,
dann folgt λ ≥ 0. Es gelte überdies g = h (r) P (φ) auf dem Definitionsbereich der
Polarkoodinatenfunktionen (r, φ) . Daraus folgt
µ
¶
1 0
h (r)
00
∆g = h (r) + h (r) P (φ) + 2 P 00 (φ) = −λh (r) P (φ) .
(2.37)
r
r
Für ein r0 mit h (r0 ) 6= 0 und ein φ0 mit P (φ0 ) 6= 0 ergibt sich aus Gleichung
(2.37) durch Einschränkung auf r = r0 und Multiplikation mit r02 /h (r0 ) bzw. durch
Einschränkung auf φ0 und Multiplikation mit 1/P (φ0 )
0 = P 00 (φ) + λ2 P 00 (φ)
1
λ2
0 = h00 (r) + h0 (r) − 2 h (r) = −λh (r) mit
r
r
¸
∙
2 00
P 00 (φ0 )
r0 h (r0 ) + r0 h0 (r0 )
2
=−
.
λ2 = λr0 +
h (r0 )
P (φ0 )
Die Gleichung für P hat genau dann maximale Lösungen, die zu einem g ∈ C 2 (R2 )
gehören, wenn λ2 = m2 für ein m ∈ N0 . Es sind die Funktionen
P (φ) = A cos (mφ) + B sin (mφ)
mit A, B ∈ R. (Im Fall m = 0 ist der zu einem g ∈ C 2 (R2 ) gehörige Lösungsraum
der Gleichung für P tatsächlich nur 1-dimensional.)
Für nichtstatische, beschränkte Lösungen, also für λ > 0, genügt es, den Fall
λ = 1 zu behandeln. Die radiale Funktion h ist für λ = 1 somit eine maximale
Lösung der Besselschen Differentialgleichung auf R>0
¶
µ
1 0
m2
00
(2.38)
h (r) + h (r) + 1 − 2 h (r) = 0
r
r
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
148
zum Parameter m2 für ein m ∈ N0 . In Abschnitt 2.4.17 ist gezeigt, dass im Raum
der maximalen Lösungen von Gleichung (2.38) die Vielfachen der Besselfunktion Jm
eine stetige Fortsetzung nach r = 0 haben. Jede davon linear unabhängige Lösung
ist für x → 0 hingegen unbeschränkt. (Siehe §4.7e in Vol. 2 von [3]) Also gilt der
Satz 97 Für g ∈ C 2 (R2 ) gelte auf dem Definitionsbereich U der Polarkoordinaten
g = h (r) P (φ) . Dann gilt (∆ + k 2 ) g = 0 für ein k > 0 genau dann, wenn Konstante
A, B ∈ R und m ∈ N0 existieren, sodass g = Jm (kr) (A cos (mφ) + B sin (mφ)) auf
U gilt.
¡
¢
Korollar 98 A ∈ C 2 R × R2 ist eine beschränkte Lösung von ¤A = 0 mit A =
f (t) h (r) P (φ) auf dem Definitionsbereich der Polarkoordinaten (r, φ) genau dann,
wenn ein k ∈ R>0 , ein δ ∈ [0, 2π) , ein m ∈ N0 und α, β ∈ R existieren, sodass
A = cos (ckt − δ) Jm (kr) (α cos (mφ) + β sin (mφ)) .
Die Abbildung (2.33) zeigt die ganzzahligen Besselfunktionen Jm für m = 0, 1, 2, 3
in schwarz, rot, grün und blau.
1
0.75
0.5
0.25
0
0
5
10
15
20
-0.25
r
Abbildung 2.33: Ganzzahlige Besselfunktionen
2.4.27
Die eingespannte Kreismembran
Welche der Funktionen Jm (kr) (A cos (mφ) + B sin (mφ)) erfüllen homogene Dirichletsche Randbedingungen auf einem Kreis um 0 mit dem Radius R? Seien zm,1 <
zm,2 < . . . die (abzählbar unendlich vielen) Nullstellen der Besselfunktion Jm . Dann
z
gilt Jm (kR) = 0 genau dann, wenn k = zm,i /R für ein i ∈ N. Sei km,i = m,i
. Die
R
zugehörigen Eigenmoden sind die Funktionen
³
³
r´
r´
cos (mφ) und γ m,i,2 = Jm zm,i
sin (mφ)
γ m,i,1 = Jm zm,i
R
R
Daher existieren für jede Eigenschwingung (der am Rand eingespannten Membran) A, B, δ ∈ R, sodass
Am,i = cos (ckm,i t − δ) Jm (km,i r) [A cos (mφ) + B sin (mφ)] .
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
149
Abbildung (2.34) zeigt die Funktion J3 (r) cos (3φ) im Bereich 0 < r < 13, 015. Die
obere Grenze für r ist annähernd die dritte Nullstelle von J3 . Siehe Abbildung (2.35).
x
-10
-10
z
-5
0.4
0.2
0
-0.2
-0.4
5
-5
0
0
5
10
10
y
Abbildung 2.34: Die Eigenmode γ 3,3,1 im Bereich 0 < r < 13, 015
0.375
0.25
0.125
0
0
2.5
5
7.5
10
12.5
15
r
-0.125
-0.25
Abbildung 2.35: J3 (r)
Hier noch ein paar realistische Eigenfrequenzen einer Trommelmembran: Es gilt
z0,1 ≈ 2, 405 und z3,3 ≈ 13, 015. Für c = 500 m/ s und R = 1/2 m folgen aus
2πν m,i = zm,i Rc die Werte ν 0,1 ≈ 382 Hz und ν 3,3 ≈ 1990 Hz.
Durch Überlagerung verschiedener Eigenschwingungen können laufende Wellen
gewonnen werden. Zum Beispiel Wellen, die im Kreis laufen:
Jm (km,i r) [cos (ckm,i t) cos (mφ) + sin (ckm,i t) sin (mφ)]
= Jm (km,i r) cos (ckm,i t − mφ)
Abbildung (2.37) zeigt eine Momentaufnahme zur Zeit t = 0 dieser Welle für m = 1
und i = 1. Es gilt z1,1 ≈ 3, 832.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
150
3.75e-5
2.5e-5
1.25e-5
0
0
0.5
1
1.5
2
2.5
3
-1.25e-5
¡
Abbildung 2.36: Die Abbildung x 7→ J3 13.015 +
x
104
¢
Abbildung 2.37: J1 (3.832r) cos (φ)
2.4.28
Radial separierte Lösungen von ∆g = 0 auf R2 \ 0
Eine Funktion g ∈ C 2 (R2 \ 0) , für die g = h (r) P (φ) auf U gilt, ist genau dann
Lösung von ∆g = 0, wenn P 00 + m2 P = 0 für ein m ∈ N0 gilt, und h eine maximale
Lösung der Eulerschen Differentialgleichung auf R>0
x2 h00 (x) + xh0 (x) = m2 h (x)
(2.39)
ist. Für m > 0 sind die Funktionen h± (x) = x±m eine Basis des Raumes der
maximalen Lösungen von Gleichung (2.39). Für m = 0 sind die Funktionen ln (x)
und 1 eine Basis. Somit gilt
Satz 99 g ∈ C 2 (R2 \ 0) ist genau dann eine radial separierte Lösung von ∆g = 0,
wenn ein m ∈ N0 und A, B, C, D ∈ R existieren, sodass auf U
½
(Crm + Dr−m ) (A cos (mφ) + B sin (mφ)) für m ∈ N
g=
.
(C + D ln r)
für m = 0
g hat genau dann eine harmonische Fortsetzung auf R2 , wenn D = 0.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
151
Die kartesischen Kartenausdrücke der Funktionen rm cos mφ und rm sin mφ sind
homogene Polynome vom Grad m in x und y. Zum Beispiel gilt
¢
¡
r2 cos 2φ = r2 cos2 φ − sin2 φ = x2 − y 2 und r2 cos 2φ = 2r2 sin φ cos φ = 2xy.
Allgemeinere harmonische Funktionen auf R2 \0 ergeben sich durch Überlagerung
¶
µ
¶
N µ
X
Bm
Dm
m
m
g = A + B ln r +
Am r + m cos (mφ) + Cm r + m sin (mφ) . (2.40)
r
r
m=1
Gleichung (2.40) kann durch Fourierentwicklung der Randvorgaben zur Lösung
von Dirichlet’schen Randwertproblemen auf einem Kreisring, auf einer Kreisscheibe
oder deren Komplement benützt werden. In manchen Fällen lassen sich die Konstanten A, B, Am . . . ∈ R explizite angeben. Zum Beispiel folgt für die auf dem
Kreisring ρ < r < R harmonische Funktion g mit den Randvorgaben g|r=R = 0 und
g|r=ρ = cos φ durch Koeffizientenvergleich
ρx
ρ
R2 − r 2
cos φ = 2
g= 2
2
R −ρ
r
R − ρ2
µ
¶
R2
−1 .
x2 + y 2
(2.41)
Abbildung 2.38: Die harmonische Funktion von Gl. (2.41)
2.4.29
Poissons Lösungsformel
Eine Funktion g des Typs von Gleichung (2.40) hat genau dann eine harmonische
Fortsetzung nach 0, wenn B = 0 und Bm = Dm = 0 für alle m. Dann gilt mit
h ◦ φ = g|r=R
g=
N
X
k=−N
Ck
³ r ´|k|
R
1
exp (ikφ) mit Ck =
2π
Z
0
2π
exp (−ikξ) h (ξ) dξ.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
152
Dies ergibt bei fest gewähltem trigonometrischen Polynom h vom Grad N für r < R
Z 2π X
N ³ ´
r |k| ik(φ−ξ)
1
e
h (ξ) dξ
g =
2π 0 k=−N R
)
Z 2π (X
N ³
N
1
r i(φ−ξ) ´k X ³ r −i(φ−ξ) ´k
h (ξ) dξ
=
e
e
+
2π 0
R
R
k=0
k=1
)
Z 2π (X
∞ ³
∞
1
r i(φ−ξ) ´k X ³ r −i(φ−ξ) ´k
=
h (ξ) dξ.
e
e
+
2π 0
R
R
k=0
k=1
Die geometrischen Reihen ergeben mit λ =
∞
X
k=0
k
λ +
∞
X
k
λ
=
k=1
Also gilt
R2 − r 2
g=
2π
r i(φ−ξ)
e
R
λ
1
+
1−λ 1−λ
1 − |λ|2
=
1 − 2<λ + |λ|2
R2 − r 2
=
.
R2 − 2Rr cos (φ − ξ) + r2
Z
0
2π
R2
h (ξ)
dξ.
− 2Rr cos (φ − ξ) + r2
(2.42)
Wegen R2 − 2Rr cos (φ − ξ) + r2 = |(r cos φ − R cos ξ, r sin φ − R sin ξ)|2 hat Gleichung (2.42) eine einfache geometrische Bedeutung: Der Wert g (x) ist das Kurvenin2 −r2 h·grad(φ)
tegral des Vektorfeldes V = R 2π
längs γ : (0, 2π) → R2 , t 7→ R (cos t, sin t) .
|id−x|2
Gilt die Integraldarstellung (2.42) auch für harmonische Funktionen in der Kreisscheibe, wenn die Randvorgabe kein trigonometrisches Polynom ist?
Satz 100 (Poissons Lösungsformel) Das DRWP zu ∆g = 0 auf der offenen
Kreisscheibe um 0 mit Radius R > 0 hat zu p
jeder stetigen Randvorgabe h eine
Lösung gh . Es gilt für alle (x, y) ∈ R2 mit r = x2 + y 2 < R und mit θ ∈ [0, 2π)
so, dass x = r cos θ und y = r sin θ
Z
h (ξ)
R2 − r2 2π
dξ.
gh (x, y) =
2
2π
R − 2Rr cos (θ − ξ) + r2
0
Beweis. Siehe Kap.III, §6.5.4-6.5.5, Vol 2 von [3].
Das höherdimensionale Analogon zu Poissons Lösungsformel ist in Kap.V, §14.2.6,
Vol 2 von [3] zu finden. Figur 2.39 zeigt den Poissonkern
¡
¢
1 − r2
2
Pr (φ) =
=
1
+
2
r
cos
φ
+
r
cos
2φ
+
.
.
.
,
1 + r2 − 2r cos φ
dessen Faltung mit h die Lösung gh bestimmt. Seine Singularität bei r = 1 und
φ = 0 deutet sich an. Weitere seiner Eigenschaften sind in Lemma 27.3 von Ref. [7]
zu finden.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
153
Abbildung 2.39: Polarplot von Pr (φ) für 0 < r < 0, 8
2.5
Symmetrische Lösungsansätze
Viele physikalisch wichtige partielle Differentialgleichungen besitzen eine Symmetriegruppe. Dies ist etwa die Symmetriegruppe der euklidischen Geometrie (Translationen und Drehungen) im Fall von Laplace- oder Helmholtzgleichung. Bei den Gleichungen, die auf einer Raumzeit formuliert sind, geht die euklidische Symmetriegruppe oft in einer größeren Gruppe als Untergruppe auf. Die gesamte Symmetriegruppe
der Gleichung umfasst dann auch eine Gruppe von „gleichförmigen” Relativbewegungen. Im Fall der Wärmeleitungsgleichung sind das die Galileitransformationen,
im Fall von d’Alemberts Gleichung sind es die Lorentztransformationen. Auch wenn
die Details variieren, ein Muster bleibt immer dasselbe: Eine Gruppe G von Abbildungen der Lösungsmenge der jeweiligen partiellen Differentialgleichungen auf sich
selbst lässt sich relativ durchsichtig aus der Symmetriegruppe der zugrundegelegten
Raumzeitgeometrie bilden.
Ein bereits vertrautes Beispiel ist das Drehen von Lösungen u der Laplacegleichung ∆u = 0 um einen Punkt p. Mit u ist für jede Drehung R : Rn → Rn auch die
Funktion
¡
¢
R ∗ u : Rn → R mit R ∗ u : x 7→ u p + R−1 (x − p)
eine Lösung der Laplacegleichung.
Interessant sind nun jene Lösungen, die von einer Untergruppe G0 der gesamten Symmetriegruppe stabilisiert werden. So sind etwa die rein radialen Lösungen
u = f (r) der Laplacegleichung invariant unter allen Drehungen um 0. Was ist der
entscheidende Sachverhalt? u ist konstant auf den Orbits von G0 auf Rn . Der Orbit
eines Punktes p 6= 0 unter allen Drehungen um 0 ist die Kugeloberfläche mit Zentrum 0, auf der p liegt. Daher ist der Kartenausdruck von u in Kugelkoordinaten
unabhängig von den Winkeln. Derartige rein radiale Lösungen sind aber mit dem
Ansatz u = f (r) recht einfach zu finden, da die partielle Differentialgleichung sich
zu einer gewöhnlichen reduziert.
Es soll nun am Beispiel einer partiellen Differentialgleichung, die die Lorentzgruppe als Symmetriegruppe besitzt, versucht werden, Lösungen zu finden, die in-
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
154
variant unter der orthochronen Lorentzgruppe sind. Wir wählen als Beispiel die
Klein-Gordon Gleichung
¡
¢
¤ + κ2 A (x) = 0.
Dabei sei κ ∈ R>0 . Wir suchen nach einer C 2 -Lösung A, die zumindest am offenen
Vorwärtskegel43 C0+ von 0 definiert ist und zudem konstant auf den Gruppenorbits
der orthochronen Lorentzgruppe ist. Da dies die Hyperboloide
(
)
n
X
¡
¢
¡
¢
2
2
x ∈ Rn+1 : x0 > 0 und hx, xi = x0 −
xi = μ2
i=1
für μ2 > 0 sind, existiert eine C 2 -Funktion f : R>0 → R mit
´
³¡ ¢
¡
¢
2
A x0 , x = f x0 − |x|2 ,
Pn
i 2
wobei |x|2 =
i=1 (x ) . Wir schränken uns weiter auf den Fall n = 3 ein und
notieren die Zeitkoordinatenfunktion als t und die radiale Koordinate als r. Somit
gilt A = f (t2 − r2 ) .
Die Wellengleichung für A auf C0+ gilt genau dann, wenn
¶
µ
¡
¡
¢
¢
2
2
2
∂t − ∂r − ∂r f t2 − r2 + κ2 f t2 − r2 = 0
r
im Bereich 0 < r < t. Dies ist, nach kurzer Nebenrechnung, äquivalent zur gewöhnlichen Differentialgleichung
4xf 00 (x) + 8f 0 (x) + κ2 f (x) = 0
√
für alle x > 0. Mit der Substitution f (x) = g ( x) ist diese Gleichung äquivalent zu
3
g 00 (x) + g 0 (x) + κ2 g (x) = 0
x
für alle x > 0. Als letzte Substitution wird g (x) = h (x) /x durchgeführt. Damit gilt
für alle x > 0
¶
µ
h0 (x)
1
00
2
h (x) +
+ κ − 2 h (x) = 0.
x
x
Für κ = 1 ist dies gerade die Besselsche Differentialgleichung zum Parameter
ν 2 = 1. Deren Lösungen sind somit Linearkombinationen von J1 und N1 . Daraus
ergeben sich (mit dem Dehnungsargument) die orthochron Lorentzinvarianten Lösungen Aα,β der Klein-Gordon Gleichung mit α, β ∈ R und
³ p
³ p
´
´
J1 κ hx, xi
N1 κ hx, xi
p
p
Aα,β (x) = α
+β
κ hx, xi
κ hx, xi
für alle x ∈ C0+ . Nur die Lösungen Aα,0 sind beschränkt.
43
©
ª
C0+ := x ∈ Rn+1 : x0 > 0 und hx, xi > 0
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
155
Im Grenzfall κ = 0 ergeben sich die in C0+ lokalisierten, orthochron Lorentzinvarianten Lösungen von d’Alemberts Wellengleichung wegen h (x) = αx + β/x zu
Aα,β (x) = α +
β
.
hx, xi
Nur die konstanten Lösungen Aα,0 sind beschränkt. Eine kleine Nebenrechnung bestätigt übrigens, dass auf C0+ tatsächlich ¤Aα,β = 0 gilt. Aα,β löst d’Alemberts
Wellengleichung sogar überall auf R4 r {x : hx, xi = 0} .
2.6
Lösung durch Fouriertransformation
Die Bestimmung einer Lösung eines Anfangswertproblems mithilfe der Fouriertransformation soll am Beispiel der Klein-Gordon Gleichung ausgebreitet werden. Wir
müssen dabei die Anfangsvorgaben etwas stärker einschränken, um sie einer Fouriertransformation unterziehen zu können. Dazu verwenden wir den Raum der schnell
fallenden C ∞ -Funktionen mit Werten in K = C oder K = R :
¯
o
n
¯
S (Rn : K) = f : Rn → K ¯f ∈ C ∞ und |f |k,l endlich für alle k, l ∈ N0
³
´
k P
α
mit |f |k,l = supx∈Rn 1 + |x|
|α|≤l |∂ f (x)| .
Es seien also u, v ∈ S (Rn : R) gegeben. Eine C 2 -Funktion A : R × Rn → R mit
A (0, x) = u (x) und ∂0 A (0, x) = v (x) und
¢
¡
¤ + κ2 A = 0
für ein κ2 > 0 heißt Lösung der Klein-Gordon Gleichung mit Parameter κ2 zur
Anfangsvorgabe u, v.
Zur Bestimmung einer solchen Lösung ist der Ansatz
Z h
i dn k
¡ 0 ¢
1
−iω(k)x0 +ik·x
A x ,x =
a
(k)
e
+
c.c.
2ω (k)
(2π)n/2 Rn
mit einerq
noch unbestimmten (absolut integrablen) Funktion a : Rn → C und mit
ω (k) = κ2 + |k|2 geeignet. Falls der Wellenoperator nämlich mit dem Integral
vertauscht, ist A offenbar eine reellwertige Lösung der Klein-Gordon Gleichung. Die
Funktion a lässt sich nun aus den Anfangsvorgaben u, v ermitteln, da für alle x ∈ Rn
Z
£
¤ dn k
1
ik·x
a (k) e + c.c.
u (x) =
2ω (k)
(2π)n/2 Rn
Z
ik·x
a (k) + a (−k) e
=
dn k
n/2
2ω
(k)
(2π)
Rn
und weiter, wieder unter Vertauschung der Zeitableitung mit dem Integral,
Z
£
¤ dn k
1
ik·x
(−iω
(k))
a
(k)
e
−
c.c.
v (x) =
2ω (k)
(2π)n/2 Rn
Z
a (k) − a (−k) eik·x n
= −i
d k.
2
(2π)n/2
Rn
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
156
Somit gilt nach dem Satz von der Fourierumkehr, dass für alle k ∈ Rn
Z
a (k) + a (−k)
e−ik·y n
= ω (k)
u (y)
d y,
2
(2π)n/2
Rn
Z
a (k) − a (−k)
e−ik·y n
= i
v (y)
d y.
2
(2π)n/2
Rn
Daraus folgt für alle k ∈ Rn
Z
a (k) =
[ω (k) u (y) + iv (y)]
Rn
e−ik·y
n/2
(2π)
dn y.
Tatsächlich ist also die Funktion a durch u und v vollständig bestimmt.
Ohne Beweis sei mitgeteilt: Für u, v ∈ S (Rn : R) folgt a ∈ S (Rn : C) , sodass
A auch wirklich eine Lösung der Klein-Gordon Gleichung ist. Die mit dem Fourieransatz gewonnene Lösung des Anfangswertproblems ist die einzige Lösung zur
Anfangsvorgabe u, v. Letzteres lässt sich ähnlich wie bei d’Alemberts Gleichung mit
der Energieintegralmethode zeigen, aus der auch die Lokalität folgt.
Für diese eindeutige Lösung des Anfangswertproblems zur Klein-Gordongleichung
mit den Vorgaben u, v ∈ S (Rn : R) gilt die Lösungsformel
¡
¢
¢
¢
¡
¡
A x0 , x = ∂0 Au x0 , x + Av x0 , x
mit der Abkürzung
¢
¡
Au x0 , x =
2.7
Z
Rn
µZ
Rn
¶
sin (ω (k) x0 − k · (x − y))
n
u (y) d y dn k.
(2π)n ω (k)
Übungsbeispiele
1. Lösen durch Ansatz: Seien c, k ∈ R>0 und A : R2 → R, (t, x) 7→ f (t) sin (kx)
mit f ∈ C 2 (R). Sei Lk die Menge aller solchen Funktionen A, für die
¶
µ
1
2
2
(∂t ) − (∂x ) A = 0.
c2
(a) Bestimmen Sie Lk . Lösung: Seien a, b ∈ R und Aa,b : R2 → R mit
Aa,b (t, x) := (a cos (ckt) + b sin (ckt)) sin (kx)
für alle (t, x) ∈ R2 . Dann gilt Lk = {Aa,b | a,©b ∈ R} . Figur 2.40 zeigt
ª
x 7→ A1,0 (t, x) für k = 1 = c zu den Zeiten t ∈ 0, 2π
, 3π
, 4π
, 5π
, 6π
,π .
8
8
8
8
8
(b) Für welche A ∈ Lk gilt A(0, x) = sin (kx) und ∂t A (0, x) = 0 für alle
x ∈ R? Lösung: A(t, x) = cos (ckt) sin (kx) .
(c) Für welche A ∈ Lk gilt A(0, x) = 0 und ∂t A (0, x) = τ1 sin (kx) für alle
1
x ∈ R? Hier ist 0 6= τ ∈ R. Lösung: A(t, x) = ckτ
sin (ckt) sin (kx) .
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
157
(d) Wie muss f gewählt werden, wenn in der Problemstellung sin (kx) durch
(kx)3 ersetzt wird? Lösung: f = 0. Moral: Nicht jeder Ansatz liefert also
eine nichttriviale Lösung.
(e) Wie lautet Lk , wenn in der Problemstellung sin (kx) durch exp (kx) ersetzt wird? Lösung: Seien a, b ∈ R und Aa,b : R2 → R mit
Aa,b (t, x) := (a exp (ckt) + b exp (−ckt)) exp (kx)
für alle (t, x) ∈ R2 . Dann gilt Lk = {Aa,b | a, b ∈ R} . Moral: Nicht jede
Lösung von ¤A = 0 entspricht der intuitiven Vorstellung von einer Welle.
2. d’Alemberts Lösungsformel: Kontrollieren Sie für A ∈ Lk von Beispiel 1a) oder
1e) die Formel von d’Alembert
Z
1
1 x+ct
A(t, x) = {u(x + ct) + u(x − ct)} +
v(ξ)dξ.
2
2c x−ct
Diese Formel drückt jede C 2 -Lösung der Wellengleichung auf R2 durch ihre
Anfangswerte A(0, x) = u(x) und ∂t A(0, x) = v(x) aus. Es gilt dabei u ∈
C 2 (R : R) und v ∈ C 1 (R : R). Geben Sie die Zerlegung von A ∈ Lk in einen
links- und einen rechtsläufigen Anteil an.
3. Ein Wellenpaket: Bestimmen Sie die Lösung A ∈ C 2 (R2 : R) der Wellengleichung ¤A = 0 mit den Anfangsbedingungen
¡
¡ ¢¢
A(0, x) = u(x) := cos (k0 x) exp −x2 / 2a2
und ∂t A (0, x) = 0. Dabei seien a2 ∈ R>0 und k0 ∈ R≥0 . Lösung:
¾
½
2
2
1
− (x−ct)
− (x+ct)
2
2
A(t, x) =
cos (k0 (x − ct)) e 2a + cos (k0 (x + ct)) e 2a
2
1
0.5
0
-7.5
-5
-2.5
0
2.5
5
7.5
-0.5
-1
Abbildung 2.40: Schnappschüsse einer stehenden Welle
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
158
Warum gilt A(t, −x) = A(t, x)? Warum gilt A(−t, x) = A(t, x)? Zeigen Sie
weiter, dass
Z ∞
´
³ a2
2
2
a2
a
cos (ckt) cos (kx) e− 2 (k−k0 ) + e− 2 (k+k0 ) dk.
A(t, x) = √
2π 0
Welche Fouriertransformierte hat die Abbildung A(·, x) : t 7→ A(t, x)? Welche
Anfangsdaten hat die Lösung (t, x) 7→ u(x −ct) bei t = 0? Figur 2.41 zeigt den
Graphen von A für c = 1, k0 = 2 und a = 1 im Bereich t, x ∈ (−4, 4). Figur
2.42 zeigt als Momentaufnahemen die Graphen von A(0, ·) und von A(10, ·)
für c = 1, k0 = 5 und a = 1.
Abbildung 2.41: Zwei einander ungestört durchdringende Paketlösungen der Wellengleichung
4. Hammerschlaglösung: Bestimmen Sie die Lösung von d’Alemberts Wellengleichung in C 2 (R2 : R) mit den Anfangsbedingungen A(0, x) = 0 und ∂t A (0, x) =
exp (−x2 / (a2 )) /τ . Es seien a2 , τ ∈ R>0 . Diese Lösung heißt Hammerschlaglösung. Warum? Warum gilt A(t, −x) = A(t, x)? Warum gilt A(−t, x) =
−A(t, x)? Die Abbildung zeigt
√ die Graphen von A(t, ·) für t = ±1/2, ±2, ±5
und für a = c = 1 und τ = π/2. Wo konzentriert sich die Energiedichte von
A zur Zeit t?
5. Vorüberlegung zu radialen Wellen: Sei f ∈ C 2 (R>0 : R) und φ : R3 \ 0 →
00
R, x 7→ f (|x|) / |x| . Zeigen Sie (∆φ) (x) = f (|x|) / |x| für alle x ∈ R3 \ 0.
6. Radiale Wellen: Sei ψ ∈ C 2 (R × R>0 : R) und A : R× (R3 \ 0) → R, (t, x) 7→
3
ψ
¡ 1(t, 2|x|) /2|x|
¢ . Zeigen Sie, dass ¤A = 0 genau dann auf R× (R \ 0)gilt, wenn
∂ − ∂r ψ = 0 auf R × R>0 . Zur lokalen Lösung A existieren also zwei
c2 t
Funktionen f, g ∈ C 2 (R : R), sodass A = Af,g mit
Af,g (t, x) :=
1
[f (|x| − ct) + g (|x| + ct)]
|x|
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
0.75
0.5
0.25
0
-20
-10
0
10
20
-0.25
-0.5
-0.75
Abbildung 2.42: Schnappschüsse der Interferenz
1
0.5
0
-10
-5
0
5
10
-0.5
-1
Abbildung 2.43: Momentaufnahmen der Hammerschlaglösung
159
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
160
für alle (t, x) ∈ R× (R3 \ 0). Lokale Lösungen Af,0 (resp. A0,g ) heißen auslaufend (resp. einlaufend). Warum? I.A. hat Af,g keine stetige Fortsetzung nach
x = 0 und ergibt daher keine globale Lösung von ¤A = 0. Warum? Die Figur
2.44 zeigt x 7→ Af,0 (t, x, 0, 0) mit f (x) = 1/ (1 + x2 ) für t ∈ {−2, 0, 2, 4, 6, 8}
im Bereich 1 < x < 15.
y
0.5
0.375
0.25
0.125
0
2.5
5
7.5
10
12.5
15
x
Abbildung 2.44: Momentaufnahmen einer auslaufenden lokalen Lösung von ¤A = 0
7. Radiale Wellen mit stetiger Fortsetzung nach r = 0 : Für die Funktionen f
und g in Beispiel 2 gelte nun f (x) = −g(−x) für alle x ∈ R. Zeigen Sie, dass
eg : R4 → R hat.
dann die Funktion Af,g eine (eindeutige) stetige Fortsetzung A
eg = 0 auf R4 . Bestimmen
eg ∈ C 2 (R4 : R) und ¤A
Es gilt sogar (ohne Beweis) A
eg (0, x) = 1 2 |x|2 für alle x ∈ R3 gilt, und
eg (0, x) = 0 und ∂1 A
Sie g so, dass A
τL
leiten Sie daraus für alle (t, x) ∈ R × R3 ab, dass
µ ¶
t ¡ 22
1
2¢
eg (t, x) =
A
t
+
|x|
c
L2 τ
eg = 0 gilt.
gilt. Dabei sei τ L2 ∈ R>0 . Kontrollieren Sie, dass ¤A
Bemerkung: Figur 2.45 zeigt eine physikalisch realistischere Lösung als die
eg (t, (x, 0, 0)) für g(x) =
eben³ berechnete.
Sie zeigt die Graphen von x 7→ A
´
2
exp − x2 zu den Zeiten ct = −5, −2, −1. Zwei höher werdende Hügel laufen
aufeinander zu und überlagern zu einem hohen Berg. Figur 2.46 zeigt die ana1
logen Graphen zu den Zeiten ct = − 12 , − 15 , − 10
. Ein Durchschwingen durch
die Nullfunktion findet bei t = 0 statt. Bilder für t > 0 erübrigen sich wegen
ef (t, ·) = −A
ef (−t, ·). Ein tiefer Graben um 0 zerfällt in zwei auseinanderlauA
fende und seichter werdende Mulden. (Ein Beispiel einer Kugelwelle endlicher
Energie.)
8. Symmetrien von Lösungen: Sei j ∈ C (R2 : R) und ¤A = j mit A (0, x) = 0 =
∂t A (0, x) für alle x ∈ R. Dann gilt
!
Z ÃZ x+c(t−s)
c t
j (s, ξ) dξ ds
A (t, x) =
2 0
x−c(t−s)
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
161
1
0.75
0.5
0.25
0
-10
-5
0
5
10
Abbildung 2.45: Eine Kugelwelle läuft zum Ursprung
0.8
0.6
0.4
0.2
0
-10
-5
0
5
10
Abbildung 2.46: Der von der Kugelwelle aufgebaute Berg wird zum Tal
(Duhamels Lösungsformel) für alle (t, x) ∈ R2 .
(a) Zeigen Sie: Falls j (t, −x) = εj (t, x) für ein ε ∈ {1, −1} für alle (t, x) ∈
R2 , gilt auch A (t, −x) = εA (t, x) für alle (t, x) ∈ R2 .
(b) Zeigen Sie: Falls j (−t, x) = εj (t, x) für ein ε ∈ {1, −1} für alle (t, x) ∈
R2 , gilt auch A (−t, x) = εA (t, x) für alle (t, x) ∈ R2 .
Moral: Eine Spiegelungssymmetrie der Quelle überträgt sich auf die Lösung
mit homogener Anfangsbedingung.
9. Duhamels Lösungsformel: Zeigen Sie für die durch Duhamels Formel gegebene
Funktion A, dass ¤A = j gilt.
10. Abstrahlung einer kleinen Quelle (qualitativ): Sei nun j(t, x) = g(t)δ(x)/cT
mit T > 0 und mit g, δ ∈ C (R : R). Die Funktion δ sei gerade, sei nur in einer
’kleinen’ Umgebung von 0 ungleich Null und es gelte
Z ∞
δ (ξ) dξ = 1.
−∞
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
162
Approximieren Sie (unqualifiziert) für t > s > 0 und für x > 0 so:
½
Z x+c(t−s)
1 für x + c (t − s) > 0 und x − c (t − s) < 0
δ (ξ) dξ '
.
0 sonst
x−c(t−s)
(a) Schließen Sie daraus, dass für alle t, x ∈ R mit t > 0
µ
¶ µ
¶
|x|
|x|
1
G t−
Θ t−
,
A (t, x) ' Ap (t, x) :=
2T
c
c
Rt
wobei G (t) := 0 g (s) ds für t ∈ R, und Heaviside’s Stufenfunktion durch
½
1 für x > 0
Θ : R → R mit Θ (x) =
0 sonst
gegeben ist.
(b) Analog zeigen Sie für alle t, x ∈ R mit t < 0
µ
¶ µ µ
¶¶
|x|
|x|
1
A (t, x) ' Ap (t, x) := − G t +
Θ − t+
.
2T
c
c
(c) Zeigen Sie, dass Ap (t, x) = 0 für alle t, x ∈ R mit c2 t2 < x2 . Zeigen Sie
weiter: Im Rückwärtskegel von (0, 0) ist Ap einlaufend und im Vorwärtskegel von (0, 0) auslaufend.
(d) Physikalisch besonders wichtig ist der Fall, dass die Quelle j vor dem
Zeitpunkt, zu dem die homogene Anfangsbedingung gilt, nur den Wert 0
annimmt. Es gilt also g(t) = 0 für alle t < 0. Dann heißt g/cT Sendersignal (einer räumlich begrenzten Quelle) und die Abbildung t 7→ A(t, x)
heißt Empfängersignal am Ort x. Zeigen Sie, dass dann für alle t, x ∈ R
µ
¶
|x|
1
Ap (t, x) =
G t−
2T
c
gilt. Das Empfängersignal ist also (annähernd) einer um die Laufzeit |x| /c
in positive Richtung verschobene Stammfunktion des Sendersignals proportional. Und zwar jener Stammfunktion, die bei t = 0 gleich 0 ist. Die
Stärke des Empfängersignals nimmt mit der Entfernung zwischen Sender
und Empfänger nicht ab! Hier ein Beispiel:
¡ ¢
½
sin 2π
t für 0 < t < T /2
T
g (t) =
.
0
sonst
Dann gilt
⎧
0
¡ 2π ¢¢ für t < 0
G(t) ⎨ 1 ¡
für 0 < t < T /2 .
1 − cos T t
=
⎩ 4π
2T
1
für T /2 < t
2π
Die Figur 2.47 zeigt g (schwarz) und t 7→ G(t − |x| /c) (rot) für T = 2
und |x| /c = 3/2.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
163
1
0.75
0.5
0.25
0
-1
0
1
2
3
t
Abbildung 2.47: Laufzeitverzögerung zwischen Sender und Empfänger
Bemerkung: Später wird klar werden, dass Ap mehr als eine unkontrollierte
Approximation der exakten Lösung ist. Ap ist eine „distributionelle” Lösung
der inhomogenen Wellengleichung zu einer zeitabhängigen Diracschen Punktquelle. Für t < 0 liegt die avancierte Lösung zur Quelle Θ (−t) j(t, x) und für
t > 0 liegt die retardierte Lösung zur Quelle Θ (t) j(t, x) vor.
11. Statisch belastete Kreismembran: Sei j(t, x) = 1 für alle (t, x) ∈ R3 . Ansatz: Sei
A ∈ C 2 (R3 : R) so, dass eine Funktion g : R>0 → R existiert, dass A(t, x) =
g (|x|) für alle (t, x) ∈ R× (R2 r 0). Zeigen Sie, dass ¤A = j auf R3 mit der
Randbedingung A(t, x) = 0 für alle t ∈ R und für alle x ∈ R2 mit |x| = R ∈
R>0 genau dann gilt, wenn g(r) = (R2 − r2 ) /4.
Moral: Es ist dies ein Beispiel für ein statisches Randwertproblem. Es sagt im
Rahmen der Elastomechanik, dass eine homogen belastete Kreismembran die
Form eines Rotationsparaboloids annimmt. Spannen Sie eine Frischhaltefolie
straff über ein mit etwas Wasser gefülltes Glas und erhitzen Sie es kurz im
Mikrowellenofen. Warten Sie danach die Abkühlung ab.
12. Harmonisch erzwungene Schwingung eines langen Seils: Für ω, κ ∈ R>0 sei
j : R2 → R mit j(t, x) = sin (ωt) exp (−κ |x|). Kontrollieren Sie, dass mit
k := ω/c
Ap : R2 → R, mit Ap (t, x) = −
n
o
1
κ
sin
(ωt)
exp
(−κ
|x|)
+
sin
(k
|x|)
k2 + κ2
k
trotz des Auftretens von |·| eine C 2 -Lösung von ¤A = j auf ganz R2 ist.
Bestimmen Sie alle A ∈ C 2 (R2 : R) des Ansatztyps A(t, x) = sin (ωt) f (x) mit
¤A = j.44 Geben Sie alle A ∈ C 2 (R2 : R) mit ¤A = j an.
44
Moral: Ap ist für große |x| annähernd eine Sinus-Stehwelle mit der Wellenzahl
³
¡ ¢2 ´−1
. Das linke Bild zeigt κ2 Ap (t, ·) und
k und der Amplitude κ−2 κk 1 + κk
Hinweis: Nutzen Sie die Variation der Konstantenformel für die Schwingungsgleichung.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
164
j (t, ·) für k = 2κ zur Zeit t mit ωt = π/2 als Funktion von κx. Das rechte Bild
zeigt κ2 Ap (t, ·) und j (t, ·) für k = κ/2 zur Zeit t mit ωt = π/2 als Funktion
von κx.
0.75
0.5
0.25
0
-10
-5
0
5
10
Abbildung 2.48:
1.5
1
0.5
0
-20
-10
0
10
20
-0.5
-1
-1.5
Abbildung 2.49:
Es gilt
o
−1 n
κ
κ
−κ|x|
+ cos (k |x| − ωt) − cos (ωt) cos (kx) .
sin (ωt) e
Ap (t, x) = 2
k + κ2
k
k
Der letzte Teil ist eine Stehwellenlösung der homogenen Gleichung, sodass die
beiden ersten Terme
o
n
κ
ep (t, x) := − 1
A
cos
(k
|x|
−
ωt)
sin
(ωt)
exp
(−κ
|x|)
+
k2 + κ2
k
ep
eine Lösung von ¤A = j auf ganz R2 bilden. Diese „Ausstrahlungslösung” A
enthält eine von der Quelle in beide Richtungen ausgehende Welle.
13. Radiale Lösungen der Helmholtzgleichung: Sei g ∈ C 2 (R3 : R) so, dass ein
h : R≥0 → R mit
g(x) = h (|x|) für alle x ∈ R3
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
165
existiert. Bestimmen Sie die Menge aller solchen Funktionen g mit ∆g = λg
für ein λ ∈ R . Lösung:
(a) Für λ > 0 gilt ∆g =³λg auf´R3 genau dann, wenn ein A ∈ R existiert,
√
λ |x| / |x| für alle x ∈ R3 r 0.
sodass g(x) = A sinh
(b) λ = 0: Es gilt ∆g = 0 auf R3 genau dann, wenn ein A ∈ R existiert,
sodass g(x) = A für alle x ∈ R3 .
3
(c) Für λ < 0 gilt ∆g =
ein A ∈ R existiert,
¡√λg auf ¢R genau dann, wenn
3
sodass g(x) = A sin −λ |x| / |x| für alle x ∈ R r 0.
3
2.5
2
1.5
1
0.5
0
0
2.5
5
7.5
10
12.5
15
r
Graphen von sinh(r)/r (strichliert) und von sin(r)/r
14. Räumlich radiale stationäre Lösungen der d’AWG: Benützen Sie die Funktionen g aus dem vorangehenden Beispiel, um Funktionen A ∈ C 2 (R × R3 : R)
des Typs A(t, x) = f (t)g(x) mit ¤A = 0 zu konstruieren. Welche davon sind
periodisch in t? Lösung: Es gilt eine der folgenden Aussagen
(a) A(t, x) = [α exp (ckt) + β exp (−ckt)] sinh (k |x|) / |x| für alle (t, x) ∈ R ×
R3 r 0 mit k ∈ R>0 und α, β ∈ R. (Aperiodisch in t)
(b) A(t, x) = α + βt für alle (t, x) ∈ R × R3 mit α, β ∈ R. (Aperiodisch in t)
(c) A(t, x) = [α cos (ckt) + β sin (ckt)] sin (k |x|) / |x| für alle (t, x) ∈ R×R3 r
0 mit k ∈ R>0 und α, β ∈ R. (Periodisch in t)
15. Welche Funktionen f und g in Beispiel (6) ergeben die drei Lösungstypen a),
b) und c) des vorangehenden Beispiels?
16. Radiale Schwingungen einer Kugel: Sei R ∈ R>0 . Für welche der Funktionen A 6= 0 aus Beispiel 13 gilt die (homogene) Dirichletsche Randbedingung
A(t, x) = 0 für alle x ∈ R3 mit |x| = R? Lösung: Nur Funktionen des Typs c)
mit kR ∈ π · N mit (α, β) 6= (0, 0). Mit welchen „Eigenfrequenzen“ schwingen
diese Funktionen?
17. Ganzzahlige Besselfunktionen
Jm : Sei m ∈ N0 und α ∈ R. Seien ck ∈ R so,
P∞
k
dass die Potenzreihe k=0 ck x einen Konvergenzradius ρ > 0 habe. Es gelte
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
166
P
k
c0 6= 0. Für die Funktion y : (0, ρ) → R mit y (x) = xα ∞
k=0 ck x gelte die
Besselsche Differentialgleichung
¶
µ
1 0
m2
00
(2.43)
y (x) + y (x) + 1 − 2 y (x) = 0.
x
x
(a) Zeigen Sie, dass α = m und
(x/2)4
(x/2)6
(x/2)2
y (x)
+
−
+. . .
=
1−
c0 xm
(m + 1) 2! (m + 1) (m + 2) 3! (m + 1) (m + 2) (m + 3)
folgen, und somit
m
y (x) = c0 x
∞
X
k=0
k
(−1)
³ x ´2k
2
m!
= (c0 2m m!) Jm (x)
k! (m + k)!
für alle x ∈ (0, ρ) . Figur 2.50 zeigt Jm für m = 0, 1, 2 (rot, grün, magenta) und die Cosinusfunktion. Für ν ∈ R \ (−N) ist definiert: Jν (x) =
P∞
2k+ν
(−1)k
.
k=0 k!Γ(k+ν+1) (x/2)
(b) Für −ν ∈ N ist die Besselsche Reihenformel unsinnig, da Γ (z) für z ∈
−N0 nicht definiert ist. Wegen limz→−n∈N0 1/Γ (z) = 0 definiert man dann
³ x ´2k−m
(−1)k
.
J−m (x) =
k!Γ (k − m + 1) 2
k=m
∞
X
Zeigen Sie J−m (x) = (−1)m Jm (x) mit der Substitution j = k − m.
Die Funktion J−m ergänzt also Jm nicht zu einem Fundamentalsystem der
Besselgleichung (2.43). Mitteilung ohne Beweis: Ist y eine von Jm linear unabhängige Lösung von Gleichung (2.43) auf einem Intervall (0, ρ), so hat y
im Gegensatz zu Jm keine stetige Fortsetzung nach x = 0. Für m ∈ N gilt
nämlich limx→0 xm y (x) 6= 0 und für m = 0 gilt limx→0 y (x) / ln (x) 6= 0. (Siehe
Neumannfunktion Nm )
18. Ableitung von Besselfunktionen: Sei ν ∈ R und x ∈ R>0 . Zeigen Sie, dass
0
Jν±1 (x) = νJν (x) /x ∓ Jν (x) .
√
19. Nullstellen von J±ν : Sei y : R>0 → R eine C 2 -Funktion und y (x) = u (x) / x
für alle x ∈ R>0 . Zeigen Sie, dass y genau dann Lösung der Besselschen Diffgl
zum Parameter ν 2 ≥ 0 ist, wenn
¢
¡1
2
−
ν
(2.44)
u00 (x) + q (x) u (x) = 0 mit q (x) = 1 + 4 2 .
x
Bemerkung: Für jedes ε ∈ (0, 1) existiert ein ξ ε > 0, sodass q (x) > (1 − ε)2
für alle x > ξ ε . Damit ist ein Nullstellenvergleichssatz auf Lösungen u von
(2.44) anwendbar, der nach sich zieht, dass zwischen je zwei benachbarten
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
167
1
0.5
0
0
5
10
15
20
-0.5
-1
Abbildung 2.50: Die Besselfunktionen Jm für m = 0, 1, 2 und cos
Nullstellen von cos ((1 − ε) x) im Bereich x > ξ ε eine Nullstelle von u und
somit auch eine von y liegt. (Siehe Fischer & Kaul, Vol. II, Kap. II, §4.2.6)
Für ν 2 = 0 gilt insbesonders q (x) > 1 für alle x > 0. Daher liegt zwischen je
zwei benachbarten Nullstellen von cos (x) im Bereich x > 0 eine Nullstelle von
J0 .
20. Separation der freien 1d Schrödingergleichung: Sei ψ : R2 → C mit ψ (t, x) =
f (t) g (x) und f ∈ C 1 (R : C) , g ∈ C 2 (R : C) . Es gelte die freie, parameterreduzierte45 , 1-dimensionale Schrödingergleichung
¶
µ
1 2
i∂t + ∂x ψ (t, x) = 0.
2
(a) Zeigen Sie: ψ ist genau dann beschränkt, wenn Zahlen k ∈ R≥0 und
A, B ∈ C existieren, sodass
¤
k2 £
ψ (t, x) = e−i 2 t Aeikx + Be−ikx .
(2.45)
Figur (2.51) zeigt den Graphen der Funktion x 7→ eikx = cos (kx) +
i sin (kx) für k = π und x ∈ (0, 6) .
Eine Lösung mit B = 0 ist somit eine „Linksschraube“, die sich mit wachsender Zeit t mit der Phasengeschwindigkeit46 k/2 in positive x-Richtung
verschiebt. Eine Lösung mit A = 0 hingegen ist eine „Rechtsschraube“,
die mit der Geschwindigkeit k/2 in negative x-Richtung wandert. Anders als bei den Lösungen von d’Alemberts Wellengleichung hängt diese
Phasengeschwindigkeit von der Wellenzahl k ab!
¡
¢
Für³ die Funktion´Ψ (t, x) = ψ ~t
m , x gilt dann die physikalisch dimensionierte Schrödingerglei~2 2
chung i~∂t − 2m
∂x Ψ (t, x) = 0. Hier ist m > 0 die Masse des Teilchens und ~ die Planck’sche
Konstante.
46
In physikalischen Einheiten ist die Phasengeschwindigkeit ~k/2m.
45
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
168
x
5
3.75
1
2.5
0.5
-0.5
0
1.25
0
0.5
1
-0.5
-1
Abbildung 2.51: x 7→ exp (iπx)
¤
¡
¢
£
(b) Sei ψ wie in Gleichung (2.45). Zeigen Sie = ψ∂x ψ (t, x) = k |A|2 − |B|2
und
£ ¡
¢
¡
¢
¤
|ψ (t, x)|2 = |A|2 + |B|2 + 2 < AB cos (2kx) − = AB sin (2kx) .
21. Freie Schrödingergleichung mit periodischer RB: Sei I = (0, L) und seien f ∈
C 1 (R : C) und g ∈ C 2 (I : C) . Zeigen Sie, dass die Funktion ψ : R×I → C mit
ψ (t, x) = f (t) g (x) genau dann beschränkt ist und die Schrödingergleichung
(zu einem γ > 0)
i∂t ψ (t, x) = −γ∂x2 ψ (t, x) auf R × I
mit limx→0 ψ (t, x) = limx→L ψ (t, x) und limx→0 ∂x ψ (t, x) = limx→L ∂x ψ (t, x)
für alle t ∈ R erfüllt, wenn Zahlen n ∈ N0 und α, β ∈ C existieren, sodass für
alle (t, x) ∈ R × I
³
´
2π 2
2π
2π
ψ (t, x) = e−iγ (n L ) t αein L x + βe−in L x .
22. Harmonische Funktionen im Rechteck mit inhomogener Randvorgabe: Sei
©
ª
R := (x, y) ∈ R2 | 0 < x < L1 und 0 < y < L2 .
Sei R := {(x, y) ∈ R2 | 0 < x < L1 und 0 < y < L2 }. Sei u : R → R stetig
(R : R).
und u |R ∈ C 2 ³
´ Auf R gelte ∆u = 0 und auf ∂R die Randvorgabe:
x
u (x, L2 ) = sin π L1 , u(x, 0) = u(0, y) = u(L1 , y) = 0.
1 ) sinh(πy/L1 )
für alle (x, y) ∈ R. Figur (2.52)
(a) Zeigen Sie u(x, y) = sin(πx/L
sinh(πL2 /L1 )
zeigt den Graphen von u und Figur (2.53) einige Niveaulinien von u.
47
(b) Sei n das Rnach außen gerichtete Einheitsnormalenvektorfeld von ∂R. Zeigen Sie47 ∂R n [u] = 0.
Ausführlicher notiert ist zu zeigen, dass
Z L1
Z L1
Z
∂y u (x, L2 ) dx −
∂y u (x, 0) dx +
0
0
0
L2
∂x u (L1 , y) dy −
Z
L2
∂x u (0, y) dy = 0.
0
In der Elektrostatik drückt das die Tatsache aus, dass die Gesamtladung des Randes 0 ist.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
169
(c) Zeigen Sie für die Energie von u
¶
Z µZ L2
¯2
¯
1 L1
π
¯grad(x,y) (u)¯ dy dx =
´.
³
2 0
0
4 tanh π LL21
u
1
0
1
2
Abbildung 2.52: u für L1 = 1 und L2 = 2
Abbildung 2.53: Niveaulinien von u
23. Harmonische Funktionen im Rechteck mit inhomogener Randvorgabe: Sei
ª
©
R := (x, y) ∈ R2 | 0 < x < L und 0 < y < L .
Sei u : R → R stetig und u |R ∈ C 2 (R : R). Auf R gelte ∆u = 0. Am Rand von
R gelte:
³ x´
³ y´
u (x, L) = sin π
, u(x, 0) = 0, u(L, y) = sin π
, u(0, y) = 0.
L
L
Zeigen Sie unter Verwendung des „Superpositionsprinzips” und der Invarianz
von ∆ unter der Vertauschung x ↔ y, dass aus dem Ergebnis von Bsp. 1)
folgt:
h ³ πx ´
³ πy ´
³ πy ´
³ πx ´i
1
sin
sinh
+ sin
sinh
.
u(x, y) =
sinh (π)
L
L
L
L
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
170
.
24. Harmonische Funktionen im Rechteck mit inhomogener Randvorgabe: Sei
©
ª
R := (x, y) ∈ R2 | 0 < x < L1 und 0 < y < L2 .
Sei u : R → R stetig und u |R ∈ C 2 (R : R). Auf R gelte ∆u = 0. Am Rand von
R gelte:
¶
µ
¶
µ
x
x
u (x, L2 ) = sin π
, u(x, 0) = − sin π
, u(0, y) = 0, u(L1 , y) = 0.
L1
L1
Leiten Sie aus dem Ergebnis von Bsp. 1) unter Verwendung des Superpositionsprinzips und der Invarianz von ∆ und R bei der Spiegelung (x, y) 7→ (x, L2 −y)
ab, dass für alle (x, y) ∈ R
u(x, y) =
sin (πx/L1 ) [sinh (πy/L1 ) − sinh (π (L2 − y) /L1 )]
.
sinh (πL2 /L1 )
25. Das Randwertproblem der Schwingungsgleichung, das beim Lösen der 2-dim
Laplacegleichung durch Separationsansatz in Polarkoordinaten entsteht: Für y :
(0, 2π) → R gelte y 00 +λy = 0 für ein λ ∈ R, wobei y nicht die Nullfunktion sei.
Zeigen Sie, dass limx→0 y(x) = limx→2π y(x) und limx→0 y 0 (x) = limx→2π y 0 (x)
genau dann gilt, wenn λ = n2 für ein n ∈ N0 und im Fall n = 0 die Funktion y
überdies konstant ist. Die Randvorgabe erzwingt also die 2π-Periodizität aller
Lösungen.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
171
26. Harmonische Funktionen im Kreis mit inhomogener Randvorgabe:
¡
¢Sei KR =
2
2
2
2
{(x, y) ∈ R : x + y < R } für ein R > 0 und sei u ∈ C KR : R . Es gelte
u |KR ∈ C 2 (KR : R) und ∆u = 0 (auf KR ). Für den Kartenausdruck uψ von
u in Polarkoordinaten ψ = (r, φ) gelte die Randbedingung uψ (R, φ) = cos2 φ.
Zeigen Sie über den Separationsansatz u = f (r)g(φ) (auf dem Durchschnitt
von KR mit dem Definitionsbereich U der Polarkoodinaten), dass auf KR ∩ U
¶
µ
³ r ´2
1
u=
cos (2φ) .
1+
2
R
Zeigen Sie weiter, dass u (x, y) = 12 [1 + (x2 − y 2 ) /R2 ] für alle (x, y) ∈ KR gilt.
1
0.75
0.5
0.25
1
-1 -0.5
0.5 z
0 0 0.5
x
Polargraph von
-0.5
1
-1
y
1
2
(1 + r2 cos (2φ))
27. Erzeugende Funktion der Legendrepolynome: Seien x, y ∈ R3 mit |y| < |x| und
mit hx, yi = |x| · |y| · cos (θ). Dann gilt48
¶l
∞ µ
1
1 X |y|
· Pl (cos (θ)) .
(2.46)
=
|x − y|
|x| l=0 |x|
Beweisen Sie diese Behauptung in den folgenden drei Schritten:
(a) Zeigen Sie zunächst, dass für die Funktion gy : R3 \ y → R mit gy (x) =
|x − y|−1 im Gebiet |x| > |y|
¶l
∞ µ
1 X |y|
gy (x) =
· Cl (cos (θ))
|x| l=0 |x|
mit stetigen Funktionen Cl : [−1, 1] → R gilt.
(b) Wir wissen, dass gy eine Lösung der Laplacegleichung auf R3 \y ist. Leiten
Sie daraus ab, dass Cl eine Lösung der Legendre Differentialgleichung mit
λ = l(l + 1) ist.
(c) Verifizieren Sie durch Spezialisierung der Reihenentwicklung von gy (x)
auf den Fall x = αy mit α > 1, dass Cl (1) = 1. Damit gilt also Cl = Pl
auf [−1, 1].
48
Der Austausch von x mit y ergibt eine analoge Formel für den Fall |x| < |y|.
KAPITEL 2. PARTIELLE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
172
Bemerkung: gy heißt daher die „erzeugende Funktion” der Legendrepolynome.
Sie gibt bis auf einen konstanten Faktor das elektrische Potentialfeld, das eine
in y ruhende Punktladung mit sich trägt. Gleichung (2.46) gibt in der Elektrostatik die Multipolentwicklung dieser Potentialfunktion im Bereich |x| > |y|.
(Außenraumentwicklung)
Kapitel 3
Distributionen
Die Funktionen f = x2 − y 2 und g = log (x2 + y 2 ) sind harmonisch auf R2 \ 0. Die
Funktion f hat eine zwei mal stetig differenzierbare Fortsetzung nach R2 . Die Funktion g jedoch nicht. Dies zeigt sich etwa darin, dass jede maximale Integralkurve von
grad (g) dem singulären Punkt 0 beliebig nahe kommt, während für grad (f ) dies
nur vier der Integralkurven tun. Ähnliches gilt für die Funktionen f = x2 + y 2 − 2z 2
−1/2
und g = (x2 + y 2 + z 2 )
auf R3 \ 0. Diese Beispiele erwecken den Eindruck, als
wäre im Fall der Funktionen g eine „Punktquelle” von Integralkurven bei 0 lokalisiert. Distributionen geben dieser intuitiven Vorstellung mathematische Substanz.
Sie verallgemeinern die Bedeutung von linearen Differentialgleichungen so, dass neue,
sogenannte nichtklassische Lösungen möglich werden, und Punktquellen eine präzise
Bedeutung erhalten. Nichtdifferenzierbare Lösungen der Wellengleichung, wie etwa
die gezupfte Saite, werden damit auch erschlossen.
3.1
Distributionen als lineare Funktionale
Definition 101 Der Vektorraum der reellwertigen Funktionen f ∈ C ∞ (R) , für die
eine Zahl L existiert, sodass f (x) = 0 für alle x ∈ R mit |x| > L, heißt Raum der
Testfunktionen D (R) . Analog ist D (Rn ) definiert.
Definition 102 Sei (fn )n∈N eine Folge in D (R) , für die ein L > 0 existiert, sodass fn (x) = 0 für alle |x| > L und für alle n ∈ N. Weiter existiere eine Funk(m)
tion f ∈ D (R) mit f (x) = 0 für alle |x| > L, sodass fn für alle m ∈ N0 auf
[−L, L] punktweise und gleichmäßig gegen f (m) konvergiert. Eine lineare Abbildung
T : D (R) → R, die für jede solche Folge
lim T (fn ) = T (f )
n→∞
erfüllt, wird als linear-stetiges Funktional auf D (R) oder kurz als Distribution bezeichnet. Der reelle Vektorraum aller Distributionen wird als D0 (R) notiert.
Eine Funktion g : R → R, für die |g| über jedes endliche Intervall integrierbar1
ist, heißt lokal integrabel. Bei lokal integrablem g existiert für jedes f ∈ D (R) das
1
Im Sinn von Lebesgue
173
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
Integral
g (f ) =
e
174
Z
∞
g (x) f (x) dx.
−∞
Die Abbildung e
g : D (R) → R ist eine Distribution. (Kap. IV, §13.2.3 in [3]) Distributionen dieses Typs werden als regulär bezeichnet. Unterscheiden sich zwei lokal
integrable Funktionen nur auf einer Punktmenge vom Maß 0, dann sind ihre zugehörigen regulären Distributionen gleich (Fundamentallemma der Variationsrechnung
Kap. IV, §10.4.2 in [3]).
Die Abbildung δ ξ : D (R) → R mit δ ξ (f ) = f (ξ) ist linear-stetig und heißt
Dirac’sche δ-Distribution im Punkt ξ. Ist sie regulär? Nein,Rdenn angenommen es
∞
gibt eine lokal integrable Funktion x 7→ Dξ (x) mit δ ξ (f ) = −∞ Dξ (x) f (x) dx für
alle f ∈ D (R) , dann gilt: für f ∈ D (R) ist auch g mit g (x) = |x − ξ|2 f (x) in
D (R) und es folgt wegen g (ξ) = 0, dass
Z ∞
Dξ (x) |x − ξ|2 f (x) dx = δ ξ (g) = 0
−∞
für alle f ∈ D (R) . Nach dem Fundamentallemma der Variationsrechnung gilt dann
Dξ (x) |x − ξ|2 = 0 und somit auch Dξ (x) = 0 für alle x ∈ R außer jenen in einer
Menge vom Maß 0. Dies aber zieht nach sich, dass 0 = δ ξ (f ) = f (ξ) für alle
f ∈ D (R) . Also ein Widerspruch! Trotzdem wird oft mit einer fiktiven reellen
Funktion δ wie folgt notiert
Z ∞
δ ξ (f ) =
δ (x − ξ) f (x) dx.
−∞
Warum δ (x − ξ) und nicht δξ (x)? Das kommt so zustande.
Sei T ∈ D0 (R) und ξ ∈ R. Definiere die Verschiebung von T um ξ als die
Distribution Tξ , für die
Tξ (f ) = T (f−ξ )
mit f−ξ (x) = f (x + ξ) . Ist g lokal integrabel, dann folgt
Z ∞
Z ∞
g (x) f (x + ξ) dx =
g (y − ξ) f (y) dy.
(e
g )ξ (f ) =
−∞
−∞
Die Distribution (e
g )ξ wird somit von der lokal integrablen Funktion (g)ξ mit (g)ξ (x) =
g (x − ξ) erzeugt.
Auch manche Funktionen g : R → R, die nicht lokal integrabel sind, lassen sich
zur Bildung einer Distribution heranziehen. So ist etwa zu g (x) = 1/x für x ∈ R r 0
und g (0) = c ∈ R die Distribution2
¸
¸
∙
∙Z −ε
Z ∞
f (x)
f (x)
1
dx +
dx
vp (f ) = lim
ε&0
x
x
x
−∞
ε
2
ab.
Die Bezeichnung vp x1 leitet sich vom französischen „valeur principal“ für Hauptwert(Integral)
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
175
erklärt. Warum ist diese Definition sinnvoll? Es gilt
¸
∙
Z
Z
f (x)
f (x)
1
dx + lim
dx
vp (f ) =
ε&0 ε<|x|<1
x
x
x
|x|>1
µZ
¶
Z
Z
f (x)
f (x) − f (0)
f (0)
dx + lim
dx +
dx .
=
ε&0
x
x
x
|x|>1
ε<|x|<1
ε<|x|<1
Das letzte Integral verschwindet für jedes ε > 0, da der Intergand ungerade ist.
Der Integrand des zweiten Integrals hat eine stetige Fortsetzung nach 0, da f in 0
differenzierbar ist. Somit gilt
∙
¸
Z
Z 1
f (x)
f (x) − f (0)
1
vp (f ) =
dx +
dx.
x
x
x
|x|>1
−1
Die beiden Distributionen S± , die ebenfalls aus nicht lokal integrablen (komplexwertigen) Funktionen gebildet sind, ordnen der Testfunktion f die (komplexen)
Zahlen
Z ∞
f (x)
S± (f ) = lim
dx
ε&0 −∞ x ± iε
zu. Es gilt wegen der Holomorphie von ln auf der geschlitzten Ebene
µZ 1
¶
Z
Z 1
f (x)
f (x) − f (0)
f (0)
S± (f ) =
dx + lim
dx +
dx
ε&0
x
x ± iε
−1
−1 x ± iε
|x|>1
¸
∙
1
= vp (f ) + f (0) lim [ln (x ± iε)]1−1
ε&0
x
¸
∙
1
= vp (f ) + f (0) lim [0 − ln (−1 ± iε)]
ε&0
x
¸
∙
1
= vp (f ) − f (0) [±iπ] .
x
Es gilt somit für alle Testfunktionen f ∈ D (R) die Formel von Sochozkij
∙
¸
Z ∞
f (x)
1
lim
dx = vp (f ) ∓ iπδ 0 (f ) .
ε&0 −∞ x ± iε
x
Definition 103 Seien T, Tn ∈ D0 (R) für alle n ∈ N. Falls für alle f ∈ D (R)
lim Tn (f ) = T (f ) ,
n→∞
heißt die Folge (Tn ) schwach gegen T konvergent.
Sei für k ∈ N die Funktion gk durch eine der folgenden Formeln gegeben
µ
¶2
¡
¢
k
1
k sin (kx)
2 2
, gk (x) = k exp −πk x , gk (x) =
.
gk (x) =
π 1 + k2 x2
π
kx
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
176
Diese Folgen von regulären Distributionen (gek )k∈N konvergieren schwach gegen Diracs δ-Distribution. (Man sagt: (gek )k∈N ist δ-Folge.) (Siehe Übungen) Es gilt
lim gk (0) = ∞, lim gk (x) = 0
k→∞
k→∞
R∞
für alle x 6= 0 und −∞ gk (x) dx = 1 für alle k ∈ N.
Mittels einer linearen Abbildung lässt sich aus einer Distribution T ∈ D0 (R)
eine weitere Distribution bilden. Den Hinweis darauf geben wieder die regulären
Distributionen. Sei g : R → R lokal integrabel. Dann gilt für f ∈ D (R) , a ∈ R \ 0
und b ∈ R
µ
¶
Z ∞
Z ∞
1
y−b
g (ax + b) f (x) dx =
g (y) f
dy.
|a| −∞
a
−∞
Allgemeiner gilt offenbar der folgende
Satz 104 Sei λ : R → R mit λ (x) = ax + b mit¡a, b ∈ R¢ und a 6= 0. Sei T ∈ D0 (R) .
Dann ist λ∗ T : D (R) → R mit (λ∗ T ) (f ) = T f ◦ λ−1 / |a| eine Distribution. Sie
heißt die Rückholung von T mit λ.
Im Fall von Diracs δ spezialisiert sich λ∗ T auf
¢
¢
1 ¡
1 ¡
δ ξ f ◦ λ−1 =
f ◦ λ−1 (ξ)
|a|
|a|
µ
¶
1
ξ−b
1
=
f
=
δ ξ−b (f ) .
|a|
a
|a| a
(λ∗ δ ξ ) (f ) =
Die formale Notation dafür ist
µ
¶
1
ξ−b
δ (ax + b − ξ) =
δ x−
.
|a|
a
Hier noch ein höher dimensionales Beispiel. Für ein fest gewähltes R ∈ R>0 sei
S ∈ D0 (R2 ) mit
Z
1 2π
S (f ) =
f (R cos ϕ, R sin ϕ) dϕ.
2 0
S wird auch als δ (x2 + y 2 − R2 ) notiert, denn δ (r2 − R2 ) = δ ((r − R) (r + R)) =
δ (2R (r − R)) = δ ((r − R)) /2R ’impliziert’
Z
¡
¢
δ x2 + y 2 − R2 f (x, y) dxdy
S (f ) =
2
ZR2π Z ∞
¡
¢
rδ r2 − R2 f (r cos ϕ, r sin ϕ) drdϕ
=
Z0 2π Z0 ∞
r
=
δ (r − R) f (r cos ϕ, r sin ϕ) drdϕ
2R
0
0
Z
1 2π
=
f (R cos ϕ, R sin ϕ) dϕ.
2 0
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
3.2
177
Differenzieren von Distributionen
Sei g ∈ C 1 (R) und sei e
g die zugehörige reguläre Distribution. Dann gilt
Z ∞
Z ∞
0
0
g (f ) =
e
g (x) f (x) dx = −
g0 (x) f (x) dx = −ge0 (f ) .
−∞
−∞
Dies motiviert die folgende Definition der Ableitung einer Distribution.
Definition 105 Sei T ∈ D0 (R) . Dann heißt die Abbildung T 0 : D (R) → R mit
T 0 (f ) = −T (f 0 ) die Ableitung von T.
Satz 106 Die Ableitung einer Distribution ist ebenfalls eine Distribution. Ist eine
Folge (Tn ) in D0 (R) schwach gegen T ∈ D0 (R) konvergent, dann konvergiert die
Folge (Tn0 ) schwach gegen T 0 .
0
Ein einfaches Beispiel ergibt sich mit Diracs δ-Distribution. Es gilt δ x (f ) =
−f 0 (x) oder allgemeiner für die n-fache Ableitung
(n)
δ x (f ) = (−1)n f (n) (x) .
Die Ableitung der regulären Distribution, die zu einer konstanten Funktion gehört, ist die Nulldistribution, denn für f ∈ D (R) und für c ∈ R gilt
Z ∞
0
cf 0 (x) dx = −c f (x)|∞
e
c (f ) = −
−∞ = 0.
−∞
Gibt es eine Distribution, deren Ableitung Diracs δ ergibt? Für Θ : R → R
gelte3 Θ (x) = 0 für x < 0 und Θ (x) = 1 für x > 0. (Eine solche Funktion Θ heißt
Heavisidefunktion.) Für die Ableitung der zu Θ gehörigen regulären Distribution
gilt
Z ∞
0
e
Θ (f ) = −
f 0 (x) dx = f (0) = δ 0 (f ) .
0
e die Ableitung einer weiteren Distribution? Sei g die BeIst die Distribution Θ
tragsfunktion auf R. Dann gilt
Z ∞
Z 0
Z ∞
0
0
0
|x| f (x) dx =
xf (x) dx −
xf 0 (x) dx
g (f ) = −
e
−∞
−∞
0
Z 0
Z ∞
0
∞
0
0
= xf (x)|−∞ −
f (x) dx − xf (x)|0 +
f (x) dx
=
−∞
µ^¶
1
sgn (x) f (x) dx = 2 Θ −
(f ) .
2
−∞
Z
0
∞
Also gilt e
g00 = 2δ 0 . Formal notiert sieht dies so aus: |x|00 = 2δ (x) . Die reelle Funktion
g (t) = 12 (|t| + t) = tΘ (t) gibt die Bewegung eines anfangs ruhenden Massenpunkts,
auf den nichts als ein δ 0 -Kraftstoß einwirkt.
3
Der Wert von Θ bei 0 ist ohne Belang.
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
3.3
3.3.1
178
Fundamentallösungen
Gewöhnliche Differentialoperatoren
Ist g : R → R lokal integrabel, dann ist für f ∈ D (R) die Faltung von g mit f durch
Z ∞
Z ∞
(g ∗ f ) (x) =
g (x − ξ) f (ξ) dξ =
g (y) f (x − y) dy
−∞
−∞
definiert. Mit der Translation (Tx f ) (y) = f (y − x) und der Spiegelung (Πf ) (y) =
f (−y) folgt (Tx Πf ) (y) = (Πf ) (y − x) = f (x − y) und daher (g ∗ f ) (x) = ge (Tx Πf ) .
Dies motiviert die folgende allgemeinere Definition.
Definition 107 Sei T ∈ D0 (R) und f ∈ D (R) . Dann wird die Funktion
T ∗ f : R → R mit (T ∗ f ) (x) = T (Tx Πf )
als die Faltung von T mit f bezeichnet.
Satz 108 Sei D : D (R) → D (R) , f 7→ c0 f (0) +c1 f (1) +. . . cn f (n) ein gewöhnlicher
linearer Differentialoperator mit konstanten Koeffizienten c1 , . . . cn ∈ R. Für ein
G ∈ D0 (R) gelte DG = δ 0 . Sei f ∈ D (R) und u = G ∗ f. Dann gilt Du = f.
Eine solche Distribution G wird als eine Fundamentallösung von D bezeichnet.
Sie ist durch DG = δ 0 nicht eindeutig festgelegt.
Beweis. Die heuristische Begründung dieses Satzes ist sehr einfach, wenn man
G als reguläre Distribution zu einer lokal integrablen Funktion voraussetzt und dann
formal notiert
Z ∞
Z ∞
Du (x) = D
g (x − y) f (y) dy =
δ (x − y) f (y) dy = f (x) .
−∞
−∞
Ohne das inexistente Objekt δ (x − y) geht der Schluss so. Wegen der Linearität und
der Stetigkeit von G gilt
u (x + ε) − u (x)
ε
1
= lim [G (Tx+ε Πf ) − G (Tx Πf )]
ε→0 ε
µ
¶
Tx+ε Πf − Tx Πf
= G lim
.
ε→0
ε
u0 (x) = lim
ε→0
Weiters gilt
Tx+ε Πf − Tx Πf
f (x + ε − y) − f (x − y)
(y) = lim
ε→0
ε→0
ε
ε
f (x − (y − ε)) − f (x − y)
= lim
ε→0
ε
Πf (y − ε − x) − Πf (y − x)
= lim
ε→0
ε
Tx Πf (y − ε) − Tx Πf (y)
= lim
ε→0
ε
0
= − (Tx Πf ) (y) .
lim
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
179
¡
¢
Daraus folgt (G ∗ f )0 (x) = u0 (x) = −G (Tx Πf )0 = G0 (Tx Πf ) = (G0 ∗ f ) (x) . Es
gilt daher Du = (DG) ∗ f. Mit
[(DG) ∗ f ] (x) = [δ 0 ∗ f ] (x) = δ 0 (Tx Πf ) = (Tx Πf ) (0) = f (x) .
Eine völlig analoge Konstruktion funktioniert für lineare partielle Differentialoperatoren mit konstanten Koeffizienten auf Rn .
e 0 = δ 0 ist die reguläre Distribution zur Heavisidefunktion
Beispiel 109 Wegen Θ
d
eine Fundamentallösung des Differentialoperators D = dx
. Etwas allgemeiner ist
d
der Fall D = dx
− a mit a ∈ R. Es gilt mit g (x) = Θ (x) exp ax
Z ∞
0
De
g (f ) = e
g (−f − af ) = −
eax (f 0 (x) + af (x)) dx
Z ∞0
Z ∞
∞
ax
ax
= − e f (x)|0 +
ae f (x) dx −
aeax f (x) dx
0
0
= f (0) = δ 0 (f ) .
Beispiel 110 Sei κ ∈ R>0 und g : R → R mit g (x) = − exp (−κ |x|) /2κ. Dann gilt
−2κe
g 00 (f ) = −2κe
g (f 00 ) =
Z ∞
Z 0
κx 00
e f (x) dx +
e−κx f 00 (x) dx
=
−∞
0
Z 0
Z ∞
¯∞
0
κx 0
−κx 0
κx 0
¯
e f (x) dx + κ
e−κx f 0 (x) dx.
= e f (x)|−∞ + e f (x) 0 − κ
−∞
0
Die Randterme der partiellen Integration ergeben keinen Beitrag. Mit einer partiellen
Integration folgt weiter
Z 0
Z ∞
¯∞
0
00
κx
−κx
κx
¯
e f (x) dx − κ
e−κx f (x) dx
2e
g (f ) = e f (x)|−∞ − e f (x) 0 − κ
00
2
2
−∞
ge (f ) = f (0) + κ ge (f ) = δ 0 (f ) + κ ge (f ) .
0
2
d
2
Die Distribution e
g ist also Fundamentallösung von D = dx
2 − κ . Die Funktion
g ist in jedem Punkt x 6= 0 unendlich oft differenzierbar. Für x → 0 existieren die
rechts- und linksseitigen Limiten von g0 (x) . Es gilt
µ ¶
1
1
0
0
= 1.
lim g (x) − lim g (x) = − −
x↓0
x↑0
2
2
d
2
Auch die Funktion h(x) = exp(κ|x|)
ergibt eine Fundamentallösung e
h von dx
2 −κ .
2κ
e der homogenen Gleichung
Probe: Die Differenz ∆ = h − g muss eine Lösung ∆
00
2e
00
2
e
∆ − κ ∆ = 0 ergeben. Es gilt sogar ∆ − κ ∆ = 0, denn
2
(h − g) (x) =
¢ cosh (κx)
1 ¡ κ|x|
e + e−κ|x| =
.
2κ
κ
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
180
Beispiel 111 Sei k ∈ R>0 und g : R → R mit g (x) = sin (k |x|) /2k. Es gilt
ge00 + k2 e
g = δ0.
Ein schlüssiger Beweis geht wie im vorigen Beispiel über partielle Integration. Hier
noch ein heuristisches, formales Argument:
1
sgn (x) cos (k |x|) ,
2
1
k
g 00 (x) =
sgn0 (x) cos (k |x|) − sgn2 (x) sin (k |x|)
2
2
= δ (x) cos (0) − k2 g (x) = δ (x) − k2 g (x) .
g 0 (x) =
2
d
2
erhält man durch Addieren einer LöEine andere Fundamentallösung von dx
2 + k
sung der homgenen Gleichung zu g. Etwa h mit
h (x) = g (x) +
sin (kx)
sin (kx)
= Θ (x)
.
2k
k
Die Funktion h beschreibt die Bewegung eines anfangs ruhenden Oszillators, auf den
zur Zeit 0 ein δ-Kraftstoß wirkt. e
h taucht in Kapitel 2.2.4 von Math. Meth. 1 bereits
auf.
3.3.2
Laplaceoperator ∆3
Satz 112 Die reguläre Distribution zur lokal integrablen Funktion g : R3 \ 0 → R
1
mit g (x) = − 4π|x|
ist eine Fundamentallösung von ∆. Es gilt also ∆e
g = δ0.
Beweis. Sei KR die offene Kugel um 0 mit Radius R und sei f ∈ D (R3 ) . Dann
gilt für 0 < ε < R auf KR \ Kε
µ
¶
¿
µ ¶
À
1
1
1
div
· grad (f )
=
grad
, grad (f ) + ∆f,
r
r
r
µ
µ ¶¶
¿
µ ¶À
1
1
div f · grad
=
grad (f ) , grad
.
r
r
Subtrahiere dieser beiden Gleichungen und integriere mit dem Gauß’schen Satz. Mit
dem nach außen gerichteten Einheitsnormalenvektorfeld n von ∂ (KR \ Kε ) ergibt
sich
µ
¿
¶
µ ¶ À
Z
Z
1
1
1
3
∆f d x =
· grad (f ) − f · grad
, n dF.
r
r
r
KR \Kε
∂(KR \Kε )
Für R so groß, dass f = 0 im Bereich r > R, folgt f = 0 und grad (f ) = 0 auf ∂KR .
Daher gilt mit dF = ε2 dΩ
µ
¿
¶
µ ¶ À
Z
Z
1
1
1
3
2
∆f d x = ε
· grad (f ) − f · grad
, n dΩ
r
r
r
KR \Kε
∂Kε
∙ D
¸
Z
1
xE
1
2
· grad (f ) ,
+ f · 2 dΩ.
= −ε
ε
ε
∂Kε ε
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
181
Dies gilt für alle ε mit 0 < ε < R. Man beachte das Vorzeichen, das von n (x) =
−x/ε = −gradx (r) für x ∈ ∂Kε herrührt. Durch den Grenzübergang ε → 0 folgt
¶
¶
Z µ
Z µ
1
1
3
∆f d x =
∆f d3 x = −4πf (0) .
r
r
R3
KR
Also gilt ∆e1r = −4πδ 0 .
Bemerkung 113 Die symbolische Notation der Physik ist −∆ (1/r) = 4πδ 3 . Die
Hochzahl 3 steht hier nicht für eine Potenz, sondern sie deutet die Dimension des
Raumes an, auf dem die Testfunktionen definiert sind. Die Verallgemeinerung dieses
Satzes auf Rn ist in Vol. 2, Kap.IV, §13.5.3 und Kap.V, §14.2.4 von [3] angeführt
und bewiesen.
Korollar 114 Sei f ∈ D (R3 ) . Für die Funktion4 u : R3 → R mit
¶
µ
Z
1
1
f (y) 3
∗ f (x) = −
dy
u (x) = −
4πr
4π R3 |x − y|
gilt ∆u = f auf R3 .
3.3.3
Helmholtzoperator ∆3 + λ
Drehinvariante Fundamentallösungen des Operators ∆n + λ ergeben sich aus drehinvarianten Funktionen φn : Rn \ 0 → R mit (∆n + λ) φn = 0, die für r → 0
unbeschränkt aber lokal integrabel sind. Dabei muss das Flussintegral von grad (φn )
durch die Oberfläche einer Sphäre vom Radius ε für ε → 1 gegen 1 konvergieren. Sei
ω n der Flächeninhalt der Einheitssphäre im Rn . Daher sollte die „Randbedingung“
(
−r2−n
(1 + O (r)) für n ∈ {3, 4, . . .}
(n−2)ωn
für r → 0
φn =
ln(r)
(1
+
O
(r))
für
n
=
2
2π
gelten.
Der Flächeninhalt ωn kann folgendermaßen bestimmt werden. Wir wissen, dass
Z ∞
√
2
e−x dx = π.
−∞
Daraus folgt für n ∈ N mit der Substitution t = r2
∙Z ∞
¸n Z
Z ∞
2
n/2
−x2
−|x|2 n
π
=
e dx =
e
d x = ωn
rn−1 e−r dr
−∞
0
Rn
Z
ωn ³ n ´
ω n ∞ n −1 −t
t 2 e dt =
Γ
.
=
2 0
2
2
¡ ¢
¡
¢
Also gilt ¡ωn¢ = 2πn/2 /Γ n2 . Kontrolle für n = 3 : Es gilt ω3 = 2π3/2 /Γ 12 + 1 =
2π 3/2 / 12 Γ 12 = 4π.
¡ ¢
Für f ∈ D R3 ist u die einzige Lösung von ∆u = f mit limλ→∞ u (λx) = 0 für alle x ∈ R3 \ 0.
Siehe Kap.V, §14.3.3 in [3], Vol.2. Die Konstuktion einer Lösung
¡ ¢ von ∆u = f durch Faltung
¡ ¢ von
−1/4πr mit f ist auch für gewisse f möglich, die nicht in D R3 sind. Z.B. für f ∈ C 2 R3 mit
f = 0 außerhalb einer genügend großen Kugel.
4
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
182
Satz 115 Sei κ ≥ 0. Die regulären Distribution zu den beiden Funktionen
g± : R3 \ 0 → R mit g± = −
exp (±κr)
4πr
sind Fundamentallösungen des 3-dimensionalen Helmholtzoperators ∆3 − κ2 .
Beweis. Sei n = 3 und κ ∈ R. Dann gilt
κr
¢
2
1 ¡
∆f (r) = f 00 (r) + f 0 (r) = 2 ∂r r2 ∂r f (r) .
r
r
Für f (r) = er folgt r2 ∂r f (r) = rκeκr − eκr und ∂r (r2 ∂r f (r)) = κeκr + rκ2 eκr −
κeκr = rκ2 eκr . Somit gilt auf R3 \ 0
∆
eκr
eκr
= κ2 .
r
r
κr
Da er = 1r (1 + O (r)) für r → 0, erfüllt die Funktion
Fundamentallösung von ∆3 − κ2 .
−eκr
4πr
die Randbedingung einer
Satz 116 Die regulären Distribution zu den beiden Funktionen
g± : R3 \ 0 → C mit g± = −
exp (±ikr)
4πr
sind (komplexe) Fundamentallösungen des 3d Helmholtzoperators ∆3 + k2 . Eine reelle Fundamentallösung ist in diesem Fall die reguläre Distribution zu g = <g± =
− cos (kr) / (4πr) .
Beweis. Der Beweis geht vollkommen analog zu jenem der Fundamentallösung
von ∆3 − κ2 .
3.3.4
Helmholtzoperator ∆2 + λ
Im Fall n = 2 und k ∈ R wird für eine Fundamentallösung von ∆2 + k2 eine unbeschränkte Lösung der Besselgleichung mit Parameter 0 benötigt, die sich
für r → 0 an ln (r) /2π „anschmiegt“. Für die (reelle) Neumannfunktion N0 gilt
N0 (kr) = π2 ln (kr) (1 + O (r)) für r → 0, sodass die zur Funktion
g=
N0 (kr)
+ αJ0 (kr) : R3 \ 0 → C
4
mit beliebigem α ∈ C gehörige Distribution eine Fundamentallösung von ∆2 + κ2
(1)
(2)
ist. Die Hankelfunktionen sind durch Hν = Jν + iNν und Hν = Jν − iNν definiert.
(1)
(2)
Daher gehört sowohl zu g+ = −iH0 (kr) /4 als auch zu g− = iH0 (kr) /4 eine
(komplexe) Fundamentallösung.
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
183
Satz 117 Für die Funktionen g± : R2 \ 0 → C gelte
i (1)
i (2)
g+ = − H0 (kr) und g− = H0 (kr) .
4
4
Die zu den Funktionen g± gehörigen Distributionen sind (komplexe) Fundamentallösungen des 2d Helmholtzoperators ∆2 + k2 .
Die Funktionen g± haben die folgende Fern-Asymptotik (§5, Kap. 14 in [6])
r
³
´
2 ±i(kr− π4 )
i
+ O (kr)−3/2 für r → ∞,
g± = ∓
e
4 πkr
die wir in Math. Meth. 1 im Abschnitt über die Beugung am Spalt ohne Beweis
vorweggenommen haben. Die Fern-Asymptotik der Fundamentallösungen von ∆n +
k2 spielt bei der Analyse von stationärer Streuung und Beugung eine wichtige Rolle.
Warum? Sei Gk eine Fundamentallösung von ∆ + k 2 . Sei ω = ck > 0. Dann gilt für
die t-abhängige Distribution Sk (t) = −e−iωt Gk
µ
µ 2
¶
¶
1 2
ω
−iωt
∂ − ∆ Sk (t) = e
+ ∆ Gk = e−iωt δ0 .
c2 t
c2
Für Gk = gf
± sind die zu Sk gehörigen Kugelwellen daher aus- bzw. einlaufend.
Für λ = −κ2 < 0 und n = 2 werden die Lösungen der modifizierten Besselgleichung zum Parameter 0 benötigt, aber ansonsten besteht weitgehende Analogie.
Wir breiten das hier nicht weiter aus.
3.3.5
Wellenoperator ¤2
Satz 118 Sei Θ die Heavisidefunktion und c > 0. Die reguläre Distribution ger zu
gr : R2 → R mit gr (t, x) = 2c Θ (ct − |x|) ist eine Fundamentallösung von ¤.
Beweis. Ein formales Argument geht so.
µ ¶2
c
c
1
1
∂t gr (t, x) =
δ (ct − |x|) ,
∂t gr (t, x) = δ 0 (ct − |x|) ,
c
2
c
2
c
∂x gr (t, x) = − δ (ct − |x|) sgn (x) ,
2
c 0
2
δ (ct − |x|) sgn2 (x) − cδ (ct − |x|) δ (x)
∂x gr (t, x) =
2
µ
¶
|x|
c 0
δ (ct − |x|) − δ t −
δ (x)
=
2
c
c 0
δ (ct − |x|) − δ (t) δ (x) .
=
2
Daraus ist plausibel, dass ¤gr (t, x) = δ (t) δ (x) .
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
184
Ein Beweis geht so. Für die Karte (u, v) mit u = ct + x, v = ct − x gilt
Θ (ct − |x|) = Θ (u) Θ (v) , da der Vorwärtskegel der Karte (t, x) der erste Quadrant
der Karte (u, v) ist. Weiters gilt für f (t, x) = fb(u, v)
¶
µ
1 2
2
∂ − ∂x f = 4∂u ∂v fb.
c2 t
Für die Funktionaldeterminante des Kartenwechsels von (t, x) auf (u, v) gilt
¶
¶
µ
µ
1
1
c 1
∂u x ∂u t
= .
= det
det
∂v x ∂v t
2c −c 1
2c
Damit folgt für f ∈ D (R2 )
¸
Z ∙Z
c
ger (¤f ) =
Θ (ct − |x|) ¤f (t, x) dx dt
2 R R
¸
Z ∙Z ∞
c ∞
1
=
4∂u ∂v fb(u, v) du dv
2 0
2c
0
Z ∞
Z ∞
¯u=∞
¯
∂v fb(u, v)¯
dv = −
∂v fb(0, v) dv
=
0
u=0
0
= fb(0, 0) = f (0, 0) = δ 0 (f ) .
Im Kapitel über Duhamels Lösungsformel wurde klar gemacht, dass für j ∈
D (R2 ) die Funktion u : R2 → R mit
!
Z ÃZ x+c(t−s)
c t
u (t, x) =
j (s, ξ) dξ ds
2 τ
x−c(t−s)
die Wellengleichung ¤u = j mit den homogenen Anfangsbedingungen u (τ , ·) =
∂t u (τ , ·) = 0 erfüllt. Wähle nun τ so, dass j (t, ·) = 0 für alle t < τ . Dann folgt
!
Z ÃZ x+c(t−s)
c t
u (t, x) =
j (s, ξ) dξ ds
2 −∞
x−c(t−s)
µZ ∞
¶
Z
¡ 2
c ∞
2
2¢
Θ (t − s)
Θ c (t − s) − (x − ξ) j (s, ξ) dξ ds
=
2 −∞
−∞
= (ger ∗ j) (t, x) ,
wobei gr (x) = 2c Θ (t) Θ (c2 t2 − x2 ) = 2c Θ (ct − |x|) benutzt wurde. Also gilt u =
gr ∗ j. In diesem Fall ergibt Duhamels Lösungsformel also gerade die Faltung der
Fundamentallösung ger mit der Quelle j.
Die Faltung von ger mit einer Funktion j ∈ D (R2 ) ergibt jene Lösung u von
¤u = j für die u (t, ·) = 0 für alle t < τ , wenn f (t, ·) = 0 für alle t < τ . Vor jeder
Aktivität der Quelle j ist die Lösung 0. Die Distribution ger heißt daher retardierte
Fundamentallösung; in der Physik wird die Funktion gr als retardierter Propagator
oder auch retardierte Green’sche Funktion bezeichnet.
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
185
Die zeitgespiegelte Funktion ga (t, x) = gr (−t, x) ergibt auch eine Fundamentallösung von ¤. Sie heißt avancierter Propagator und sie ergibt über die Faltung jene
Lösungen, die ab einer genügend großen Zeit gleich 0 sind. Durch Addieren einer Lösung u0 von ¤u = 0 zu gr können weitere Propagatoren (und Fundamentallösungen)
gewonnen werden.
Für die Differenz gr − ga folgt
¡
¡
¢ c
¢
c
[Θ (t) − Θ (−t)] Θ c2 t2 − x2 = sgn (t) Θ c2 t2 − x2
2
2
c
=
[Θ (ct − x) − Θ (x − ct)] .
2
gr (t, x) − ga (t, x) =
Diese Funktion hat im Rückwärtskegel den Wert −c/2, im Vorwärtskegel hat sie
den Wert c/2 und außerhalb des Kegels ist sie gleich 0. Sie ist also ein nichtdifferenzierbarer Grenzfall der Hammerschlaglösung von d’Alemberts Wellengleichung
(siehe Übungen). Für die zugehörige Distribution ger − gea gilt
3.3.6
¤ (ger − gea ) = ¤ger − ¤gea = δ 0 − δ 0 = 0.
Wellenoperator ¤4
Sei Gr ∈ D0 (R4 ) mit c > 0 definiert durch
Gr (f ) =
Z
R3
f
³
´
|x|
,x
c
4π |x|
d3 x.
Gr ist keine reguläre Distribution. Formal ist sie mit der „Funktion”
gr (t, x) =
δ (t − |x| /c)
δ (ct − |x|)
=c
4π |x|
4π |x|
assoziiert. Falls für alle Punkte (t, x) ∈ R4 mit ct = |x| gilt, dass f (t, x) = 0,
dann folgt Gr (f ) = 0. Man sagt, dass die Distribution Gr auf dem Vorwärtslichtkegelmantel mit Spitze in 0 lokalisiert ist. Ein allgemeiner und präziser Begriff zur
Formulierung dieses Sachverhaltes ist der Träger einer Distribution. Der Träger von
S ∈ D0 (Rn ) ist die größte abgeschlossen Menge XS ⊂ Rn mit
S (f ) = 0 für alle f ∈ D (Rn ) mit {x ∈ Rn : f (x) 6= 0} ⊂ Rn r XS .
Der Träger von Gr ist also die Menge {(t, x) ∈ R × R3 : t ≥ 0 und ct = |x|} .
Die formale Darstellung gr legt die folgende Definition einer zeitparametrisierten
Schar von räumlichen Distributionen nahe. Für f ∈ D (R3 ) sei
Z
Z
δ (ct − |x|)
ct
3
Gr [t, f ] = “
f (x) d x ” = Θ (t)
c
f (ctn) dn Ω.
4π |x|
4π S2
R3
Dann ist die Abbildung f 7→ Gr [t, f ] für alle t ∈ R ein Element von D0 (R3 ) .
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
186
Wird der Testfunktion f ∈ D (R4 ) die Testfunktion fb mit fb(ct, x) = f (t, x)
br ∈ D0 (R4 ) mit
für alle (t, x)³ ∈´ R4 zugeordnet, dann folgt für die Distribution G
br fb
Gr (f ) = G
Z b
³ ´
f (|x| , x) 3
br fb = Gr (f ) =
G
d x.
4π |x|
R3
´
³
2
0
0 2
b
Die Distribution Gr ist daher mit der „Funktion” Θ (x ) δ (x ) − |x| /2π assoziiert, denn
Z
R3
¶
Z µZ
¡ 0 ¢ δ (x0 − |x|) 0 3
fb(|x| , x) 3
dx =
fb x , x
dx d x
4π |x|
4πx0
R3
R
¶
Z µZ
´
¡ 0 ¢ ¡ 0 ¢ ³¡ 0 ¢2
1
2
0
b
=
f x , x Θ x δ x − |x| dx d3 x.
2π R3
R
Satz 119 Gr ist eine Fundamentallösung von ¤.
Beweis. Sei f ∈ D (R4 ) . Das Korollar zur Lösungsformel der inhomogenen
Wellengleichung impliziert, dass für die Funktion u : R4 → R mit
³
´
Z f t − |ξ| , x + ξ
c
u (t, x) =
d3 ξ
4π
|ξ|
3
R
¤u = f gilt. Offensichtlich gilt u (t, ·) = 0 für alle t < T,¡sofern f ¢(t, ·) = 0 für alle
t < T. Ein Vergleich mit Gr ∗ f zeigt (Gr ∗ f ) (t, x) = Gr T(t,x) Πf =
³
´
Z f t − |y| , x − y
c
=
d3 y = u (t, x) .
4π |y|
R3
Mit ¤u = f folgt aus ∂i (Gr ∗ f ) = Gr ∗ (∂i f ) , dass
f (x) = ¤ (Gr ∗ f ) (x) = (Gr ∗ ¤f ) (x) = Gr (Tx Π¤f ) = Gr (Tx ¤Πf ) .
Für x = 0 ergibt sich wegen Πf (0) = f (0) daraus für alle f ∈ D (R4 )
f (0) = Gr (¤f ) .
Damit ist Gr als die retardierte Fundamentallösung identifiziert.
Analog zu Gr ist die zeitgespiegelte Distribution Ga = τ Gr : f 7→ Gr (τ f ) mit
(τ f ) (t, x) = f (−t, x) eine Fundamentallösung. (Avancierte Fundamentallösung) Sie
hat die formale Darstellung
ga (t, x) =
δ (ct + |x|)
δ (t + |x| /c)
=c
.
4π |x|
4π |x|
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
Die Differenz ∆ = Ga − Gr ist eine distributionelle Lösung der
lengleichung: ¤∆ = 0. Die formale Darstellung von ∆ ist mit5
t 6= 0
´
´
³
³
Ã
|x|
δ t + |x|
δ
t
−
c
c
σ (t)
∆ (t, x) =
−
=−
δ t2 −
4π |x|
4π |x|
2πc
= −
187
homogenen Welσ (t) = t/ |t| für
2
|x|
c2
!
¢
σ (t) ¡ 2 2
cδ c t − |x|2 .
2π
Mit den zeitparametrisierten Distributionen Gr [t, ·] und ihren zeitgespiegelten
Analoga Ga [t, ·] lässt sich ∆ in eine zugehörige zeitparametrisierte Familie räumlicher Distributionen „umdeuten”
∆ [t, f ] = Ga [t, f ] − Gr [t, f ] = Gr [−t, f ] − Gr [t, f ]
Z
Z
ct
ct
f (−ctn) dn Ω − Θ (t)
f (ctn) dn Ω
= −Θ (−t)
4π S2
4π S2
Z
ct
= −
f (ctn) dn Ω.
4π S2
Es gilt ∆ [0, f ] = 0 und
¯
Z
Z
¯
1
1
¯
= −
f (0) dn Ω − 0 ·
n · grad0 (f ) dn Ω
∂t ∆ [t, f ]¯
c
4π S2
S2
t=0
= −f (0) .
¯
Die „Lösung” ∆ [t, ·] hat somit die Anfangsvorgabe ∆ [0, ·] = 0 und 1c ∂t ∆ [t, ·]¯t=0 =
−δ.
Mit der Familie ∆ [t, ·] lässt sich Kirchhoffs Lösungsformel für das Anfangswertproblem von d’Alemberts Wellengleichung für Anfangsvorgaben u, v ∈ D (R3 ) nun
in die folgende distributionelle Form bringen.
½ Z
¾
Z
t
t
v (x + c |t| n) dΩn + ∂t
u (x + c |t| n) dΩn
A (t, x) =
4π S2
4π S2
³
³
u´
v´
(x) − ∂t ∆ (t, ·) ∗
(x) .
= − ∆ (t, ·) ∗
c
c
3.3.7
Wellenoperator ¤3
Aus dem Abschnitt über die Lösungsformel für die inhomogene Wellengleichung
¤A = j in 2 Raumdimensionen wissen wir, dass für j ∈ D (R3 ) für die retardierte
Lösung Ar
Z Z
c
Ar (t, x) = (gr ∗ j) (t, x) =
gr (t − s, x − y) j (s, y) d2 yds
2π R R2
5
Der Wert von σ bei 0 ist belanglos, solange er endlich ist.
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
188
gilt. Dabei ist gr : R × R2 → R die lokal integrable Funktion, für die
gr (t, x) =
c Θ (ct − |x|)
q
.
2π
c2 t2 − |x|2
Die zu gr gehörige reguläre Distribution Gr = ger ist somit eine Fundamentallösung
von ¤3 .
3.3.8
Klein-Gordon Operator ¤n + κ2
Für ein κ2 ∈ R>0 und ein j ∈ D (Rn : C) heißt eine C 2 -Funktion A : Rn → C mit
¢
¡
(3.1)
¤n + κ2 A = j
eine Lösung der Klein-Gordon Gleichung mit Quellfunktion oder auch Inhomogenität j. Der Grenzfall κ2 = 0 umfasst also genau die (komplexen) Lösungen von
d’Alembert’s inhomogener Gleichung. Sei im Weiteren stets κ2 > 0. Gilt überdies A (0, ·) = u und ∂t A (0, ·) = v für zwei Funktionen u ∈ C 2 (Rn−1 : C) , v ∈
C 1 (Rn−1 : C) , dann wird A als Lösung des Anfangswertproblems zur inhomogenen
Klein-Gordon Gleichung mit den Vorgaben (u, v) bezeichnet. Die Eindeutigkeit der
Lösung eines solchen Anfangswertproblems kann wie im Fall von d’Alemberts Wellengleichung zunächst auf den Fall j = 0 zurückgeführt und für diesen Fall mit der
Energieintegralmethode gezeigt werden.
Zur Gewinnung irgendeiner Lösung von (3.1) kann der folgende (räumliche) Fourieransatz
Z
¡ 0 ¢
¡
¢
¡
¢
A x ,x =
c x0 , k eik·x dn−1 k für alle x0 , x ∈ R × Rn−1
(3.2)
Rn−1
versucht werden. Hierbei bezeichnet k · x das Standardskalarprodukt der beiden
Vektoren k, x ∈ Rn−1 . Mithilfe einer Darstellung der Quellfunktion j (x0 , ·) zur Zeit
x0 als Fourierintegral
Z
¡ 0 ¢
¢
¡
e
j x ,x =
j x0 , k eik·x dn−1 k
Rn−1
ergibt sich dann für alle k ∈ Rn−1 und für alle x0 ∈ R
¢
¡
¢
¢ ¡
¡ 2
j x0 , k ,
∂0 + |k|2 + κ2 c x0 , k = e
(3.3)
soferne nur der Differentialoperator ¤ mit dem Integral in Gleichung (3.2) vertauscht.
Die Bewegungsgleichung (3.3) entkoppelt die Auslenkungen c (·, k) aller Fouriermoden exp (ik · x) voneinander. Die Lösung A ist also einem Kontinuum von getriebenen, entkoppelten, harmonischen Oszillatoren äquivalent. Eine maximale Lösung
der Oszillatorgleichung (3.3) ist beispielsweise die Funktion
Z ∞
¢ ¡ 0 ¢ 0
¡ 0 ¢
¡
cr x , k =
gr x0 − y 0 , k e
j y , k dy ,
−∞
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
189
q
wobei mit ω (k) = |k|2 + κ2
¢
¡ ¢ sin (ω (k) x0 )
¡
gr x0 , k = Θ x0
ω (k)
gilt. Die Funktion gr (·, k) ist also die retardierte Fundamentallösung der (ungedämpften) Schwingungsgleichung mit Eigenfrequenz ω (k) .
Mit der Wahl der retardierten Lösungen cr bietet sich die Funktion Ar mit
∙Z ∞
¸
Z
¢ ¡ 0 ¢ 0 ik·x n−1
¡ 0 ¢
¡ 0
0
e
gr x − y , k j y , k dy e d k
Ar x , x =
Rn−1
−∞
als eine der gesuchten Lösungen an.
Die Funktion gr (·, k) hat die folgende Fourierdarstellung
¢
¡
1
gr x0 , k = − lim lim
2π ε&0 R→∞
Z
R
−R
0 0
e−ik x
dk 0
2
0
2
0
(k ) − ω (k) + iεσ (k )
mit σ (k0 ) = k0 / |k 0 | für k0 6= 0 und σ (0) = 0. Damit folgt
Z ∞
¢ ¡ 0 ¢ 0
¡
gr x0 − y 0 , k e
j y , k dy
−∞
1
= − lim lim
2π ε&0 R→∞
Wegen
Z
∞
−∞
Z
R
−R
0 0
e−ik x
dk 0
(k0 )2 − ω 2 (k) + iεσ (k0 )
¢
¡
e
j y0, k =
Z
∞
eik
0 y0
−∞
Z
¢
¡
e
j y 0 , k dy 0 .
¡
¢ e−ik·y n−1
j y0, y
d k
(2π)n−1
Rn−1
folgt nach (gerechtfertigter!) Vertauschung diverser Limiten
Z
(Fj) (k)
e−ihk,xi n
·
Ar (x) = lim
n d k.
ε&0 Rn κ2 − hk, ki − iεσ (k 0 )
(2π) 2
Dabei bezeichnet Fj die n-dimensionale Fouriertransformierte von j mit
Z
eihk,yi
n
(Fj) (k) =
n j (y) d y,
Rn (2π) 2
P
und hk, yi = k0 y 0 − ni=1 ki y i das Minkowskische indefinite innere Produkt von
k = (k0 , k 1 , . . . k n ) ∈ Rn mit y = (y 0 , y 1 , . . . y n ) ∈ Rn .
Für Ar gilt (¤ + κ2 ) Ar = j. Es existiert ein τ ∈ R mit j (x0 , ·) = 0 für alle
0
x ≤ τ . Für τ folgt dann Ar (τ , ·) = 0 = ∂t Ar (τ , ·) . Da es genau eine Lösung der
inhomogenen Klein-Gordon Gleichung zu einer solchen Anfangsvorgabe gibt, heißt
Ar die retardierte Lösung. Sie erfüllt ferner Ar (x0 , ·) = 0 für alle x0 ≤ τ .
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
190
Für reellwertige Quelle j ist auch Ar reellwertig, denn mit der Substitution k0 =
−k folgt
Z
e−ih−k,xi n
(Fj) (k)
·
Ar (x) = lim
n d k
ε&0 Rn κ2 − hk, ki + iεσ (k 0 )
(2π) 2
Z
0
(Fj) (−k0 )
e−ihk ,xi n 0
·
= lim
n d k
ε&0 Rn κ2 − hk 0 , k 0 i − iεσ (k 00 )
(2π) 2
Z
0
(Fj) (k 0 )
e−ihk ,xi n 0
= lim
·
n d k = Ar (x) .
ε&0 Rn κ2 − hk 0 , k 0 i − iεσ (k 00 )
(2π) 2
Weitere Lösungen Aa , AF von (¤ + κ2 ) A = j ergeben sich analog mittels avancierter Fundamentallösung oder auch mittels Feynmans Fundamentallösung zu
Z
(Fj) (k)
e−ihk,xi n
Aa (x) = lim
·
d k,
ε&0 Rn κ2 − hk, ki + iεσ (k 0 ) (2π)n/2
Z
(Fj) (k)
e−ihk,xi n
AF (x) = lim
d k.
·
ε&0 Rn κ2 − hk, ki − iε (2π)n/2
Für Aa existiert ein τ ∈ R mit Aa (x0 , ·) = 0 für alle x0 > τ . Daher heißt
Aa die avancierte Lösung. Für reelle Quelle j ist Aa reell. AF hingegen erfüllt die
„Randvorgabe”, dass ein τ > 0 existiert, sodass AF für alle x0 > τ eine Superposition
0
von ebenen Wellenlösungen des Typs e−iω(k)x +ik·x und für x0 < τ eine Superposition
0
von ebenen Wellenlösungen des Typs eiω(k)x −ik·x ist.
Aus diesen Betrachtungen ergeben sich die folgenden drei Fundamentallösungen
von ¤n + κ2 als Limiten für ε & 0 der Familien von regulären Distributionen, die
mit den Funktionen
Z
1
e−ihk,xi
dn k,
Gr,ε (x) =
n
2
0
(2π) Rn κ − hk, ki − iεσ (k )
Z
e−ihk,xi
1
dn k,
Ga,ε (x) =
(2π)n Rn κ2 − hk, ki + iεσ (k0 )
Z
e−ihk,xi
1
dn k,
GF,ε (x) =
(2π)n Rn κ2 − hk, ki − iε
br , G
ba , G
bF ∈ D0 (Rn ) . Für sie gilt
assoziiert sind. Es sind dies die Distributionen G
b = δ.
jeweils (¤n + κ2 ) G
Die Funktionen Gr,ε , Ga,ε (und auch GF,ε ) sind invariant unter der orthochronen Lorentzgruppe. Da aber Gr,ε (x) = 0 für x0 < 0 gilt, verschwindet Gr,ε überall
außerhalb des (abgeschlossenen) Vorwärtslichtkegels C+ (0) von 0. In der Folge verschwindet auch Ar außerhalb der Vereinigung aller vom Träger von j ausgehenden
abgeschlossenen Vorwärtslichtkegel. Damit ist die Einsteinkausalität auch für die retardierten Lösungen der inhomogenen Klein-Gordon Gleichung gezeigt. Analog hat
Aa seinen Träger in der Vereinigung der Rückwärtslichtkegel, die vom Träger von j
ausgehen. AF (x) hingegen kann auch in einem Punkt x, der raumartig zum Träger
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
191
ba am Rückwärtslichtbr auf C+ (0) und G
von j liegt, ungleich 0 sein. Somit ist G
kegel C− (0) „lokalisiert”. Alle drei Fundamentallösungen sind invariant unter der
orthochronen Lorentzgruppe.
b := G
ba − G
br gilt offenbar (¤n + κ2 ) ∆
b = 0 im distributioFür die Differenz ∆
b ist eine (orthochron) lorentzinvariante, distributionelle Lösung der
nellen Sinn. ∆
homogenen Klein-Gordon Gleichung, ungerade unter Zeitspiegelung. Ihr Träger ist
im Kegel C (0) = C+ (0) ∪ C− (0) enthalten. Sie zieht sich also zur Zeit x0 = 0 zu
einer Singularität in 0 zusammen und läuft dann wieder auseinander.
b etwas genauer an. Wegen Ar = Aa − ∆
b ∗j
Sehen wir uns diese Distribution ∆
b an der Differenz Ar − Aa abzulesen. Es gilt
ist −∆
¡
¢
¢
¡ ¢ sin (ω (k) x0 )
¡
¡
¢ sin (ω (k) x0 )
sin (ω (k) x0 )
+Θ −x0
=
gr x0 , k −ga x0 , k = Θ x0
ω (k)
ω (k)
ω (k)
und daher
¡
¢
(Ar − Aa ) x0 , x =
Z
Rn−1
∙Z
∞
−∞
¸
sin (ω (k) (x0 − y 0 )) e ¡ 0 ¢ 0 ik·x n−1
j y , k dy e d k.
ω (k)
Der Ausdruck in der eckigen Klammer ergibt
Z ∞ iω(x0 −y0 )
0
0
− e−iω(x −y ) e ¡ 0 ¢ 0
sin (ω (x0 − y 0 )) e ¡ 0 ¢ 0
e
j y , k dy =
j y , k dy
ω
2iω
−∞
−∞
i
h
2π
0
0
=
eiωx (Fj) (−ω, k) − e−iωx (Fj) (ω, k) .
n
2iω (2π) 2
³
´
b ∗ j (x0 , x) = (Ar − Aa ) (x0 , x) =
Somit folgt −∆
Z
∞
=
=
=
=
Z
i eik·x
2π h iωx0
−iωx0
n−1
e
(Fj) (−ω, k) − e
(Fj) (ω, k)
k
n d
(2π) 2
Rn−1 2iω
Z
i dn−1 k
h
−i2π
iωx0 −ik·x
−iωx0 ik·x
e
(Fj)
(−ω,
−k)
−
e
e
(Fj)
(ω,
k)
e
n
2ω
(2π) 2 Rn−1
Z
i dn−1 k
h
0
0
2πi
e−i(ωx −k·x) (Fj) (ω, k) − ei(ωx −k·x) (Fj) (−ω, −k)
n
2ω
(2π) 2 Rn−1
¸
∙Z
Z
¡ ¢ ¡
¢
2πi
σ k 0 δ hk, ki − κ2
e−ihk,x−yi j (y) dn y dn k.
n
(2π) Rn
Rn
Achtung: In diesen Formeln kürzt ω immer den Funktionswert ω (k) ab.
b hat somit die formale Fourierdarstellung
Die Distribution ∆
Z
¡ 0¢ ¡
¢ −ihk,xi n
i
2
∆ (x) = −
σ
k
d k.
δ
hk,
ki
−
κ
e
(2π)n−1 Rn
Eine weitere formale Darstellung ergibt sich bezüglich einer Zerlegung in räumliche
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
192
und zeitliche Variable
"
#
Z
0
0
e−iω(k)x +ik·x eiω(k)x +ik·x n−1
i
−
d k
2ω (k)
2ω (k)
(2π)n−1 Rn−1
"
#
Z
0
0
e−iω(k)x +ik·x eiω(k)x −ik·x n−1
1
−
d k
=
2iω (k)
2iω (k)
(2π)n−1 Rn−1
∙
¸
Z
sin (ω (k) x0 − k · x) n−1
d k.
= −
(2π)n−1 ω (k)
Rn−1
¡
¢
∆ x0 , x = −
b x0 : D (Rn−1 : R) → R mit
Für festes x0 ist durch die Abbildung ∆
∙Z
¸
Z
0
sin
(ω
(k)
x
−
k
·
x)
n−1
b x0 (u) = −
u (x) d x dn−1 k
∆
n−1
n−1
n−1
(2π)
ω (k)
R
R
eine Distribution definiert. Mit ihr lautet die Lösungsformel für das Anfangswertproblem der Klein-Gordon Gleichung aus dem Kapitel über das Lösen partieller
Differentialgleichungen mittels Fouriertransformation
´
³
´
³
¢
¡
b x0 ∗ v (x) .
b x0 ∗ u (x) − ∆
A x0 , x = −∂0 ∆
b lautet für f ∈ D (Rn : R)
Die präzise Definition von ∆
Z
dn−1 k
2πi
b
[(Ff ) (ω (k) , k) − (Ff ) (−ω (k) , −k)]
∆ (f ) =
∈ R.
n
2ω (k)
(2π) 2 Rn−1
Ohne Beweis sei mitgeteilt: Für n = 4 gilt mit der Besselfunktion J1 und der
Abkürzung x2 = hx, xi die formale Darstellung
³√
´
⎛
⎞
2 x2
J
κ
2
1
¡ ¢
¡ ¢
δ (x ) ⎠
∆ (x) = σ x0 ⎝Θ x2 κ2 √
−
.
2π
κ2 x2
Der erste Anteil dieser Zerlegung von ∆ ist regulär und sogar beschränkt, der zweite
jedoch nicht und ist folgendermaßen gemeint
¶
Z µ
Z
σ (x0 ) ¡ 2 ¢
f (|x| , x) f (− |x| , −x) d3 x
4
δ x f (x) d x =
−
.
2π
|x|
|x|
4π
R4
R3
Er ist genau die Distribution ∆, die bei den Fundamentallösungen von ¤4 behandelt
wurde.
Wegen Gr (f ) = −∆ (f ) für alle Testfunktionen mit Träger im Halbraum x0 > 0,
zeigt der erste Teil, dass eine Quelle j auch in einem Raumzeitpunkt x ein Signal
erzeugen kann, wenn x in der zeitartigen Zukunft eines jeden Punktes im Träger
der Quelle liegt. Dieser „Nachhall”, der von einer verlangsamten Signalausbreitung
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
193
herrührt, klingt aber an einem festen Ort zeitlich für große t wie t−3/2 ab. Figur
(3.1) zeigt die Graphen von
³p
´
J1
κ2 (c2 t2 − r2 )
p
κr 7→
κ2 (c2 t2 − r2 )
für κct = 5 (rot), κct = 8 (grün) und für κct = 10 (schwarz) jeweils für 0 < r < ct.
Figur (3.2) zeigt die Funktion κct 7→ J1 (κct) /κct für 0 < κct < 30. Sie gibt einen
Eindruck vom Nachhall am Ort x = 0.
0.5
0.375
0.25
0.125
0
0
2.5
5
7.5
10
Abbildung 3.1: Nachhall von Gret im Kegelinneren
0.5
0.375
0.25
0.125
0
0
5
10
15
20
25
Abbildung 3.2: Nachhall von Gret in x = 0
30
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
3.4
194
Lösungen von ¤A = j ∈ D0 (Rn)
Ist G eine Fundamentallösung eines linearen Differentialoperators D auf Rn mit
konstanten Koeffizienten, dann ist also G∗j mit j ∈ D (Rn ) eine Lösung von Du = j.
Die Einschränkung j ∈ D (Rn ) ist oftmals für physikalische Situationen zu stark
und man sucht Lösungen u der Gleichung Du = j für Quellen j, für die es keine
Kugel im Rn gibt, außerhalb derer j = 0 gilt. Manchmal wird auch j zu einer nicht
regulären Distribution idealisiert. Falls der dann zunächst formale Ausdruck G ∗ j
mit Sinn erfüllt werden kann, besteht die Chance, dass G ∗ j eine - möglicherweise
distributionelle - Lösung von Du = j ist. Dieses Vorgehen führt machmal - aber
nicht immer - zum Ziel.
3.4.1
Faltung von Distributionen
Bevor wir uns physikalische Beispiele ansehen, einige allgemeine Überlegungen. Seien
u, v : Rn → R stetig und von beschränktem Träger. Dann existiert die Faltung
Z
(u ∗ v) (x) =
u (x − y) v (y) dn y
Rn
in jedem Punkt x und ist selbst eine stetige Funktion. Die zur Faltung u ∗ v gehörige
reguläre Distribution T ∈ D0 (Rn ) erfüllt dann für jedes f ∈ D (Rn )
µZ
¶
Z
n
f (x)
u (x − y) v (y) d y dn x
T (f ) =
n
n
R
ZR Z
f (x + y) u (x) v (y) dn xdn y.
=
Rn
Rn
Für jedes fest gewählte f ∈ D (Rn ) hat die stetige Funktion auf Rn × Rn mit
(x, y) 7→ f (x + y) u (x) v (y)
beschränkten Träger und definiert eine Linearform auf C ∞ (Rn × Rn : R) , nämlich
Z
ψ 7→
ψ (x, y) f (x + y) u (x) v (y) dn xdn y.
Rn ×Rn
Dieser Sachverhalt motiviert nun eine Faltungsdefinition für beliebige Distributionen S, T ∈ D0 (Rn ) mit beschränktem Träger. Sei S ⊗ T jene Distribution in
D0 (Rn × Rn ) , für die6
(S ⊗ T ) (f ⊗ g) = S (f ) T (g)
für alle f, g ∈ D (Rn ) . Weiter sei für jedes f ∈ D (Rn ) die Distribution f+ ·(S ⊗ T ) ∈
D0 (Rn × Rn ) so, dass mit f+ (x, y) = f (x + y)
f+ · (S ⊗ T ) : ψ 7→ (S ⊗ T ) (f+ · ψ) , wobei (f+ · ψ) (x, y) = f (x + y) ψ (x, y) .
6
Dabei ist (f ⊗ g) (x, y) = f (x) g (y) für alle x, y ∈ Rn .
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
195
Da die Distribution f+ ·(S ⊗ T ) beschränkten Träger hat, ist sie zu einer Linearform
auf C ∞ (Rn × Rn : R) fortsetzbar. Sie ist somit auf die konstante Funktion, die auf
ganz Rn ×Rn den Wert 1 annimmt, anwendbar. Diese Funktion sei mit e bezeichnet.
Dann ist die Abbildung
D (Rn ) 3 f 7→ [f+ · (S ⊗ T )] (e)
ein Element von D0 (Rn ) . Sie wird als die Faltung von S mit T bezeichnet. Da sie
invariant unter Vertauschung von S mit T ist, gilt S ∗ T = T ∗ S.
Diese distributionelle Faltung kann noch ein wenig verallgemeinert werden. Die
beiden Distributionen S, T brauchen selbst nicht beschränkten Träger zu haben, sondern es genügt, wenn für alle f ∈ D (Rn ) die Distribution f+ · (S ⊗ T ) beschränkten
Träger hat. Wir fassen zusammen.
Definition 120 Seien S, T ∈ D0 (Rn ) so, dass für alle f ∈ D (Rn ) die Distribution
f+ · (S ⊗ T ) beschränkten Träger hat. Dann ist S ∗ T ∈ D0 (Rn ) jene Distribution,
für die (S ∗ T ) (f ) = [f+ · (S ⊗ T )] (e) für alle f ∈ D (Rn ) .
Als Illustration berechnen wir die Faltung von δ ∈ D0 (R) mit sich. Das muss
möglich sein, da δ beschränkten Träger hat. Es gilt für f ∈ D (R)
[f+ · (δ ⊗ δ)] (e) = (δ ⊗ δ) (f+ · e) = (f+ · e) (0, 0) = f (0 + 0) = f (0) .
Somit gilt δ ∗ δ = δ.
Als zweites Beispiel berechnen wir δ ∗ δ 0 für δ ∈ D0 (R) . Es gilt für f ∈ D (R)
[f+ · (δ ⊗ δ0 )] (e) = (δ ⊗ δ 0 ) (f+ · e) = ∂y (f+ · e) (x, y)|x=y=0 = f 0 (0 + 0) = f 0 (0) .
Somit gilt δ ∗ δ 0 = δ 0 . Dies lässt sich nun verallgemeinern auf δ ∗ S = S für beliebiges
S ∈ D0 (R) , da f+ · (δ ⊗ S) für jedes f ∈ D (R) beschränkten Träger hat. Es gilt
[f+ · (δ ⊗ S)] (e) = (δ ⊗ S) (f+ · e) = S [(f+ · e) (0, ·)] = S (f ) .
Offenbar gilt δ ∗ S = S auch für alle S ∈ D0 (Rn ) und δ ∈ D0 (Rn ) .
Sei nun G ∈ D0 (Rn ) eine Fundamentallösung von ¤. Es gilt also G (¤f ) = f (0)
für alle f ∈ D (Rn ) . Falls nun für ein j ∈ D0 (Rn ) die Faltung G ∗ j ∈ D0 (Rn )
existiert, dann folgt für alle f ∈ D (Rn )
¢
¡
(¤ (G ∗ j)) (f ) = (G ∗ j) (¤f ) = (G ⊗ j) (¤f )+ · e
= (G ⊗ j) ((¤ ⊗ id) (f+ · e))
= (δ ⊗ j) (f+ · e) = j (f ) .
Somit gilt im distributionellen Sinn ¤ (G ∗ j) = δ.
Hier ein Beispiel auf R2 . Sei G die reguläre Distribution zur Funktion Θ (t − |x|) /2
und sei j die Distribution mit der formalen Darstellung Θ (t) δ (x) . Es gilt also
Z ∞
j (f ) =
f (t, 0) dt.
0
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
196
Formal gilt
Z Z
Θ (t − s − |x − y|)
Θ (s) δ (y) dyds
2
R R
Z ∞
Z t−|x|
Θ (t − s − |x|)
ds
=
ds = Θ (t − |x|)
2
2
0
0
t − |x|
= Θ (t − |x|)
.
2
Die Faltung G ∗ j erfüllt nach der exakten Definition
Z
Θ (t − |x|)
Θ (s) f (t + s, x) dsdxdt
(G ∗ j) (f ) = (G ⊗ j) (f+ · e) =
2
R3
Z
Θ (t0 − s − |x|)
=
Θ (s) f (t0 , x) dsdxdt0
2
3
¶
ZR µZ
Θ (t0 − s − |x|)
Θ (s) ds f (t0 , x) dxdt0
=
2
2
R
ZR
t − |x|
f (t, x) dxdt.
=
Θ (t − |x|)
2
R2
G ∗ j ist also tatsächlich, wie aufgrund des heuristischen Arguments vermutet,
die reguläre Distribution zur stetigen Funktion
u− : R2 3 (t, x) 7→ Θ (t − |x|)
t − |x|
.
2
Wegen (∂t2 − ∂x2 ) S = δ gilt (∂t2 − ∂x2 ) (G ∗ j) = j, sodass G ∗ j eine distributionelle
Lösung der Wellengleichung zur Quelle Θ (t) δ (x) ist.
Die Funktion u− gibt (in parameterreduzierter Form) die Auslenkung eines unendlich langen Seils an, auf das ab der Zeit t = 0 im Ort x = 0 eine konstante
Einheitskraft angreift. Das Seil wird um 0 herum zunehmend ausgelenkt, wobei sich
die Störung mit Geschwindigkeit 1 von 0 weg ausbreitet. Im Bereich x > 0 rechtsläufig und im Bereich x < 0 linksläufig. Siehe Figur (3.3).
Bemerkenswert ist an diesem Beispiel die entscheidende Bedeutung, die dem Faktor Θ (t) in der Definition von j zukommt. Lässt man ihn weg, dann ist die Faltung
von von G mit j undefiniert, da sich das s Integral, dann über einen unbeschränkten Halbstrahl erstreckt und der Integrand konstant in s ist. Eine distributionelle
Lösung A zur vollkommen statischen Punktquelle j (t, x) = δ (x) ergibt sich aber
mit einem statischen Lösungsansatz, der formal A (t, x) = u (x) lautet und exakt als
Distribution A ∈ D0 (R2 ) mit
Z ∞
U (f (t, ·)) dt
A (f ) =
−∞
für ein U ∈ D0 (R) aufzufassen ist. U soll dermaßen gewählt sein, dass für alle
f ∈ D (R2 ) gilt
Z ∞
f (t, 0) dt = A (¤f ) .
−∞
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
197
Abbildung 3.3: Der Graph von (t, x) 7→ Θ (t − |x|) t−|x|
2
Daraus folgt wegen
Z ∞
£
¤
U ∂t2 f (t, ·) − ∂x2 f (t, ·) dt
A (¤f ) =
Z ∞
Z
Z−∞
∞
£ 2
¤
∂t U [∂t f (t, ·)] dt −
U ∂x f (t, ·) dt = −
=
−∞
dass
−∞
∞
−∞
£
¤
U ∂x2 f (t, ·) dt,
£
¤
f (t, 0) = −U ∂x2 f (t, ·) ,
also U 00 = −δ ∈ D0 (R) . Somit ist die reguläre Distribution zur statischen Funktion
u (t, x) = −
|x|
2
eine distributionelle Lösung von ¤A = j mit j (t, x) = δ (x) .
Unterwerfen wir noch die Funktion u einer Lorentztransformation. Dabei sollten
wir eine distributionelle Lösung zu einer gleichförmig bewegten Quelle erhalten. Sei
also für alle t, x ∈ R und für ein β ∈ (−1, 1)
Ã
!
t − βx
|x − βt|
x − βt
(Λu) (t, x) = u p
=− p
,p
.
2
2
1−β
1−β
2 1 − β2
Das Bild der Quelle j (t, x) = δ (x) unter derselben Lorentztransformation ergibt
sich formal zu
! q
Ã
x − βt
= 1 − β 2 δ (x − βt) .
(Λj) (t, x) = δ p
2
1−β
Somit gilt für die reguläre Distribution u
fβ mit dem Repräsentanten
uβ (t, x) =
− |x − βt|
¡
¢
2 1 − β2
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
198
Abbildung 3.4: uβ für β = 1/2 auf [−1, 1] × [−1, 1]
die distributionelle Differentialgleichung ¤f
uβ = j mit j (t, x) = δ (x − βt) . Figur
(3.4) zeigt den Graphen von uβ für β = 1/2.
Eine Verallgemeinerung des Beispiels mit der für t > 0 konstant aktiven, ruhenden Punktquelle ergibt sich, wenn in der Definition von j die Heaviside-Funktion
noch mit einer lokal integrablen reellwertigen Funktion q : R → R multipliziert wird.
Die Quelle erfüllt dann formal
j (t, x) = Θ (t) q (t) δ (x)
und G∗j ergibt sich ganz analog zur regulären Distribution mit dem Repräsentanten
u− (t, x) = Θ (t − |x|)
R t−|x|
0
q (s) ds
.
2
Die Punktquelle am Ort 0 macht sich am Ort x erst ab der Zeit t = |x| bemerkbar.
Sie produziert am Ort x zu einer Zeit t > |x| eine Auslenkung, die bis auf den Faktor
1/2 durch das bestimmte Integral der Quellfunktion q von 0 bis zur retardierten Zeit
t − |x| gegeben ist. Das Seil wirkt demnach als „Integrator”. Aus der Ableitung des
im Zeitintervall [0, t] bei x aufgezeichneten Signals lässt sich aber die Quellfunktion
q im Intervall [0, t − |x|] rekonstruieren.
Als eine Lösung zur Quelle j (t, x) = Θ (−t) δ (x) ergibt sich durch Zeitspiegelung
von
t − |x|
u− : R2 3 (t, x) 7→ Θ (t − |x|)
2
die (avancierte) Lösung mit dem Repräsentanten
u+ : R2 3 (t, x) 7→ −Θ (− (t + |x|))
Ihr Träger ist der Rückwärtskegel von 0.
t + |x|
.
2
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
199
Welche Lösung u zur Quelle j (t, x) = Θ (−t) δ (x) gehört zur Anfangsbedingung
Z
|x|
f (t, x) dtdx
u (f ) = −
R2 2
für alle f ∈ D (R2 ) mit Träger im Gebiet t < 0?
Hier hilft ein schöner Trick: Subtrahiere von der statischen Lösung u
estat zu einer
statischen Einheitspunktquelle mit ustat (t, x) = − |x| /2 die retardierte Lösung u
e−
einer zur Zeit 0 eingeschalteten Einheitspunktquelle. Es folgt, dass
¤ (e
ustat − u
e− ) = j,
wobei formal j (t, x) = Θ (−t) δ (x) . Die Distribution u
estat − u
e− ist regulär und hat
den stetigen Repräsentanten
|x|
t − |x|
(ustat − u− ) (t, x) = −
− Θ (t − |x|)
2
½ 2 t
− 2 für t > 0 und |x| < t
=
.
sonst
− |x|
2
Der Funktionsgraph dieser Lösung hat die Gestalt eines Walmdaches.
3.4.2
Unterkritisch bewegte Punktquelle, t > 0, n = 1
Sei formal j (t, x) = Θ (t) δ (x − vt) mit 0 < v < c. Gemeint ist damit die Distribution j ∈ D0 (R2 ) mit
Z ∞
f (t, vt) dt.
j (f ) =
0
Die retardierte Fundamentallösung von ¤2 ist die reguläre Distribution ger zu gr :
R2 → R mit gr (t, x) = 2c Θ (ct − |x|) .
Es genügt nach unseren eben gemachten Erfahrungen, ger ∗j formal zu berechnen:
Z
c
Θ (c (t − s) − |x − y|) Θ (s) δ (y − vs) dsdy
(ger ∗ j) (t, x) =
2 R2
Z ∞
c
=
Θ (ct − |x|)
Θ (c (t − s) − |x − vs|) ds
2
0
Z s+
c
c
Θ (ct − |x|)
=
ds = Θ (ct − |x|) s+ ,
2
2
0
wobei s+ ≡ s+ (t, x) jene Zeit ist, zu der die Weltlinie der Quelle den Rückwärtskegel
des Punktes (t, x) verlässt.
Für Punkte (t, x) im Vorwärtskegel von 0 mit x > vt gilt
(t − s+ ) c = x − vs+ .
(Zeichnung anfertigen!) Daraus ergibt sich
s+ =
ct − x
.
c−v
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
200
Für Punkte (t, x) im Vorwärtskegel von 0 mit x < vt gilt
c (t − s+ ) = vs+ − x.
Daraus ergibt sich
s+ =
ct + x
c+v
und somit insgesamt
Θ (ct − |x|)
(ger ∗ j) (t, x) =
2
(
ct−x
1− vc
ct+x
1+ vc
für x > vt
.
für x < vt
Man beachte, dass für t > 0
c
lim (ger ∗ j) (t, x) = t,
x→vt
2
dass also (ger ∗ j) einen überall stetigen Repräsentaten besitzt. Dieser beschreibt im
Bereich x > vt eine rechtsläufige und im Bereich x < vt eine linksläufige Lösung der
homogenen Wellengleichung. Die Lösung verschwindet außerhalb des Vorwärtskegels
von 0.
Weiteren Aufschluss ergibt die oszillierende Quelle mit ω > 0 und 0 < v < c mit
der formalen Darstellung
j (t, x) =
ω
Θ (t) sin (ωt) δ (x − vt) .
c
Hier ergibt (Übung) eine völlig analoge Überlegung, dass ger ∗ j die reguläre Distribution zur (stetigen!) Funktion mit k = ω/c
⎧ ³
³
´´
1
x+ct
⎪
⎪
⎨ 2 ³1 − cos ³k 1+ vc ´´ für 0 < t und − ct < x < vt
1
u− (t, x) =
1 − cos k x−ct
für 0 < t und vt < x < ct
2
1− vc
⎪
⎪
⎩
0
sonst
Vor der Quelle, die mit der Frequenz ω pulsiert, läuft eine Welle der angehobenen
Frequenz ω + = 1−ω v nach rechts und hinter der Quelle läuft eine Welle der abgesenkc
ten Frequenz ω − = 1+ω v nach links. Dies ist der aktive galileische Dopllereffekt. Der
c
relativistische ergibt sich daraus, indem die Frequenz ω der mit der Geschwindigkeit
v bewegten Quelleqdurch ihre Frequenz ω0 bezüglich ihres Ruhsystems ausgedrückt
¡ ¢2
wird. Es gilt ω = 1 − vc ω 0 und daher
ω+ = ω0
s
1+
1−
v
c
v
c
und ω − = ω 0
s
1 − vc
.
1 + vc
Figur (3.5) zeigt den Graphen von u− (t, ·) für k = 2π, ct = 5, v/c = 1/2 im Bereich
−5 < x < 5.
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
201
Abbildung 3.5: Feld einer bewegten pulsierenden Quelle
3.4.3
Bremsstrahlung, n = 1
Gesucht ist eine Lösung u
e zur Quelle j (t, x) = Θ (−t) δ (x − vt) + Θ (t) δ (x + vt)
mit 0 < v < c. Die Quelle wechselt also zur Zeit t = 0 das Vorzeichen ihrer Geschwindigkeit. Zur Zeit t < 0 stimme die Lösung mit der regulären Distribution zur
Funktion
1 |x − vt|
uv (t, x) = − ·
¡ ¢
2 1− v 2
c
überein. (Das ist jene Lösung zur Quelle j (t, x) = δ (x − vt) , die durch eine Lorentztransformation statisch gemacht werden kann.)
Die gesuchte Lösung ergibt sich dann als die Summe von uev und der retardierten
Lösung uf
− = ger ∗ ρ zur Quelle mit
ρ (t, x) = Θ (t) [δ (x + vt) − δ (x − vt)] ,
die zwei auseinander laufende Punktquellen gegengesetzter Vorzeichen beschreibt.
uf
− ist die reguläre Distribution zur Funktion
u− (t, x) = −uv (t, x) + uv (t, −x) ,
wobei
Θ (ct − |x|)
uv (t, x) =
2
3.4.4
(
ct−x
1− vc
ct+x
1+ vc
für x > vt
.
für x < vt
Überkritisch bewegte Punktquelle, n = 1
Können wir eine distributionelle Lösung von ¤A = j auf R2 finden, wenn j (t, x) =
δ (x − vt) für ein v > c? Als ein physikalisches Bild stelle man sich ein unendlich
langes Seil vor, an dem ein Schläger mit Überschallgeschwindigkeit entlangläuft und
auf das Seil permanent mit einem scharf lokalisierten Einheitskraftstoß einwirkt.
Versuchen wir es mit der Faltung der retardierten Fundamentallösung von ¤2 mit der
distributionellen Quelle, die entlang der (raumartigen) Weltlinie x = vt lokalisiert
ist. Dies ergibt die reguläre Distribution uf
− zur Funktion
!
Z ÃZ x+c(t−s)
c t
δ (ξ − vs) dξ ds,
u− (t, x) = (gr ∗ j) (t, x) =
2 −∞
x−c(t−s)
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
wobei wieder
Z x+c(t−s)
x−c(t−s)
δ (ξ − vs) dξ =
½
202
1 für x − c (t − s) < νs < x + c (t − s)
.
0 sonst
Für Punkte (t, x) mit vt ≤ x ist der Durchschnitt des offenen Rückwärtskegels
{(s, ξ) : s < t, x − c (t − s) < ξ < x + c (t − s)}
mit der Gerade ξ = vt leer. Dann gilt also u− (t, x) = 0. Für Punkte (t, x) mit vt > x
hingegen gilt
Z
c s+
c
u− (t, x) =
ds = (s+ − s− )
2 s−
2
mit x − vs− = c (t − s− ) und vs+ − x = c (t − s+ ) . Daraus folgt
s+ =
x + ct
,
v+c
und somit
u− (t, x) =
Es gilt also
u− (t, x) =
s− =
x − ct
v−c
c
vt − x
(s+ − s− ) = ¡ ¢2
.
v
2
−
1
c
(
vt−x
für vt > x
2
( vc ) −1
.
0
sonst
Figur (3.6) zeigt Momentaufnahmen von u− zu den Zeiten vt ∈ {0, 1, 2} für
v/c = 2. Die Funktion u− ist auf den Geraden x − vt = const konstant, läuft also
mit der Geschwindigkeit v nach rechts, ist aber im Bereich vt > x eine nichttriviale
Überlagerung einer mit der Geschwindigkeit c nach rechts- und einer mit c nach links
laufenden Lösung von d’Alemberts homogener Gleichung. Figur (3.7) zeigt wie die
Seilauslenkung hinter dem Angriffspunkt der Kraft nacheilt. Vor dem Angriffspunkt
der Kraft bleibt das Seil ohne Auslenkung.
U
2
1.5
1
0.5
0
-4
-2
0
2
X
Abbildung 3.6: Graphen von u− (t, ·) für vt ∈ {0, 1, 2} und v = 2c.
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
203
Abbildung 3.7: Graph von u− für v = 2c
Bemerkenswert ist, dass für eine überkritisch bewegte Quelle die Faltung ger ∗ j
auch dann existiert, wenn die Quelle zu allen Zeiten aktiv ist. Sie befindet sich eben
nur während einer endlichen Zeitspanne im Rückwärtskegel eines jeden beliebigen
Raumzeitpunktes.
Zum besseren Vergleich mit der unterkritisch bewegten oszillierenden Quelle sei
noch der Fall
ω
j (t, x) = Θ (t) sin (ωt) δ (x − vt)
c
mit überkritisch bewegter Quelle, also mit c < v, angeführt. Achtung: Die Quelle
ist jetzt nur zu Zeiten t > 0 aktiv. In diesem Fall ergibt sich (Übung) ger ∗ j als die
reguläre Distribution zur (stetigen!) Funktion u− mit k = ω/c
⎧ ³
³
´´
1
x+ct
⎪
1
−
cos
k
für 0 < t und − ct < x < ct
⎪
v
⎨ 2³ ³
´1+ c
³
´´
1
x−ct
x+ct
u− (t, x) =
cos
k
−
cos
k
für 0 < t und ct < x < vt .
v
2
−1
1+ vc
⎪
c
⎪
⎩
0 sonst
Ein Beobachter in einem Punkt x > 0 wird also von der „tachyonischen” Quelle
ohne Vorwarnung getroffen, denn die Lösung u− eilt der Quelle nicht voraus. Nachdem die Quelle den Ort x0 zur Zeit t0 = x0 /v durchdrungen hat, sieht der Beobachter
das Tachyon rotverschoben von hinten am Halbstrahl x > x0 . Blickt er jedoch nach
links, also in den Halbstrahl x < x0 , dann sieht er das Tachyon blauverschoben.
Ab der Zeit t = x0 /c empfängt er nur mehr ein rotverschobenes Signal aus dem
Bereich x > x0 . Dass dieses Signal nicht schwächer wird, liegt daran, dass in einem
eindimensionalen Raum sich das Signal nicht verlaufen kann.
Im Fall der überkritisch bewegten Quelle, die nur zu Zeiten t > 0, dann aber
konstant aktiv ist, also für
j (t, x) = Θ (t) δ (x − vt) ,
folgt (Übung), dass ger ∗ j die reguläre Distribution zur (stetigen!) Funktion u− mit
⎧ 1 x+ct
v für 0 < t und − ct < x < ct
⎪
⎨ 2 1+
h c
i
1 x+ct
x−ct
u− (t, x) =
für 0 < t und ct < x < vt
v − v
−1
⎪
c
⎩ 2 1+ c
0 sonst
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
204
ist. Die Funktion u− ist stetig.
3.4.5
Ruhende pulsierende Punktquelle, n = 3
Versuchen wir noch in einem anderen Fall die Faltung Gr ∗ f mit einer „Funktion” f
zu bilden, die gar keine ist. Sei (formal notiert) f (t, x) = 4πh (t) δ 3 (x) . Dann ergibt
sich
³
´
´
³
|x|
Z h t − |y| δ 3 (x − y)
h
t
−
c
c
u− (t, x) = (Gr ∗ f ) (t, x) =
d3 y =
|y|
|x|
R3
als regulär-distributionelle Lösung der formal notierten distributionellen Differentialgleichung ¤A (t, x) = 4πh (t) δ 3 (x) .
Analog ergibt sich u+ (t, x) = (Ga ∗ f ) (t, x) = h (t + |x| /c) / |x| als eine weitere Lösung derselben inhomogenen Wellengleichung. Für h (t) = sin (ωt) ergibt
sich u± (t, x) = sin (ω (ct ± |x|)) / |x| als ein- bzw. auslaufende Kugelwellen einer sinusmodulierten Punktquelle. Abbildung (3.8) zeigt die Einschränkung von u− für
ω = 2π auf t = 0, 0.3 < y < 3, −3 < x < 3 und z = 0. Abbildung (3.9) zeigt
Abbildung 3.8: Momentaufnahme einer Kugelwelle
für t = 0 (schwarz), t = 1/10 (rot) und t = 2/10 (grün) im
die Funktion sin(2π(t−r))
r
Bereich 2/10 < r < 5
Berechnen wir noch den Energiestrom der Lösung u− zur Zeit t durch eine Kugeloberfläche mit dem Radius R um 0. Es gilt
T (t, x) = −∂t u− (t, x) · gradx u− (t, ·)
³
´
³
´
³
´
|x|
|x| 0
|x|
|x|
0
h t− c
− c h t− c −h t− c
= −
·
gradx |·|
|x|
|x|2
⎡ ³
´2
³
´ ³
´⎤
|x|
|x|
|x|
0
0
h t− c h t− c ⎥ x
⎢h t − c
= ⎣
+
⎦ .
|x|
c |x|2
|x|3
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
205
1.25
1.25
2.5
3.75
5
0
-1.25
-2.5
-3.75
Abbildung 3.9: Auslaufende Kugelwelle
Der Energiestrom zur Zeit t durch die Kugel ist
Z
P (t, R) =
hT (t, Rn) , ni R2 dn Ω
2
S
" ¡
¢2
¡
¢ ¡
¢#
h0 t − Rc h t − Rc
h0 t − Rc
+
.
= 4π
c
R
Für h (t) =
A
4π
sin (ωt) mit A, ω ∈ R spezialisiert sich P (t, R) mit k = ω/c zu:
∙
¸
A2 ω 2 cos2 (ωt − kR) ω
+ cos (ωt − kR) sin (ωt − kR)
P (t, R) =
4π
c
R
∙
¸
2 2
sin (2 (ωt − kR))
ω A
2
cos (ωt − kR) +
.
=
4πc
2kR
Das Periodenmittel dieser „Strahlungsleistung” wird damit (natürlich!) unabhängig
von R und t
Z 2π/ω
ω
ω 2 A2
P =
P (t + t0 , R) dt0 =
≥ 0.
2π 0
8πc
Es ist proportional zum Quadrat von Amplitude und Frequenz der Quelle. Diese
Energie muss im Mittel aufgebracht werden, um eine Sinus-Quelle mit Amplitude A
und Frequenz ω in Betrieb zu halten.
3.4.6
Gleichförmig bewegte Punktquelle, n = 3
Sei formal notiert f (t, x) = δ 3 (x − βct) mit β = v/c ∈ R3 und |β| < 1. Sei weiter
x∈
/ R · β. Dann ist die folgende Überlegung plausibel:
Z Z
cδ (c (t − s) − |x − y|) 3
4π (Gr ∗ f ) (t, x) =
δ (y − βcs) d3 yds
|x − y|
3
ZR∞ R
δ (c (t − s) − |x − βcs|)
=
cds.
|x − βcs|
−∞
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
206
Mit der Abkürzung ξ = x − βct und der Substitution c (t − s) = λ ergibt sich
Z ∞
δ (c (t − s) − |x − βct + βc (t − s)|)
cds
4π (Gr ∗ f ) (t, x) =
|x − βct + βc (t − s)|
−∞
Z ∞
Z ∞
δ (λ − |ξ + λβ|)
δ (f (λ))
dλ =
dλ,
=
|ξ + λβ|
−∞
−∞ |ξ + λβ|
wobei f : R → R mit f (λ) = λ − |ξ + λβ| . Mit der Kettenregel folgt
f 0 (λ) =
df
hξ + λβ, βi
(λ) = 1 − hgradξ+λβ |·| , βi = 1 −
.
dλ
|ξ + λβ|
Nach Cauchy-Schwarz gilt |hξ + λβ, βi| ≤ |ξ + λβ| |β| < |ξ + λβ| und daher f 0 (λ) >
1
δ (λ − λ0 ) (siehe Übungen)
0. Daraus folgt mit δ (f (λ)) = f 0 (λ
0)
4π (Gr ∗ f ) (t, x) =
1
1
=
,
f 0 (λ0 ) |ξ + λ0 β|
|ξ + λ0 β| − hξ + λ0 β, βi
wobei λ0 die wegen f 0 > 0 eindeutige Nullstelle von f ist. Es gilt ja f (λ0 ) = 0
genau dann, wenn λ0 = |ξ + λ0 β| . Damit
ist¢ λ0 eine positive Nullstelle des reellen
¡
Polynoms p (x) = x2 − |ξ + xβ|2 = 1 − |β|2 x2 − 2 hξ, βi x − |ξ|2 . Die Nullstellen
von p sind
vÃ
!2
u
u
hξ, βi
hξ, βi
|ξ|2
t
¢±
¡
¢ +¡
¢.
x± = ¡
1 − |β|2
1 − |β|2
1 − |β|2
Wegen x− < 0 gilt λ0 = x+ . Daraus folgt nun
1
1
=
|ξ + λ0 β| − hξ + λ0 β, βi λ0 − hξ + λ0 β, βi
1
1
¡
=q
.
=
2¢
¡
2
2¢
2
λ0 1 − |β| − hξ, βi
hξ, βi + 1 − |β| |ξ|
4π (Gr ∗ f ) (t, x) =
Damit ist also für alle (t, x) ∈ R4 mit x 6= βt plausibel gemacht, dass
(Gr ∗ f ) (t, x) =
1
q
.
¡
¢
4π hx − ctβ, βi2 + 1 − |β|2 |x − ctβ|2
(3.4)
Sei nun β 6= 0. Zerlege dann ξ = x − ctβ in einen Vektor ξ p parallel zu β und
einen Vektor ξ ⊥ senkrecht dazu: ξ = ξ p + ξ ⊥ . Es sei also
β hβ, ξi
β hβ, ξi
und ξ ⊥ = ξ −
.
2
|β|
|β|2
¯ ¯2
¯ ¯2
Daraus folgt hβ, ξi2 = |β|2 ¯ξ p ¯ und |ξ|2 = ¯ξ p ¯ + |ξ ⊥ |2 . Somit gilt
´
¯ ¯2 ¡
¡
¢
¢ ³¯ ¯2
hξ, βi2 + 1 − |β|2 |ξ|2 = |β|2 ¯ξ p ¯ + 1 − |β|2 ¯ξ p ¯ + |ξ ⊥ |2
¯ ¯2 ¡
¢
= ¯ξ p ¯ + 1 − |β|2 |ξ ⊥ |2 = |ξ|2 − |β|2 |ξ ⊥ |2 .
ξp =
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
207
Wegen ξ ⊥ = x⊥ ist Gleichung 3.4 für x 6= ctβ äquivalent zu den folgenden alternativen Ausdrücken des Lienard Wiechert Potentials einer gleichförmig bewegten
Punktladung, nämlich
1
q¯ ¯
¡
¢
2
4π ¯ξ p ¯ + 1 − |β|2 |ξ ⊥ |2
1
r¯
=
¯2 ¡
¢
¯
¯
4π ¯(x − ctβ)p ¯ + 1 − |β|2 |x⊥ |2
(Gr ∗ f ) (t, x) =
=
4π
=
r³
hx,βi
|β|
1
.
´2 ¡
2¢
2
− ct |β| + 1 − |β| |x⊥ |
1
q
.
4π |x − ctβ|2 − |β|2 |x⊥ |2
Der erste Term unter der Wurzel in der letzten Zeile ist das Abstandsquadrat zwischen Quellpunkt und Aufpunkt zur Zeit t. Der zweite Term ist zeitunabhängig und
nicht positiv. Die bei fest gewähltem x mit |x⊥ | > 0 auf ganz R definierte Abbildung
t 7→ (Gr ∗ f ) (t, x) nimmt ihren maximalen Wert gemäß der vorletzten Zeile genau
dann an, wenn xp = ctβ, d.h. wenn die Quelle minimalen Abstand vom Aufpunkt
hat. Dieser maximale Wert des Potentials ist
1
q
.
2
4π |x⊥ | 1 − |β|
Er ist streng monoton steigend in |β| und wächst für |β| → 1 unbeschränkt an, auch
wenn die Quelle nicht durch den Aufpunkt läuft.
Um das Potential etwas expliziter vor Augen zu haben, sei noch der Spezialfall
hx, βi = 0 betrachtet. Er kann durch eine Raumzeitranslation stets herbeigeführt
werden. In diesem Fall gilt für ρ2 := |x⊥ |2 > 0
(Gr ∗ f ) (t, x) =
=
1
q
¡
¢
4π (|β| ct)2 + 1 − |β|2 ρ2
1
1
· r³
.
´
2
4πρ
¡
2¢
|β|ct
+ 1 − |β|
ρ
Das Lienard Wiechert Potential in einem Ort x mit hx, βi = 0 ist genau zu jenen
Zeiten t gleich groß wie das Potential einer in 0 ruhenden Ladung, für die ρ = c |t| .
Figur (3.10) zeigt für |β|2 = 3/4 die Funktion
2
ct
7→ 4πρ (Gr ∗ f ) (t, (x, y, 0)) = r ³ ´
,
2
ρ
ct
3 ρ +1
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
208
1.75
1.5
1.25
1
0.75
0.5
0.25
0
-10
-5
0
5
10
ct/rho
Abbildung 3.10: Die Funktion ct/ρ 7→
r
3(
2
ct 2
+1
ρ
)
die das Verhältnis von Lienard Wiechert zu statischem Potential angibt.
Wie unterscheidet sich Gr ∗fqvom galileitransformierten Potential einer ruhenden
Punktquelle? Es gilt mit ρt =
(Gr ∗ f ) (t, x) =
r
(|β| ct)2 + ρ2
1
1
1
q
r
=
³
4πρt
4π ρ2t − |β|2 ρ2
1 − |β|
ρ
ρt
´2 .
´2
³
> 1 ergibt also eine Überhöhung des galileitransforDer Faktor 1/ 1 − |β| ρρ
t
mierten Potentials 1/ (4π |x − vt|) = 1/4πρt , die für t = 0, also wenn ρt = ρ gilt, am
stärksten ist.
3.4.7
Die Potentialformel von Liénard & Wiechert, n = 3
Jede Lösung der Maxwellgleichungen auf ganz R4 mit einem äußeren Strom- und
Ladungsdichtefeld (ρ, j 1 , j 2 , j 3 ) : R×R3 → R4 , für das konsistenzbedingt ∂t ρ (t, x) =
−divx j (t, ·) zu gelten hat, lässt sich aus einer Lösung des folgenden Systems partieller Differentialgleichungen auf R4 , nämlich
µ
¶
1 2
∂ − ∆ Aμ (t, x) = cμ0 j μ (t, x) für alle (t, x) ∈ R4
(3.5)
c2 t
für μ = 0, . . . 3 und
X3
1
∂t A0 (t, x) +
∂k Ak (t, x) = 0 für alle (t, x) ∈ R4
k=1
c
(3.6)
gewinnen. Dabei gilt cρ = j 0 . (Siehe Kapitel über Maxwellgleichungen und Potentiale.)
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
209
Eine Lösung des Systems (3.5) und (3.6) für gegebenes Vektorfeld j = (j μ )3μ=0
mit Komponenten j μ ∈ D (R4 ) ist das Vektorfeld (Aμret )3μ=0 mit
Aμret
Z
³
δ t−
|x−y|
c
− t0
´
(t, x)
= (Gret ∗ j μ ) (t, x) =
j μ (t0 , y) dt0 d3 y
cμ0
4π
|x
−
y|
4
R
³
´
|x−y|
1
0
Z
δ t− c −t
c
j μ (t0 , y) d (ct0 ) d3 y
=
4π |x − y|
4
ZR
δ (ct − |x − y| − ct0 ) μ 0
=
j (t , y) d (ct0 ) d3 y.
4π |x − y|
R4
bμret (ct, x) etc. lässt sich der Parameter c vollstänMit den Definitionen Aμret (t, x) = A
dig „wegrationalisieren”
´¡
³
bμret (x0 , x) Z δ (y 0 − (x0 − |x − y|)) ¡
¢
¢
A
bret ∗ b
b
j μ y 0 , y d4 y =: G
=
j μ x0 , x .
cμ0
4π |x − y|
R4
Es gelten dann auf R4 Wellengleichung und Lorentzeichbedingung, nämlich
X3
¡ 2
¢ μ
bret = cμ0 j μ und
∂0 − ∆ A
μ=0
bμret = 0.
∂μ A
Wieder strapazieren wir diese Lösungsformel, indem wir sie auf eine distributionelle Quelle ausdehnen. Eine bewegte Punktladung wird durch eine Kurve Γ :
R → R4 in der Raumzeit mit Γ (x0 ) = (x0 , γ (x0 )) beschrieben. Dabei erfülle die
dγ
0
0
Ableitung γ̇ (x0 ) = dx
0 (x ) für alle x ∈ R die Unterlichtgeschwindigkeitsbedingung
|γ̇ (x0 )| < 1, um nicht in Konflikt mit der relativistischen Mechanik zu geraten. Die
Funktion γ sei also C 1 . Hat das Teilchen die Ladung q, dann gilt
½
¡ 0 ¢
¡ 0¢ 3 ¡
¡ 0 ¢¢
qδ 3 (x − γ (x0 ))
für μ = 0
μ
μ
b
.
=
j x , x = qΓ̇ x δ x − γ x
μ
qγ̇ (x0 ) δ 3 (x − γ (x0 )) für μ 6= 0
Tatsächlich erfüllt b
j die Kontinuitätsgleichung im distributionellen Sinn:
X3
¢
¡
¡
¡ ¢¢
¡
¡ ¢¢
∂0b
j 0 x0 , x = q −γ̇ k x0 ∂k δ 3 x − γ x0 = −
k=1
¢
¡
∂kb
j 0 x0 , x .
Für jeden Punkt (x0 , x) ∈ R4 existiert genau eine Zeit τ ∈ R, für die x0 =
τ + |x − γ (τ )| gilt. Der Punkt Γ (τ ) = (τ , γ (τ )) ist also der Schnittpunkt des von
(x0 , x) ausgehenden Rückwärtslichtkegelmantels C− (x0 , x) mit der Weltlinie Γ (R) .
Die Abbildung (τ ret , γ ret ) : R × R3 → R × R3 ordne jedem Raumzeitpunkt den
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
210
/ Γ (R) mit qb = cμ0 q
Schnittpunkt Γ (R) ∩ C− (x0 , x) zu. Damit gilt für (x0 , x) ∈
¶
Z µZ
0
0
¡ 0 ¢
¡
¡ 0 ¢¢ 3
¡ ¢
δ
(y
−
(x
−
|x
−
y|))
μ
3
bret x , x = qb
A
δ y − γ y d y Γ̇μ y 0 dy 0
4π |x − y|
3
ZR R0
δ (y − (x0 − |x − γ (y 0 )|)) μ ¡ 0 ¢ 0
= qb
Γ̇ y dy
4π |x − γ (y 0 )|
R
Z
¯
¡
¡
¡ ¢¯¢¢
Γ̇μ (τ ret (x0 , x))
= qb
δ y 0 − x0 − ¯x − γ y 0 ¯ dy 0
0
4π |x − γ ret (x , x)| R
Z
Γ̇μ (τ ret (x0 , x))
δ (y 0 − τ (x0 , x))
¯ 0 0 ret 0 ¯ dy 0
= qb
4π |x − γ ret (x0 , x)| R ¯¯ d(y −(x −|x−γ(y )|)) ¯¯
dy 0
1
Γ̇μ (τ ret (x0 , x))
¯ 0 0
¯
= qb
0 )|)) ¯
0
¯
d(y
−(x
−|x−γ(y
4π |x − γ ret (x , x)| ¯
¯
dy0
.
y0 =τ ret (x0 ,x)
Berechnung die Ableitung im Nenner:
d (y 0 − (x0 − |x − γ (y 0 )|))
=1−
dy 0
Wegen |γ̇| < 1 gilt
d(y0 −(x0 −|x−γ (y 0 )|))
dy 0
¿
À
¡ 0¢
x − γ (y 0 )
, γ̇ y
.
|x − γ (y 0 )|
> 0. Somit gilt für (x0 , x) ∈ R4 r Γ (R)
μ
0
¢
¡
1
bμret x0 , x = qb Γ̇ (τ ret (x , x)) ·
D
E.
A
0
0
4π |x − γ ret (x , x)| 1 − x−γ(τ ret (x ,x)) , γ̇ (τ (x0 , x))
ret
|x−γ(τ ret (x0 ,x))|
(3.7)
Liénard (1898) und 2 Jahre später Wiechert produzierten diese Formel natürlich
ohne im Besitz der Distributionentheorie zu sein. Für Sie war δ 3 eine nichtnegative
Funktion, die nur in einem winzigen Gebiet um 0 herum von 0 verschieden ist. Ihre
Überlegung war dann vermutlich von (abgeschätzten?) Näherungen durchsetzt.
3.5
Die Wärmeleitungsgleichung
Als ein weiteres Beispiel für den Nutzen von Distributionen wird das Anfangswertproblem der Wämeleitungsgleichung (WLG) behandelt. In etwas modifizierter Form
tritt dieses Beispiel auch bei der kräftefreien Schrödingergleichung in Erscheinung.
Definition 121 Sei κ > 0 und f : R → R. Eine Funktion7 u : R>0 × Rn → R mit
∂t u (t, x) = κ∆u (t, x) und lim u (t, x) = f (x) für alle x ∈ R
t→0
heißt Lösung der n-dimensionalen Wärmeleitungsgleichung zur Anfangsvorgabe f.
7
Die Auszeichnung positiver Zeitrichtung kommt durch das Fehlen der Zeitumkehrinvarianz der
Wärmeleitungsgleichung zustande. Die Auszeichnung der Anfangszeit 0 ist willkürlich.
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
211
Es gibt zwar nichtkonstante Funktionen u : R × Rn → R mit ∂t u = κ∂x2 u auf
ganz R × Rn , wie etwa
√κ 1
¡ ¢2
t
u (t, x) = e τ e± τ x für beliebiges τ ∈ R>0 , oder u (t, x) = 2κt + x1 ,
aber eben auch viele, die zu endlicher Zeit unbegrenzt anwachsen. Daher wird als
Definitionsbereich einer Lösung der WLG lediglich ein Halbraum angenommen.
In den physikalischen Anwendungen kann die Funktion u die Temperatur8 im
Punkt x zur Zeit t angeben. Eine weitere Bedeutung kann u als Massendichte ρ eines
diffundierenden Stoffes annehmen. In diesem Zusammenhang wird die Differentialgleichung dann als Diffusionsgleichung bezeichnet und aus der Kontinuitätsgleichung
für ρ, Massenstromdichte j und dem Fick’schen Gesetz heraus motiviert:
∂t ρ = −divj und j = −κgradρ.
Die Dichte ändert sich nur durch Ab- oder Zufluss des betrachteten Stoffes.9 Das
Stromdichtfeld j zeigt überall in die Richtung der stärksten Dichteabnahme. Der
Betrag von j ist überall dem Betrag des Dichtegradienten proportional.
Für welche Anfangsvorgaben zur Wärmeleitungsgleichung existiert eine Lösung
u? Falls eine existiert, ist sie dann eindeutig? Die erste Frage wird im Folgenden
wenigstens teilweise beantwortet. Die zweite Frage ist schwieriger als bei der Wellengleichung zu beantworten. Wir werden ihr nicht nachgehen und nur soviel sei
gesagt: Die Eindeutigkeit der Lösung auf R>0 × Rn ist gegeben, wenn nur Lösungen mit gewissen Wachstumsschranken in der zweiten Variablen zugelassen werden.
Ohne solche Wachstumsschranken liegt die Eindeutigkeit jedoch nicht vor. (Gegenbeispiel von Tychonow; siehe Kap. 67 & 68 in [7].)
3.5.1
Der Wärmeleitungskern
Heuristische Vorüberlegung: Suche eine Lösung K der Wärmeleitungsgleichung auf
R>0 × R, für die K (t, x) → δ (x) für t → 0. Wenn das gelingt, dann könnte
Z ∞
K (t, x − y) f (y) dy
u (t, x) =
−∞
eine Lösung der WLG zur Anfangsvorgabe f sein.
Probiere zur Bestimmung von K den folgenden Ansatz als zeitparametrisiertes
Fourierintegral:
Z ∞
eikx
K (t, x) =
dk.
a (t, k)
2π
−∞
Einsetzen in die WLG „ergibt“ ∂t a (t, k) = −κk 2 a (t, k) und somit
2
a (t, k) = e−κk t a (0, k) .
8
In einer Einheit, die mit der Kelvinskala inhomogen linear veknüpft ist. Negative Temperaturen
sind also durchaus zulässig.
9
Eine Änderung von ρ durch chemische Reaktionen muss also weitgehend ausgeschlossen sein.
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
212
R∞
ikx
Wegen δ (x) = −∞ a (0, k) e2π dk ist a (0, k) = 1 für alle k ∈ R zu erwarten. Mit
√
der Substitution q = 2κtk folgt nun aus der Invarianz der Standardgaussfunktion
2
q 7→ e−q /2 unter der Fouriertransformation
K (t, x) =
Z
∞
−∞
ikx
−κk2 t e
e
1
dk = √
2π
2π
x2
1
= √
e− 4κt .
4πκt
Z
∞
2
− q2
e
−∞
iq √ x
e 2κt dq
√
√
2π 2κt
Der folgende Satz bestätigt diese durch Raten gewonnene Formel für K.
³ 2´
1
x
exp − 4κt
Satz 122 Sei K : R>0 × R → R mit K (t, x) = √4πκt
. Es gilt ∂t K =
R
∞
κ∂x2 K und −∞ K (t, x) dx = 1 für alle t > 0.
√
Beweis. Mit C = 1/ 4πκ gilt
µ 2 ¶¸
∙
x2
x
1 −3/2
−5/2
∂t K (t, x) = C − t
e− 4κt ,
+t
2
4κ
µ
¸
∙
¶
x2
2x
−1/2
− 4κt
∂x K (t, x) = C t
−
,
e
4κt
µ
¶
∙
³ x ´2 ¸ x2
1
2
−3/2
−1/2
−
e− 4κt
+t
−
∂x K (t, x) = C t
2κ
2κt
µ 2 ¶¸
∙
x2
x
C
1
1
−5/2
=
− 3/2 + t
e− 4κt = ∂t K (t, x) .
κ
2t
4κ
κ
R∞
R∞
2
Mit der Substitution y = x/4κt folgt −∞ K (t, x) dx = √1π −∞ e−y dy = 1.
Für x 6= 0 gilt limt→0 K (t, x) = 0, während K (t, 0) für t → 0 unbeschränkt
wächst. Die Funktion K löst zwar die Wärmeleitungsgleichung, konvergiert jedoch
für¡t →¢0 nicht punktweise gegen eine Funktion. Vielmehr ist die zu den Funktionen
K tn0 , · gehörige Folge regulärer Distributionen ein δ-Folge. Für alle x gilt überdies
limt→∞ K (t, x) = 0. Die Lösung K heißt aus einem später zu erläuternden Grund
Evolutionskern der Wärmeleitungsgleichung oder kurz Wärmeleitungskern.
1 1
Abbildung 3.11 zeigt K (t, ·) für κt = 10
, 2 , 1. Ein physikalisches Bild: Ein unendlich langer Stab ist anfangs bei x = 0 sehr heiß und sonst kalt. Er kühlt ab, indem
Energie nach beiden Seiten ins Unendliche abströmt10 , was zu einer vorübergehenden
Erwärmung des Stabes auch im Bereich x 6= 0 führt.
Den zeitlichen Temperaturverlauf am Ort x > 0 gibt die Funktion
r
µ
¶
³ τ´
τ
x2
1
1
exp −
Sx : t 7→ K (t, x) = √
= √
exp − ,
4κt
t
x π t
4πκt
wobei die (ortsabhängige) Zeitkonstante τ durch x2 = 4κτ gewählt ist. Siehe Figur
3.12. Das Temperatursignal Sx nimmt sein Maximum zur Zeit t = x2 /2κ an. Der
10
Dazu stellt man sich den Stab mit Isoliermaterial umhüllt vor.
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
213
K
0.8
0.6
0.4
0.2
0
-5
-2.5
0
2.5
5
Abbildung 3.11: Momentaufnahmen von K
0.4
0.3
0.2
0.1
0
2.5
5
7.5
10
t
Abbildung 3.12:
q
1
t
¡ ¢
exp − 1t
Wert des Maximums ist |x|√12πe ≈ 0,242
.
|x|
Welche Lösung ergibt sich durch eine Galileitransformation von K? Leider nichts
neues, denn
!
Ã
v2
2
t −v x
4κ e 2κ
v2
v
e
(x
−
vt)
e (t, x) = e 4κ t e− 2κ x K (t, x − vt) = √
K
= K (t, x) .
exp −
4κt
4πκt
3.5.2
Der auskühlende Halbraum
Sei u : R>0 × R → R mit
¶¶
µ
µ
Z x
Z √x
¡ 2¢
4κt
1
x
1
,
u (t, x) =
K (t, ξ) dξ = √
exp −y dy =
1 + erf √
2
π −∞
4κt
−∞
wobei K der Wärmeleitungskern ist. Zur Erinnerung:
Z x
2
2
erf (x) = √
e−y dy.
π 0
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
214
Für u gilt ∂t u (t, x) = κ∂x2 u (t, x) für alle (t, x) ∈ R>0 ×R. Dies
√ rechnet man durch
0
2
Differenzieren unter Verwendung von erf (x) = 2 exp (−x ) / π nach. Plausibel ist
es wegen:
Z x
Z x
∂t u (t, x) =
∂t K (t, ξ) dξ = κ
∂ξ2 K (t, ξ) dξ = κ ∂ξ K (t, ξ)|x−∞
−∞
= κ∂x K (t, x) =
−∞
2
κ∂x u (t, x) .
Offenbar gilt u (t, x) > 0 für alle (t, x) ∈ R>0 ×R. Es gilt weiter limt→0 u (t, x) = 1
für x > 0, limt→0 u (t, x) = 0 für x < 0 und limt→0 u (t, 0) = 1/2. Die C ∞ -Funktion
u ist also eine Lösung der Wärmeleitungsgleichung zur unstetigen Anfangsvorgabe
durch die Standardstufenfunktion Θ. Während die Anfangsvorgabe Θ für alle x < 0
verschwindet, ist für jedes noch so kleine t > 0 der Funktionswert u (t, x) an jeder
noch so fernen Stelle x < 0 von 0 verschieden. Moral: Anders als die Wellengleichung breitet die Wärmeleitungsgleichung Anfangsvorgaben mit unendlich hoher
Geschwindigkeit aus. Überdies glättet sie Unstetigkeiten.
1
0.75
0.5
0.25
0
-5
-2.5
Abbildung 3.13: Die Funktionen
0
1
2
2.5
5
(1 + erf (x)) und
1
2
¡
¡ ¢¢
1 + erf x4 (rot)
Welche Lösung ergibt sich durch eine Galileitransformation von u? Es gilt
¶¸
∙
µ
v2
v
x − vt
t − 2κ
x1
4κ
.
1 + erf √
u
e (t, x) = e e
2
4κt
v
Diese Lösung gehört zur Anfangsvorgabe f (x) = e− 2κ x Θ (x) . Für v ≥ 0 ist sie
räumlich und zeitlich abklingend, d.h. es gilt
e (t, x) = 0 für alle t > 0 und lim u
e (t, x) = 0 für alle x ∈ R.
lim u
x→±∞
t→∞
Eine Halbraumlösung der Wärmeleitungsgleichung ist die Funktion u : R>0 ×
R>0 → R mit
¶
µ
x
.
u (t, x) = TR + (T0 − TR ) erf √
4κt
Sie erfüllt die Anfangsvorgabe limt↓0 u (t, x) = T0 für alle x > 0 und die Randbedingung limx↓0 u (t, x) = TR für alle t > 0. Diese Lösung beschreibt den Prozess der
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
215
Temperaturangleichung einer Halbachse (oder eines Halbraumes) von einer Anfangstemperatur T0 an eine am Rand bei x = 0 dauerhaft vorgegebene Temperatur TR .
Für T0 > TR ist dies ein Abkühlungsvorgang.
3.5.3
Eine Lösungsformel zur stetigen Anfangsvorgabe
Es soll nun gezeigt werden, dass im Fall n = 1 für jede stetige Anfangsvorgabe
f eine Lösung der Wärmeleitungsgleichung auf R>0 × R existiert. Achtung: Wie
das Beispiel des auskühlenden Halbraums zeigt, existieren auch zu „moderat“ unstetigen Anfangsvorgaben f Lösungen der WLG. Darauf wird jedoch nicht weiter
eingegangen.
Satz 123 Sei f : R → R stetig
R ∞ und beschränkt. Dann existiert die Funktion u :
R>0 × R → R mit u (t, x) = −∞ K (t, x − ξ) f (ξ) dξ. Weiters ist u eine Lösung11
der Wärmeleitungsgleichung zur Anfangsvorgabe f.
Beweis. (Skizze; Details siehe Beweis von Theorem 55.4, sect. 55 in [7]) Integral
und Ableitung nach den Parametern t und x dürfen nach Satz 40 von §8.7 in Kap.VI
von [2] vertauscht werden. Daher ist u eine Lösung der WLG. Um den Limes von
u (t, x) für t → 0 zu berechnen, formt man um:
Z ∞
u (t, x) =
K (t, x − ξ) f (ξ) dξ
−∞
Z ∞
K (t, y) f (x − y) dy
=
−∞
¶
µ
Z ∞
1
y2
= √
f (x − y) dy
exp −
4κt
4πκt −∞
Z ∞
´
√
¢ ³
¡
1
exp −z 2 f x − z 4πκt dz.
= √
π −∞
Damit folgt durch Vertauschen von limt→0 und Integral
Z ∞
´
√
¡
¢ ³
1
lim u (t, x) = √ lim
exp −z 2 f x − z 4πκt dz
t→0
π t&0 −∞
Z ∞
³
´
√
¡
¢
1
exp −z 2 lim f x − z 4πκt dz
= √
t&0
π −∞
Z ∞
¡
¢
1
exp −z 2 f (x) dz = f (x) .
= √
π −∞
Aus der Positivität von K folgt übrigens für f ≥ 0 und f 6= 0, dass u (t, x) > 0
für alle (t, x) ∈ R>0 × R. Dies ist natürlich wichtig für eine Interpretierbarkeit von
u als absolute Temperatur oder Massendichte.
11
Die Lösung u (t, ·) ist also die Faltung von K (t, ·) mit f. Die Funktion K heißt deshalb Evolutionskern der 1d Wärmeleitungsgleichung. (heat kernel)
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
216
Die probeweise Anwendung der Evolutionsformel auf die Anfangsvorgabe f = Θ,
mit Θ (x) = 1 für x ≥ 0 und Θ (x) = 0 sonst, ergibt wegen
Z x
Z ∞
K (t, x − ξ) Θ (ξ) dξ =
K (t, ξ) dξ
−∞
−∞
die uns schon bekannte Lösung des auskühlenden Halbraums. Zumindest für diese
moderat unstetige Anfangsvorgabe liefert also die Evolutionsformel eine Lösung des
Anfangswertproblems.
Evolution einer Gaußkurve
x2
Für ein a ∈ R>0 gelte f (x) = e− a2 für alle x ∈ R. Dann folgt für t > 0 und x ∈ R
Z ∞
Z ∞
ξ2
(x−ξ)2
1
√
K (t, x − ξ) f (ξ) dξ =
u (t, x) =
e− 4κt e− a2 dξ.
4πκt
−∞
−∞
Zur besseren Übersichtlichkeit fassen wir die Faltung zweier Gaußfunktionen in ein
Lemma.
Lemma 124 Seien α, β ∈ R>0 . Dann gilt für alle x ∈ R
r
Z ∞
αβ
π − α+β
x2
−α(x−ξ)2 −βξ 2
e
e
e
dξ =
.
α+β
−∞
R∞
2
2
Beweis. Sei F (x) = −∞ e−α(x−ξ) e−βξ dξ. Dann folgt
Z ∞
Z ∞
2
−αx2
−αξ 2 +2αxξ −βξ 2
−αx2
e
e
dξ = e
e−(α+β)ξ +2αxξ dξ
F (x) = e
−∞
Z−∞
∞
2αxξ
2
2
e−(α+β)[ξ − α+β ] dξ
= e−αx
Z−∞
h
i
∞
2
αx 2
−(α+β) ξ 2 − 2αxξ
+ αx
−( α+β
)
−αx2
α+β ( α+β )
e
dξ
= e
−∞
Z ∞
h
i
2
2 x2
−(α+β) ξ 2 − 2αxξ
+ αx
−αx2 αα+β
α+β ( α+β )
e
e
dξ
= e
−∞
Z ∞
Z ∞
β
α
αx 2
2
−αx2 (1− α+β
−(α+β)[ξ− α+β
−αx2 ( α+β
)
]
)
e
dξ = e
e−(α+β)ξ dξ
= e
−∞
−∞
r
αβ
2
π
= e− α+β x
.
α+β
Im Faltungsintegral zur Berechnung von u gilt α = 1/4κt und β = 1/a2 und
daher
r r
r
αβ
αβ
1
π
α
π − α+β
− α+β
x2
x2
u (t, x) = √
=
e
e
α+β
π α+β
4πκt
r
αβ
α − α+β
x2
e
=
.
α+β
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
Mit
αβ
=
α+β
folgt somit für alle (t, x) ∈ R>0 × R
u (t, x) =
217
1
α
1
+
r
1
β
¡
¢−1
= 4κt + a2
2
a2
− x 2
4κt+a .
e
4κ2 t + a2
(3.8)
Für t ≤ 0 mit³ 4κt + a´2 > 0 wird u (t, x) durch Gleichung 3.8 definiert. Die so
a2
auf den Bereich − 4κ
, ∞ × R fortgesetzte Funktion ist überall eine Lösung der
Wärmeleitungsgleichung. Moral: Der Definitionsbereich von Lösungen des Anfangswertproblems der Wärmeleitungsgleichung kann i.A. nicht auf alle Zeiten ausgedehnt
werden.
Die Funktion u steht zur Lösung K in einem engen Zusammenhang, denn es gilt
a2
für alle t > − 4κ
¶
µ
√
a2
u (t, x) = a πK t + , x .
4κ
3.5.4
Eine Fundamentallösung
Da die zur Funktion ξ 7→ K (t, x − ξ) gehörige reguläre Distribution für t & 0
schwach gegen Diracs δ-Distribution δ x konvergiert, ist die reguläre Distribution zur
lokalintegrablen Funktion g : R2 → R mit
½
K (t, x) für t > 0
g (t, x) =
0
für t < 0
eine Fundamentallösung von ∂t − κ∂x2 . (Beweis siehe § 6.5.f in [11])
Die Resultate dieses Abschnitts lassen sich ganz einfach auf n Raumdimensionen
verallgemeinern. Der entscheidende Sachverhalt ist, dass der n-dimensionale Evolutionskern durch
¡
¢
¡
¢
Kn t, x1 , . . . xn = K t, x1 · . . . · K (t, xn )
gegeben ist. ∂t Kn = κ∆Kn rechnet man direkt mit der Produktregel nach.
3.6
Die gezupfte Saite
In Satz 64 ist die Lösung des Anfangsrandwertproblems der am Rand eingespannten
Saite charakterisiert. Dabei sind über die Anfangsvorgaben bestimmte Differenzierbarkeitsannahmen vorausgesetzt. Welche Funktion A produziert die Lösungsformel
des Satzes, wenn die Anfangsdaten (u, v) die Differenzierbarkeitsannahmen nicht
erfüllen?
Zur Illustration diene der Fall der gezupften Saite. Es wird also
½
2u0 x
für 0 ≤ x < L/2
u (x) =
2u0 (L − x) für L/2 ≤ x ≤ L
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
218
und v = 0 angenommen. Die Funktion u sei ungerade und 2L-periodisch auf ganz R
fortgesetzt. Die Anfangsauslenkung u ist zwar stetig, aber in x = L/2 nicht differenzierbar. Die Fouriersche Lösungsformel ergibt die auf ganz R2 definierte Funktion A
mit
¶
µ
∞
³
8u0 X (−1)k
x´
ct
A (t, x) = 2
sin
(2k
+
1)
π
.
(3.9)
cos
(2k
+
1)
π
π k=0 (2k + 1)2
L
L
Ein Blick auf d’Alemberts Lösungsformel lässt
A (t, x) =
1
(u (ct + x) + u (ct − x))
2
für alle (t, x) ∈ R2 vermuten. Es müsste also während der ersten Viertelperiode, also
für 0 < t < L/2c, und für 0 < x < L
⎧
für 0 ≤ x < L/2 − ct
2u
⎨
¡ 0x ¢
2u0 L2 − ct für L/2 − ct ≤ x < L/2 + ct
A (t, x) =
⎩
2u0 (L − x)
für L/2 + ct ≤ x < L
gelten. Tatsächlich ist Gleichung (3.9) die Sinusreihe dieses um L/2 symmetrischen
Trapezprofils. Siehe Abbildung (3.14). Die Knickstelle wird nicht geglättet und sie
verschiebt sich mit der Geschwindigkeit c des Wellenoperators.
A
1
0.75
0.5
0.25
0
0
0.25
0.5
0.75
1
x
Abbildung 3.14: Momentaufnahmen der gezupften Saite
Abbildung 3.15 zeigt Achtelperiode-Schnappschüsse der Partialsumme der Fourierreihenlösung bis k = 10. Diese Lösung ist natürlich C ∞ .
Die Lösungsformeln von d’Alembert und Fourier ergeben also ein und dieselbe
nichtdifferenzierbare lokalintegrable Funktion A. In welchem Sinn ist sie eine Lösung
der d’AWG? Eine Antwort gibt der folgende Satz.
Satz 125 Sei u ∈ C (R) und A (t, x) = 12 (u (ct + x) + u (ct − x)) . Für die zu A
e = 0.
e ∈ D0 (R2 ) gilt ¤A
gehörige reguläre Distribution A
Beweis. Sei x± = ct ± x. Es gilt in der Karte Φ = (x+ , x− )
¤A = 4∂1Φ ∂2Φ A
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
219
A
0.75
0.5
0.25
0
0
0.25
0.5
0.75
1
-0.25
-0.5
-0.75
Abbildung 3.15: Glatt gezupfte Saite
Damit folgt für jede Testfunktion f ∈ D (R2 )
Z
¡
¢1
1
e
A (¤f ) =
(u (x+ ) + u (x− )) 4 ∂1Φ ∂2Φ f dx+ dx− .
2
R2 2
Nun folgt für ein L > 0 mit f (x+ , x− ) = 0 für alle (x+ , x− ) mit |x− | ≥ L
µZ ∞
¶
Z ∞
Z ∞
¯x− =L
¡
¢
¡ Φ ¢
Φ
u (x+ ) ∂1
u (x+ ) ∂1Φ f (x+ , x− )¯x− =−L = 0.
∂2 f dx− dx+ =
−∞
−∞
−∞
Daraus folgt die Behauptung.
3.7
Übungsbeispiele
1. Einige δ-Folgen: Zeigen Sie für die folgenden Funktionenfolgen (gk )k∈N mit
gk ∈ C ∞ (R) , dass für alle f ∈ D (R)
Z ∞
lim
gk (x) f (x) dx = f (0)
k→∞
−∞
gilt. Die Folgen von regulären Distributionen (gek )k∈N konvergieren also schwach
gegen Diracs δ-Distribution. (Man sagt: (gek )k∈N ist δ-Folge.)
k
1
,
π 1 +¡k2 x2
¢
gk (x) = k exp −πk2 x2 ,
µ
¶2
k sin (kx)
.
gk (x) =
π
kx
gk (x) =
Hinweis: Nach Math. Meth. 1, Kap. Fourierintegraltransformation gilt:
¶2
Z ∞µ
sin x
dx = π.
x
−∞
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
220
2. Interpretation formaler Ausdrücke: Sei f ∈ D (R2 ) . Versuchen Sie, den folgenden formal notierten Ausdrücken Sinn zu geben.
Z
δ (x − a) δ (x − y) f (x, y) dxdy,
2
ZR
δ 0 (x − a) δ (x − y) f (x, y) dxdy,
2
ZR
δ (x − y) f (x, y) dxdy.
R2
3. Rückholung der δ-Distribution: Sei f ∈ D (R) und h ∈ C 1 (R) . Die Funktion
h habe in jedem endlichen Intervall nur endlich viele Nullstellen. Es gelte
h0 (xi ) 6= 0 für alle Nullstellen xi von h. Sei gk : R → R für alle k ∈ N lokal
integrabel. Die Folge (gk )k∈N sei eine δ-Folge. Machen Sie plausibel, dass
lim
k→∞
Z
∞
gk (h (x)) f (x) dx =
−∞
n
X
i=1
|h0
1
f (xi ) ,
(xi )|
(3.10)
wobei {x1 , . . . xn } die Nullstellenmenge von h in einem endlichen Intervall ist,
außerhalb dessen f = 0 gilt. Hinweis: Das Integral wird bei wachsendem k
von immer kleiner werdenden x-Intervallen um die Nullstellen von h herum
bestimmt. Führen Sie um jede Nullstelle von h die Funktion h als (lokale)
Integrationsvariable ein.
4. Einige Spezialfälle der Rückholung der δ-Distribution: Leiten Sie aus Gleichung (3.10) die folgenden formal notierten Spezialfälle ab. Dabei seien a, b ∈ R
mit a > 0 und f ∈ D (R) .
Z ∞
1
f (b/a) ,
δ (ax − b) f (x) dx =
a
−∞
Z ∞
¡
¢
1
(f (a) + f (−a)) .
δ x2 − a2 f (x) dx =
2a
−∞
5. Die δ-Distribution auf der Sphäre: Sei f ∈ D (R3 ) . Versuchen Sie, dem folgenden formal notierten Ausdruck Sinn zu geben. Dabei sei a ∈ R>0 .
Z
¡
¢
δ |x|2 − a2 f (x) d3 x
R3
2
d
2
: Für 0 6= k ∈ R sei Gk ∈ D0 (R)
6. Eine Fundamentallösung von dx
2 + k
die reguläre Distribution zur Funktion x 7→ (2k)−1 sin (k |x|), d.h. Gk (f ) =
R ∞ sin(k|x|)
f (x)dx. Zeigen Sie G00k + k2 Gk = δ. Finden Sie ein G0 ∈ D0 (R) mit
2k
−∞
00
G0 = δ.
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
221
7. Die stationäre Lösung zur sinusmodulierten ruhenden Punktquelle der d’AWG:
Sei ω := ck ∈ R>0 und sei Γ ∈ D0 (R2 ) die reguläre Distribution zur Funktion
γ : R2 → R mit
γ (t, x) = − sin (ωt) sin (k |x|) / (2k) .
R∞
Zeigen Sie für J ∈ D0 (R2 ) mit J(f ) = −∞ sin (ωt) f (t, 0)dt, dass ¤Γ = J gilt.
D.h. ausführlicher: für alle f ∈ D (R) gilt Γ (¤f ) = J(f ). Formal wird J mit
der „Funktion” j(t, x) = sin (ωt) δ(x) assoziiert und daher
¤γ (t, x) = sin (ωt) δ (x)
geschrieben. Figur (3.16) zeigt Momentaufnahmen der Stehwellenlösungen zu
k = 1 (schwarz) und k = 2 (rot) zu Zeiten maximaler Auslenkung. Wie passt
die Funktion γ zur Lösung von Beispiel 2 auf Blatt 5?
0.5
0.25
0
-15
-10
-5
0
5
10
15
-0.25
-0.5
Abbildung 3.16:
sin(|x|)
2
und
sin(2|x|)
4
8. Die Ausstrahlungslösung zur allgemein modulierten ruhenden Punktquelle der
d’AWG: Sei f ∈ C 1 (R) und sei
³ F eine
´ Stammfunktion von f . Zeigen Sie für
|x|
c
2
A : R → R mit A (t, x) = 2 F t − c den formal notierten Sachverhalt
¤A (t, x) = f (t)δ(x).
Anders als die stehende Lösung aus Bsp.2 „läuft” diese Lösung von der Quelle
weg. Für ω := ck ∈ R>0 und f (t) = sin (ωt) gilt beispielsweise A (t, x) =
− cos(k|x|−ωt)
; siehe Figur (3.17).
2k
9. Die retardierte Fundamentallösung von ¤2 : Sei Θ die Heaviside Stufenfunktion
und sei ∆ret ∈ D0 (R2 ) die reguläre Distribution zur Funktion Dret : R2 →
R, (t, x) 7→ 2c Θ (c2 t2 − x2 ) Θ(t). Also gilt
¶
Z µZ ct
c ∞
∆ret (f ) =
f (t, x)dx dt.
2 0
−ct
Zeigen Sie ¤∆ret = δ 2 . Expliziter: ∆ret (¤f ) = f (0, 0) für alle f ∈ D (R2 ). Hinweis: zeigen und verwenden Sie Θ (c2 t2 − x2 ) Θ(t) = Θ (ct + x) Θ (ct − x) . Die
Distribution ∆ret heißt retardierte Fundamentallösung des d’Alembertoperators
¤. Die Funktion Dret heißt retardierter Propagator von ¤.
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
222
y
0.5
0.25
0
-15
-10
-5
0
5
10
15
x
-0.25
-0.5
Abbildung 3.17: − cos(|x|)
und −
2
cos(|x|− π2 )
2
R∞
10. Eine δ-Folge: Sei Tκ ∈ D0 (R) mit Tκ (f ) = κ2 −∞ exp (−κ |x|) f (x)dx. Zeigen
Sie für alle f ∈ D (R), dass limκ→∞ Tκ (f ) = δ (f ) = f (0).
11. Eine Fundamentallösung von
in D0 (R) mit
d2
dx2
Gκ (f ) = −
G00κ
2
− κ2 : Für 0 6= κ ∈ R sei Gκ die Distribution
Z
∞
−∞
exp (−κ |x|)
f (x)dx.
2κ
− κ Gκ = δ. (Für κ > 0 kann Gκ zu einer temperierten
Zeigen Sie, dass
Distribution fortgesetzt werden.)
12. Ausstrahlungslösung zur sinusmodulierten bewegten Punktquelle der d’AWG;
Dopplereffekt: Sei k = ω/c ∈ R>0 , v ∈ [0, c) und k± := ck/(c ∓ v). Zeigen Sie
für die reguläre Distribution zur (stetigen!) Funktion A : R2 → R mit
A (t, x) = −
dass (formal)
1
[Θ (x − vt) cos (k+ (ct − x)) + Θ (vt − x) cos (k− (ct + x))] ,
2k
¤A (t, x) = sin (ωt) δ (x − vt) .
Am bewegten Ort (Empfänger) γ (t) = x0 + ut mit u ∈ R hat A zur Zeit t den
Wert Sγ (t) = A (t, γ (t)) . Zeigen Sie, dass
¡
¢
½ 1
t
−
k
x
− 2k cos ¡ω c−u
+
0
c−v
¢ für γ (t) > vt .
Sγ (t) =
1
c+u
− 2k cos ω c+v t − k− x0 für γ (t) < vt
Für u = 0 hat das Signal Sγ für vt < γ (t) = x0 , also rechts von der Quelle,
die Frequenz
ω
ω0 =
> ω.
1 − vc
Links von der Quelle hat das Signal die Frequenz
ω0 =
ω
1+
v
c
< ω.
KAPITEL 3. DISTRIBUTIONEN
223
Für v = 0 ruht die Quelle. Bewegt sich γ mit der Geschwindigkeit u < 0 nach
links, so hat Sγ die Frequenz
¶
µ
|u|
0
>ω
ω =ω 1+
c
solange γ (t) noch rechts von der Quelle ist. Danach hat Sγ die Frequenz
¶
µ
|u|
0
< ω.
ω =ω 1−
c
Die Signalfrequenz hängt somit bei gleicher Relativgeschwindigkeit zwischen
Quelle und Empfänger davon ab, ob sich die Quelle oder der Empfänger bewegt. Bewegen sich Quelle und Empfänger mit derselben Geschwindigkeit,
dann hat Sγ unabhängig von x0 die Quellfrequenz ω.
Literaturverzeichnis
[1] Friedhelm Erwe, Differential und Integralrechnung, Band 1, BI, Mannheim 1973
[2] Friedhelm Erwe, Differential und Integralrechnung, Band 2, BI, Mannheim 1962
[3] Helmut Fischer, Helmut Kaul, Mathematik für Physiker, Bände 1 und 2, Teubner, Stuttgart, 2005
[4] Otto Forster, Analysis 1, Vieweg, Braunschweig, 1983
[5] Otto Forster, Analysis 3, Viehweg, Braunschweig, 1984
[6] Klaus Jänich, Analysis für Physiker und Ingenieure, Springer, Berlin, 2001
[7] Thomas W Koerner, Fourier Analysis, Cambridge UP, Cambridge, 1988
[8] Friedrich W. Schäfke, Einführung in die Theorie der speziellen Funktionen der
mathematischen Physik, Springer, Berlin, 1963
[9] Walter A Strauss, Partielle Differentialgleichungen, Vieweg, Braunschweig,
1995
[10] Z X Wang, D R Guo, Special Functions, World Scientific, 1989, Singapore
[11] W Wladimirow, Gleichungen der mathematischen Physik, Deutscher Verlag der
Wissenschaften, Berlin, 1972
224
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