Auszug: Kellner: Trotzkismus. Einführung in seine Grundlagen

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■ Sozialistische Demokratie
Auszug aus:
Manuel Kellner: Trotzkismus. Eine Einführung in seine Grundlagen – Fragen nach seiner Zukunft. Stuttgart 2004. S. 38–43
Diktatur des Proletariats und sozialistische
Demokratie
sentieren können, mit den Vollversammlungen der jeweiligen Produktions- und Gebietseinheit als eigentlichem Souverän. Wenn der Klassenkampf sich landesweit zuspitzt,
entwickeln die von unten aufgebauten Organe der neuen,
der proletarischen Demokratie den Keim einer zum bürgerlichen Staat alternativen Staatsmacht und „maßen“ sich
immer mehr Befugnisse „an“. Diese ergeben sich zunächst
aus den Bedürfnissen der Kampfführung und der für sie
erforderlichen Selbstorganisation: Kontrolle und Organisierung des Verkehrs, Versorgung mit Lebensmitteln und
elementaren Dienstleistungen, Entwicklung eines selbstbestimmten kulturellen Lebens, Kontrolle über die Zahlungsmittel und die öffentliche Sicherheit usw. Entweder
dieser Keim ein neuen Staatsmacht wächst, erstarkt, setzt
sich durch und tritt an die Stelle des alten Staates (was die
Zersetzung seiner Armee- und Polizeikräfte voraussetzt)
oder der alte Staatsapparat drängt diese neuen Organe wieder zurück und zerstört sie. Im ersten Fall hat eine sozialistische Revolution stattgefunden, hat die Arbeiterklasse die
politische Macht erobert.
Der demokratische Charakter eines Arbeiterstaats ergibt
sich für die Trotzkisten nicht einfach aus der Kritik an den
offenbar sehr undemokratischen Verhältnissen in den „bürokratisierten Arbeiterstaaten“ (wie sie in der Sowjetunion
seit Stalin und in den Ländern mit vergleichbaren Systemen existierten). Er ergibt sich auch aus der Herkunft und
aus dem historischen Ziel solcher Staaten. Die Arbeiterklasse braucht im Kapitalismus bereits demokratische
Selbstorganisation, um sich gegen das Kapital und seine
Sachwalter wirksam zu wehren. Wenn sie mit Hilfe solcher
Organe (Räte, Sowjets) die politische Macht erobert, dann
mit dem Ziel eine selbstverwaltete, klassenlose, von aller
Ausbeutung und Herrschaft freie Gesellschaft aufzubauen.
Die autoritäre Herrschaft einer Minderheit widerspricht
beidem: Sie taugt nicht dazu, eine große Gesellschaftsklasse zu organisieren und an die Macht zu bringen, und zugleich ist schwer vorstellbar, wie die Herrschaft einer kleinen Minderheit irgendwann in eine herrschaftsfreie Gesellschaft umschlagen soll.
Ganz im Sinne der ursprünglichen marxistischen und
auch bolschewistischen Tradition ist die trotzkistische Programmatik in ihrer unversöhnlichen Gegnerschaft zum
„bürgerlichen Staat“ revolutionär und zugleich in ihrer
Vorstellung vom Charakter der angestrebten Gegenmacht
und Übergangsgesellschaft zum Sozialismus demokratisch
eingestellt. Gleichwohl gibt es unter den verschiedenen
Gruppen und Strömungen, die sich auf den Trotzkismus
berufen, durchaus verschiedene Ausformungen dieser programmatischen Grundvorstellungen. Es gibt auch unter
denen, die sich Trotzkisten nennen, mehr oder weniger demokratische Haltungen. Ein Grund dafür ist, dass schon
bei Trotzki selbst – wie auch bei anderen Autoritäten, auf
die sich Trotzkisten berufen (Marx, Luxemburg, Lenin …)
– eine gewisse Bandbreite von Positionen zur Demokratiefrage zu finden ist. In den Jahren 1920/21, als Trotzki das
unter dem Druck einer schwierigen Lage beschlossene und
als „vorübergehende Maßnahme“ gedachte Verbot der anderen Sowjetparteien und der Bildung von Fraktionen in
der bolschewistischen Partei mittrug, finden sich bei ihm
Aussagen, in denen die Diktatur des Proletariats mit der
Diktatur der „Partei des Proletariats“ identifiziert wird. In
dieser Zeit entfernte sich Trotzki von einer klaren Haltung
Marx und Engels bezeichneten das politische System der
Pariser Kommune als „Diktatur des Proletariats“. Für sie
war das die „endlich entdeckte Form“, in der die Arbeiterklasse die politische Macht ausüben kann. Kennzeichnend
dafür ist eine direkte Demokratie mit jederzeit abwählbare
Repräsentanten, die an die Weisungen ihrer Basis gebunden sind und nicht mehr verdienen als durchschnittlichen
Arbeiterlohn. Sie ist noch ein Staat, aber ein solcher, der
von Anfang an den Keim seines eigenen „Absterbens“ in
sich trägt. Politischer Pluralismus ist in diesem System
selbstverständlich. Es gab verschiedene politische Parteien
und Strömungen in der Kommune, die sich alle in der einen oder anderen Weise auf die Interessen der Arbeitenden
und auf das sozialistische Ziel bezogen.
Ähnliche Verhältnisse schuf die Oktoberrevolution von
1917 in Russland. In ihrem Selbstverständnis war sie eine
Neuauflage der Pariser Kommune. Die Sowjetdemokratie
(Rätedemokratie) war bis 1920 ebenfalls ein Mehrparteiensystem. In den Räten waren neben den Bolschewiki insbesondere auch Menschewiki und Sozialrevolutionäre vertreten. Erst als letztere sich gegen die neue Herrschaft erhoben, wurden sie aus den Räten ausgeschlossen.
Für Marx und Engels wie auch für die Bolschewiki der
ersten Jahre war die Herrschaft der Arbeiterklasse notwendig, um die Macht der alten herrschenden Klassen
(Grundeigentümer und Kapitalisten) zu brechen und den
Weg hin zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung frei zu machen, in der die gesellschaftliche
Produktion nach dem Maßstab der menschlichen Bedürfnisse geplant wird. Diese Diktatur des Proletariats wurde
als Durchgangsstadium zum Sozialismus und Kommunismus, zur klassenlosen und darum auch herrschaftsfreien
Gesellschaft gesehen. In einer solchen Gesellschaft würde
es keine Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern nur noch die gemeinschaftliche Verwaltung von Sachen geben.
Der Trotzkismus beruft sich auf diese Tradition. Die Begriffe „Diktatur des Proletariats“ und „sozialistische Rätedemokratie“ sind für ihn gleichbedeutend – ein Konzept,
dass sich auch in Lenins „Staat und Revolution“ wiederfindet. Um von Kapitalismus zum Sozialismus zu kommen,
bedarf es eines Bruchs, da auch die demokratischste parlamentarische Demokratie in Wirklichkeit ein bürgerlicher
Staat ist, der den Interessen des Kapitals dient. Er unterdrückt alle Bestrebungen, die die kapitalistische Klassenherrschaft gefährden. Dieser Staat muss zerschlagen und
ein neuer geschaffen werden, der Ausdruck der Interessen
der Arbeiter ist, ein „Arbeiterstaat“. Neben diesem Bruch
gibt es aber auch ein Moment der Kontinuität, da der neue
Staat, die Diktatur des Proletariats, weder aus dem Nichts
entsteht noch das Werk einer Minderheit von Verschwörern sein kann. Die Arbeiterklasse zusammen mit allen
ausgebeuteten und unterdrückten Schichten bildet im
Kampf um ihre Interessen bereits unter kapitalistischen
Verhältnissen verschiedene Formen der Selbstorganisation
aus: etwa Genossenschaften, Gewerkschaften, Parteien,
Streikkomitees. Die höchste Form dieser Selbstorganisation sind Räte, die sowohl Belegschaften wie Bevölkerungen
von Stadtvierteln oder Gebietseinheiten basisnahe reprä-
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erreicht werden soll, kann allzu leicht zur Ausrede für Opfer, Entbehrungen und einem wenig ansprechenden Leben
werden, das der Bevölkerung „zunächst einmal“ zugemutet werden soll, bis die zur Errichtung dieses Paradieses erforderliche Arbeit getan ist …
Im trotzkistischen Verständnis deuten solche Vertröstungsideologien, wie sie für den Stalinismus typisch waren,
auf die Existenz von privilegierten Schichten hin, die sehr
handfeste Sonderinteressen entwickelt haben. Sie beherrschen das politische Leben und benutzen ihre Macht und
ihre Kontrolle über das gesellschaftliche Mehrprodukt dazu, ihre Sonderinteressen gegenüber der „normalen“ Bevölkerung zu verteidigen und auszubauen. Aus dieser Sicht
ist es besonders wichtig, von Anfang an die Entstehung einer abgehobenen und schwer zu kontrollierenden Schicht
von Verwaltern, politischen Funktionsträgern und Spezialisten zu bekämpfen.
Es ist nicht vorstellbar, dass eine „Arbeiterklasse“
„herrscht“, deren Mitglieder den größten Teil ihrer wachen Zeit damit beschäftigt sind zu produzieren und denen
daher nicht genug Zeit bleibt, sich umfassend zu informieren, sich zu bilden, sich in politische Meinungsbildungsprozesse einzumischen, an der Verwaltung des eigenen Betriebes, des eigenen Stadtviertels sowie einer Reihe von gesellschaftlichen Einrichtungen teilzunehmen und diejenigen zu kontrollieren, die in politische Ämter gewählt worden sind. Damit das möglich ist, muss offenbar die Arbeitszeit radikal verkürzt werden. Damit die Waren- und
Geldwirtschaft und die zugehörige Mentalität von Anfang
an zurückgedrängt werden können, muss vom ersten Tage
an zumindest die bloße Existenz aller Menschen sichergestellt werden (Recht auf Güter des Grundbedarfs, auf
Wohnen, auf Gesundheitsversorgung usw., unabhängig
von jeder Leistung). Sonst wird die sozialistische Umwälzung nicht als wirklich einschneidende Verbesserung der
Lebenslage empfunden, der umfassende Emanzipationsprozess nicht eingeleitet werden. Sicher wird es eine nicht
absehbare Zeit lang immer noch materielle Anreize für Arbeitsleistung und eine Menge sozialer Konflikte und scharfer Kontroversen geben. Doch gemessen an einer Welt der
schreienden Klassenunterschiede, der Ausbeutung, der
Unterwerfung unter Vorgesetzte und der blutigen Kriege
wird doch eine neue, lebenswerte Epoche eingeleitet.
Die „Diktatur des Proletariats“ im Sinne der trotzkistischen Programmatik ist eine Gesellschaft bunter Vielfalt,
mit einem Nebeneinander verschiedener Lebensentwürfe,
mit lebhaften kontroversen Debatten zu verschiedenen
Optionen auf allen Ebenen der wirtschaftlichen und politischen Selbstverwaltung, mit einer Vielzahl politischer Strömungen, die um Mehrheiten kämpfen, mit selbstgestalteten Medien, deren Einfluss nur vom Zuspruch abhängt,
und mit völliger Freiheit für unabhängige Gewerkschaften,
unabhängige Interessenverbände und autonom von ihren
Mitgliedern geführte Bewegungen und Vereine aller Art.
Die demokratischen Freiheiten sollen nicht geringer sein
als in einer bürgerlich-demokratischen Republik, sondern
im Gegenteil umfassender, und allen soll die gleiche materielle Möglichkeit geboten werden, diese Rechte und Freiheiten auch wirklich zu nutzen. Im Unterschied zu den bisherigen nichtkapitalistischen Systemen wird es kein „Grau
in Grau“ vorgeschriebener Meinungen und gesetzlich abgesicherter „Führungen“ eines verschmolzenen Parteiund Staatsapparats geben. Auch die revolutionären Parteien müssen dem Votum der in den Räten organisierten
Werktätigen und der Masse der Bevölkerung unterworfen
bleiben. Sie müssen abgewählt werden können, egal wie
überwältigend ihre Mehrheit und ihr Prestige im Moment
des Sieges über das alte System waren.
zur Frage der sozialistischen Demokratie. Dies erschwerte
seinen ab 1923 geführten Kampf um mehr Demokratie in
der Partei und um die Wiederherstellung der Sowjetdemokratie.
Unter dem Eindruck der stalinistischen Diktatur kehrte
Trotzki in seinen letzten Lebensjahren zu seinen ursprünglichen Positionen zurück und präzisiert sie. So spricht sich
das von ihm verfasste „Übergangsprogramm“ von 1938,
das Gründungsdokument der IV. Internationale, für alle
demokratischen Freiheiten und auch für ein Mehrparteiensystem aus: „Der Kampf für die Freiheit der Gewerkschaften und der Fabrikkomitees, für die Versammlungsund Pressefreiheit wird sich weiterentwickeln zum Kampf
für die Wiedergeburt und Entfaltung der Sowjetdemokratie
… Die Demokratisierung der Sowjets ist undurchführbar
ohne die Legalisierung von Sowjet-Parteien. Die Arbeiter
und Bauern selbst werden durch ihre Stimmabgabe zeigen,
welche Parteien sie als Sowjet-Parteien betrachten.“ [Leo
Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale. In: Die kommunistische Alternative. Texte der Linken Opposition und IV. Internationale
1932–1985. Frankfurt am Main 1989. S. 93.]
Der letzte Satz ist von besonderer Bedeutung. Er heißt
nämlich, dass es keine vorgefassten inhaltlich-politischen
Maßstäbe geben soll, welche Parteien als „Sowjetparteien“
und somit als legal anerkannt werden sollen und welche
nicht (etwa, ob sie „sozialistisch“ gesonnen sind oder nicht,
ob sie als Teil der Arbeiterbewegung oder etwa als „bürgerlich“ anzusehen sind oder nicht usw.). Alle Parteien, die
Stimmen von „Arbeitern und Bauern“ auf sich ziehen,
werden als Sowjetparteien anerkannt und sind legal. Das
ist nach meiner Interpretation eine radikal demokratische
Haltung, denn dann sind auch Parteien legal, die den Sturz
des Rätesystems auf ihre Fahnen schreiben (solange sie dafür argumentieren, werben und Stimmen sammeln – sicher
nicht, wenn sie Attentate verüben oder die bewaffnete
Konterrevolution organisieren).
Die Möglichkeit, eine sozialistische und schließlich
kommunistische Gesellschaft aufzubauen, in der die Freiheit eines jeden die Bedingung für die Freiheit aller ist
(Marx), und in der alle Menschen sich gemäß ihrer Bedürfnisse und Anlagen frei entfalten können, ist in der vom
Trotzkismus weitergeführten marxistischen Vorstellung an
bestimmte materielle Bedingungen gebunden. Sie beruht
auf der Aneignung und bewussten Umgestaltung der in der
kapitalistischen Klassengesellschaft entwickelten Produktivkräfte, die von ihrer zerstörerischen Seite befreit und in
den Dienst der menschlichen Bedürfnisse gestellt werden.
Die Verteilung der Güter vermittelt über den Markt und
die damit korrespondierende Arbeit für Lohn sollen dabei
Zug um Zug unentgeltlichen öffentlichen Dienstleistungen
und der freien Verteilung der Güter des täglichen Bedarfs
weichen. Da weder die Umgestaltung der Produktivkräfte
noch die Veränderung der Mentalitäten (die zunächst im
Waren- und Geldfetischismus und im Banne des Konkurrenzdenkens befangen bleiben) über Nacht geschehen
können, sondern eines lang andauernden Selbsterziehungsprozesses bedürfen, ergibt sich die Notwendigkeit einer Übergangsperiode – und nicht bloß daraus, dass die alte gestürzte Ausbeuterklasse in einer ersten Phase niedergehalten werden muss.
Bei einer solchen Konzeption, die von einem lang andauernden umfassenden Emanzipationsprozess im Gefolge eines revolutionären Bruchs mit dem Bestehenden ausgeht, scheint besonders wichtig, wie die Verhältnisse unmittelbar nach einer sozialistischen Revolution und in den
darauf folgenden Jahren aussehen sollen. Denn das erträumte Paradies auf Erden, das in unbestimmter Zukunft
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