Material: Formen und Theorien der Demokratie H. 2 MA 22 Politisches System der Schweiz MA 23 Ideen und Strukturprinzipien der Identitätstheorie der Demokratie – Definition einiger analytischer Begriffe 5 10 15 20 Die zentrale Idee der direkten Demokratie ist diejenige der Identität von Regierenden und Regierten. Danach soll die politische Herrschaft, die Herrschaft von Menschen über Menschen, aufgehoben werden und das Volk soll sich selbst regieren. Die zur Verwirklichung dieser Ideen geforderten Strukturprinzipien sind das Plebiszit (Volksabstimmung) und das imperative Mandat, wonach die Abgeordneten „gebundene“ Delegierte sind. Plebiszit und imperatives Mandat sollen die Macht des Volkes garantieren. Versteht man nun (nach Max Weber) unter der sozialen Macht die Fähigkeit, seine Interessen gegenüber den Interessen anderer – auch gegen deren Willen – durchzusetzen, so wird deutlich, dass es den Vertretern der identitären Demokratie um die Abschaffung bestehender Herrschaftsverhältnisse geht. Politische Herrschaft kann nun wiederum als „institutionalisierte politische Macht“ definiert werden. Hinter dieser Definition der politischen Herrschaft verbirgt sich die Auffassung, dass die soziale Macht durch die staatlichen Institutionen eingebunden und gleichzeitig damit von den Herrschaftsunterworfenen kontrolliert werden soll. Die Befürworter dieser 1 Konzeption bestreiten also die Annahme der Identi- 25 tätstheorie der Demokratie, dass Herrschaft grund- 30 35 40 45 sätzlich aufhebbar ist. Den Forderungen nach einer Realisierung der Macht des Volkes und nach der Aufhebung der politischen Herrschaft im Argumentationszusammenhang der Identitätstheorie liegt die Annahme zugrunde, dass ein homogener (einheitlicher) Volkswille und ein objektives, einheitliches Gemeinwohl vorhanden und erkennbar seien. Anders ausgedrückt: Die wahren Bedürfnisse und Interessen des Volkes können inhaltlich bestimmt werden. Eine systematische Erörterung des Bedürfnisbegriffs, mit dem bei diesen Annahmen gearbeitet wird, führt jedoch zu der Erkenntnis, dass die Menschen eine sehr große Anzahl unterschiedlicher Bedürfnisse besitzen. Deshalb erscheint nur eine „formale“ Definition möglich: Bedürfnisse können als „Gefühl eines Mangels“ definiert werden. Unmittelbar verbunden mit diesem Mangelgefühl ist das Bestreben der Individuen, diesen Mangel zu beseitigen. Allerdings kann man sagen, dass alle uns bekannten Bedürfnisse auf ein Grundbedürfnis zurückzuführen sind: das Bedürfnis „am Leben zu bleiben“ Material: Formen und Theorien der Demokratie und ohne physische und psychische Leiden in einem organisch-seelischen Gleichgewicht zu leben. Der Begriff Interesse meint nun den Tatbestand, 50 dass die Individuen und Gruppen versuchen, ihre Bedürfnisse durch gesellschaftliches Handeln zu befriedigen. Interessen können also nicht isoliert betrachtet werden, sondern bei der Bestimmung der jeweiligen Interessenlage von Individuen oder Grup55 pen müssen die offen liegenden oder vermuteten Interessen der anderen einbezogen werden. Stoßen gegensätzliche Interessen verschiedener sozialer Gruppen, verschiedener Staaten oder Staatengruppen aufeinander, so sprechen wir von einem 60 Konflikt. Zur Beurteilung der Frage, ob die politischen Ordnungen nach den Ideen und Strukturprinzipien der direkten Demokratie (oder anderer Demokratietheorien) organisiert werden können, sollten die H. 2 65 Begriffe „politisches System“ und „politische Ordnung“ ebenfalls einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Mit dem Begriff „politisches System“ werden alle Institutionen und handelnden Personen zusammengefasst, die an der politischen Entschei70 dung, deren Ausführung und an der Kontrolle ihrer Respektierung direkt beteiligt sind. Unter einer politischen Entscheidung wiederum sind diejenigen Entscheidungen zu verstehen, welche grundsätzlich für die Menschen des entsprechenden Landes ver75 bindlich sind. Der Begriff „politische Ordnung“ wird meist dann gebraucht, wenn man nicht nur das politische Institutionensystem eines Landes meint, sondern zusätzlich hierzu auch die entsprechenden normativen Grundlagen (Verfassung, Gesetze) mit80 denkt. MA 24 Die Schweizer Eidgenossenschaft nalen Parlamenten gewählt. Dem Wortlaut der VerA) Geographische und historische Besonderheiten fassung nach als „oberste vollziehende und leitende Es darf zunächst daran erinnert werden, daß nur eine durch geographische Lage und eigentümliche Ge- 35 Behörde der Eidgenossenschaft“ dem Parlament unter- und nachgeordnet ist die Schweizer Regierung, schichte begünstigte Landschaft die Bedingung dader „Bundesrat“. Von der eigentümlichen Konstruk5 für war, diese eigentümliche schweizerische Form tion dieser Regierung her, die sich an dem Vorbild der Demokratie hervorzubringen. Ähnlich England der französischen Revolutionsverfassung von 1795 […] läßt sich auch im Falle der Schweiz eine erstaunliche verfassungspolitische Kontinuität von dem 40 orientiert, hat das Schweizer Regierungssystem seinen Namen „Direktorialregierung“ oder „-system“. ursprünglichen Bund der drei Waldstädte Uri, Die Regierung besteht permanent aus sieben Mit10 Schwyz und Unterwaiden (1291), von dem Schillers gliedern, die von der Bundesversammlung, d. h. vom dramatisches Gedicht Wilhelm Tell erzählt, über eiNational- und Ständerat gemeinsam, auf vier Jahre nige, inhaltlich bedeutsame Stufen bis in die Gegen45 bestellt werden und untereinander gleichberechtigt wart aufweisen […] die sieben Ressorts unter sich verteilen. Die BundesB) Das Regierungssystem versammlung wählt jedes Jahr eines der sieben 15 Die Grundelemente der Schweizer EidgenossenMitglieder des Bundesrates zum Bundespräsidenten, schaft, zum Teil älter als die Eidgenossenschaft der dann als primus inter pares die Sitzungen des selbst, sind die heute 22 Kantone […] 50 Bundesrates leitet und sonst vorwiegend repräsentaÜber dieser kantonalen Vielfalt, die der sprachlitive Rechte eines Staatsoberhauptes ausübt. Da die chen, kulturellen, religiösen und landschaftlichen Mitglieder des Bundesrates verfassungsmäßig nicht 20 Vielfalt der Schweiz genau entspricht, wölbt sich der auch zugleich Mitglieder einer der beiden Kammern Bund. Nach dem Vorbild der bundesstaatlichen des Parlamentes sein können, in der Schweiz also Struktur der USA besteht auch das Schweizer Bun55 auch das Inkompatibilitätsgebot besteht, ist der Bundesparlament, die „Bundesversammlung“, aus zwei desrat – verglichen mit der Regierung in einem parKammern, die in der Regel getrennt tagen: (1) aus lamentarischen Regierungssystem – relativ unab25 dem „Nationalrat“, der direkt vom Volke gewählten hängig und selbständig. Die Schweizer BundesreVolksvertretung, und (2) aus dem „Ständerat“, in gierung ist zugleich eine Regierung auf Zeit – wie den aus jedem der 22 Kantone zwei Vertreter ent60 der Präsident der USA – und dem Parlament für die sandt werden. Durchführung der Geschäfte nicht verantwortlich. Die Wahl dieser Vertreter in den Kantonen ist unC) Die politische Mitbestimmung des Volkes 30 terschiedlich geregelt: entweder werden sie direkt von der Kantonalsbevölkerung oder – so in Bern, Zum eigentlichen Gegenspieler der BundesregieFreiburg, St. Gallen und Neuenburg – von den kantorung ist das Volk geworden, das in der Schweiz auch 65 auf Bundesebene in vielfältiger Weise unmittelbar 2 Material: Formen und Theorien der Demokratie 70 75 80 85 90 95 100 an der Politik beteiligt ist. Neben den üblichen Wahlen zum Parlament haben die wahlberechtigten Schweizer die Möglichkeit, durch Volksabstimmungen an der Regierung teilzunehmen. Es gibt verschiedene Formen dieser Beteiligung: (1) Das fakultative, d. h. nicht unbedingt erforderliche, aber auf Wunsch von 30 000 Bürgern oder acht Kantonen durchzuführende Referendum, in dem in der Regel über einfache Gesetze abgestimmt wird. Es kommt nicht selten vor, daß Gesetze, die von der Regierung vorgeschlagen und vom Parlament akzeptiert und beschlossen wurden, in einem Referendum durch das Volk „bachab geschickt“, d. h. zu Fall gebracht werden. (2) Das obligatorische Referendum, das bei Verfassungsänderungen verfassungsmäßig vorgeschrieben ist. Wegen der vielen kleinen und großen Verfassungsänderungen, die es seit 1874 in der Schweiz gegeben hat, ist dies eine relativ häufige Art der Volksbeteiligung. (3) Kann das Volk in einem Volksbegehren selbst Vorschläge zur Gesetzgebung machen. So interessant und bedeutsam diese plebiszitäre Komponente der schweizerischen Politik auch heute noch sein mag – man darf doch nicht übersehen, daß diese Art der unmittelbaren Demokratie auf Bundesebene nicht nur positiv zu bewerten ist. Werden doch nicht selten politische Maßnahmen, die vom Gesichtspunkt des Bundes oder gar einer internationalen Politik sinnvoll sind, durch rein partikulare und regionale Erwägungen („Kirchturmspolitik“) behindert oder gar torpediert. Nicht selten erfolgt auf diese Weise eine lästige Behinderung einer rationalen und modernen Verwaltung […]. Auch die Schweiz ist heute ein Parteienstaat; d. h. im politischen Prozeß sowohl der einzelnen Kantone als auch – und vor allem – des Bundes spielen die politischen Parteien in der Gegenwart eine entscheidende Rolle […]. Theo Stammen: Politische Ordnungsformen. München 1971, S. 147 ff. 3 H. 2 Material: Formen und Theorien der Demokratie 4 H. 2