Hungern für den Adonis

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Hungern für den Adonis-Körper
Beeinflusst von neuen Schönheitsidealen leiden immer mehr junge Männer unter Bulimie und
Magersucht
Von Tonio Postel
Wenn Frank* etwas isst, fühlt er sich "wie ein Mädchen". Er denke nur noch in Kalorien,
schreibt er im Online-Forum der Internet-Seite www.hungrig-online.de. "Das ist doch total
absurd, wenn man bedenkt, dass ich ein Mann bin!"
Hier, im anonymen Internet, versteckt hinter einem Pseudonym, packt Frank aus. Hier erzählt
er, was er wirklich denkt und fühlt; wie stark seine Essstörung seinen Alltag inzwischen im
Griff hat. Sein Beitrag lässt erahnen, wie anstrengend und auszehrend ein Leben sein muss,
wenn man sein Essen nicht mehr genießen, geschweige denn bei sich behalten kann. Wenn
jedes zugenommene Gramm auf der Waage Schweißausbrüche verursacht. Wenn jeder
Mahlzeit ein Brechanfall folgt und man sich nur noch von der Kloschüssel zum Waschbecken
schleppt.
Frank gehört zu den geschätzten zehn bis 15 Prozent jener Männer in Deutschland, die an
einer Essstörung leiden. Etwa 600 000 Menschen seien in Deutschland insgesamt betroffen,
sagt Sigrid Borse, Leiterin des Frankfurter Zentrums für Essstörungen. "Besonders
Schönheitsideal und Körperbewusstsein haben sich in den letzten Jahren verändert, vor allem
bei jungen Männern." Ihre "weibliche Seite" zu pflegen, ist seit Typen wie Pop-Fußballer
David Beckham für viele nicht länger tabu.
Früher wurden Brusthaare schon mal aufgeklebt, heute gehen Männer zur
Körperhaarentfernung. Der Umsatz an Kosmetika steigt laut Industrieverband Körperpflege
und Waschmittel (IKW) seit Jahren an, zuletzt auf 12,6 Milliarden Euro - nicht zuletzt, weil
heute wohl auch Männer auf diesem Markt stärker zugreifen.
Dass auch sie unter Essstörungen leiden könnten, aber sei noch nicht im Bewusstsein der
meisten Menschen angekommen, glaubt Borse. "Viele glauben, nur Frauen trifft es, deshalb
ist oft von einer weiblichen Krankheit die Rede", so die Expertin. Dabei ist Magersucht, also
das ständige Denken an einen möglichen Gewichtsverlust, oder Bulimie, das selbst
herbeigeführte Erbrechen nach sogenannten Fressattacken, längst auch Männersache.
Besonders häufig treten beide Erkrankungen bei jungen Männern zwischen 18 und 26 Jahren
auf.
Doch nur wenige rücken mit der Wahrheit raus, oft nicht mal beim Arzt. Und das wiederum
macht ihre Behandlung doppelt schwer. "Besonders Bulemie ist stark Scham besetzt", sagt
Sylvia Baeck vom Verein "Dick und Dünn" in Berlin, ein Beratungszentrum, das seit 25
Jahren Hilfe bei Essstörungen anbietet. Viele junge Männer litten heute unter einem "AdonisKomplex" beziehungsweise einer "Biggerexie", also der Sucht, sich möglichst viele
Muskelmasse anzutrainieren. Beide eint das zwanghafte Streben nach dem idealen Körper.
"Mit dünn sein wollen hat das wenig zu tun", sagt Baeck.
Muskelsüchtige Männer gingen ständig ins Fitnessstudio; sie schreckten selbst vor
gefährlichen Praktiken wie "Entwässern" oder der Einnahme von Steroiden oder Anabolika
nicht zurück. Andere trieben krankhaft Sport und entwickelten einen starken Drang, ihr
Gewicht zu reduzieren, um mit anderen mithalten zu können. Das aber hat auch soziale
Folgen: Die Betroffenen ziehen sich zurück und vereinsamen, erläutert Sigrid Borse.
Auch Profisportler, vor allem Turner, Jockeys, Marathonläufer oder Skispringer, seien
naturgemäß von der sogenannten "Sport-Bulemie" betroffen, sagt Sylvia Baeck. Denn: Wer
weit fliegen will, muss leicht sein wie eine Feder. Bei Sven Hannawald etwa vermuteten nicht
wenige Beobachter eine Essstörung: Der einstige Weltklassespringer wog bei 1,83 Metern
Körpergröße 54 Kilo. Er selbst wies jeden Verdacht von sich.
Aber auch Popstars und Modelle sind gefährdet. Nichts wäre für Menschen, die vom schönen
Schein leben, schließlich schlimmer, als zu verlieren, was sie in den Augen ihrer Fans so
begehrenswert macht: ihre schlanke Erscheinung. Wenn durchtrainierte Männer auf hunderten
Hochglanzseiten an jedem Kiosk ihre gestählten Körper präsentieren, bekommen Jungs mit
Waschbärbäuchen schon mal größere Komplexe.
"Seit es Lifestyle-Magazine gibt, die unerreichbare körperliche Ideale für Männer abbilden,
lässt sich ein Anstieg der Essstörungen feststellen", heißt es auf der Seite von
www.magersucht.de.
Relativ häufig betroffen sind offenbar homosexuelle Männer. "Vielleicht, weil sie sich mehr
mit ihrer Körperlichkeit beschäftigen als andere", mutmaßt Baeck. Auch Dirk* leidet unter
einer Essstörung. Der 17-Jährige habe innerhalb von eineinhalb Jahren die Hälfte seines
Gewichtes verloren, schreibt er im Online-Forum. Bei ihm ging der rasante Gewichtsverlust
mit einer unerfüllten Liebe einher - zu einem Klassenkameraden. Er schwieg lange und litt.
Seitdem er diesem dann doch seine Gefühle gestand, plage ihn, neben körperlichen Makeln
wie angeblichen "Schwangerschaftsstreifen" und einem ständigen Schwächegefühl auch ein
gebrochenes Selbstbewusstsein. Seinen Körper nennt Dirk immer wieder "zerstört", auch er
erbreche sich täglich. Kein Wunder, dass Dirk bei den "kleinsten Anstrengungen",
beispielsweise im Sportunterricht, regelrecht umkippte, ihm wegen Kreislaufproblemen
immer wieder schwarz vor Augen wurde. Bei einem Fußballspiel erlitt er einen
Schwächeanfall - und musste sich vor den Augen seines Schwarms übergeben. Ein weiterer
Tiefpunkt. "Dafür schäme ich mich noch heute", schreibt er.
Krankhaftem Essen geht oft das Einhalten einer strengen Diät voraus. Einer Studie unter
Studenten zufolge waren mindestens 60 Prozent der befragten Frauen einmal auf Diät. Bei
den Männern waren es mindestens zehn Prozent, heißt es auf www.magersucht-online.de.
Generell seien Männer im Vergleich zu Frauen nach übermäßigem Essen dabei aber weniger
selbsthassend und nähmen auch weniger Abführmittel und Diätpillen ein als Frauen. Beide
Geschlechter aber kennen offenbar gleichermaßen die grausame Nebenerscheinung der
Selbstverletzungen, die häufig mit der Bulimie einhergeht, bestätigt Borse. So versuchen sie,
Gefühle zu verdrängen.
Auch andere Nutzer wie Philip* erzählen im Internet-Forum von ihrer jahrelangen Tortur.
Philip leidet inzwischen seit sechs Jahren unter Bulimie, und selbst ein zwischenzeitliches
Hoch, ein sechswöchiger Klinikaufenthalt, brachte keine dauerhafte Besserung.
"Jetzt bin ich wieder voll in der Bulimie", schreibt er. "Ich erbreche nach jedem Essen, außer
nach dem Frühstück." Mehrmals am Tag also, selbst nach kleineren Mahlzeiten. "Ich halte es
einfach nicht mehr aus!" Depressionen und Stimmungsschwankungen verschlimmerten seine
Situation noch zusätzlich.
Eine Therapie, wie Philip sie braucht, ist bei Männern wie Frauen gleich: Neben einer
Psychotherapie sei stets eine medizinische Begleitung erforderlich, betont Sylvia Baeck. Auch
Männergruppen sind an einigen Kliniken längst üblich und erfolgreich. In der Regel kommen
ambulante und stationäre Therapie gemeinsam zum Einsatz, mit Unterstützung von Arzt,
Ernährungsberater und Psychotherapeut. So soll die physische Gesundheit wiederhergestellt
und die gestörte Selbstwahrnehmung überwunden werden.
Frank überlegte lange, ob er in seinem Zustand überhaupt den Alltag bewältigen kann. Er
hatte sich an einer Uni eingeschrieben. "Ich zweifle von Tag zu Tag mehr, ob ich überhaupt
noch in der Lage bin, zu lernen", schreibt er im Forum. Professionelle Hilfe lehnte er lange
ab, denn selbst ein Psychologe habe ihm in der Vergangenheit nicht wirklich bei seiner
Erkrankung helfen können.
Nach dringendem Rat der Diskussionsteilnehmer im Netz lenkt Frank ein: Er wolle bald einen
neuen Anlauf aus dem Teufelskreis wagen. Diesmal will er es wirklich schaffen.
* Namen von der Redaktion geändert
ZWISCHEN VERZICHT UND VÖLLEREI
Magersucht (Anorexia nervosa)
bedeutet im Wortsinn Appetitlosigkeit, wobei Magersüchtige meist Hunger verspüren, diesen aber verleugnen.
Die psychosomatische Krankheit beruht auf psychisch-körperlichen Wechselwirkungen und zeichnet sich durch
extreme Gewichtsabnahme aus.
Die Angst, dick zu werden, ist immer präsent. Die Nahrungsaufnahme wird verweigert, Betroffene ziehen sich
oft zurück und essen sehr langsam. Haben sie, beispielsweise durch eine Diät, ihr Zielgewicht erreicht, hungern
sie weiter und korrigieren ihr Ziel immer weiter nach unten - selbst wenn bereits ein gesundheitsschädigender
Zustand
erreicht ist. Handlungsbedarf besteht, wenn Betroffene häufig apathisch
reagieren, mit leiser Stimme sprechen und bei kleinsten Konflikten zu weinen anfangen.
Bulimie (Bulimia nervosa) zeichnet sich durch wiederkehrende Fressattacken aus. Indem sich die Betroffenen
absichtlich übergeben, versuchen sie ihre vermeintliche Gewichtszunahme wieder"auszugleichen". Sie nehmen
nur selten eine geregelte Mahlzeit zu sich. Betroffene beschäftigen sich nur noch mit ihrem Essen, Kalorien oder
ihrer Figur. Zudem kaufen sie oft Unmengen an Lebensmitteln. Aus Scham verschweigen sie das Problem meist
ihren Freunden und Familien. Ein Teufelskreis beginnt.
Binge eating: Die Bezeichnung leitet sich aus dem Englischen ab und steht für (Fress-)Gelage oder Schlingen.
Es handelt sich dabei um die am wenigsten erforschte Essstörung. Sie ist mit mehrmals wöchentlich
wiederkehrenden unkontrollierten Fressattacken der Erkrankten verbunden, die stundenlang dauern können.
Betroffene empfinden kein Hunger- oder Sättigungsgefühl und
behalten das Gegessene im Gegensatz zu an Bulimie Erkrankten auch bei sich. Nach dem großen Fressen
kommen Schuldgefühle. Die Betroffenen sind häufig übergewichtig und halten Diäten, die sie meist wieder
abbrechen. tapHilfe und Informationen:
www.essfrust.de
Zugehörige Unterlagen
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