Neues Testament aktuell - Narr Francke Attempto Verlag

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Zeitschrift für Neues Testament_34
typoscript [AK] – 07.10.2014 – Seite 2 – 2. Korrektur
Neues Testament
aktuell
Christian Strecker
Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung?
Rettung oder Glück?
Gedanken zur frühchristlichen Lebenskunst im
Corpus Paulinum
Aus dunkler, archaischer Zeit ragt er in die unsrige hinein. Entstellt und seiner Extremitäten beraubt, ist er doch
voller Anmut. Brust und Bauch enthüllen gestählte Muskelkraft. Bar seines Hauptes bietet er sich uns dar – und
erscheint gerade so voller Charakter: ein glühender Torso,
gleich einem strahlenden Leuchter, der in und kraft seiner
Fragmentarität zu berücken vermag, die Betrachtenden
wie ein Stern anleuchtet, ja, das Verhältnis von Betrachtenden und Betrachtetem verkehrend, sie durchleuchtet
und ihnen von jeder Stelle aus wortlos, aber doch unüberhörbar eine Botschaft vermittelt: »Du mußt dein Leben
ändern.« So beschreibt Rainer Maria Rilke in hohem
Ton in einem seiner berühmten Gedichte einen Torso
des Apollon, der griechischen Gottheit des Lichts, der
Heilung, der ekstatischen Mantik und der Künste, Sinnbild der Vernunft und Stärke. Die Verse lauten:
Die Anziehungskraft des berühmten Gedichtes erwächst nicht zuletzt aus dem raunenden Schlusssatz:
»Du mußt dein Leben ändern.« Ausgelöst durch die
immense Vitalität, die das Kunstwerk noch als Torso
auf Rilke ausstrahlte, traf dieser leidenschaftliche Imperativ den mit seiner eigenen Kunst ringenden Dichter
offenbar wie eine über die Zeiten hinweg in den Stein
eingelassene Botschaft in Mark und Bein. Ins dichterische Wort gefügt, rüttelt die Botschaft die Lesenden wie
eine aus grauer Vorzeit tönende Weisung Apollons noch
heute auf. Doch an dem berühmten Apollontempel in
Delphi, in welchem Pythia, ekstatisch ergriffen von
Apollon, den ratsuchenden Pilgern weissagende Rätselsprüche kundtat, an diesem Tempel stand bekanntlich nicht: »Du mußt dein Leben ändern«, sondern:
GNŌTHI S[E]AUTON.
»Erkenne Dich selbst!« Die berühmte Aufforde»Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
rung zur Selbsterkenntnis hatte wohl ursprünglich
darin die Augenäpfel reiften. Aber
folgenden Sinn: Mensch, erkenne deine Hinfälligkeit,
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
deine Sterblichkeit! Erkenne, dass du kein Gott bist!
Begreife im Angesicht der Vollkommenheit der Götter
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
deine menschliche Begrenztheit!1 Die Einsicht in die
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
Begrenztheit des Menschen prägte dann auch die sokrader Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
tisch-platonische Philosophie. Allerdings bestimmte die
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
klassische griechische Philosophie die Vernunft bzw. das
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
Vernunftvermögen (gr.: nous) als göttliches Prinzip im
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
Menschen und ließ die Erkenntnis des Selbst im Wesentund flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
lichen in der Erkenntnis dieses Göttlichen im Menschen
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
gründen (Platon, Alkibiades I, 132b–133c). Die freie
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
und kraftvolle Entfaltung des göttlichen Elements im
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.«
Menschen, d. h. die Herrschaft der Vernunft, vermochte
Das Gedicht erschien unter dem Titel »Archaischer Tor- in dieser Philosophie dann auch ein glückliches Leben,
so Apollos« 1908 in dem Band »Der neuen Gedichte an- ein Leben in Wohlergehen, zu verbürgen. Schließlich
derer Teil«. Die Verszeilen gehen zurück auf Rilkes Zeit verknüpfte die hellenistische und kaiserzeitliche Philosophie die Selbsterkenntnis mit
in Paris, als er den prominenten
der Sorge um das eigene Selbst
französischen Bildhauer Auguste
»›Du mußt dein Leben ändern!‹ Die
Rodin aufsuchte, sich intensiv
(gr.: epimeleia heautou; lat: cura
Rilkesche Losung war gewissermaßen
mit dessen Plastiken beschäfsui). Das wahre Selbst und ein
unausgesprochen das Fundament, auf
glückliches Leben waren für die
tigte und für acht Monate zwidem die antike Philosophie der Selbst­ antiken Philosophen aber nur
schen 1905 und 1906 sogar als
sorge aufbaute.«
sein Sekretär fungierte. So ist es
um den Preis einer fundamenmutmaßlich jener Apollon-Torso
talen Änderung des Menschen,
aus dem römischen Theater von Milet, der im Pariser einer grundlegenden Transformation seiner Person zu
Louvre zu sehen ist, der Rilke zu den Versen inspirierte. erlangen. Und hier schließt sich der Kreis. »Du mußt
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Christian Strecker
Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Rettung oder Glück?
Christian Strecker
Prof. Dr. Christian Strecker studierte Evangelische
Theologie in Neuendettelsau, Hamburg, Heidelberg
und Tübingen. 1996 Promotion. 2003 Habilitation.
Vertretungsprofessuren in Heidelberg (2005–2006),
München (2006/07), Mainz (2007) und Neuendettelsau (2004; 2009). Seit 2010 Professor für Neues
Testament an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Forschungsschwerpunkte: Paulusforschung,
Jesusforschung, Kulturwissenschaftliche Exegese des
Neuen Testaments, Ritual- und Performanzforschung,
Philosophische Perspektiven.
dein Leben ändern!« Die Rilkesche Losung war gewissermaßen unausgesprochen das Fundament, auf dem
die antike Philosophie der Selbstsorge aufbaute.
»Du mußt dein Leben ändern.« Dieser Gedichtzeile
Rilkes bediente sich unlängst auch Peter Sloterdijk als
Titel für sein vielbeachtetes Buch über den Menschen
als übendes Wesen.2 In seinem umfänglichen philosophischen Essay bestimmt Sloterdijk den Menschen im
Näheren als sich vermittels asketischer Praktiken selbst
erzeugendes und v. a. auch über sich selbst hinauswachsendes Tier. Er ruft darin den Einzelnen und Kollektive
dazu auf, gegen das grassierende Trägheitsvirus der Moderne anzukämpfen und sich an den Trainingsplänen
und Höchstleistungen zahlreicher Virtuosen zu orientieren, seien es über sich hinauswachsende Sportler,
Künstler, Krieger, Akrobaten oder Schreiber, um ihnen
nachfolgend die Selbstbildung, ja Selbststeigerung des
Humanen voranzutreiben. Der Mensch stünde in einer
Vertikalspannung. Er sei als übendes Wesen auf Höheres, auf die Vervollkommnung seiner selbst angelegt.
Diesen Grundgedanken entnimmt Sloterdijk dann auch
dem zitierten Rilkeschen Gedicht: Der Torso Apollons
repräsentiere ungeachtet seiner materiellen Verstümmelung Vollkommenheit. Das Gedicht richte diese Vollkommenheit als Appell an uns.3 Diese Vollkommenheit ist bei Sloterdijk indes nicht mehr am Göttlichen
orientiert.
Sloterdijk greift mit seinem Buch einen allenthalben
in unserer Gesellschaft beobachtbaren Trend auf, den
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Trend, eine Kunst des richtigen Lebens zu etablieren.
In aller Regel sind die Sachwalter und Sachwalterinnen
der Lebenskunst freilich weit von der Gelehrsamkeit
und provokativen Schärfe der Argumentation Sloterdijks entfernt. Zumal das Internet bietet eine kaum mehr
überschaubare Fülle oft unterkomplexer und geistesarmer Ratschläge zur Lebenskunst. Nicht selten wird
sie als bloße Kunst des Weglassens oder als Kunst des
Loslassens angepriesen. Ein eigens mit dem Label »Lebenskunst.de« versehener Internetshop bietet konsum­
orientiert gar eine ganze Palette entsprechender Literatur und Konsumgüter an. Und natürlich sind Statistiken
unvermeidlich, etwa, wenn uns vorgerechnet wird, in
welchem Lebensalter es am besten mit der Lebenskunst
klappen könnte.4 Seit geraumer Zeit sickert das Thema »Lebenskunst« aber auch massiv in den christlichen
Büchermarkt ein, sei es, dass der allseits bekannte Benediktinerpater Anselm Grün sich dazu äußert,5 sei es,
dass akademische Theologen wie Peter Bubmann und
Bernhard Sill ein Konzept christlicher Lebenskunst zu
entwickeln suchen.6 Auf ihre Weise greifen auch diese
Autoren das Paradigma des fortwährenden, gezielten
Übens auf, um nun eben das Einüben einer spezifisch
christlichen Lebenskunst zu propagieren. Nicht unerwähnt darf schließlich bleiben, dass sich neben Slo­terdijk auch in der Philosophie zahlreiche Autorinnen
und Autoren des Themas annehmen und auf unterschiedlichem Niveau diverse philosophische Hilfen zur
Praxis einer philosophischen Lebenskunst anbieten.
Einer der prominentesten und profiliertesten Philosophen auf diesem Feld ist Wilhelm Schmid. Er beschreibt
das Grundkonzept seiner Philosophie der Lebenskunst
wie folgt: »Die reflektierte Lebenskunst setzt an bei der
Sorge des Selbst um sich, die zunächst ängstlicher Natur sein kann, unter philosophischer Anleitung jedoch
zu einer klugen, vorausschauenden Sorge wird, die das
Selbst nicht nur auf sich, sondern ebenso auf Andere
und die Gesellschaft bezieht.«7 Deutlich anspruchsloser
fallen dagegen etwa die Beiträge der philosophischen
Beraterin Rebekka Reinhard aus.8
Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, ob
und inwieweit sich in der ersten frühchristlichen Theologie, die wir kennen, der Theologie des Apostels Paulus, eventuell ebenfalls der Entwurf einer Lebenskunst
abzeichnet. Mit anderen Worten: Lässt sich im Corpus
Paulinum das Konzept einer irgendwie gearteten Sorge
um das Selbst, das Modell einer auf gelingendes Leben
hin angelegten Transformation des Menschen (»Du
mußt dein Leben ändern«), das Praxisprojekt einer regelrechten Einübung ins neue Sein entdecken? Präsentiert uns Paulus das Leben »in Christus« gewissermaßen
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als spezifisch messianische Lebensform? Und wenn ja,
wie sieht diese aus?
Angesichts der Komplexität der paulinischen Theologie auf der einen und der Vielfalt antiker Philosophien
der Lebenskunst auf der anderen Seite kann dieser Fragenkomplex hier nur bruchstückhaft erörtert werden.
Dies soll in drei Schritten geschehen: In einem ersten
Schritt soll in aller Kürze die »Wiederentdeckung« der
antiken Philosophie als Lebenskunst vor Augen geführt
werden, um auf dieser Basis dann einige wesentliche
Konturen der antiken philosophischen Lebenskunst
nachzuzeichnen. In einem zweiten Schritt soll erörtert werden, ob und inwieweit es überhaupt sinnvoll
ist, die Aussagen des Apostels Paulus vor dem Hintergrund antiker philosophischer Diskurse auszuleuchten.
Schließlich soll in einem dritten und letzten Schritt die
Schlüsselfrage beantwortet werden, ob und inwiefern
sich in den Schriften des Apostels eine frühchristliche
Lebenskunst abzeichnet.
1.
Die Wiederentdeckung der antiken
Philosophie der Lebenskunst
Maßgeblichen Anteil an der gegenwärtigen Wiederentdeckung der antiken Philosophie als Philosophie der
Lebenskunst hatte Michel Foucault. Der französische
Philosoph war in seinen Studien zur Analytik der Macht
an eine Grenze gestoßen. Die von ihm in den Büchern
»Überwachen und Strafen« und »Der Wille zum Wissen« herausgearbeitete Einkerkerung des menschlichen
Daseins in ein umfassendes Netz der Machtbeziehungen, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien,
zeichnete ein allzu düsteres Bild.9 Foucault suchte nach
Auswegen, nach Räumen der Freiheit, nach Existenzformen der Selbstregierung. Und er meinte diese in jenen
Ratschlägen zur praktischen Lebensgestaltung angesprochen zu finden, die uns in zahlreichen Schriften
antiker Philosophen – angefangen von den platonischen
Dialogen bis hin zur späten Stoa – überliefert sind. Er
erblickte in diesen Ratschlägen eine Form der Ethik,
die allein Sache der persönlichen Entscheidung war,
wenigen Leuten vorbehalten blieb und von daher kein
einzwängendes Verhaltensmuster für jedermann sein
wollte, kurzum: eine nicht normative und »nicht normalisierende« Ethik, eine Ethik, die folglich durch die
Maschen des allerorten ausgebreiteten, eng geknüpften
Netzes der Machtbeziehungen fiel. Foucault publizierte
diese These umfassend begründet in seinen beiden letzten, kurz vor seinem Tod 1984 erschienenen Büchern
»L’usage des plaisirs« (»Der Gebrauch der Lüste«) und
4
»Le souci de soi« (»Die Sorge um sich«).10 Vor deren
Veröffentlichung stellte er in einem Interview mit dem
Philosophen Hubert Dreyfus und dem Ethnologen Paul
Rabinow die wichtigsten Einsichten der beiden Bücher
vor. Darin findet sich folgender Satz:
»Mir fällt auf, daß Kunst in unserer Gesellschaft zu
etwas geworden ist, das nur Gegenstände, nicht aber
Individuen oder das Leben betrifft, daß Kunst etwas
Gesondertes ist, das von Experten, nämlich Künstlern
gemacht wird. Aber könnte nicht das Leben eines jeden
ein Kunstwerk werden? Warum sollten die Lampe oder
das Haus ein Kunstgegenstand sein, nicht aber unser
Leben? […] Aus der Idee, daß uns das Selbst nicht
gegeben ist, kann meines Erachtens nur eine praktische
Konsequenz gezogen werden: wir müßen uns selbst als
ein Kunstwerk schaffen.«11
Diese aus seiner Beschäftigung mit der antiken griechisch-römischen Philosophie heraus gewonnene Vorstellung, man könne, ja man solle in Freiheit sein Leben
zu einem Kunstwerk erheben, prägte Foucaults Denken
und Leben in seinen letzten Jahren maßgeblich. Wie
sein eindrücklich souveräner Umgang mit dem eigenen
Tod im Jahr 1984 dokumentiert – viele seiner Freunde
berichteten ehrfurchtsvoll davon –, war er bemüht, diese
Vorstellung in seiner eigenen Existenz umzusetzen. Dar­
über hinaus suchte er die besagte Vorstellung in seine
gesamte Philosophie einzubinden, indem er vier grundlegende Praxisformen, vier basale menschliche Kunstfertigkeiten bzw. Technologien unterschied:
»1. Technologien der Produktion, die es […] ermöglichen, Dinge zu produzieren, zu verändern und auf
sonstige Weise zu manipulieren; 2. Technologien von
Zeichensystemen, die es […] gestatten, mit Zeichen,
Bedeutungen, Symbolen oder Sinn umzugehen; 3.
Technologien der Macht, die das Verhalten von Individuen prägen und sie bestimmten Zwecken oder einer
Herrschaft unterwerfen, die das Subjekt zum Objekt
machen; 4. Technologien des Selbst, die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe
anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper
oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten
und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel,
sich so zu verändern, daß er einen gewissen Zustand
des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt.«12
Denk- und Handlungshorizont der letztgenannten
Kunstlehren des Selbst war für Foucault, wie die Zielbestimmungen »Glück, Reinheit, Unsterblichkeit« implizit anzeigen, neben der Philosophie zumal auch die Religion. Er erkannte und anerkannte zusehends die hohe
Relevanz der Spiritualität als Raum der Selbstübung,
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Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Rettung oder Glück?
als Horizont der Transformation des Selbst durch die
Beziehung zur Wahrheit.
Zunächst unabhängig von und dann in Verbundenheit mit Foucault arbeitete auch der französische Philosoph und Historiker Pierre Hadot die große Bedeutung
der Lebenskunst und der Technologien des Selbst in der
antiken Philosophie heraus. Einschlägig hierfür ist sein
Buch »Philosophie als Lebensform«13. Darin führt er
eindrücklich vor Augen, dass es der antiken Philosophie
im Kern nicht um abstrakte Theorien ging, nicht um
theoretische Diskurse, sondern um die Formung der
Seele, um eine neue Art zu leben bzw. um die Kunst,
vermittels bestimmter Übungen wie Meditation, Kontemplation der Natur Wohlergehen (gr.: eudaimonia) zu
erlangen. Nach Hadot sind die antiken philosophischen
Werke folglich
»unter dem Blickwinkel der Vertrautheit mit den geistigen Übungen zu betrachten. Die Philosophie erscheint
sodann in ihrer ursprünglichen Gestalt, nicht mehr
als eine theoretische Konstruktion, sondern als eine
Methode der Menschenformung, die auf eine neue
Lebensweise und ein neues Weltverständnis abzielt,
als eine Bemühung, den Menschen zu verändern.«14
Das Christentum habe sich die philosophischen »geistigen« Übungen in der Alten Kirche einverleibt, sie in
»geistliche« Übungen verwandelt, was nach Hadot zur
Folge hatte, dass der philosophische Diskurs mehr und
mehr zu einem rein theoretischen wurde.
Unabhängig von der Frage, ob man Hadots Meistererzählung über die Entwicklung der geistigen Übungen
im Detail zustimmen mag oder nicht,15 besteht kein
Zweifel, dass die antike Philosophie auf die Formung
des Lebens im Sinne einer Kunstfertigkeit, einer technē
zielte.16 Der direkte Äquivalenzbegriff einer solchen Lebenskunst (gr.: technē tou biou) taucht zwar in der antiken Literatur nicht auf, wohl aber der einer technē peri
ton bion, d. h. einer Kunstfertigkeit bezüglich des Lebens, bezüglich der Seele. Diese Wendung begegnet im
Thesaurus Linguae Graecae, z. T. in Variation, insgesamt
41-mal, und zwar überwiegend in der Stoakritik des
Sextus Empiricus (2. Jh. n. Chr.). Dieser Umstand legt
eine besondere Betonung der »Lebenskunst« in der Stoa
nahe.17 Die mit dieser Kunst (gr.: technē) verbundene
Dimension der Übung (gr.: askēsis) wird aber auch sonst
in der antiken Philosophie thematisiert, darüber hinaus
ebenso bei dem jüdischen Religionsphilosophen Philon
von Alexandrien. In Philons umfangreichen Werk finden
sich zwei Askesekataloge: In Quis rerum divinarum heres
253 nennt er folgende Praktiken: Untersuchung (gr.:
zētēsis), gründliche Prüfung (gr.: skepsis), Lektüre (gr.:
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anagnōsis), Anhören (gr.: akroasis), Wachsamkeit (gr.:
prosochē), Selbstbeherrschung (gr,: enkrateia), Gleichgültigkeit gegen gleichgültige Dinge (gr.: adiaphorēsis
tōn adiaphorōn). In Legum Allegoriae 3,18 werden genannt: Lektüren (gr.: anagnōseis), Meditationsübungen
(gr.: meletai), Therapie der Begierden (gr.: therapeiai),
Erinnerung an Gutes (gr.: tōn kalōn mnēmai), Selbstbeherrschung (gr.: enkrateia), und Pflichterfüllung (gr.:
tōn kathēkontōn energeia). All die genannten Übungen
begegnen mit diversen Variationen und Spezifikationen
auch in der stoischen und epikureischen Philosophie.
Einige wenige Anmerkungen zu den beiden Katalogen
müssen hier genügen:18
Von großer Bedeutung war die Wachsamkeit (gr.:
prosochē). Gemeint ist die Konzentration auf den Augenblick, auf das Jetzt. Diese Konzentration sollte frei
machen vom Kummer und den Leidenschaften, sind
diese doch im Kern auf das ausgerichtet, was nicht mehr
ist (Vergangenheit) oder was noch nicht ist (Zukunft).
Wichtig waren zudem diverse Meditationsübungen (gr.:
meletai). Dazu zählte etwa die praemeditatio malorum,
eine Übung, bei der man sich absehbar bevorstehende
bzw. unvermeidbare Schwierigkeiten und Übel vorstellte, um dann bei ihrem aktuellen Eintreten möglichst
souverän mit ihnen umgehen zu können. Unter den
meditativen Praktiken nahm ferner die Besinnung auf
den Tod eine Schlüsselrolle ein. Ihr Ziel bestand darin,
sich letztlich von der eigenen Individualität und den darin eingelassenen Leidenschaften gänzlich zu befreien.
Berühmt ist außerdem die sog. Vierfachmedizin (gr.:
tetrapharmakos) des Epikureismus, d. h. die stete Vergegenwärtigung folgender vier Grundregeln: 1) Gott
ist nicht zu fürchten. 2) Dem Tod soll man nicht mit
argwöhnischer Angst gegenüberstehen. 3) Das Gute ist
leicht zu beschaffen. 4) Das Schreckliche ist leicht zu ertragen.19 Hinzu kamen die intellektuellen Übungen im
engeren Sinn. In den Katalogen Philons begegnen Leseübungen bzw. die Lektüre (gr.: anagnōseis; anagnōsis)
und das Anhören (gr.: akroasis). Damit dürfte auf das
philosophische Eigenstudium und das Lernen von weisen Menschen angespielt sein. Bei den weiteren Praktiken der »Untersuchung« (gr.: zētēsis) und der »gründlichen Prüfung« (gr.: skepsis) hatte Philon wohl die
Verarbeitung und Anwendung des Erlernten im Blick,
z. B. die Fähigkeit, die Dinge aus der Sicht der Physik
zu beurteilen und zu definieren, um sie so zu relativieren und an ihren rechten Platz zu stellen. Schließlich
sind praktische Übungen zu nennen, unter denen v. a.
die Selbstbeherrschung herausragt, die gezielte Arbeit
an der Kontrolle der Affekte, also die Einübung in
die Beherrschung des Zorns, die Bewältigung falscher
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Scham, die Erfüllung sozialer Pflichten und dergleichen Verhältnis zu setzen. Ging es Paulus nicht vielmehr um
mehr.
»Religion« statt um »Philosophie«?
Wie nun die vorstehenden Ausführungen zur AsWie dieser verkürzte Durchgang durch das Universum der Übungen zeigt, kreisten die »asketischen« Prak- ketik im Werk des jüdischen Autors Philon von Aletiken im Kern um ein besonderes Ziel, nämlich die Aus- xandrien bereits deutlich gemacht haben, wäre es vermerzung der Leidenschaften und Begierden im Dienst fehlt, zwischen »Religion« und »Philosophie« eine allzu
der Freiheit des Selbst. Es ging der antiken Philosophie strikte Trennung vorzunehmen, zumal auch andere
wesentlich um Selbstbeherrschung. Nur sie schien ein jüdische »religiöse« Schriften auf ihre Weise eine enge
Leben in Wohlergehen zu garantieren. Die Lebenskunst Beziehung zur Philosophie offenbaren, so etwa das 4.
bestand mithin darin, die Leidenschaften und Begier- Buch der Makkabäer.22 Zudem will bedacht sein, dass
den als Erkrankung der Seele zu therapieren. Martha der Begriff »Religion«, so wie er heute gebraucht wird,
Nussbaum gab ihrer 1994 erschienenen Darstellung der in Diskursen der Neuzeit wurzelt und von daher ohhellenistischen Ethik daher völlig zutreffend den Titel: nehin nicht unbesehen in die Antike zurückprojiziert
»The Therapy of Desire«.20 Die Deutung der Philoso- werden sollte.23 Diese Problematik hat Wolfgang Stegephie als Therapie, als Heilung der Begierden, bringt mann in der Zeitschrift für Neues Testament bereits vor
Cicero in seinen Gesprächen in Tusculum besonders einiger Zeit kundig erörtert.24 Doch selbst wenn man
klar zum Ausdruck. Er betont darin zunächst: »[D]ie den Religionsbegriff ungebrochen heranzieht, kommt
Krankheiten der Seele sind gefährlicher und häufiger als man nicht an der Einsicht vorbei, dass sich das frühe
die des Körpers« (3,5). Welches
und namentlich das paulinische
aber sind die Erkrankungen der
Christentum erheblich von der
»Es ging der antiken Philosophie
Seele? Es sind die Leidenschaften
gängigen »religiösen« Praxis der
wesentlich um Selbstbeherrschung.
und der Kummer, v. a. aber die
damaligen römisch-griechischen
Nur sie schien ein Leben in Wohl­
Leidenschaften. Cicero schreibt:
Welt unterschied, insofern diese
ergehen zu garantieren.«
weitgehend kultisch geprägt war.
»Alle Leidenschaften nennen die
Philosophen Krankheiten« (3,9).
In ihrer klassischen Studie über
Was aber ist das Krankhafte an den Leidenschaften? die »Religions of Rome« stellen Mary Beard, John North
Cicero gibt zu verstehen, es sei der durch die Leiden- und Simon Price nachdrücklich heraus, dass sich der
schaften bedingte Kontrollverlust; v. a. in ihm mani- christliche Glaube zusammen mit einigen anderen »refestiere sich die Erkrankung der Seele. Dafür würde ligiösen« Bewegungen aus dem Osten signifikant von
es, so notiert er, keinen besseren Ausdruck geben »als der klassischen römisch-griechischen Religion abhob.
den, der in der lateinischen Sprache üblich ist, wenn Neben der auffälligen örtlichen Ungebundenheit des
wir sagen, jene seien nicht mehr in ihrer Gewalt [lat.: christlichen Glaubens zählen sie u. a. den intensiven
exisse ex postestate], die durch Begierde oder Zorn außer Umgang mit heiligen Texten und die Relevanz des Glausich geraten« (3,11). Wie aber wird man von dieser bens für die Alltagsexistenz wie auch für das Leben nach
Krankheit der Leidenschaften befreit? Durch die Philo- dem Tod zu den wichtigsten Differenzen.25 Vor diesem
sophie! Cicero schreibt: »Es gibt nämlich ein Heilmittel Hintergrund spricht einiges dafür, dass die paulinische
für die Seele, die Philosophie. Damit sie hilft, muss Theologie tatsächlich eher von der Philosophie her zu
man nicht wie bei den Krankheiten des Körpers aus- verstehen ist als von der kultisch bestimmten griechischwärts suchen, sondern mit allen Mitteln und Kräften römischen Religiosität.
Wenig Sinn macht es gleichwohl, die paulinische
darauf hinarbeiten, dass wir uns selbst heilen können«
Vorstellungswelt direkt mit einer ganz bestimmten phi(3,6).21
losophischen Schule zu verbinden.26 Dies wurde in der
exegetischen Forschung zwar immer wieder versucht, sei
2. Paulus und die Philosophen
es, dass man den Apostel und seine Theologie mit den
Epikureern,27 mit den Kynikern,28 mit den Stoikern29
Wie ist es nun vor diesem Hintergrund um die Briefe oder auch der sog. zweiten Sophistik30 korrelierte, all
des Apostels Paulus bestellt? Fügen sie sich auf die eine diese Versuche blieben jedoch unbefriedigend und stieoder andere Weise dem besagten Diskurs über die Le- ßen auf berechtigte Kritik. Sinnvoller ist es, die Paulusbenskunst ein? Um darauf antworten zu können, gilt briefe ganz allgemein im philosophischen Diskurs der
es vorab zu klären, ob es überhaupt sinnvoll und an- Zeit zu verorten. Dies liegt v. a. deshalb nahe, weil sich
gemessen ist, die Briefe des Paulus zur Philosophie ins einige zentrale Charakteristika des Schreibens und Wir6
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kens des Apostels in den christusgläubigen Gemeinden
mit dem allgemeinen Auftreten antiker Philosophen
in ihren philosophischen Schulen überschneiden. So
gilt: »Teaching or preaching, moral exhortation, and
the exegesis of canonical texts are activities associated
in the ancient world with philosophy, not religion.«31
Aber auch die Belehrung bzw. meditatio in Briefform,
Gemeinschaftsmähler, das Ringen um das eigene Selbstverständnis gegenüber der Außenwelt u. a. m. spielten
in den philosophischen Schulen wie auch in den paulinischen Gemeinden eine Rolle.32 Wichtiger aber noch
ist, dass sich das philosophische Thema der Menschenformung, d. h. der durch Seelenführung (Psychagogik)
getragenen Bildung eines neuen Selbst in gewisser Weise
auch in den Paulusbriefen findet,33 thematisieren doch
auch die Apostelbriefe eine Transformation des Selbst,
dies freilich auf der Basis einer in Christus angestoßenen
Transformation der Welt. Darauf gilt es nun einzugehen.34
ne greifbar, nämlich in der das herkömmliche Miteinander transformierenden Relativierung der ethnischen,
sozialen und geschlechtlichen Differenzen in der Gemeinschaft der Getauften.
Vor diesem Hintergrund gilt es nun nochmals an
Pierre Hadots Verständnis der antiken Philosophie zu
erinnern: Diese war Hadot zufolge in ihrer ursprünglichen Gestalt »eine Methode der Menschenformung,
die auf eine neue Lebensweise und ein neues Weltverständnis abzielt, […] eine Bemühung, den Menschen
zu verändern«36. Die in dem Zitat angesprochene umfassende Transformation des Menschen zu einem neuen
Leben und einem neuen Weltzugang, die in der antiken
Philosophie der Lebenskunst mit so viel Anstrengung,
Aufwand und Inbrunst angestrebt wurde, betrachtete
Paulus offenbar als rundweg bereits vollbracht! Die Erfüllung dieser umfassenden Transformation gründete in
seiner Theologie allerdings nicht in der menschlichen
Autonomie, sondern im göttlichen Handeln, genauerhin im Christusereignis und seinen Folgen. Die vielen
verzweigten Gedanken und Argumente, die der Apostel
3. Frühchristliche »Lebenskunst«
bezüglich des den Menschen und die Welt transformiebei Paulus?
renden Christusereignisses vorträgt, können hier nicht
diskutiert werden. Es muss genügen, einen Aspekt herauszugreifen, nämlich den der Bewältigung der Leiden3.1 »Du mußt dein Leben ändern« oder »Du bist
schaften und Begierden.37
ein/e Andere/r (neue Schöpfung)«?
In Gal 5,24 heißt es: »Die aber Christus Jesus angeDie paulinische Theologie lässt sich im Kern als Trans- hören, haben das Fleisch samt den Leidenschaften und
formationstheologie verstehen. Der Gedanke der Verän- Begierden gekreuzigt.« Und bereits zuvor in Gal 5,16
derung, des Wandels, der Erneuist zu lesen: »Ich sage aber: Wandelt im Geist, und ihr werdet
erung ist für den Apostel grund»Die paulinische Theologie lässt sich
legend. Im Genaueren lassen sich
die Begierde des Fleisches nicht
im Kern als Transformationstheologie
vier Ebenen unterscheiden, auf
erfüllen.« Und weiter heißt es
verstehen. Der Gedanke der Verände­
denen Paulus eine göttlich getrain Röm 6,12: »So herrsche nun
rung, des Wandels, der Erneuerung ist nicht die Sünde in eurem sterbligene Transformationsdynamik
für den Apostel grundlegend.«
am Werk sieht:35
chen Leib, dass er seinen Begier(1) Auf der individuellen
den gehorche.« Schließlich Röm
Ebene manifestiert sich die besagte Transformationsdy- 13,14: »[…] sondern zieht den Herrn Jesus Christus an,
namik in der persönlichen Wende, die Paulus im sog. und treibt nicht Vorsorge für das Fleisch, dass Begierden
Damaskuserlebnis erfuhr. Darüber hinaus manifestiert wach werden!« Diese Stellen machen eines deutlich: Es
sich die besagte Transformationsdynamik auch in jener bedarf keiner übenden, im engeren Sinn »asketischen«
grundlegenden Wandlung des Subjekts, die der Apos- Praxis, um der Begierde und der Leidenschaft Herr
tel im Ritual der Taufe gründen sieht. (2) Elementarer zu werden, hängt doch alles an der Einswerdung mit
Brennpunkt der persönlichen Transformationen ist die Christus. Erforderlich ist mithin alleine die beständige
Transformation Jesu Christi im heilsgeschichtlichen Erhaltung der Christusteilhabe respektive die beständige
Fundamentalereignis seines Todes und seiner Auferste- Reintegration in den Heilsraum des Christus. Garantiert
hung (christologische Ebene). (3) Das Christusereignis ist die Freiheit von den Leidenschaften freilich nicht,
hat zugleich kosmologische Bedeutung, insofern in woraus sich die imperativische Form der zitierten Verse
ihm die heilsgeschichtliche Wende der Äonen ankert erklärt. Worauf es Paulus aber v. a. ankommt, ist die für
(kosmologische Ebene). (4) Schließlich wird die besagte ihn in Erfahrung gründende Einsicht, dass diejenigen,
Transformationsdynamik auch auf der kollektiven Ebe- die Christus angehören und in seinem HerrschaftsbeZNT 34 (17. Jg. 2014)
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Neues Testament aktuell
reich verharren, grundsätzlich nicht mehr von Leidenschaften und Begierden fremdbeherrscht werden. Es
gilt hier also nicht die Aufforderung: »Du mußt dein
Leben ändern.« Vielmehr setzt der Apostel bei seinen
christusgläubigen Adressaten bereits eine grundlegende Transformation voraus. Es gilt mit anderen Worten:
»Du bist schon verändert.« Du bist getauft, du bist eine
neue Schöpfung (vgl. 2Kor 5,17: »Daher, wenn jemand
in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte
ist vergangen, siehe, Neues ist geworden«).
Nahezu alle der oben genannten Stellen, die von
der Beherrschung der Leidenschaften und Begierden in
Christus handeln (Gal 5,24; 5,16; Röm 6,12; 13,14),
haben einen Bezug zur Taufe: Die Christusangehörigkeit bzw. die Christusteilhabe, die Paulus in Gal 5,24
als Voraussetzung der Kreuzigung der Begierden und
Leidenschaft anspricht, gründet unverkennbar in der
Taufe, denn die Taufe ist der Ort, an dem man mit
Christus eins wird. So schreibt Paulus in Gal 3,28 explizit über die Getauften (vgl. V. 27): »denn ihr alle
seid einer in Christus Jesus.« Auch in der Rede vom
»Anziehen Christi« in Röm 13,14 liegt augenscheinlich
3.2 Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung?
eine Anspielung auf die Taufe vor. Dies indiziert Gal
Die Beherrschung und Kontrolle der Begierden bzw. 3,27, wo es heißt: »denn ihr alle, die ihr auf Christus
genauer noch der Sünde, die der Apostel ausdrücklich getauft worden seid, ihr habt Christus angezogen.«
Und die Aussage in Röm 6,12
als entscheidendes Agens hinter
den Begierden ausmacht (vgl.
»Die Beherrschung des begehrenden Selbst steht im Kontext der grundlegenden paulinischen Auslegung
Röm 7,7 f.), sie erfolgt in den
und der darin manifesten Sünde erfolgt
Protopaulinen augenscheinlich
der Taufe als Taufe in den Tod
bei Paulus mit anderen Worten nicht
nicht – wie in der Philosophie –
im Modus sich stets wiederholender prak­ Christi. Danach gilt, dass wir
durch Selbsttechniken, vermöge
in der Taufe mit Christus getischer Übungen und einer darin
derer sich das Individuum zum
storben sind, mit ihm begraben
konsequent anvisierten Selbstvervoll­
Herren seiner selbst zu entwiwurden, um in der Neuheit des
kommnung. Der Apostel pocht vielmehr
Lebens zu wandeln. In der Taufe
ckeln sucht, indem es in der
ganz auf die effektive Dynamis des
steten Wiederholung bestimmstarb dabei dank der Integration
Ereignisses und des Rituals«
ter Praktiken übend lernt, sich
in den Tod Jesu der alte, sündige
von allen Äußerlichkeiten und
Adam ab und mit ihm die BeBindungen an die habituelle Welt zu lösen und sich als gierden und Leidenschaften (Röm 6,3–6). Paulus geht
Teil einer die Welt transzendierenden Natur bzw. einer folglich davon aus, dass wir in der Einheit mit Christus
universellen Vernunft zu begreifen. Sie erfolgt im Üb- nicht mehr von den Begierden bestimmt werden, wennrigen auch nicht – wie im hellenistischen Judentum – gleich er mahnt, dass dies nicht selbstverständlich sei.
durch Toragehorsam. Darauf weist der Apostel in Röm Man müsse im Herrschaftsbereich Christi verbleiben,
6,14 f. eigens hin (»Denn die Sünde wird nicht über die baptismale Integration in das Christusereignis also
euch herrschen, denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, aufrechterhalten.
Woraus erklärt sich nun aber die mächtige Wirkkraft
sondern unter der Gnade. Wie nun? Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der des in der Taufe zugeeigneten Christusereignisses? Wie
Gnade sind? Das sei ferne!«).38 Die Beherrschung der vermag dieses Ereignis Menschen derart zu transformieLeidenschaften und damit die Kontrolle über das Selbst ren, dass sie frei werden von der Fremdherrschaft der
gründet Paulus zufolge vielmehr, wie bereits gesehen, im Sünde, der Begierden und Leidenschaften? Unabhängig
Christusgeschehen und speziell in dessen ritueller An- von Paulus ist diesbezüglich zunächst allgemein anzueignung in der Taufe, die angesichts des die Macht der merken, dass sich prinzipiell zwei differente Wege und
Sünde überwindenden Todes Christi einem Herrschafts- Formen der Transformation von Subjekten unterscheiwechsel gleichkommt. Die Beherrschung des begehren- den lassen. Zugespitzt und vereinfacht lassen sie sich
den Selbst und der darin manifesten Sünde erfolgt bei unter den Überschriften »Entwicklung« und »Ereignis«
Paulus mit anderen Worten nicht im Modus sich stets subsumieren: (1) Auf der einen Seite sind Menschen in
wiederholender praktischer Übungen und einer darin der Lage, sich über einen längeren Zeitraum hinweg bekonsequent anvisierten Selbstvervollkommnung. Der wusst und gezielt durch übende Aneignung bestimmter
Apostel pocht vielmehr ganz auf die effektive Dynamis Fähigkeiten, Perspektiven und Praktiken grundlegend
des Ereignisses und des Rituals, eine Dynamis, über die zu transformieren. Dies ist das Modell der Entwickdas Subjekt nicht autonom verfügt, sondern in die es lung, welches der antiken Philosophie der Lebenskunst
wie in ein Kraftfeld hineingenommen ist.
wie auch Sloterdijks Philosophie der Selbstbildung des
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Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Rettung oder Glück?
Humanen zugrunde liegt. Es gründet letztlich in der
übenden Wiederholung diverser Praktiken. (2) Auf der
anderen Seiten werden Menschen immer wieder auch
durch unvorhersehbare »Ereignisse«, die den gewöhnlichen und vertrauten Lauf der Dinge jäh unterbrechen,
dauerhaft verändert. Die grundlegende Transformation
beruht hier nicht auf einer allmählichen Entwicklung,
sondern auf dem ins Mark gehenden Einbruch des Unvorhergesehenen, des Schockhaften, des Bruches, sei es
eine Nahtoderfahrung, ein Unfall, eine unerwartete manifeste glückliche Wendung o. Ä. Nun ist der Begriff des
»Ereignisses« im philosophischen Diskurs Gegenstand
einer intensiven, äußerst komplexen Debatte. Die vielen
Facetten, Akzente und Füllungen des Begriffs, die darin verhandelt werden, können hier nicht dargelegt und
diskutiert werden.39 Angemerkt sei lediglich, dass der
französische Philosoph Alain Badiou seine spezifische
Philosophie des Ereignisses just in der Theologie des
Apostels wiederzuentdecken glaubt.40 Ohne Badious Ereignisphilosophie geschweige denn seine Paulusdeutung
befürworten zu wollen, ist dem Philosophen gleichwohl
darin zuzustimmen, dass sich die Theologie des Paulus
in der Tat grundsätzlich als Ereignisphilosophie bzw.
»Ereignistheologie« begreifen lässt. Das Christusereignis
ist für den Apostel schließlich unverkennbar ein absolut
fundamentaler, ereignishafter Einbruch in die Geschichte, eine elementare, göttlich initiierte Wende, die den
Verlauf der Dinge umfassend ändert, den neuen Äon
einläutet und das Leben all derer fundamental transformiert, die sich in den Ereignishorizont dieses Geschehens begeben. Letzteres geschieht wirkmächtig v. a. im
Ritual der Taufe. Ist den Getauften damit aber auch jener Zustand »des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der
Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit« zugänglich,
den Foucault als Zielpunkt der antiken Selbsttechniken
beschrieben hat?
3.3
Glück oder Rettung?
Es fällt auf, dass in den Briefen des Paulus – wie übrigens
in allen anderen Schriften des Neuen Testaments auch –
der Begriff der eudaimonia fehlt. Dieser Schlüsselterminus der antiken Lebenskunst, der das »Glück« bzw.
»Wohlergehen« als Ziel der strebenden und übenden
Existenz des Menschen denotiert, findet an keiner Stelle
des umfänglichen paulinischen Schrifttums auch nur
eine Erwähnung. Dies gilt ebenso für das dazugehörige
Verb eudaimoneō oder andere Formen der fraglichen
Begrifflichkeit.
Um die Begrifflichkeit angemessen zu verstehen,
muss man sich freilich vergegenwärtigen, dass eudaimo­
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nia in der antiken Philosophie nicht, wie dies in unserem
heutigen Sprachgebrauch häufig der Fall ist, einen rein
psychischen Zustand euphorischen Hochgefühls bezeichnete.41 Der Begriff markierte vielmehr generell ein
tugendhaftes und sinnvolles, d. h. der Vernunft gemäßes
Leben. Darin war dann subjektives Wohlergehen eingeschlossen. Im Laufe der Philosophiegeschichte bildeten
sich diverse Konturierungen und Akzentuierungen des
Konzeptes der eudaimonia aus. Markant ist insbesondere
die Verschiebung, die das Konzept im Übergang von
der klassischen zur hellenistischen Philosophie erfuhr.
Verstand man unter eudaimonia in der klassischen Philosophie (Platon, Aristoteles) vorwiegend den objektiven Zustand eines Lebens in Übereinstimmung mit
der kosmischen Ordnung, das dem Wohlergehen der
Polis diente, so erfuhr das Konzept in der hellenistischen
Ethik eine stärkere Verinnerlichung, Subjektivierung
und Privatisierung, insofern eudaimonia nun zumal im
subjektiven Vermögen gründete, die eigenen Wünsche
und selbstgewählten Zwecke in Seelenruhe, d. h. frei von
innerer Erregung (Affekte), souverän verwirklichen zu
können. Darauf muss hier nicht näher eingegangen
werden.42
Weshalb ignorierte Paulus die Schlüsselterminologie
der antiken Lebenskunst? Darüber kann nur spekuliert
werden. Ein möglicher Grund mag sein, dass die besagte
Terminologie in der Septuaginta fehlte. Hinzu kommt,
dass die in dem Begriff eudaimonia enthaltene Vokabel
daimōn, die in der griechischen Welt ursprünglich noch
für Gottheiten und menschliche Schutzgeister stand,
im jüdischen und im frühchristlichen Sprachgebrauch
»heidnische« Götter und böse Geistwesen bezeichnete,
sodass eudaimonia in dieser Sprachwelt nun einen zumindest zweideutigen wenn nicht negativen Klang besaß.43 Eventuell gibt es aber noch einen weiteren Grund:
Vielleicht erklärt sich der Ausfall des Begriffs eudaimo­
nia im Neuen Testament und namentlich bei Paulus
auch damit, dass wir es hier mit einem Schrifttum zu
tun haben, das nicht wie die meisten uns überlieferten
antiken Texten über die Lebenskunst dem Kreis der sozialen Elite entstammt. In den paulinischen Ausführungen spiegeln sich nicht die Existenz und Alltagserfahrungen von Mitgliedern der Oberschicht, sondern das
Leben und Erleben der Nichtelite (vgl. 1Kor 1,26-28).
Dieses war weniger durch autonomes Handeln denn
durch Fremdbestimmungen geprägt. Das Streben nach
einem Zustand des Wohlergehens (eudaimonia) vermittels einer innerlich souveränen, übungsgestützten
Erlangung all jener Zwecke, die man sich selbst gesetzt
hat, passt nun aber eher in eine Lebenssituation, die
Mitgliedern der Elite vorbehalten war.44 Menschen, die
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Neues Testament aktuell
um ihr tägliches Durchkommen zu kämpfen hatten, wichtigen Aspekt. Paulus koppelt die »Rettung« mit
die in schlechten Lebensumständen existierten, die einer bemerkenswerten Neubewertung, ja Umwertung
äußeres Leid und Unterdrückungen erfuhren, sehnten der Affekte. Dies betrifft insbesondere den Umgang mit
sich vermutlich eher nach Erlösung und »Rettung«: Betrübnis, Kummer, Trauer und Schmerz (gr.: lypē).49
sōtēria. Auch von daher mag sich erklären, warum die So findet sich in 2Kor 7,10 eine Aussage des Apostels,
paulinische Heilsbotschaft nicht auf die Erlangung von die in Anbetracht der in den antiken Philosophien der
»Glück« (eudaimonia), sondern auf die Erfahrung von Lebenskunst propagierten Affektkontrolle äußerst un»Rettung« (sōtēria) fokussiert war. In ihrer Ausrichtung gewöhnlich anmutet: »Denn die Betrübnis gemäß Gott
auf eine messianische »Rettung« fügt sie sich im Übri- (gr.: hē kata theon lypē) wirkt eine Sinnesänderung (gr.:
gen ganz in die atl.-jüdische Tradition ein, in welcher metanoia) zur Rettung (gr.: eis sōtērian), die nie gereut;
das Thema der individuellen und
die Betrübnis aber der Welt (gr.:
kollektiven Erlösung und Errethē tou kosmou lypē) bewirkt Tod.«
»Paulus bekämpft die Betrübnis der
tung aus diversen Situationen
Im
Hintergrund steht ein KonKorinther nicht als unangemessenen,
flikt: Paulus fühlte sich durch
des Unglücks, der Not und des
falschen Affekt, den es in den Griff zu
Leidens von jeher größten Raum
eine nicht näher identifizierbare
bekommen gelte! Im Gegenteil, statt sie
einnahm, angefangen von der
Person in Korinth offenbar beleizu verwerfen wertet er die Betrübnis
vorexilischen, über die exilische
digt und ins Unrecht gesetzt (vgl.
der Korinther angesichts ihrer positiven
bis hin zur nachexilischen Litera2Kor 2,5–11; 7,8.12). Er verfasstur.45 In diesem Zusammenhang Folgen als wertvollen Affekt massiv auf. te daraufhin einen emotionalen
mag man außerdem eine allgeBrief unter Tränen, der wiedermeine Feststellung des Religionswissenschaftlers Günter um die Korinther betrübte, zugleich aber eine insgesamt
Lanczkowski mitbedenken. Vor dem Hintergrund des zur Aussöhnung und Konfliktschlichtung hinführende
Umstandes, dass die altägyptische Sprache kein Wort Sinnesänderung (metanoia) unter diesen bewirkte (vgl.
für Erlösung kennt, schreibt Lanczkowski: »Der Erlö- 2Kor 2,3 f.9; 7,8 ff.). Die vielen komplexen exegetischen
sungsgedanke fehlt, wenn das Heil in der Erhaltung ge- Thesen zur genauen Rekonstruktion des Vorfalls müsgenwärtiger Zustände gesehen wird.«46 Vielleicht darf sen hier nicht entfaltet werden. Wichtig ist allein folman in Anlehnung daran im Umkehrschluss sagen, dass gender Aspekt: Paulus bekämpft die Betrübnis der Koder Gedanke des Glücks – verstanden im antiken Sinn rinther nicht als unangemessenen, falschen Affekt, den
als innerlich souveräner Umgang mit der bestehenden, es in den Griff zu bekommen gelte! Im Gegenteil, statt
letztlich nicht hinterfragten Ordnung – überall dort sie zu verwerfen wertet er die Betrübnis der Korinther
unpassend zu sein scheint und fehlt, wo man sich das angesichts ihrer positiven Folgen als wertvollen Affekt
Heil nur als erlösende Überwindung der bestehenden massiv auf. Er spricht gar von einer gottgemäßen, d. h.
Ordnung bzw. als rettende Befreiung aus derselben vor- Gottes Willen entsprechenden Betrübnis, die nicht wie
stellen konnte. Wie auch immer: Dem Ereignischarakter die herkömmliche Betrübnis der Welt den Tod, sondern
des Christusgeschehens und der Aneignung des darin die Rettung erwirke. Diese positive Umwertung der Beverbürgten Heils im rituellen Akt der Taufe entsprach trübnis manifestiert sich ebenso in der Bekundung des
der das Moment des Ereignisses konnotierende Gedan- Apostels in 2Kor 2,4, den besagten Brief »unter vielen
ke der Rettung in jedem Fall besser als der mehr auf ein Tränen« verfasst zu haben.
dauerhaftes Arrangement mit dem Gegebenen, mithin
Eine solch positive Haltung gegenüber der Betrübstärker auf das Sein, denn auf das Ereignis abzielende nis und den Tränen steht in deutlichem Gegensatz zu
Begriff der eudaimonia.47 Allerdings darf bei alledem den negativen Aussagen über den Kummer in der antinicht unerwähnt bleiben, dass die baptismale Integrati- ken Philosophie und Psychagogik. Dort wird die lypē als
on in das Christusereignis bei Paulus zwar das rettende einer der schlimmsten aller Affekte qualifiziert.
In seinen Gesprächen in Tusculum (3,27) schreibt
Heil vermittelt, dies aber nicht in abschließender Form
vollzieht, sieht Paulus doch die Christusgläubigen in Cicero über die Betrübnis bzw. den Kummer (lat. ae­
einen liminalen Prozess gestellt, »der nach der grund- gritudo): »Glaubst Du also, daß dies dem Weisen gelegenden Befreiung in der Taufe über sittliches Ringen schehen könne, daß er durch Kummer (aegritudo), also
und Leidensnachfolge hinführt zur endgültigen Verherr- durch Elend bedrückt zu werden vermag? Denn wenn
lichung (Röm 8,29; 1Kor 15,49; Phil 3,20)«48.
jede Leidenschaft ein Elend ist, so ist der Kummer (aeg­
Das Stichwort der »Leidensnachfolge« in dem eben ritudo) ein mörderisches. Die Begierde hat ihren Brand,
angeführten Zitat weist nun noch auf einen weiteren die unmäßige Freude ihre Leichtfertigkeit, die Angst das
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Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Rettung oder Glück?
Demütigende, aber der Kummer (aegritudo) ein noch
schwereres Leiden, Verfall, Qual, Niedergeschlagenheit,
Verworfenheit. Er zerfetzt und zerfrisst die Seele und
vernichtet sie ganz. Wenn wir ihn nicht beseitigen, so
daß wir ihn von uns werfen, können wir vom Elend
nicht wegkommen.«50 Unmissverständlich äußert sich
auch Dion Chrysostomos in seiner Rede peri lypēs:
»[W]as ist erniedrigender als ein Mann, der sich der
Trauer hingibt (andros lypoumenou)? Was böte sonst einen so hässlichen Anblick« (16,1). Daraus leitet Dion
den Grundsatz ab, »daß der vernünftige Mann über
nichts Trauer empfinden darf« (mē lypēteon).51 Und in
der Tabula Cebetis 23,2 heißt es von der Person, die
eudaimonia erlangt hat, ausdrücklich, dass sie nun Kummer und Jammer beherrsche und nicht mehr von diesen
beherrscht werde wie vorher.
Die positiven paulinischen Aussagen über die Betrübnis (samt der positiven Wertung weiterer pro­
blematischer Affekte in 2Kor 7,11) fallen vor diesem
Hintergrund aus dem Rahmen des Üblichen. Woraus
erklärt sich diese der antiken Lebenskunst so diametral
entgegenstehende Beurteilung der Betrübnis und des
Kummers? Eine Antwort darauf findet sich zu Beginn
des 2. Korintherbriefes. Dort heißt es in 1,5-6: »Denn
wie die Leiden des Christus (gr.: ta pathēmata tou Chris­
tou) überreich auf uns kommen, so ist auch durch den
Christus unser Trost überreich. Sei es aber, dass wir bedrängt werden, (so geschieht es) für euren Trost und eure
Rettung; sei es, dass wir getröstet werden, (so geschieht
es) für euren Trost, der wirksam wird im Erdulden derselben Leiden, die auch wir leiden.« Jenseits aller weiteren Implikationen dieser Verse deutet sich hier doch
eines klar an: Die oben beschriebene Umwertung negativer Affekte gründet offenkundig in der Teilhabe an
Christus, die eine Teilhabe an dessen Leiden einschließt.
Die in der Taufe verankerte Christusteilhabe wirkt sich
mit anderen Worten in einer Teilhabe an den Leiden
Christi aus, die als solche wiederum zur Folge hat, dass
in der antiken Lebenskunst bekämpfte negative Affekte
nun unter bestimmten Umständen positiv in das Leben
integriert werden können. Über den leidenden Christus
erschließt sich mithin ein offener Umgang mit Kummer und Schmerz, der in Übereinstimmung mit Gottes
Willen steht und die Getauften mittels Sinnesänderung
(metanoia) zur Rettung führt (2Kor 7,10).52
Alles in allem propagiert Paulus also nicht die klassische auf das Glück (eudaimonia) hin ausgerichtete
Lebenskunst einer sich vermittels Übungen sukzessive
steigernden Beherrschung der Affekte, sondern eine in
der göttlichen Rettung (sōtēria) begründete Lebensform,
die kraft der in der Taufe grundgelegten Teilhabe am
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leidenden, gekreuzigten und auferstandenen Christus
auch negative Affekte jenseits aller übenden Abwehr
souverän »in Christus« zu bewältigen weiß. Die Praxis
dieser Lebensform entspringt – wie die antike philosophische Lebenskunst auch – einem besonderen Wissen, einer besonderen erfahrungsgestützten Erkenntnis.
Dieses Wissen tritt bei Paulus jedoch nicht als eine in
der menschlichen Autonomie gründenden Anthropotechnik, als eine Kunst oder Wissenschaft der übenden
Existenz des Menschen in Erscheinung, sondern als
Erkenntnis Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, sowie als Erfahrungswissen über die baptismale
Integration in das rettende Christusereignis. In diesem
Sinn kann Paulus in Phil 3,10 betonen, es komme ihm
allein darauf an, »ihn [sc. Christus] und die Kraft seiner
Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden zu
erkennen, gleichgestaltet werdend seinem Tod«.
Das Leiden in der Gemeinschaft mit den Leiden
Christi gehört für den Apostel also unweigerlich in das
Leben, dies aber so, dass darin zugleich die Kraft der
Auferstehung und damit auch die Überwindung des
Leidens in der Auferstehung Christi manifest wird.
Der Aspekt des Leidens darf insofern nicht von der
Kraft der Auferstehung, dem darin gründenden Trost
wie auch der Freude über das wahre Leben abgetrennt
werden, wie dies in extremen Formen der Passionsfrömmigkeiten später bisweilen der Fall sein sollte. Darauf
kann hier nicht eingegangen werden. Deutlich aber ist
eines: An die Stelle des klassischen apollinischen Mottos
der Selbsterkenntnis (GNŌTHI S[E]AUTON) tritt bei
Paulus gewissermaßen die Erkenntnis Christi (gnōnai
auton), eine Erkenntnis, die das Leben auf ihre Weise
kraftvoll transformiert und rettet.
Anmerkungen
Vgl. hierzu und zum Folgenden Fritz-Peter Hager, Art.
»Selbsterkenntnis. I. Antike«, in: HWP 9 (1995), 406–
413; s. auch Christoph Horn, Antike Lebenskunst. Glück
und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 22010, S. 226–231 und ausführlich Pierre Courcelle,
Connais-toi toi-même. De Socrate à Saint Bernard (Études Augustiniennes), 3 Bände, Paris 1974–1975.
 2
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009.
 3
Vgl. ebd., 40 f.
 4
Vgl. http://www.sensonet.org/Sensotionen/reifelq-machbar.html.
5
Vgl. A. Grün, Das große Buch der Lebenskunst, Freiburg
i.Br. 22010; ders., Das Glück der Gelassenheit im ABC der
Lebenskunst, Freiburg i. B. 2005.
 6
Vgl. P. Bubmann/B. Sill (Hg.), Christliche Lebenskunst,
Regensburg 2008.
 1
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Neues Testament aktuell
W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt a. M. 1998, 51; vgl. ders., Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem
Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault,
Frankfurt a. M. 1991; ders., Mit sich selbst befreundet
sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst,
Frankfurt a. M. 2007; ders., Ökologische Lebenskunst.
Was jeder Einzelne für das Leben auf dem Planeten tun
kann, Frankfurt a. M. 2008.
 8
Vgl. R. Reinhard, Die Sinn-Diät. Warum wir schon alles haben, was wir brauchen. Philosophische Rezepte für
ein sinnerfülltes Leben, München 2009; dies., Würde
Platon Prada tragen? Philosophische Überlebenstipps im
Lifestyle-Dschungel, München 2011.
 9
Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt
a. M. 1977 (frz.: Surveiller et punir – la naissance de la
prison, Paris 1975); ders., Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M. 1983 (frz.: Histoire
de la sexualité, vol. 1: La volonté de savoir, Paris 1976).
10
Vgl. M. Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität
und Wahrheit 2, Frankfurt a. M. 1989 (frz.: Histoire de
la sexualité, vol. 2. L’usage des plaisirs, Paris 1984); ders.,
Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt
a. M. 1989 (frz.: Histoire de la sexualité, vol. 3. Le souci
de soi, Paris 1984).
11
M. Foucault: Genealogie der Ethik. Ein Überblick über
laufende Arbeiten, in: H.L. Dreyfus/P. Rabinow, Michel
Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik,
Frankfurt a. M. 1987, 265–292: 273 f.
12
M. Foucault, Technologien des Selbst, in: L.H. Martin
u. a. (Hg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a. M. 1993,
24–62: 26. Das Schema ist durch Jürgen Habermas inspiriert; vgl. nur J. Habermas, Technik und Wissenschaft
als »Ideologie«, Frankfurt a. M. 1968, bes. 162; dort ist
von »Arbeit, Sprache und Herrschaft« als Medien der
Vergesellschaftung die Rede. Foucault ergänzt das Raster
eigenständig um den vierten Punkt; vgl. dazu auch M.
Foucault, Von der Freundschaft als Lebensweise. M. Foucault im Gespräch, Berlin o. J., 35 f.
13
Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991. Das frz. Original erschien
1981 in erster, 1987 in zweiter Auflage. Die deutsche Ausgabe ist inhaltlich erheblich erweitert; s. zum Thema auch
Pierre Hadot, Wege zur Weisheit – oder was lehrt uns die
antike Philosophie?, Frankfurt a. M. 1999 und die ältere
Studie seiner Frau: Ilse Hadot, Seneca und die griechischrömische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969.
14
Hadot, Philosophie, 45.
15
Umstritten ist u. a. der Zeitpunkt der endgültigen Abtrennung der Philosophie von der übenden Lebenskunst.
Foucault, Genealogie, 291 verweist diesbezüglich anders
als Hadot, Philosophie, 45. 180 f. nicht auf das Hochmittelalter, sondern auf René Descartes; ebenso Horn,
Lebenskunst, 239 f. Umstritten ist ferner der Grad der
Verwandtschaft zwischen den ignatianischen Exerzitien
und den antiken philosophischen Übungen; vgl. dazu
Horn, Lebenskunst, 238.
16
Horn, Lebenskunst, 17–31 bestätigt nach eigener Sichtung des Materials Hadots Deutung der antiken Philoso 7
12
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
phie als Kunst der Lebensführung, nimmt allerdings die
Vorsokratiker davon aus.
Vgl. J. Sellars, Téchnê perì tòn bíon. Zur stoischen Konzeption von Kunst und Leben, in: W. Kersting/C. Langbehn
(Hg.), Kritik der Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007,
91–117.
Vgl. zum Folgenden Hadot, Philosophie, 17–23, s. dazu
auch die Typologie der Übungen und ihrer Ziele bei Horn,
Lebenskunst, 34–46.
Vgl. W. Schmid, Epikur, in: ders., Ausgewählte philologische Schriften, hg. v. H. Erbse/J. Küppers, Berlin/New
York 1984, 203.
M. Nussbaum, The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton 1994.
Übersetzungen jeweils nach R. Nickel/O. Gigon, M. Tullius Cicero, Ausgewählte Werke I: Philosophische Schriften,
Darmstadt 2008.
Vgl. 4Makk 1,1: »Da ich im Begriff bin, eine höchst philosophische Erörterung (gr.: philosophōtaton logon) darzulegen, nämlich ob die gottesfürchtige Denkkraft Alleinherrscherin ist über die Leidenschaften (gr.: tōn pathōn),
möchte ich euch aufrichtig raten, dass ihr bereitwillig aufmerkt auf die philosophische Darlegung« (Übersetzung
nach Septuaginta Deutsch, Stuttgart 2009, 730).
»Religion« geht auf religio zurück. Die lat. Vokabel steht
für die Sorgfalt, mit der darauf geachtet wurde, den Göttern die ihnen gebührende Verehrung (lat.: cultus deorum)
zukommen zu lassen. Sie deckt dergestalt nicht das breite
Bedeutungsspektrum des neuzeitlichen Religionsbegriffs
ab, der das gesamte System kollektiver Praktiken und
Symbole, individueller Glaubensvorstellungen und Gefühle, festgelegter Normen und theologischer Erklärungen in Bezug auf übermenschliche bzw. göttliche Wesen
umfasst; Näheres bei E. Feil, Religio. Die Geschichte eines
neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur
Reformation (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 36), Göttingen 1986.
Vgl. W. Stegemann, War das frühe Christentum eine Religion?, in: ZNT Heft 10 (2002), 61–68; s. auch ders., Die
Erfindung der Religion durch das Christentum, unter:
http://www.augustana.de/newsletter/Nummer3/stegemannerfindungreligion.pdf.
Vgl. M. Beard/J. North/S. Price, Religions of Rome I: A
History, Cambridge 1998, 278–291.
Vgl. dazu nur E.W. Stegemann, Paulus, die antike Philosophie und Immanuel Kant, in: Chr. Strecker/J. Valentin
(Hg.), Paulus unter den Philosophen (ReligionsKulturen
10), Stuttgart 2013, 31–47.
Vgl. N. W. de Witt, St. Paul and Epicurus, Toronto 1954;
C.E. Glad, Paul and Philodemus. Adaptability in Epicurean and Early Christian Psychagogy (NT.S 81), Leiden
1995; P. Eckstein, Gemeinde, Brief und Heilsbotschaft.
Ein phänomenologischer Vergleich zwischen Paulus und
Epikur (HBS 42), Freiburg u. a. 2004.
Vgl. A. Malherbe, Paul and the Popular Philosophers,
Minneapolis 1989, bes. 11–24.35–48.
Vgl. T. Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics, Louisville 2000; ders., Cosmology and Self in the Apostle Paul.
The Material Spirit, Oxford 2010; R.M. Thorsteins-
ZNT 34 (17. Jg. 2014)
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31
32
33
34
35
36
37
38
son, Roman Christianity and Roman Stoicism, Oxford
2010.
E. Judge, Die frühen Christen als scholastische Gemeinschaft, in: W.A. Meeks (Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums, München 1979, 131–164.
L. Alexander, Paul and the Hellenistic Schools. The Evidence of Galen, in: T. Engberg-Pedersen (Hg.), Paul in
His Hellenistic Context, Minneapolis 1995, 60–83: 60.
Vgl. K. Scholtissek, Paulus als Lehrer. Eine Skizze zu den
Anfängen der Paulus-Schule, in: ders. (Hg.), Christologie
in der Paulus-Schule. Zur Rezeptionsgeschichte des paulinischen Evangeliums (SBS 181), Stuttgart 2000, 11–36:
27 f.
In der jüngeren Forschung wurde wiederholt postuliert,
die Proto- und z. T. auch die Deuteropaulinen seien im
Kern durch den antiken philosophischen Diskurs über die
Erlangung von Selbstbeherrschung und Glück vermittels
Psychagogik geprägt; vgl. nur S.K. Stowers, A Rereading
of Romans. Justice, Jews and Gentiles, New Haven/London 1994; C.E. Glad, Paul and Philodemus. Adaptability in Epicurean and Early Christian Psychagogy (NT.S
81), Leiden/New York 1995; W.T. Wilson, The Hope of
Glory. Education and Exhortation in the Epistle to the
Colossians (NT.S 88), Leiden/New York 1997. Auf die
komplexen und im Einzelnen umstrittenen Thesen kann
hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu Th. Schmeller,
Schulen; s. auch Chr. Strecker, Geistliche Begleitung, antike Lebenskunst und das Neue Testament, in: D. Greiner
u. a. (Hg.), Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive. Modelle und Personen der Kirchengeschichte,
Leipzig 2013, 24–34: 32.
Angemerkt sei am Rande, dass sich auch das Paulusbild der
Apostelgeschichte von der antiken Philosophie der Lebenskunst her begreifen lässt; vgl. dazu M. Lang, Die Kunst des
christlichen Lebens. Rezeptionsästhetische Studien zum
lukanischen Paulusbild (ABG 29), Leipzig 2008.
Vgl. dazu im Genaueren Chr. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus
kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen 1999; ders., Im Wandel. Zur paulinischen Theologie der Transformation, in: GPM 64 (2010), 272–278;
ders., Leben als liminale Existenz. Kulturanthropologische
Betrachtungen zum frühchristlichen Existenzverständnis
am Beispiel von Phil 3, in: EvTh 68 (2008), 450–472.
Hadot, Philosophie, 45.
Vgl. zu dem Thema umfassend P. von Gemünden, Affekt
und Glaube. Studien zur Historischen Psychologie des
Frühjudentums und Urchristentums (NTOA 73), Göttingen 2009.
In Röm 7,7 f. bündelt der Apostel die Torabestimmungen
in dem einen Gebot: »Du sollst nicht begehren« (gr.: ouk
epithymēseis), um zu betonen, dass es gerade aufgrund
dieses Gebots der Sünde möglich wurde, die Begierde
(gr.: epithymia) zu wecken. Das Gesetz verhindert hier
also nicht, sondern weckt die Begierde, es bewirkt die
Leidenschaften der Sünden (Röm 7,5: ta pathmata tōn
hamartiōn). Dabei gilt es zu beachten, dass Paulus hier
nicht etwa die Situation der Christusgläubigen und
auch nicht die seiner jüdischen Brüder und Schwestern
ZNT 34 (17. Jg. 2014)
beschreibt. Vielmehr skizziert er hier wohl die tragische Situation gottesfürchtiger Nichtjuden, die versuchen, mittels Toraobservanz das hellenistische Ideal der
Selbstbeherrschung zu erreichen und darin zwangsläufig
scheitern, da Nichtjuden (»Heiden«) – aus der jüdischen
Perspektive des Apostels gesehen – vollauf ihren sündigen Begierden ausgeliefert sind; s. Röm 1,18 ff., bes. 1,24;
s. auch 1Thess 4,5; vgl. dazu insgesamt S.K. Stowers, A
Rereading of Romans. Justice, Jews and Gentiles, New
Haven/London 1994, 273–281; A.A. Das, Solving the
Romans Debate, Minneapolis 2007, 223–235.
39
Vgl. dazu nur M. Rölli (Hg.), Ereignis auf Französisch.
Von Bergson bis Deleuze, München 2004.
40
Vgl. A. Badiou, Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005;
ders., Paulus. Die Begründung des Universalismus, München 2002 (Zürich/Berlin 2000). Zur intensiven Rezeption des Apostels in der Philosophie der Moderne und
Spätmoderne vgl. insgesamt Chr. Strecker/J. Valentin
(Hg.), Paulus unter den Philosophen (ReligionsKulturen
10), Stuttgart 2013.
41
Daneben markiert der Begriff »Glück« heute auch die
günstige Fügung, den glücklichen Zufall. Dafür steht im
Griechischen die Vokabel eutychia.
42
Vgl. dazu M. Hossenfelder, Antike Glückslehren. Kynismus und Kyrenaismus, Stoa, Epikureismus und Skepsis.
Quellen in deutscher Übersetzung mit Einführungen,
Stuttgart 1996, bes. xv–xx; s. ferner ders., Art. »Glück«,
in: DNP 4 (1998), 1101–1103; J. Ritter, Art. »Glück,
Glückseligkeit. I. Antike«, in: HWP 3 (1974), 679–691;
M. Forschner, Über das Glück des Menschen. Aristoteles,
Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, Darmstadt 1993.
43
Vgl. R. Holte, Art. »Glück (Glückseligkeit)«, in: RAC 11
(1981), 246–270: 259 (zur Septuaginta s. ebd., 258),
44
Auch wenn sich Stoa und Epikureismus als Philosophien
für »kleine Leute« präsentierten und Epiktet z. B. ein Freigelassener war, ist die Prägung der stoischen und epikureischen Philosophie durch eine Art Oberschichtshabitus
doch unverkennbar.
45
Vgl. dazu den instruktiven biblischen Überblick von A.
Schenker, Art. »Heil und Erlösung. II. Altes Testament«,
in: TRE 14 (1985), 609–616.
46
G. Lanczkowski, Art. »Heil und Erlösung. I. Religionsgeschichtlich«, in: TRE 14 (1985), 605–609: 606.
47
Die hier akzentuiert vorgetragene Gegenüberstellung von
eudaimonia und sōtēria will und darf nicht den falschen
Eindruck erwecken, als handle es sich um klare Oppositionsbegriffe. Dies trifft nicht zu. In der griechischen Literatur kann sōtēria in der Bedeutung von Wohlbefinden
und Wohlsein auch neben eudaimonia stehen (vgl. Werner
Foerster, Art. sōzō ktl. A. sōzō und sōtēria im Griechentum, in: ThWNT 7 [1964], 967–970: 968). Namentlich
in der stoisch geprägten Tabula Cebetis (z. B. 10,2), aber
u. a. auch bei Epiktet findet sich die sōtēria-Terminologie
in den eudaimonia-Diskurs eingebettet. Sōtēria kann
dabei bisweilen die Bedeutung von »Erhaltung« tragen,
und zwar im Sinne der Erhaltung des inneren Wesens
des Menschen, dann aber auch im Sinne der Erhaltung
des Staates, woraus sich nicht zuletzt der im römischen
Kaiserkult verwendete Herrschertitel sōtēr erklärt (vgl.
13
Zeitschrift für Neues Testament_34
typoscript [AK] – 07.10.2014 – Seite 14 – 2. Korrektur
Neues Testament aktuell
Foerster, ebd., 968 f.; Lang, Kunst, 102 ff.; R. Tiedemann,
Art. »Rettung«, in: HWP 8 [1992], 932–941: 934 f.).
Der paulinische Gebrauch der Rettungsterminologie ist
gleichwohl im oben beschriebenen Sinn eher von der
atl.-jüdischen Tradition her zu deuten. Für die Hinweise
auf die Tabula Cebetis und Epiktet sowie weitere wichtige
Anregungen danke ich Herrn Akad. Dir. Jörg Dittmer.
48
E. Larson, Art. »Heil und Erlösung. III. Neues Testament«,
in: TRE 14 (1985), 616–622: 620. Vgl. zur Schwellensituation, in der Paulus die Christusgläubigen verortet,
generell Strecker, Liminale Theologie, passim.
Vgl. zum Folgenden ausführlich L.L. Welborn, Paul
and Pain. Paul’s Emotional Therapy in 2 Corinthians
1.1–2.14; 7.5–16 in the Context of Ancient Psychgogic
Literatur, in: NTS 57 (2011), 547–580; ders., An End to
Enmity. Paul and the »Wrongdoer« in Second Corinthians
(BZNW 185), Berlin 2011.
50
Übersetzung nach R. Nickel/O. Gigon, M. Tullius Cicero,
Ausgewählte Werke I: Philosophische Schriften, Darmstadt 2008, 365.
51
Übersetzung nach W. Elliger, Dion Chrysostomos, Sämtliche Reden, Zürich/Stuttgart 1976, 280 f.
52
Vgl. Welborn, Paul and Pain, 570.
49
Eve-Marie Becker / Stefan Scholz (Hrsg.)
Auf dem Weg zur
neutestamentlichen
Hermeneutik
Oda Wischmeyer zum 70. Geburtstag
2014
152 Seiten
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Habermann, Uta Heil, Dietrich-Alex Koch, Martin
Meiser, Stefan Scholz und Wolfgang Wischmeyer.
Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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14
ZNT 34 (17. Jg. 2014)
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