Originalie Thrombose- und Thromboserezidiv-Prophylaxe bei Tumorpatienten BETTINA KEMKES-MATTHES, UNIVERSITÄT GIESSEN UND MARBURG, SCHWERPUNKT HÄMOSTASEOLOGIE Patienten mit malignen Erkrankungen haben ein hohes Risiko, thromboembolische Erkrankungen zu erleiden. Patienten mit malignen Erkrankungen haben ein hohes Risiko, thromboembolische Erkrankungen zu erleiden. So ist die Thrombose- bzw. Lungenembolie die zweithäufigste nicht tumorbedingte Todesursache bei Malignompatienten. Darüber hinaus werden bei ungefähr 15% der Tumorpatienten klinisch thromboembolische Komplikationen diagnostiziert. Autoptisch zeigt sich sogar, dass ca. die Hälfte der an Malignomen verstorbenen Patienten thromboembolische Komplikationen hatte. Todesfälle, die sich im Zusammenhang mit operativen Eingriffen ereignen, sind in knapp der Hälfte der Fälle auf thromboembolische Komplikationen zurückzuführen. Das Thromboserisiko des einzelnen Tumorpatienten hängt dabei nicht nur von Tumortyp und Tumorstadium, sondern auch von therapeutischen Interventionen wie Operationen, Radio-, Chemooder Hormontherapie sowie von Begleiterkrankungen ab. Ein weiteres Problem ist, dass nicht nur Tumorpatienten gehäuft Thrombosen erleiden, sondern auch maligne Erkrankungen gehäuft bei Patienten mit „idiopathischen“ Thrombosen diagnostiziert werden (Tab. 1). Tabelle 1: Tumor und Thrombose • Thrombose ist die zweithäufigste nicht tumorbedingte Todesursache. • Ca. 15 % der Tumorpatienten haben Thrombosen. • Ca. 10 % der Thrombose-Patienten werden Tumorerkrankung erleiden. • 46 % der Todesfälle in Zusammenhang mit Operationen durch Thrombose / Lungenembolie. • Autopsie: bis zu 50 % Thromboembolien. 14 VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10 Der pathophysiologische Zusammenhang von Tumor und Thrombose Ursache der Thromboseneigung beim Tumorpatienten können sowohl lokale Komplikationen, z. B. tumorbedingte Kompression großer Venen, darüber hinaus aber auch (fast immer!) eine tumorinduzierte Gerinnungsaktivierung sein. Tumorzellen sind in der Lage, sowohl CancerProkoagulanzien als auch Tissue Factor zu exprimieren. Diese führen über eine Aktivierung der plasmatischen Gerinnungskaskade zur Thrombingeneration. Tumorzellen sind außerdem in der Lage, Thrombozyten direkt zu aktivieren und darüber hinaus über ZytokinExpression Endothel zu aktivieren (Abb. 1). Zur Endothelaktivierung – und damit zur Ausbildung einer prokoagulatorischen Endotheloberfläche – tragen im Rahmen der Tumorabwehr des Wirtes auch aktivierte Monozyten bei, die ihrerseits zum einen prokoagulatorische Substanzen wie direkte Faktor-X-Aktivatoren oder Tissue Factor aktivieren, zum anderen wie die Tumorzelle selbst auch Zytokine wie TNFα und IL-1β exprimieren (Abb. 2). Diese Zytokine haben eine aktivierende Wirkung auf das Endothel, so dass die eigentlich antikoagulatorische Endotheloberfläche durch den Einfluss der Zytokine zu einer prokoagulatorischen Oberfläche wird (Abb. 3). Vom so aktivierten Endothel wird vermehrt Tissue Factor exprimiert und damit die Gerinnungskaskade angestoßen. Außerdem produziert das Endothel verstärkt Plasminogen-Aktivator-Inhibitor (PAI), einen Faktor, der die Fibrinolyse bremst. Weiter wird vom Zytokin-aktivierten Endothel Thrombomodulin herunterreguliert und damit der ProteinC-/Protein-S-Mechanismus gehemmt. Abbildung 1: Pathophysiologie thromboembolischer Komplikationen bei Tumorpatienten Das heißt: Unter dem Einfluss der genannten Zytokine, die durch den Tumor selbst und durch die Abwehr des Wirtes (Monozyten) produziert worden sind, kommt es zu einer prokoagulatorischen Endotheloberfläche. Darüber hinaus werden unter dem Einfluss der genannten Zytokine vermehrt Adhäsionsmoleküle exprimiert. Die Adhäsionsmoleküle bewirken, dass Tumorzellen auf dem Endothel besser anhaften und die Oberfläche durchdringen können – damit wird die Metastasierung eingeleitet (Abb. 4). Die Gerinnungsaktivierung verursacht daher beim Tumorpatienten ein ausgesprochen hohes Thromboembolie-Risiko und begünstigt darüber hinaus die Tumorausbreitung. Abbildung 2: Abwehrmechanismen des Wirtes Abbildung 3: Zytokin-getriggerte Endothelaktivierung Abbildung 4: Adhäsionskaskade von Tumorzellen VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10 15 Originalie BETTINA KEMKES-MATTHES, UNIVERSITÄT GIESSEN UND MARBURG, SCHWERPUNKT HÄMOSTASEOLOGIE Das hohe ThromboembolieRisiko beim Tumorpatienten Möglichkeiten der Thromboseprophylaxe erfordert eine konsequente prophylaktische antithrombotische Behandlung. Das hohe Thromboembolie-Risiko beim Tumorpatienten erfordert eine konsequente prophylaktische antithrombotische Behandlung. Den Schwerpunkt bilden hierbei sicher derzeit die niedermolekularen Heparine (Tab. 2). In Europa werden orale Antikoagulanzien für die Thromboseprophylaxe bei Tumorpatienten eher weniger eingesetzt. Unfraktionierte Heparine (UFH) gelten mittlerweile bereits als überholt. Bei den Faktor-Xa-Inhibitoren ist momentan nur das parenteral zu applizierende Pentasaccharid auf dem Markt und die Thrombininhibitoren sind derzeit noch Spezialindikationen vorbehalten. ASS eignet sich für die Prophylaxe venöser Thromboembolien nicht. Tabelle 2: Thromboseprophylaxe • Mechanisch • Orale Antikoagulanzien • UFH • NMH • Faktor-Xa-Inhibitoren - Pentasaccharid • Thrombininhibitoren - parenteral: Hirudin, Argatroban - oral: Ximelagatran • ASS ??? Tabelle 3: Thromboseprophylaxe bei Tumorpatienten NMH • Hochrisikodosierung • Prolongierte Gabe 16 VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10 Mittel der Wahl zur Thromboseprophylaxe und -Rezidivprophylaxe bei Tumorpatienten sind daher sicherlich NMH. Dabei muss beim Einzelpatienten ein unter Umständen dauerhaft bestehendes oder temporäres Blutungsrisiko berücksichtigt werden. Die Gefahr hämorrhagischer Komplikationen wird bei Patienten mit malignen Erkrankungen jedoch häufig überschätzt. Blutungsrisiken, z. B. schwere Thrombozytopenien oder exulzerierende gastrointestinale Tumoren – eine Kontraindikation gegen Thromboseprophylaxe mit niedermolekularen Heparinen (NMH) – sind bei Tumorpatienten selten. Tumorpatienten sind Hochrisikopatienten Bezüglich thromboembolischer Komplikationen muss der Tumorpatient jedoch als Hochrisikopatient gelten. Dies ist seit Untersuchungen von BERGQVIST aus dem Jahr 1995 bekannt. BERGQVIST konnte bei 1.154 Patienten mit malignen Erkrankungen durch die Gabe einer Hochrisiko-Prophylaxedosis von Dalteparin (5.000 I.E./Tag) eine signifikante Reduktion von tiefen Beinvenenthrombosen gegenüber den Patienten feststellen, die nur 2.500 I.E. Dalteparin pro Tag erhielten [2]. Inzwischen ist nach den Ergebnissen zweier Studien – u. a. der FAME-Studie – erwiesen, dass neben einer Thromboseprophylaxe in der Hochrisikodosierung eine prolongierte Prophylaxe über 28 Tage das Thromboserisiko bei Tumorpatienten weiter signifikant vermindert (Tab. 3) [12]. Ein hohes Thromboembolie-Risiko besteht vor allem beispielsweise bei Patienten mit Adenokarzinomen. Eine effektive Thromboseprophylaxe in Hochrisikodosierung ist bei diesem Patientengut unumgänglich. In den 7. ACCP-Guidelines wurden die Ergebnisse aus den Studien entsprechend umgesetzt [3]. Dort wird für ausgewählte Patienten im Hochrisikobereich, zu denen Patienten mit größeren Tumoroperationen gezählt werden, eine prolongierte NMH-Gabe über drei bis vier Wochen nach Entlassung aus dem Krankenhaus empfohlen (2A). Bezüglich der Sekundärprophylaxe nach tiefer Beinvenenthrombose konnte in der so genannten CLOT-Studie eindrucksvoll gezeigt werden, dass die Häufigkeit von Thromboserezidiven durch die Gabe von Dalteparin im Vergleich zur Behandlung mit Warfarin signifikant reduziert wird. Keine signifikanten Unterschiede ergaben sich bezüglich Blutungskomplikationen und Mortalität [7]. In den 7. ACCP-Guidelines wurden diese Daten ebenfalls aufgegriffen. Für NMH ist dort eine 1A-Empfehlung zur Rezidivprophylaxe bei Tumorpatienten nach VTE ausgesprochen worden. Die angegebenen DalteparinDosierungen betragen 200 I.E./kg KG pro Tag für den ersten Monat, danach 150 I.E./kg KG pro Tag für weitere fünf Monate. Eine dauerhafte Antikoagulation, zumindest solange der Tumor aktiv ist, wird mit Evidenzgrad 1C vorgeschlagen [3]. Zusammenfassung Für NMH ist dort eine 1A-Empfehlung zur Rezidivprophylaxe bei Tumor- Somit gilt in der Zusammenfassung, dass bei Patienten mit malignen Erkrankungen eine Thromboseprophylaxe in Hochrisikodosierung selbstverständlich sein sollte. Tumorpatienten sollten postoperativ darüber hinaus eine prolongierte Prophylaxe bis zu vier Wochen erhalten. Zur Sekundärprophylaxe nach thromboembolischen Komplikationen ist die Behandlung mit niedermolekularen Heparinen der Gabe oraler Antikoagulanzien überlegen. Die Behandlung sollte nach bisherigen klinischen Erfahrungen fortgesetzt werden, solange die Tumorerkrankung aktiv ist. Darüber hinaus – und das ist ein Hoffnungsschimmer für die Zukunft – zeigen diverse Untersuchungen, dass niedermolekulare Heparine den Tumorpatienten nicht nur vor thromboembolischen Komplikationen schützen können, sondern ihm wahrscheinlich auch ein Benefit in Bezug auf die Überlebenszeit bringen. patienten nach VTE ausgesprochen worden. Somit gilt in der Zusammenfassung, dass bei Patienten mit malignen Erkrankungen eine Thromboseprophylaxe in Hochrisikodosierung selbstverständlich sein sollte. VASCULAR CARE 1/2006 VOL. 10 17 Originalie BETTINA KEMKES-MATTHES, UNIVERSITÄT GIESSEN UND MARBURG, SCHWERPUNKT HÄMOSTASEOLOGIE Literatur: [1] Altinbas M; Coskun HS, ErO, Ozkan M, Eser B, Unal A, Cetin M, [10] Linnemann B, Lindhoff-Last E: Thrombogenität verschiedener Soyuer S: A randomised clinical trial of combination chemotherapy Krankheitsbilder. In: S. Haas (Hrsg): Prävention von Thrombosen with and without low-molecular-weight heparin in small cell lung und Embolien in der Inneren Medizin. Springer Verlag 2005; S. 59 cancer. 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