Die Anatomischen Grundlagen der Akupunktur Das Buch Huang-Di Nei-Jing Ling-Shu 黃帝內經靈樞 berichtet im 12. Kapitel „Die Gefässe als Flussläufe“ (Jing-Shui 經水): „Zu messen wie hoch der Himmel und wie ausgedehnt die Erde ist, geht über menschliche Fähigkeiten hinaus. Es ist jedoch einfach, oberflächliche Messungen an einem Menschen auszuführen, der 8 Fuss lang ist. Nach seinem Tod kann sein Körper seziert werden, um einen allgemeinen Eindruck vom Erscheinungsbild, von der Grösse und vom Fassungsvermögen seiner Eingeweide zu gewinnen, um die Länge seiner Blutgefässe zu bestimmen und um die Menge und die Eigenschaften seines mit Sauerstoff (Atemluft) angereicherten zirkulierenden Blutes (Xue Qi 血 氣) abzuschätzen.“ Dieser Text hat einen historisch dokumentierten Hintergrund. Wir finden das früheste Dokument einer Leichen-Öffnung im alten China in den Han Annalen. Hier wird in der Biographie des Kaisers Wang Mang王莾 berichtet, dass dieser Herrscher die Zergliederung des Körpers eines Rebellen namens Wang Sun-Ching anordnete, nachdem der von der kaiserlichen Armee gefangen genommen worden war. Die anatomische Sektion wurde durchgeführt durch den kaiserlichen Hofarzt Shang Fang und einen „geübten Metzger“; sie fand statt im Jahre 16 n. Chr. Der Text erläutert das Verfahren: „Es wurden an der Leiche Messungen der inneren Organe vorgenommen, dünne Bambusruten wurden in die Blutgefässe eingeführt, um zu erkunden, wo diese Gefäße beginnen und wo sie enden. Dies soll dazu beitragen, ein besseres Verständnis für die Heilung von Krankheiten zu gewinnen.“ Da die Untersuchung von einem Arzt geleitet wurde, handelte es sich wohl um das erste anatomische Experiment in der Geschichte der Medizin überhaupt. Ein ähnliches Vorgehen wird im 12. Kapitel des Buches Ling-Shu-Jing geschildert. Ziel der Untersuchungen war, die Struktur der menschlichen Eingeweide, die Eigenschaften des Blutes und die Beschaffenheit der Blutgefässe zu erforschen. Ganz offenbar war Kaiser Wang Mang, der in China zahlreiche politische und ökonomische Reformen durchführte, sehr an Anatomie und am Fortschritt der Medizin interessiert. Auch in nachfolgenden Dynastien behauptete die Anatomie ihren Platz in der wissenschaftlichen Entwicklung von Chinas Heilkunde. Aus dem Buch Pin Tui Lu der Nördlichen Song-Dynastie (960 – 1127 n. Chr.) stammt folgender Bericht: „In Kuang-Su wurde der Räuber Ou Xi-Fan 歐希范 mit allen seinen Anhängern gefangen und getötet. Danach wurden im Verlauf von zwei Tagen 56 Personen anatomisch zergliedert. Der oberste Richter Ling Jian untersuchte die Körper sorgfältig, und er fertigte Zeichnungen davon an.“ Diese Massensektion wird noch mehrmals durch andere historische Quellen erwähnt. Die so entstandenen Abbildungen hießen „Ou Xi-Fan's Bilder der Fünf Inneren Organe“ 歐希范五臟圖. Sie wurden Jahrhunderte lang zur Ausbildung chinesischer Ärzte verwendet. Die Gefangenen wurden getötet, ihre Leiber geöffnet, Nieren und Eingeweide herausgeschnitten. Die Blutgefässe, Bänder, Sehnen, Muskeln, Organe und Eingeweide wurden gesammelt und eingehend untersucht. 1 Abb. 1: Vorderansicht von Ou Xi-Fan’s „Fünf Inneren Organen“ 歐希范五臟圖 (sichtbar sind Lunge, Herz, Milz, Leber, Gallenblase, Nieren, Dünndarm, Dickdarm und Mastdarm). 2 Abb. 2: Lunge, Milz, Magen und Nieren in einer historischen anatomischen chinesischen Darstellung aus der Nördlichen Song-Dynastie (11. Jahrhundert) 3 Abb. 3: Das Zwerchfell, das Herz, die Nieren und die großen Blutgefässe des menschlichen Organismus in einer historischen chinesischen anatomischen Darstellung (Nördliche Song-Dynastie, 11. Jahrhundert) 4 Anatomische Forschungen im alten China Auf die Bedeutung der Anatomie für Chinas Heilkunde weist eine Passage im 12. Kapitel „Die Meridiane als Flussläufe“ Jing-Shui 經水 hin. Hier erklärt Qi Bo (Ki Pa) dem Kaiser die grundlegenden Strukturen des menschlichen Organismus und ihre Erforschung. Er sagt: qi si ke jie pou 其死可解剖. Übersetzung: „Wenn jemand gestorben ist, kann man ihn mit Hilfe der Anatomie (für das medizinische Verständnis) zergliedern.“ Es ist interessant, dass die dabei verwendeten Schriftzeichen dieselben sind, die noch heute im modernen Chinesisch für das Fach Anatomie verwendet werden, nämlich Jie pou 解剖. Dies zeigt unter anderem, dass die zeitgenössische Anatomie im modernen China auf den Text des Ling-Shu-Jing zurückgeht. So trägt beispielsweise ein chinesisches Lehrbuch der Anatomie den Titel 圖解人體解剖學手冊, d.h. Taschenatlas der Anatomie des Menschen. [7] Qi Bo (Ki Pa) erläutert an dieser Stelle, dass das Körperinnere eines Menschen durch Abmessungen an den oberflächlichen Strukturen der Körperaußenseite (Haut, Muskeln, Knochen u.a.) beurteilt werden kann, und dass seine inneren Organe, Zang Fu 臟腑, ihr Fassungsvermögen, ihr Inhalt, die Länge der Blutgefässe des Körpers, die Qualität des arteriellen und venösen Blutes durch die anatomische Zergliederung einer Leiche bestimmt werden können. Nach authentischer moderner Auffassung sind die Verläufe der Blutgefässe und Nervenbahnen, wie sie im Kapitel 10 des Ling-Shu beschrieben werden, letztlich das Ergebnis solcher anatomischen Zergliederungen [3,4,5]. Anders ist es unverständlich, wie die frühen chinesischen Mediziner die einzelnen Organe überhaupt unterscheiden und richtig benennen konnten, warum sie deren topographisch richtige Lage zuverlässig bestimmt haben, wie sie die Organe dem das Rumpfesinnere teilenden Zwerchfell zuordnen konnten, das ohne anatomische Öffnung der Leibeshöhle unsichtbar ist, was die Abbildung 4 aus Andreas Vesalius‘ Werk „De Humani Corporis Fabrica“ verdeutlicht, und wie sie die Blutgefässe, die zur Peripherie des Körpers führen, mit den einzelnen Organen in Verbindung bringen konnten. Blutgefässe und Nervenbahnen werden in der westlichen Akupunktur bis heute irrtümlich „Meridiane“ genannt, ein Terminus, der aus der Geographie stammt, wo er die Mittagslinien am Globus bedeutet, der aber mit den anatomischen und physiologischen Gegebenheiten des menschlichen Organismus nicht das Geringste zu tun hat. 5 Abb. 4: Das Zwerchfell mit den darüber und darunter liegenden inneren Organen. Aus Andreas Vesalius „De Humani Corporis Fabrica“ (1541). Die hier dargestellte OrganTopographie entspricht der des Kapitels 10 des Ling-Shu-Jing. 6 Folgerungen für die Praxis der modernen Akupunktur 1. Wenn der Arzt den am Handrücken gelegenen so genannten „Punkt“ He-Gu 合 谷 („Dickdarm 4“) mit einer Nadel punktiert wie es die folgende Abbildung 5 zeigt, beeinflusst er damit die folgenden der modernen Medizin wohlbekannten Körperstrukturen: • • • • • • • Die Haut und das Unterhautgewebe am Handrücken Das Venengeflecht des Handrückens [23] Den Nervus dorsalis digitalis (ein Zweig des Nervus radialis) [25] Die Arteria dorsalis metacarpalis [26] Den Musculus dorsalis interosseus 1 [21] Den Musculus interosseus palmaris 1 [22] Den Musculus adductor des Daumens (Zielstruktur des Nadeleinstichs im roten Kreis) [24] • Die Hauptarterie des Daumens umgeben von den palmaren metacarpalen Venen [16] • • • • Den Musculus flexor pollicis brevis [13] Die Arteria metacarpea palmaris [28] Den Musculus flexor pollicis brevis [13] Die Sehnen der Musculi extensor extensor pollicis brevis und longus [19, 20] sowie alle übrigen auf der obigen Abbildung gezeigten Strukturen. Diese anatomischen Strukturen müssen dem Akupunktur bekannt sein, damit er die Wirkung seines Einstichs umfassend beurteilen kann, am Patienten keinen Schaden anrichtet und keine medizinischen Kunstfehler begeht. 7 2. Illustration 6 desselben Foramens He-Gu 合 谷 mit einer in die Zielstruktur (roter Kreis) [2] eingestochenen Nadel. Die den Nadelreiz in das Körperinnere übertragenden Bahnen sind der Nervus radialis, der Nervus medianus und der Nervus ulnaris gemeinsam mit den die umgebenden Blutgefässe umspinnenden vegetativen Nervenfasern und den Muskelspindeln. Es ist deutlich zu erkennen, dass es sich hier nicht etwa um einen „Punkt“ handelt, sondern um eine Vielzahl anatomisch genau definierter Körperstrukturen, die in der Nähe der Zielstruktur der Nadel (im roten Kreis) liegen. Auf dieser Abbildung 6 sind die folgenden anatomischen Strukturen erkennbar: • • • • • • • • • • • • • 8 Der Kopf der 2. Mittelhandknochens [1] Das Os Trapezium der Mittelhandknochen [12] Die Sehnen des kurzen und langen Daumenstreckermuskels [6, 10] Die Sehne des langen Abduktormuskels des Daumens [11] Der 1. dorsale Musculus interosseus, Zielstruktur des Nadeleinstichs [21] Der Musculus adductor des Daumens [2] Der kurze Beugemuskel des Daumens [15] Der Musculus opponens des Daumens [14] Der 1. Musculus lumbricalis [20] Die Arteria radialis und die Venae radiales [7] Der Nervus radialis (oberflächlicher Ast) [8] Der Nervus digitalis palmaris communis [18] Der Nervus digitalis palmaris proprius [19] 2. Dies ist ein anatomischer Querschnitt durch das Foramen Zu-San-Li 足三里 (im Westen irrtümlich „Punkt“ Magen 36 genannt) an der oberen Vorderseite des Unterschenkels: Diese Abbildung 7 zeigt folgende Körperstrukturen: • • • • • • • • • • • • • • • Das Schienbein (Tibia) [1] Die Membrana interossea cruris [2] Den Musculus tibialis anterior [3] Den Musculus tibialis posterior als Zielstruktur mit der Nadel (roter Griff) [28] Den Nervus peronaeus superficialis [12] Den langen Steckermuskel der Zehen [6] Die Arteria tibialis anterior mit den zugehörigen beiden Venen [7] Das vordere Septum intermusculare des Unterschenkels [8] Den Musculus peronaeus longus [9] Den Musculus peronaeus profundus [10] Das Wadenbein (Fibula) [11] Den Nervus peronaeus superficialis [12] Den Nervus cutaneus surae lateralis [13] Das hintere Septum intermusculare des Unterschenkels [14] Der Ramus communicans des Nervus peronaeus [16] 9 • • • • • • • • • • • • Den Musculus soleus [17] Die kleine Vena saphena [18] Den Nervus cutaneus surae medialis [19] Den Nervus tibialis [20] Die Sehne des Musculus plantaris [21] Den Musculus gastrocnemius [22] Den Ramus cutaneus cruris medialis (Ast des Nervus saphenus) [23] Die grosse Vena saphena [24] Den Ramus cutaneus cruris medialis [23] Den langen Beugermuskel der Zehen [26] Die Arteria tibialis posterior mit den zugehörigen Venen [27] Den Musculus tibialis posterior [28] Weder „Meridiane“ noch „Punkte“ sind auf den drei Abbildungen 5-7 zu sehen. Warum? Weil derartige westliche Phantasiegebilde in der chinesischen Medizin nicht existieren und nie existiert haben. Es ist bekannt, dass Akupunkteure manche der hier sichtbaren Strukturen beim Einstich mit den Nadeln verletzt haben, wodurch Gefässverletzungen (Blutungen, Hämatome) und Nervenverletzungen mit Entzündungen oder andauernden Nervenschmerzen an den Einstichkanälen die Folge waren. Wieso konnte das selbst bei Ärzten passieren? Weil diese falsch ausgebildet waren, weil sie vor allem nichts über die anatomischen Strukturen wussten, mit denen sie es in Wirklichkeit zu tun haben und die sie leichtsinnig verletzen. Sämtliche oben aufgeführten Strukturen sind bei der Akupunktur des Foramens ZuSan-Li beteiligt. Jeder Akupunkteur muss sie deshalb kennen und vor dem Einstich seiner Nadeln identifizieren. Leider wird diese Grundlage der modernen Akupunktur, die überhaupt erst eine optimale Wirkung der Nadeltherapie ermöglicht, gegenwärtig im Westen (aber auch in weiten Teilen Chinas) vernachlässigt. Es ist nicht verfehlt zu behaupten, dass die übliche Praxis der Akupunktur im Westen schlichtweg Pfuscherei ist, die mit den historischen Dokumenten nichts zu tun hat. Ein beschämendes Beispiel für solche Kunstfehler ist die jüngst auf Kosten der deutschen Krankenversicherten von den Krankenkassen mit Aufwand von Hunderten Millionen Euro durchgeführte statistische Untersuchung zur Wirksamkeit der Akupunktur (so genannte Gerac-Studie), bei der weder Nadelstecher noch Statistiker wussten, worum es hier eigentlich ging. Solch ein pseudowissenschaftlicher Unfug schlägt sich durch seine widersinnigen Ergebnisse, die niemand adäquat deuten kann, selbst ins Gesicht. Denn hier wird wissenschaftliche Dummheit zur medizinischen Farce und zum öffentlichen Skandal. 10 Zur Wirkungsweise der Akupunktur Wie wirkt Akupunktur überhaupt? Die Antwort heisst: Über die oben für zwei typische Akupunktur-Strukturen (He-Gu und Zu-San-Li) exemplarisch dargestellten Muskeln, Sehnenzüge, Nervenbahnen und Gefässverläufe. Wer weiterhin behauptet, die chinesische Medizin habe keine Anatomie gekannt, der ist falsch informiert. Ganz im Gegenteil: Wir können nur staunen über Umfang und Genauigkeit des anatomischen Wissens, das uns in klassischen Akupunktur-Werken wie dem Buch Huang-Di Nei-Jing Ling-Shu überliefert ist. Übrigens geben viele originale chinesische Namen für die Akupunkturstrukturen die Anatomie und Topografie dieser Strukturen korrekt wieder. So heisst die richtige Übersetzung für He-Gu 合 谷 „Treffpunkt im Tal“ bzw. „Treffpunkt im Knochental“. Das bezieht sich auf die Muskel-Verbindungen zwischen dem 1. und 2. Mittelhandknochen d.h. auf den 1. dorsalen Musculus interosseus, den 1. palmaren Musculus interosseus und den Musculus adductor pollicis zusätzlich zu allen anderen oben aufgeführten Strukturen. Gängige westliche Abkürzungen für die Akupunktur-Punkte wie Dickdarm 4, Magen 36, Lunge 5, Leber 3 und Milz 6 enthalten demgegenüber auch nicht die geringste medizinisch verwertbare Information. Sie sind, gemessen an der Tradition und an der medizinisch-klinischen Realität der Akupunktur reiner Unsinn. Sie stiften folglich grösste Verwirrung, was die Gerac-Studie beweist. In China sind solche falschen Abkürzungen unbekannt. Darum muss am Anfang jeder vernünftigen Akupunkturausbildung das Erlernen der korrekten anatomischen Nomenklatur der Akupunktur-Strukturen und der mit ihnen gekoppelten Organe und Körpergewebe stehen, die natürlich dieselben sind wie die bekannten Strukturen der modernen westlichen orthodoxen Heilkunde, unserer Schulmedizin. 11 Literaturhinweise (Auswahl): 1. Huang-Di Nei-Jing Ling-Shu 黃帝內經靈樞, Originalausgabe, Wuhan/China, 1852 (und moderne Ausgaben). 2. Huang-Di Nei-Jing Su-Wen 黃帝內經素問, Originalausgabe, Soochow/China, 1892 (und moderne Ausgaben). 3. Donald Kendall, DAO of Chinese Medicine, Understanding an Ancient Healing Art, Oxford University Press, Hongkong-New York, 2002. 4. Claus C. Schnorrenberger, Die topographisch-anatomischen Grundlagen der chinesischen Akupunktur und Ohrakupunktur, 6 Wandtafeln mit Textbuch, 6. Auflage, Hippokrates Verlag, Stuttgart 1993 5. Claus C. Schnorrenberger, Compendium Anatomicum Acupuncturae, Lehrbuch und Atlas anatomischer Akupunktur-Strukturen (unter Mitarbeit des Anatomen Prof. Hongchien Ha M.D.), Walter de Gruyter Verlag, Berlin-New York 1996. 6. Claus C. Schnorrenberger, Morphological Foundations of Acupuncture, An Anatomical Nomenclature of Acupuncture Structures; Acupuncture in Medicine, Journal of the British Medical Acupuncture Society, November 1996; 14(2):89103. 7. Claus C. Schnorrenberger, Chen-Chiu — The Original Acupuncture. A New Healing Paradigm, WISDOM Publications, Boston 2003. 8. Heinz Feneis, Wolfgang Dauber, 圖解人體解剖學手冊, Pocket Atlas of Human Anatomy, (in Chinesisch), Thieme/Ho-Chi, Stuttgart-New York-Taipei, 2001. 9. K. Chimin Wong and Wu Lien-Teh, History of Chinese Medicine, Being a Chronicle of Medical Happenings in China from Ancient Times to the Present Period, 2nd edition. National Quarantine Service, Shanghai, China, 1936. 12