In: Widerspruch Nr. 23 Markt und Gerechtigkeit (1992), S. 117119 Autor: Thomas Gaube Rezension Besprechungen Bücher zum Thema Amartya Sen On Ethics and Economics Cambridge 1987 (University Press) Innerhalb der inflationär anwachsenden Literatur zum Thema "Ethik und Ökonomie" zeichnet sich das Buch des Ökonomen Amartya Sen sowohl durch die Art der Fragestellung als auch durch seine Qualität aus. Sens Thema ist nicht das Problem, inwieweit ökonomische Prozesse bestimmten, von außen herangetragenen ethischen Normen widersprechen; sein primäres Interesse ist theorieimmanent: Kommt eine auf der Analyse individueller Entscheidungen basierende (positive) Wirtschaftstheorie ohne Aussagen bezüglich der das Verhalten beeinflussenden ethischen Normen aus? Das Buch entstand aus einer Vorlesungsreihe 1986 in Berkeley und ist in drei Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel, dessen Titel "Economic behaviour and moral sentiments" Erinnerungen an A. Smiths Werk wecken soll, versucht Sen zuerst zwei verschiedene Traditionen der ökonomischen Wissenschaft herauszuarbeiten - die ethische und die ingenieurorientierte Herangehensweise. Während sich erstere mit den Motiven menschlichen Handelns und der Bewertung sozialer Prozesse beschäftigt, ist das Denken des IngenieurÖkonomen rein instrumentell durch ein Ziel-Mittel-Schema geprägt. Sen stellt fest, daß die zeitgenössische Ökonomie im Gegensatz zur Klassik durch letzteren Ansatz dominiert wird und durch die angewachsene Distanz zur Ethik "verarmt" ist. Der zweite Teil dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem für die Wirtschaftstheorie fundamentalen Postulat des rationalen Verhaltens von Individuen. Die Probleme bestehen hier einerseits in der Definition von Rationalität und andererseits in der Gegenüberstellung von rationalem und realem Verhalten. Bezüglich der Definition liegen zwei Konzepte vor: Konsistenz und Maximierung des Eigeninteresses. Da nun das Rationalitätskriterium sich nach Sen nur auf die Differenz zwischen Ziel und dessen Erreichbarkeit beziehen kann, sei Konsistenz keine hinreichende Rationalitätsbedingung, und die Annah- me einer Maximierung des Eigeninteresses kann zwar empirisch richtig oder falsch, keinesfalls aber ein Kriterium für Rationalität sein: "Universal selfishness as actuality may well be false, but universal selfishness as a requirement of rationality is patently absurd" (16). Das zweite Kapitel des Buches geht näher auf die "Verarmungsdiagnose" ein. Hierzu wird erst das zentrale Bewertungsinstrument der modernen Wohlfahrtstheorie - das ParetoKriterium - untersucht: Ein sozialer Zustand heißt dann pareto-optimal, wenn es keine Möglichkeit gibt, den Nutzen eines Individuums zu erhöhen, ohne gleichzeitig den eines anderen zu verringern. Dieses Kriterium entstand historisch aus dem einfachen utilitaristischen Prinzip: "maximiere die Nutzensumme" in Verbindung mit der These, daß interpersonelle Nutzenvergleiche inhaltsleer sind (30). Das Pareto-Kriterium ist jedoch mit einigen logischen Schwierigkeiten verbunden. Erstens mußte man erkennen, daß mit der Ablehnung des interpersonellen Nutzenvergleichs nicht lediglich das Bewertungsproblem aus der Ökonomie verbannt wird, sondern daß ein solch konsequenter Individualismus im Allgemeinen auch die Unmöglichkeit konsistenter und vollständiger sozialer Entscheidungsmechanismen impliziert. Dieses Problem hat seit Arrows "Unmöglichkeitstheorem" (1951) viele Seiten einschlägiger Journale gefüllt und Sen hat dazu einige wegweisende Beiträge geliefert. Unabhängig davon ist aber auch das Kalkül individueller Nutzenmaximierung (und das aus ihm folgende Postulat "rationalen Verhaltens") selbst fragwürdig. Diesem Thema wendet sich Sen im Weiteren durch eine Ana- lyse des utilitaristischen Fundaments des Pareto-Kriteriums zu. Er betrachtet den Utilitarismus als Kombination folgender Prinzipien: 1. "Welfarism" die Idee, daß nur individueller Nutzen für ethische Erwägungen herangezogen werden kann; 2. Maximierung der Nutzensumme; und 3. Konsequentialismus: nur die Folgen einer Aktion werden bewertet. Da sich der zweite Punkt durch die Abkehr vom Nutzenvergleich gleichsam von selbst erledigt hat, richtet sich Sen's Kritik nur gegen "welfarism" und Konsequentialismus. Das welfarism-Prinzip ist mit zwei Problemen behaftet. Die erste Schwierigkeit besteht darin, daß der "Vorteil" (success) einer Person zwar auch das individuelle Wohlbefinden (well being aspect) reflektiert, aber nicht darauf reduziert werden kann, da Individuen in ihren Handlungen auch gesellschaftliche Ziele, Wertungen etc. berücksichtigen (agency aspect). Für Sen gibt es daher keinen Grund für die Annahme des "selfishness as actuality". Zweitens ist nicht klar, ob das individuelle Wohlbefinden ausschließlich "in the metric of happiness and desire-fulfillment" (45) bewertet werden kann. Die Probleme liegen also in der Unterschiedlichkeit der Kategorien "Wohlbefinden", "Nutzen" und "Vorteil". Sen's zweite Argumentationslinie wendet sich gegen den Konsequentialismus. Es ist typisch für die Wohlfahrtstheorie, daß sie ausschließlich die Ergebnisse ökonomischen Handelns in Form von Gütermengen betrachtet. Es bleibt damit gleichgültig, durch welche Form der Koordination (Markt, Plan o.".) dies erreicht wird. Sen stellt diese konsequentialistische Tradition in Frage und betrachtet im dritten Kapitel des Buches am Bei- spiel der "Freiheit" die Möglichkeit, daß auch die Mittel der Koordination selbst einer Bewertung unterliegen. Mögliche Wege der Abkehr von der traditionellen Theorie bestehen für ihn somit darin, Kategorien wie "Freiheit", "Rechte" etc. einerseits nicht instrumentell und andererseits nicht nur unter dem "well being aspect" zu betrachten. Hieraus ergibt sich eine Vielzahl von Problemen bezüglich der Pluralität von Zielen, der Unvollständigkeit von Entscheidungsregeln und dem Verhältnis von Mittel- und Zielbewertung. Die von Sen gemachten Vorschläge laufen alle darauf hinaus, den sozialen Einfluß auf individuelles Handeln hervorzuheben bzw. überhaupt erst in das Kalkül der ökonomischen Theorie einzuführen. Das Ziel eines solchen Forschungsprogramms besteht jedoch nicht darin, die "Ökonomie" mit der "Gerechtigkeit" zu versöhnen, sondern die ökonomische Prozesse besser zu verstehen. Als Ausblick hierzu werden am Ende des dritten Kapitels einige Hinweise gegeben, wie solch modifizierte Verhaltenshypothesen als Erklärung für einige "unangenehme" Ergebnisse in der experimentellen Spieltheorie nützlich sein können. Das Buch hat den großen Vorzug, daß der Autor in einfacher Sprache und aus erster Hand die Grundideen einiger Forschungsrichtungen darstellt, die aufgrund ihres formalen Apparats nicht leicht erschließbar sind. Vieles des Geschriebenen geht auf eigene Arbeiten Sen's zurück und seine Darstellung verdeutlicht sehr gut das aktuelle Denken vieler Ökonomen über Probleme der Rationalität und der Motivation ökonomischen Verhaltens. Thomas Gaube