Philologie

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Geschichte der Literaturwissenschaft
1810-1870
Universitäre Literaturforschung und ihre Alternativen
Philologie
Philologie
Philologie als professionalisierte „Liebe zum Wort“ bzw. „Liebe des Wortes“ umfasst
weit mehr als die editorische Erstellung gesicherter Texte. Um schriftsprachliche
Überlieferungen zugänglich zu machen, waren (und sind) ihre vorliegenden
Zeugnisse zu ermitteln, Regeln für die Konstitution eines zuverlässigen Textes
abzuleiten und die so eingerichteten Texte in allen für ihr Verständnis relevanten
Aspekten zu untersuchen. Gleichwohl bestand und besteht eine zentrale
Verpflichtung der „Liebe zum Wort“ in der Sicherung materialer Grundlagen jedes
Umgangs mit Literatur. Der sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts
institutionalisierende Umgang mit Literatur im Rahmen universitärer Wissenskulturen
folgte mit seinen Prozeduren einer solchen Grundlagensicherung den Vorgaben der
(auch in dieser Hinsicht) Klassischen Philologie: Um eine gesicherte Basis für die
Forschung und also einen gültigen Text herzustellen, mussten zuerst die Prozesse
seiner Überlieferung – mündlich, handschriftlich und/ oder gedruckt – rekonstruiert
werden. Dazu waren alle auffindbaren Textzeugen (Abschriften oder Drucke eines
Werkes bzw. alles, was den vollständigen oder auch fragmentarischen Text des
Werkes enthielt) zu sammeln und die Hauptüberlieferung von der
Nebenüberlieferung (Textspuren wie Zitate, Auszüge, Paraphrasen, Übersetzungen
u.ä.) in anderen Werken zu trennen. Je mehr Textzeugen sich ermitteln ließen, desto
größer war die Anzahl der zu berücksichtigenden Varianten – bei den durch
Abschreiben vervielfältigten Texten des Mittelalters ebenso wie bei den durch
fehlerhafte Raubdrucke vermehrten Jugendwerken Johann Wolfgang Goethes, deren
„offenbare Verderbnisse“ Michael Bernays 1866 nachwies und damit die
neuphilologische Textkritik begründete. [7] Die Sicherheit eines kritisch
rekonstruierten Textes hing davon ab, wie genau die Varianten differenziert werden
konnten. Da Schriftstücke aus der Antike oder aus dem Mittelalter in der Regel nicht
in Autorhandschriften oder in auktorial gebilligten Textträgern vorlagen, sondern in
Jahrzehnte oder Jahrhunderte später entstandenen Abschriften, richtete sich das
besondere Interesse der altphilologischen Textkritik darauf, aus der überfremdeten
Überlieferung den verlorenen ursprünglichen Autortext wiederherzustellen bzw. sich
diesem so weit wie möglich anzunähern. Die Abhängigkeiten der unterschiedlichen
Textträger
untereinander
waren
zu
ermitteln
und
in
Form
eines
Überlieferungsstammbaumes (Stemma) zu dokumentieren, um schließlich die
zuverlässigste unter den überlieferten Handschriften als Leithandschrift des Textes
bzw. maßgeblichen Repräsentanten des Werkes zu bestimmen. Die
neuphilologische Textkritik konzentrierte sich dagegen auf die Erschließung und
Darstellung der primären Textgeschichte, also auf die Herstellung und Veränderung
von Texten durch Autoren bzw. Verlagsinstanzen und sonderte dazu primäre (vom
Autor stammende) und sekundäre (nicht vom Autor stammende) sowie autorisierte
(vom Autor als gültig erklärte) und nicht autorisierte Varianten. Zudem wurde
zwischen aktiver und passiver Autorisation unterschieden; je nachdem, ob eine
Veränderung der Textgestalt dem Willen des Autors entsprach oder vom Urheber
unbemerkt in einen autorisierten Druck gelangte bzw. von diesem gebilligt, aber nicht
vorgenommen wurde. – Übereinstimmendes Ziel beider Verfahren war die Absicht,
die Korruptelen, d.h. die durch fehlerhaftes Abschreiben oder nicht autorisierte
Nachdrucke entstandenen Verderbnisse des Textes zu beseitigen. Die sichere
Korrektur (Emendation) stellte den richtigen Text wieder her; eine Konjektur gab eine
argumentativ begründbare Vermutung über den richtigen Text an, wenn eine Stelle
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©Ralf Klausnitzer / Letzte Änderung am: 25.11.2007
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Geschichte der Literaturwissenschaft
1810-1870
Universitäre Literaturforschung und ihre Alternativen
Philologie
nicht eindeutig zu korrigieren war.
Die Ergebnisse einer so fundierten Behandlung von Texten waren beeindruckend.
Der seit 1825 als Professor für deutsche und klassische Philologie an der Berliner
Friedrich-Wilhelms-Universität
lehrende
Karl
Lachmann
applizierte
das
altphilologische Editionsverfahren auf verschiedene Textkorpora und schaffte es –
trotz der nicht unproblematischen stemmatischen Voraussetzung seiner Methode, die
eine nicht-kontaminierte Überlieferung mittelalterlicher Texte annahm –
wissenschaftlich verwendbare Ausgaben antiker Autoren, des Neuen Testaments
und schließlich auch von Texten der neueren Literatur herzustellen. 1826 erschien
seine Ausgabe Der Nibelunge Noth mit der Klage in der ältesten Gestalt, die in der
zweiten Auflage den charakteristischen Nebentitel „Nach der ältesten überlieferung
mit bezeichnung des unechten und mit den abweichungen der gemeinen lesart“
erhielt und bis zu Karl Bartschs auf der Handschrift A beruhenden Ausgabe von 1870
ohne Konkurrenz blieb. (Im Mai 1816 hatte Lachmann seine Probevorlesung Über
die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth gehalten und damit
als erster Habilitand über ein altdeutsches Thema gesprochen. Mit dieser von
Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum ausgehenden Untersuchung
begann „die im eigentlichen Sinne wissenschaftliche Erforschung der älteren
deutschen Literatur“ (Stackmann 1979). Gemeinsam mit Georg Friedrich Benecke
erstellte Lachmann 1827 eine Ausgabe des Iwein von Hartmann von Aue, die –
insbesondere in der zweiten Auflage von 1843 – zum Vorbild der nachfolgenden
germanistischen Editionsphilologie wurde; die gleichfalls 1827 veröffentlichte Edition
der Gedichte Walthers von der Vogelweide berücksichtigte erstmals die gesamte
handschriftliche Überlieferung und leitete die moderne Walther-Philologie ein. [8]
1831 folgte Lachmanns editio minor des Neuen Testaments, an die sich eine
zweibändige editio maior anschloss; [9] zwischen 1838 und 1840 gab der Philologe
eine 13bändige Lessing-Ausgabe heraus und setzte damit einen Maßstab für den
Umgang mit neuerer Literatur. Sein Schüler und Nachfolger auf dem Berliner
Lehrstuhl Moriz Haupt (1808-1874) edierte u.a. Hartmann von Aues Erzähltexte Erec
(1839) und Der arme Heinrich (1842), erklärte Ovids Metamorphosen (1853) und
versorgte die Schüler des humanistischen Gymnasiums mit Cornelii Taciti Germania
in usum scholarum recognita (1855). Moriz Haupt führte auch die von Lachmann
begonnene Sammlung Des Minnesangs Frühling – eine kanonisch gewordene
Auswahl von Minneliedern und Sangspruchdichtung – fort; seine 1858 publizierte
Neidhart von Reuenthal-Edition ist die bis heute (wenn auch nicht unangefochten)
gültige Textbasis für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem wohl
erfolgreichsten Liedautor des deutschen Mittelalters.
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