Einheit 4 von Tobias Arni-Häberli Ihr seid lebendige Steine 1. Petrus 2, 1–10 Theologische Einleitung Woher hat der Verfasser des 1. Petrusbriefes das paradoxe Bild eines «lebendigen Steines»? Das Bild ist zusammengesetzt aus zwei Vorstellungen. Die Vorstellung des Steines nimmt der Verfasser aus der jüdischen Tradition. Er zitiert aus dem Alten Testament, Jesaja 28, 16: «Sieh, in Zion lege ich einen Grundstein, einen harten Stein, einen kostbaren Eckstein als festen Grund. Wer glaubt, wird nicht weichen!» Der Stein wird also von 36 seiner Qualität als unverrückbares Fundament betrachtet. Der Verfasser versteht also Jesus im übertragenen Sinne als das unverrückbare Fundament des Glaubens. Das Adjektiv «lebendig» nimmt er aus einer anderen Qualität von Jesus: Christus ist auferstanden – er lebt. Im Begriff «lebendiger Stein» werden also zwei unterschiedliche Qualitäten von Jesus Christus beschrieben. Einerseits ist Christus Garant für ein 4/2009 Wege zum Kind 4 Ihr seid lebendige Steine sicheres Fundament. «An Jesus Christus glauben frühe Christen mit diesem Kult in Berührung heisst, auf sicheren Boden unter den Füssen verkamen und sich davon abgrenzten. Vielleicht trauen», könnte man sagen. auch der Verfasser des Petrusbriefes, der damit Andererseits ist Christus auferstanden und in einer Umdeutung des Mythos sagen will: Der zeigt dadurch den Weg vom Tod ins Leben – im «Stein, aus dem Leben wächst», ist nicht Kybele, Gegensatz zu dem, was gängige sondern Jesus Christus. menschliche Erfahrung ist, dass Christus ist auferstanden nämlich der Weg vom Leben in und zeigt dadurch den Nun, es bleibt beim Paradox. Es den Tod führt. Weg vom Tod ins Leben. gibt in unserer Wahrnehmung Für uns Heutige ist das Wortkeine lebendigen Steine, so wenig paar «lebendiger Stein» etwas, an was wir schwer es harte Wolken gibt oder von Wasser überfliesanknüpfen können in unserer Vorstellung. Das sende Wüsten. Macht es denn nun Sinn, dieses war in den ersten Jahrhunderten nach Christus Wortpaar überhaupt zu benutzen? im römischen Herrschaftsgebiet anders. Dass Kinder werden mit diesem Wortpaar wohl aus Steinen Leben entstehen kann, kommt zum weniger Mühe haben wie Erwachsene. In der Beispiel im Mythos der Kybele zum Ausdruck: Kinderwelt kann ja alles «lebendig» sein. Der Zeus schlief einmal auf dem Berg Agdos in Holzstab wird zum Flugzeug, die Puppe spricht, Phrygien ein und liess dabei seinen Samen zu die Holzkuh gibt Milch. Es ist ja auch diese UnBoden fallen. An dieser Stelle wuchs sofort der bekümmertheit der Kinder, die uns Erwachsene zwitterhafte Agdistis aus dem Felsen empor. Er fasziniert und die wir gleichzeitig verloren haben. hatte ein furchterregendes Wesen und wurde In der Geschichte für die Kleineren nehme deshalb von den übrigen Göttern kastriert. Der so ich darum auch einen sprechenden Backstein als von seiner Männlichkeit befreite Agdistis wurde Grundlage, um mit den Kindern zu kommuniziezur grossen Mutter Kybele. Aus den abgetrennten ren. «Backi», wie ich den «lebendigen» Backstein Genitalien aber entstand Attis. Da Kybele und nenne, zeigt Gefühle. Auf der Vorderseite wird Attis ursprünglich eine Person waren, zogen sie ihm ein lachendes Gesicht, auf der Rückseite ein sich gegenseitig an … weinendes aufgemalt. In der Zeit des Zweiten Punischen Krieges In der Geschichte mit den Die Göttin Kybele ver(218–201 v. Chr.) fanden die Römer in den SibylGrösseren versuche ich historisch half den Römern zum linischen Büchern den Schicksalsspruch: «Dir darzustellen, welche Motivation Sieg gegen Hannibal. fehlt die Mutter; drum such – ich befehl es dir, vielleicht der in Rom lebende Römer – die Mutter …» Erst nach einer Auskunft Verfasser des Petrusbriefes hatte, einen Brief an durch das delphische Orakel verstanden die griechisch sprechende christliche Gemeinden in Römer, dass die Göttermutter auf den idäischen Kleinasien zu schreiben. Hier ist sicher sinnvoll, Höhen Phrygiens gemeint war. Im Jahr 205 die Kinder vor der Erzählung auf die römische v. Chr. wurde sie in Gestalt eines faustgrossen Zeit einzustimmen. Vielleicht mit GegenstänMeteoriten feierlich von Pessinus nach Rom den oder Bildern, die zeigen, wie in der Antike geholt, in eine schwarzgesichtige Silberstatue gschrieben worden ist. eingearbeitet und im Jahr 191 v. Chr. in einem Und hier noch ein paar Fragen, die sich im eigenen Tempel auf dem Palatin installiert. Da Team besprechen lassen: die Göttin den Römern zum Sieg über Hannibal Was bedeutet uns das Bild von den lebendiverhalf, wurde sie zu einem wichtigen Bestandteil gen Steinen? Löst es positive oder negative des Staatskultes. Es wurden ihr jährliche Spiele, Gedanken aus? die «ludi Megalenses» (4.–10. April), geweiht Wenn wir in Anspruch nehmen, als Christen und der Prätor brachte ihr ein jährliches Opfer lebendige Steine zu sein (statt erst welche von Staats wegen dar. Der Kult scheint in den werden zu müssen), wo merken wir das in nächsten 500 Jahren einen kontinuierlichen Aufunserem Leben? Wo und wann fühlen wir schwung genommen zu haben. Es ist sicher, dass uns als lebendige Steine? Wege zum Kind 4/2009 37