ADHS-Diagnose an der Netzhaut

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ADHS-Diagnose an der Netzhaut: retinale
Ganglienzellen als Außenstelle des Gehirns
„Ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will? [...] Er schaukelt gar zu wild, bis der Stuhl
nach hinten fällt.“ Schon 1845 beschrieb Heinrich Hoffmann in der Geschichte vom ZappelPhilipp Verhaltensweisen, die typisch für das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom
(ADHS) sind. Jedoch ist diese Störung als Krankheitsbild nicht klar umrissen, sondern erstmal
nur eine Sammlung von Symptomen. Der Leiter der Sektion für Experimentelle
Neuropsychiatrie Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst hat am Universitätsklinikum Freiburg mit Dr.
Emanuel Bubl und Prof. Dr. Michael Bach von der Klinik für Augenheilkunde eine Methode
gefunden, wie man durch einen objektiven physiologischen Marker dem psychischen
Phänomen ADHS diagnostisch näher kommt. Die Forscher messen dafür die Zellaktivität der
Netzhaut im Auge.
Da ist nichts mehr, was ihn hält: Hatte schon der Zappel-Philipp eine ausgeprägte Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)? © Heinrich Hoffmann (1809-1894)
Durch reine Beobachtung würde man dem Zappel-Philipp auch heute eine
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zuschreiben, dem Hans Guck-in-dieLuft eher eine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (ADS). ADHS ist ein multifaktoriell
bedingtes Störungsbild, dessen neuronale Organisation noch recht unbekannt ist. Die
Symptome sind äußerst vielgestaltig wie Konzentrationsschwäche, Unaufmerksamkeit, leichte
Ablenkbarkeit, motorische Überaktivität, Impulsivität und Reizbarkeit. ADHS ist mit sechs bis
zehn Prozent eine der häufigsten Störungen im Kindes- und Jugendalter, Jungen sind zwei- bis
viermal mehr betroffen. Genetische Ursachen scheinen dabei bedeutsamer zu sein als
Erziehung. Bei einem Drittel der diagnostizierten Kinder besteht ADHS im Erwachsenenalter
weiter fort. Bei ihnen ist das Kernsymptom die Unaufmerksamkeit, die motorische Unruhe ist
meist geringer. „Erwachsene mit ADHS haben eine ausgeprägte innere Unruhe, viele passen
sich an, indem sie extrem viel Sport machen", sagt Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst von der
Experimentellen Neuropsychiatrie am Universitätsklinikum Freiburg.
Krankheit oder Persönlichkeit?
Der Frankfurter Art Heinrich Hoffmann beschrieb im Han Guck-in-die-Luft dieselben Symptome, die eine
Aufmerksamkeitsstörung charakterisieren. © Heinrich Hoffmann (1809-1894)
Bei der Diagnose von ADHS ist ein Psychiater auf den Selbstbericht des Patienten angewiesen,
daher ergeben sich im psychiatrischen Gutachten die wesentlichen Symptome aus
Befragungen. Das ist nicht einfach, wenn ein Arzt nur kurz Kontakt mit dem Patienten hat.
Jedoch ist die klinische Diagnose die Voraussetzung für eine Therapie. Anhaltspunkte für die
Diagnose ADHS können ein eingeschränktes Arbeitsgedächtnis, eine Aversion gegenüber
Belohnungsaufschub oder eine geringe Anstrengungsbereitschaft bezüglich angestrebter Ziele
sein. Ist die Abgrenzung zu medizinischen Ursachen wie beispielsweise Epilepsie erfolgt, muss
auch von ähnlichen Symptomen durch eine noch normale Störung des Sozialverhaltens durch
Konflikte unterschieden werden. Ein wichtiges Kriterium für ADHS ist neben dem stabilen
Anhalten der Symptome von frühester Kindheit an auch eine deutliche alltägliche
Beeinträchtigung für die Betroffenen. Die Beurteilung ist schwierig, denn vergleichbare
Symptome können auch durch Überforderung normal begabter aber gestresster Kinder
entstehen. Das kann man nicht uneingeschränkt Krankheit nennen. „Es ist dann eigentlich ein
Syndrom", so Tebartz van Elst, „ein Stärke-Schwäche-Profil, was mit der Biologie zu tun hat."
Erschwerend kommt die dynamische Bewertung durch die Gesellschaft hinzu. „In unserer
Gesellschaft gilt etwas anderes als angepasst als noch vor 100 Jahren im Wilden Westen",
meint der Wissenschaftler, „die Gesellschaft entscheidet, was krank ist. Die Grenzen sind
fließend und werden moralisch mitdefiniert."
Objektivität ist wünschenswert
Experten weisen seit langem auf Wissenslücken bezüglich einer adäquaten Diagnostik von
ADHS hin. Da keine objektiven Messmethoden für psychische Erkrankungen wie Schizophrenie,
Depression und ADHS existieren, wird die Diagnose oft angezweifelt. „Wir hätten gerne
objektive Marker für unsere Krankheiten in der Psychiatrie", meint Tebartz van Elst, „wo die
mentale Welt bisher nur kommunikativ erschließbar ist." Oft genug lässt sich darüber streiten,
ab wann eine ADHS vorliegt. Bereits früher hat der Freiburger Psychiater mit seinen Kollegen
Dr. Emanuel Bubl und dem Sehforscher Prof. Dr. Michael Bach das Kontrastsehen bei
Depressiven untersucht und festgestellt, dass diese deutlich schlechter Kontraste
wahrnehmen. Als die Forscher dies publizieren wollten, wurde die Objektivität der Ergebnisse
kritisiert. „Wir haben dann eine objektive Methode gesucht, um ein
Aufmerksamkeitsphänomen auszuschließen", erzählt Tebartz van Elst, „und das
Elektroretinogramm gewählt." Beim Elektroretinogramm (ERG) wird über eine kleine
Fadenelektrode im Unterlid des Auges die Aktivität der Netzhautzellen gemessen. Bekannt war,
dass die elektrische Aktivität im neuronalen Netzwerk der Retina bei Menschen mit ADHS
erhöht ist. Probanden mit und ohne ADHS wurde auf einem Bildschirm ein Schachbrettmuster
gezeigt, bei dem die hellen und dunklen Quadrate rasch wechselten. Die Ganglienzellen in der
Netzhaut (Retina) reagieren sehr stark auf diesen Kontrastwechsel in Form einer Sinuswelle,
was die Forscher elektrophysiologisch messen konnten. Die Ganglienzellen in der Netzhaut
gehören entwicklungsbiologisch zum Gehirn, sind also echte Neuronen, die ausgelagert und
nach vorn verschoben wurden. „Das ist sozusagen eine Außenstation des Gehirns, die man
neurophysiologisch untersuchen kann", erläutert Tebartz van Elst.
Antwort der Retina bei ADHS-Patienten verrauschter
Bei Parkinson und Depression wurde diese Methode schon erfolgreich angewandt. Man fand
heraus, dass die Stärke des Antwortsignals der retinalen Ganglienzellen im Vergleich zu
Gesunden deutlich geringer war. Bei ADHS-Patienten schauten die Wissenschaftler indes
erstmals auf ein anderes Signal, da in der Amplitude kein Unterschied zu Gesunden existierte.
Hier stellten sie fest, dass das retinale Antwortsignal deutlich verrauschter ankam, als es beim
Stimulus losgeschickt wurde. Es wird also die Abbildungsgenauigkeit der Frequenz im
Vergleich zur gegebenen Stimulus-Frequenz analysiert. „Wenn das Schachbrett-Muster 12-mal
pro Sekunde die Farben wechselt, haben wir normalerweise als Antwort eine 12-HertzSinuswelle", so Tebartz van Elst. Der 12-Hertz-Stimulus hat sich in den Zellen der Gesunden
also in das gemessene Signal einer 12-Hertz-Antwort übersetzt. „Bei den Probanden mit ADHS
kommt der sensorische Reiz schon auf Netzhautebene mit mehr 11- und 13-Hertz-Antworten
an", sagt er. Oder anders: Die Antwortpräzision der Netzhaut ist nicht so gut wie bei den
gesunden Probanden, sie ist verrauschter. Auf der Suche nach einer Erklärung für das
Phänomen gibt es noch viele Fragen. Klar ist schon jetzt, dass die quervernetzenden
Amakrinzellen zwischen den Ganglienzellen stark dopaminerg moduliert sind und in ihrer
Aktivität mit dem zentralen dopaminergen System im Gehirn mitschwingen. „Die
Mit dem ERG hat er eine objektive Methode, ADHS
identifizieren zu können: Arzt und Psychiater Prof. Dr.
Ludger Tebartz van Elst. © Prof. Dr. Ludger Tebartz van
Elst, Uniklinik Freiburg
dopaminergen Zellen sind die verantwortlichen
Konzertmeister des lokalen Netzwerkes", weiß
Tebartz van Elst, „und genau bei der
Konzertierung liegt wahrscheinlich das
Problem." Ein Indiz dafür ist, dass
Dopaminmangel zur Verstärkung des
Rauschens führt. Als nächstes soll getestet
werden, ob Ritalin, das bei ADHS eingesetzt
wird und den Dopaminspiegel hoch hält, wieder
ein präziseres Antwortsignal in der Netzhaut
zur Folge hat. In jedem Fall wäre das
Schachbrett-Muster-ERG bei der
Diagnosestellung und als Therapiebegleiter bei
ADHS ein nützliches Untersuchungswerkzeug,
das leicht einsetzbar wäre. Denn mit diesem
Signal hätte man einen Marker der
Informationsverarbeitung im retinalen
Netzwerk. „Es wäre ein objektives Instrument,
was die Dimension der ADHS-Struktur abbildet
wie ein Zollstock die Größe", betont Tebartz van
Elst. Alle dopaminerg wirkenden Medikamente
ließen sich anhand dieses Signals überprüfen.
Fachbeitrag
27.08.2015
Stefanie Heyl
BioRegion Freiburg
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
Weitere Informationen
Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst
Experimentelle Neuropsychiatrie
Universitätsklinikum Freiburg
Hauptstr. 5
79104 Freiburg
Tel.: 0761 / 270 - 270 66030
E-Mail: tebartzvanelst(at)uniklinik-freiburg.de
Der Fachbeitrag ist Teil folgender Dossiers
Neurowissenschaften
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