Leid in Liebe Wandeln – Die Briefe der Familie Pfaff 1943-1945

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„ LEID IN LIEBE WANDELN “
DIE BRIEFE DER FAMILIE PFAFF
1
2
„Leid in Liebe wandeln“
Die Briefe der Familie Pfaff
1943–1945
Herausgegeben und erläutert
von
Michael Sachs
unter Mitarbeit von
Helga Anz und Edith Nikel-Ruppmann
alcorde verlag
3
© für diese Ausgabe bei alcorde Verlag, Essen, 2008
© Prof. Dr. med. Michael Sachs
Richard-Wagner-Str. 51, 60318 Frankfurt am Main
Lektorat: Hans-Joachim Pagel, Essen
Fotos: Archiv Pfaff / Michael Sachs
Satz und Layout: alcorde Verlag, Essen
Reproduktionen der Abbildungen und digitale Bearbeitung:Thomas Stolper
Die Abbildung auf dem Umschlag zeigt einen Brief von Hans Pfaff
an seine Frau Ella Pfaff vom September 1943 aus Narvik
Gesamtherstellung: fgb-freiburger graphische betriebe, Freiburg
ISBN: 978-3-939973-08-9
4
INHALT
1. Einleitung
7
2. Die Familie Pfaff
13
3. Briefe von Peter Pfaff aus Kowno (Litauen)
April bis August 1943
29
4. Briefe von Peter Pfaff aus Nordfrankreich
September 1943 bis Januar 1944
74
5. Briefe von Peter Pfaff aus Bergen bei Celle
März bis August 1944
115
6. Briefe von Ella Pfaff aus Holland
August bis September 1944
150
7. Briefe von Ella Pfaff aus Braunschweig und Wolfenbüttel
April bis Oktober 1944
161
8. Briefe von Hans und Ella Pfaff aus Norwegen
September 1943 bis März 1945
169
9. Peter Pfaffs letzte Briefe auf dem Weg nach Lettland
September bis Oktober 1944
217
10. Das Fronttagebuch von Peter Pfaff aus Lettland
1. bis 4. Oktober 1944
226
11. Frühe Briefe von Peter Pfaff
Sommer 1942 bis April 1943
237
Anstelle eines Nachworts
Anmerkungen
Literatur
Personenregister
Ortsregister (Absendeorte der Briefe)
5
247
248
281
285
287
6
1 . EINLEITUNG
Publizierte Briefwechsel haben eine ganz besondere Bedeutung als historisches Quellenmaterial. Denn Briefe geben nicht nur zeitgeschichtliche
Fakten wieder, sie sagen gleichzeitig auch viel über den Charakter des
Schreibers sowie über den Empfänger und über das Verhältnis des einen
zum andern aus. Das gilt vor allem, wenn beim Abfassen der Briefe nicht
an eine spätere Veröffentlichung gedacht wurde.1 „Die Bürgerliche Briefkultur des 20. Jahrhunderts ist ein weißer Fleck in der Forschung“, wird die
Frankfurter Professorin für Zeitgeschichte Marie-Luise Recker zitiert.2
Unter den hier erstmals vollständig publizierten Briefen der Wolfenbütteler Familie Pfaff aus den Jahren 1943–1945 stehen die Feldpostbriefe
des Sohnes Peter im Mittelpunkt des Interesses. Sämtliche Mitglieder der
Familie Pfaff, Mutter,Vater und Sohn (einziges Kind), waren während des
Zweiten Weltkrieges Angehörige der Wehrmacht und schrieben Feldpostbriefe: der Vater (im Zivilberuf Mathematik-Lehrer an einem Gymnasium) als Reserve-Offizier, die Mutter (Klavierpädagogin) als Rot-KreuzSchwester in einer Heeresbetreuungsabteilung und der Sohn Peter als
Kriegsoffizieranwärter.
Der Chirurg, Schriftsteller und spätere Pfarrer Hans Graf Lehndorff
(1910–1987)3 hat bereits 1964 eine – allerdings subjektive – kleine Auswahl aus einigen Briefen Peter Pfaffs erstmals publiziert.4 Im Vorwort zu
dieser Ausgabe schrieb der Herausgeber Graf Lehndorff:
„Das Land, aus dem diese Briefe kommen, kann man nicht anders als mit Ehrfurcht betreten. Es ist die zeitlose Welt einer klaren, tiefempfindenden, mit reichen
Gaben ausgestatteten Menschenseele, der das Glück zuteil geworden ist, in ein
von Liebe und mitmenschlicher Verantwortung geprägtes Milieu hineingeboren zu
werden und sich darin entfalten zu können.“ 5
Peter Pfaff fiel im Alter von 19 Jahren an der Ostfront in Lettland. Ein
Leben wurde ausgelöscht, bevor es eigentlich begonnen hatte, doch hat
dieser junge Mann ein Vermächtnis hinterlassen, das seine Lebensjahre
überdauert.6
Was ist das Besondere dieser Briefe?
Die Briefe zeigen das Ringen eines früh vollendeten Abiturienten mit den
ihm begegnenden Menschen in einer bereits zusammenbrechenden Epoche gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Briefe schildern auch, wie
der feinfühlige 18 Jahre junge Mann direkt nach dem Abitur im April
1943 aus der heilen Welt seiner Familie und seiner Freunde herausgerissen
7
EINLEITUNG
wurde und zunächst vier Monate beim „Reichsarbeitsdienst“ (RAD) im
fernen Litauen dienen mußte, bevor er dann zur Wehrmacht (Heer) nach
Frankreich eingezogen wurde. Die Briefe zeigen die ungewöhnliche seelische Reife Peter Pfaffs, der gläubig und idealistisch ist, aber gleichzeitig
die Menschen und die Verhältnisse seiner Zeit kritisch und distanziert betrachtet. Die Briefe zeigen einen zarten, empfindsamen, reinen jungen
Menschen, der versucht, mit der rauhen Wirklichkeit des Soldatseins und
des Krieges fertig zu werden, ohne seine Persönlichkeit und seine Ideale
aufzugeben.
Das wichtigste Lebensziel Peter Pfaffs, der nach dem Krieg Medizin studieren und dann Chirurg und/oder „Seelenarzt“ werden wollte, war es,
„Liebe auszustrahlen“ und zu empfangen, den Mitmenschen „ihr Herz aufzuschließen“ und den Weg zu Gott zu suchen.7
Die Briefe fanden in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts
ein unerwartetes Interesse und eine sehr positive Resonanz, so daß bald
eine zweite und dann auch eine dritte Auflage notwendig wurden. Sie
wurden als ein erschütterndes Dokument einer Generation bezeichnet,
„die nicht wußte, daß sie so schrecklich mißbraucht wurde“.8
Wilhelm Karl Prinz von Preußen (1922–2007), ein Enkel des letzten
deutschen Kaisers, schrieb an Graf Lehndorff wenige Wochen nach Erscheinen der Erstausgabe:
„Lieber Hans. Selten hat mich ein Buch so bewegt wie die ‚Briefe des Peter
Pfaff‘, die Sie mir in Godesberg in die Hand drückten. […] Bei aller Zartheit strömen diese Briefe doch eine überwältigende Kraft aus, und ich bin sicher, daß jeder,
der sie in die Hand bekommt – ob Jugendlicher oder Erwachsener – etwas davon in
sich aufnehmen wird und am Ende nicht mehr der gleiche ist wie zuvor. […] Ihr
dankbarer Wilhelm Karl“ 9
Die aus Aahof (Lejasciems/Lettland) stammende Schriftstellerin Dr. phil.
(Univ. Riga) Zenta Maurina (1897–1978), die 1945 aus ihrer Heimat vor
der Roten Armee nach Schweden flüchtete, schrieb aus Uppsala an Ella
Pfaff:
„Sehr geehrte, liebe Frau Pfaff! Die Lektüre dieses sehr stilvoll herausgegebenen
kleinen Bandes hat mich tief berührt, daß ich meine Arbeit unterbreche und Ihnen
gleich ein paar Zeilen schreiben will. Mein erster Gedanke: Es waren die Besten,
die aus edelstem Holz geschnitzten, die aus dem Felde nicht heimkehrten, daher ist
unsere Zeit so dürr und verdürftigt. Die Wunde, die ein so tiefer Verlust schlägt,
heilt nicht zu und dennoch müssen wir weiterleben, d. h. lieben und wirken, noch
intensiver lieben, um im Sinne der Dahingegangenen zu leben. Die Briefe Ihres
Sohnes sind wie die zarten Frühlingsblumen – Narzissen und Krokusse –, die die
Kraft besitzen, die harte Wintererde zu durchbrechen, ohne den Hauch und
Schmelz ihrer Schönheit zu verlieren. […]. Dieser kleine Band umschließt ein
8
EINLEITUNG
unverrückbares Ethos und jene Schönheit, die menschliche Bindungen gewinnen,
wenn sie in einer höheren Welt verankert sind. Daß Ihr Sohn in Lettland, unweit
von Prekuln beigesetzt ist, bewegte mich ganz besonders. Nach Prekuln bin ich oft
mit meinem Vater gefahren, wenn er als Kreisarzt10 dort amtlich zu tun hatte.
[…]. Mit vielen Grüßen Ihre [gez. Zenta Maurina]“11
Wie kam es zur Erstausgabe der Briefe?
Im Jahre 1963 lernte der aus Ostpreußen stammende Graf in seinem Haus
in Bad Godesberg die Klavierpädagogin Ella Pfaff aus Wolfenbüttel kennen. Frau Pfaff übergab dem Grafen maschinengeschriebene Abschriften
der Feldpostbriefe ihres im Kriege gefallenen einzigen Kindes zum Lesen.
Graf Lehndorff schrieb daraufhin an Frau Pfaff:
„Verehrte gnädige Frau! Sie haben mir die Briefe Ihres Sohnes, Ihres einzigen,
einzigartigen Kindes geschenkt! Ich hatte Ähnliches schon immer erhofft, seit mein
Buch12 erschienen war und die Seiten 255–59 gelesen wurden. Lange schwankte
ich, ob ich sie mit veröffentlichen sollte, tat es dann auf Zureden eines objektiven
Menschen, den ich um Rat fragte. Aber nun erst bin ich gewiß, daß es recht war. Ich
habe die Briefe gleich gelesen und lasse sie mit mir gehen. Es ist eine vertraute Welt,
und doch betritt man sie mit Ehrfurcht. An ihr teilhaben zu dürfen, ist schon
Geschenk genug. Festhalten kann man sie nicht. Aber ich darf wohl gewiß sein, daß
auch Ihnen der Trost zuteilgeworden ist, in dem die Flamme des Schmerzes weiterbrennen darf ohne zu zerstören und ohne sich zu verbrauchen, vielmehr lebenspendend da wo etwas sterben will. Für Ihr Vertrauen dankend grüßt Sie in Ergebenheit Ihr Gf. Lehndorff.“13
Drei Wochen später schrieb Graf Lehndorff einen weiteren Brief an
Frau Pfaff:
„Verehrte gnädige Frau! Wollen Sie es bitte recht verstehen, wenn ich mich heute
noch einmal an Sie wende. Sie können selbstverständlich sofort abwinken – wenn
ich binnen 8 Tagen keine Antwort von Ihnen erhalte, will ich das als Absage auffassen. Aber es macht mich einfach unruhig, daß ich diesen Reichtum, den Sie mir
mit den Briefen Ihres Sohnes anvertraut haben, für mich behalten soll. Jeden Tag
denke ich daran und überlege, ob und wie ich Ihnen mein Anliegen unterbreiten
soll. Aber nun will ich nicht länger zögern: Ich finde es notwendig daß die Menschen mehr von dieser sauberen Welt wissen.Was werden heute alles für schreckliche
Dinge geschrieben und empfohlen und mit was für Schmutz wird die Vergangenheit
beworfen. Aber nicht nur das – es geht von diesen Briefen eine Heilkraft aus, und
die sollte nicht ungenutzt bleiben. Sie wird einfach gebraucht. Meine Frage können Sie sich denken: Wären Sie bereit, die Briefe für einen Druck freizugeben?
Natürlich unter der Voraussetzung veränderter Namen und sonstiger Hinweise.
Oder ist daran garnicht zu denken? Sie könnten ja den ‚Erlös‘ von vorneherein
9
EINLEITUNG
für eine große Sache im Dienst am Menschen zur Verfügung stellen. Ich habe –
außer mit einer uns befreundeten alten Dame – noch mit keinem Menschen über
diesen Plan gesprochen und will es auch nicht, ehe Sie sich dazu geäußert haben.
Ich würde die technischen Dinge in die Hand nehmen, sodaß Sie – abgesehen vom
Urheberrecht – nichts damit zu tun haben brauchten. Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, verehrte gnädige Frau, und nehmen Sie sie als das was sie ist: ein
Zeichen großen Beschenktseins. In herzlicher Verbundenheit grüßt Sie Ihr ergebener [gez.] Lehndorff“.14
Bereits ein Jahr nach Erscheinen der ersten Ausgabe bereitete Graf
Lehndorff die zweite Auflage vor. Er nahm aber einige Änderungen und
Kürzungen an den Briefen vor, besonders von Formulierungen, die die
ungewöhnlich enge Beziehung Peter Pfaffs zu seiner Mutter zeigen. Graf
Lehndorff unterließ es aber, diese Streichungen im Text zu kennzeichnen.
Er schrieb an Frau Pfaff:
„Verehrte Frau Pfaff! […] Ich bin gerade dabei, auf Wunsch des Verlages und
mancher Leser, die mir direkt geschrieben haben, die Briefe für eine zweite Auflage
etwas zu ‚redigieren‘, d. h. die allzu persönlichen Stellen zu neutralisieren, was
doch wohl nötig ist, weil die Menschen sich die außerordentliche, nur durch Liebe
zu überstehende Situation der damaligen Zeit eben doch nicht vorstellen können
und deshalb die große Zärtlichkeit nicht richtig verstehen. Diese ‚Kritik am Rande‘ wird auch zu Ihnen gedrungen sein, und Sie werden deshalb – dessen bin ich
gewiß – meiner Bemühung zur Eliminierung der Störungsfaktoren der genannten
Art in Gedanken zur Seite stehen. […] Mit herzlichen Grüßen empfiehlt sich
Ihnen Ihr sehr ergebener [gez.] Lehndorff.“15
Einige wenige typische Textveränderungen in dieser 2., „durchgesehenen“ Auflage, die dann in die dritte Auflage übernommen wurden, seien
hier exemplarisch aufgeführt:
Brief vom
1. Auflage (1964)
2. Auflage (1965)
6. 5. 1943
(Schlußformel)
Dein kleines Söhnlein,
das so dankbar ist,
daß Du es geboren hast.
[fehlt]
10. 5. 1943
(Schlußformel)
… Dein Muttiherz …
Bleibe fröhlich, Du Geliebte
von Vater und mir.
… Dein Herz …
Bleibe fröhlich.
18. 5. 1943
(Schlußformel)
Leb wohl, mein Muttilein, … Leb wohl, Mutti, …
23. 5. 1943
(1.–2. Absatz)
Was ist das bloß … und es
tröstet Dich
10
[fehlt]
EINLEITUNG
Gründe für eine vollständige Ausgabe der Briefe
Der erste Eindruck beim Lesen – der nicht „redigierten“ Fassung – dieser
Briefe von Peter Pfaff ist ihre ungewöhnlich lebendige und anschauliche
Sprache. Man fragt sich, ob es wirklich Briefe eines noch nicht Zwanzigjährigen sind. Beim Lesen wird aber auch deutlich, welche Bedeutung die
Atmosphäre des Elternhauses für diesen jungen Mann gehabt haben muß.
Hier wurde Peter Pfaff die Möglichkeit gegeben, über seine jungen Jahre
weit hinaus zu reifen, um sich mit den chaotischen Zeitumständen wie
auch mit seinen eigenen Schwächen auseinanderzusetzen. Leider geben
uns die drei Auflagen des Buches von Graf Lehndorff gerade über den familiären Hintergrund und die Biographie des jungen Mannes keine Auskunft. Dies machte den Herausgeber der jetzt vorliegenden Gesamtausgabe neugierig. Er ermittelte den Wohnort der inzwischen erloschenen Familie in Wolfenbüttel und lernte Freunde der Familie und Schülerinnen
der Mutter von Peter Pfaff kennen. Ella Pfaff wirkte dort als Pianistin und
Musikpädagogin (das Wort „Klavierlehrerin“ mochte sie nicht). Der Herausgeber staunte, welche Ausstrahlung und Bedeutung „Tante Ella“, wie sie
meist respekt- und liebevoll genannt wurde und noch heute wird, auf ihre
Freundinnen und Schüler(innen) auch heute noch, fast 20 Jahre nach
ihrem Tode, hat.16 Er erkannte auch, daß die Briefe Peter Pfaffs ohne
Kenntnis der noch erhaltenen Briefe der Mutter und seines Vaters nicht
verständlich sind. Und er mußte erkennen, daß die inhaltsreichsten Briefe
bisher nicht publiziert wurden.
Vergleicht man die bisher gedruckte Auswahl an Briefen mit den hier
erstmals publizierten Dokumenten, fällt auf, wie subjektiv die Auswahl von
Graf Lehndorff und der damals noch lebenden Mutter Peters vorgenommen wurde. Peter versuchte in den Briefen an seine Mutter diese möglichst zu schonen und nur Positives zu berichten.17 Er schreibt dazu in einem bisher nicht publizierten Brief an seine Lieblingstante:
„… eben kann ich Mutti nur die positiven Seite meines Lebens erzählen, muss
ihr Stütze, ein Trost sein und kann sie nicht mit meinem Kummer noch Belasten.
Sie muss ihren Sohn immer glücklich wissen.“18
Während Peter deshalb in den Briefen an seine Mutter fast wie ein bewundernswerter Heiliger erscheint, begegnet er nach dem Studium sämtlicher erhaltener Briefe (auch der an seinen Vater, an dessen Schwester und
an seinen besten Freund) dem Leser mehr als ein angefochtener, suchender
Mensch, der dem Leser dadurch viel näher kommt. Während der zwei
Jahre, die seine Briefe spiegeln, verliert Peter seine Kindheit, ohne sich von
seinen Idealen und von seinem christlichen Glauben zu entfernen.
11
EINLEITUNG
Zur Textgestalt
Textgrundlage dieser Ausgabe sind (undatierte) maschinenschriftliche Abschriften der Briefe Peter Pfaffs und seiner Eltern, die in den ersten Nachkriegsjahren angefertigt wurden und die der Herausgeber bei Freunden
und Freundinnen der Familie Pfaff auffinden und sammeln konnte. Die
Originale aller Briefe ihres Sohnes wurden Ella Pfaff auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin mit in den Sarg gelegt (1989). Auszüge aus den Briefen
ihres Mannes Hans Pfaff an sie aus Norwegen (siehe Kap. 8) liegen auch in
zwei wohl älteren, um 1950 und 1952 von Hans und Ella Pfaff angefertigten handschriftlichen Abschriften vor.
Diese Vorlagen gibt diese Ausgabe getreu wieder, auch in Orthographie
und Zeichensetzung. (Manche Briefe wurden offenbar auf Schreibmaschinen abgeschrieben, die keine Type für den Buchstaben ›ß‹ hatten, weshalb er, wie in diesem Fall üblich, durch ›ss‹ ersetzt wurde. Auch diese
Schreibung wurde beibehalten.) Lediglich offensichtliche Abschreib- oder
Tippfehler wurden stillschweigend verbessert, wenige fehlende, für das
Verständnis aber nötige Satzzeichen ebenso stillschweigend ergänzt. Auf zu
vermutende Irrtümer (etwa bei Briefdaten) wird in den Anmerkungen
hingewiesen. Hervorhebungen in den Vorlagen (Unterstreichungen, Sperrungen) werden einheitlich kursiv wiedergegeben. Erläuternde Zusätze des
Herausgebers stehen in eckigen Klammern.
Zusatz des Herausgebers sind auch die fortlaufende Numerierung der
Briefe und die Angabe der Empfänger.
Die Anmerkungen bringen alle erreichbaren Informationen, die zum
besseren Verständnis des in den Briefen Mitgeteilten dienen können. Sie
verwerten neben der herangezogenen Literatur auch einige Briefe Ella
Pfaffs aus der Nachkriegszeit sowie mündliche Mitteilungen mit der Familie Pfaff befreundeter Personen. Daß sie nicht jede beim Lesen aufkommende Frage beantworten können (so konnten zum Beispiel nicht alle in
den Briefen genannten Personen identifiziert werden), versteht sich von
selbst.
12
Hans Pfaff
(1891–1963)
Studienrat
Wolfenbüttel
1924
8
Johanna
Edmund Bank
Friederike (? – vor 1938)
Oberregierungsrat
Braunschweig
8
Hermann Pfaff
(1862–1933)
Oberstudienrat
(Prof. Dr. phil.)
Helmstedt
8
2. DIE FAMILIE PFAFF
Helene Mansfeld
(1867 – nach 1945)
Braunschweig
Ella Bank
(1898–1989)
Musikpädagogin
Wolfenbüttel
Hans-Peter Pfaff
(1925–1944)
Wolfenbüttel
Großeltern und Eltern von Peter Pfaff; alle evangelisch-lutherisch
Abb. 1: Peter Pfaff, Anfang der 1940er Jahre.
13
DIE FAMILIE PFAFF
Peter Paff (1925–1944)
geboren 18. 5. 1925 in Braunschweig;
keine Geschwister
gefallen 17. 10. 1944 in „Vitini“ (= Vibini)
bei Pre[e]kuln [heute Priekule]/Lettland19
Aus den erhaltenen Dokumenten und
Briefabschriften ergibt sich folgender Lebenslauf. Die genauen Quellen finden
sich in den Anmerkungen zu den Briefen.
Abb. 2: Peter Pfaff, um 1927.
1935–1943 Schüler der Großen Schule
(Gymnasium für Jungen) in Wolfenbüttel, an der auch sein Vater
als Studienrat für Mathematik
unterrichtet.20
1943 (Februar) Abitur im Alter von
17 Jahren (Klassenbester) an der
Großen Schule in Wolfenbüttel in
Anwesenheit von Ministerialrat
Dr. Rudolf Müller, Leiter der
Schulabteilung des Landes Braunschweig. Direktor der Anstalt war
seit 1939 der regimetreue Oberstudiendirektor Eduard Hogrebe,
nachdem Dr. Müller dessen sehr
angesehenen Vorgänger Oberstudiendirektor Hermann Lampe
suspendiert hatte (mehrere Oberprimaner waren 1939 aus dem
Religionsunterricht ausgetreten,
weil der Religionslehrer parteikonform besonders das religiöse
Brauchtum der Germanen behandelte).21
1943 (April–August) Viermonatiger
Reichsarbeitsdienst
bei
der
Reichsarbeitsdienstabteilung 6/
15 in Kowno (Kauen, Kaunas/
Litauen).
14
Abb. 3: Peter Pfaff, um 1930.
Abb. 4: Peter Pfaff, um 1940.
DIE FAMILIE PFAFF
1943 (August) einige Urlaubstage in Solingen bei Familie Wüsthof und
seiner Freundin Gretie.
1943 (Ende August) Meldung bei der Grenadier-Nachrichten-ErsatzKompanie 31 (Standort: Braunschweig). Erkennungsmarke: 6039-G.N.E.K. 31.
1943 (7.–14. September) mehrtägige Zugfahrt im Viehwagen von
Braunschweig (?) über Köln und Koblenz nach Frankreich.
1943 (September – Februar 1944) Grenadier bei der Reserve-Infanterie-Nachrichten-Kompanie 31 in Frankreich, Ausbildung als Funker.Vermutlich gehörte diese Nachrichtenkompanie zum ReserveGrenadier-Regiment 31 (aus Braunschweig), das an der Küste bei
Boulogne-sur-Mer (Hafenstadt am Ärmelkanal) eingesetzt wurde;
das Regiment war dort der 191. Reserve-Division unterstellt.22
1944 (Ende Februar) Urlaub in Wolfenbüttel bei der Mutter.
1944 (1. März – 31. August) Kriegsoffizierbewerber-Kurs (freiwillige
Meldung als Gefreiter) in Bergen bei Celle (beim Lehrstab XI =
Wehrkreis Hannover).
1944 (1. September) Beförderung vom Gefreiten zum Unteroffizier
(Kriegsoffizieranwärter).
1944 (5.–17. September) Urlaub in Solingen bei Familie Wüsthof gemeinsam mit seinem aus Norwegen angereisten Vater, seiner aus
Holland angereisten Mutter und seiner Freundin Gretie, die im
Hause Wüsthof lebte, da ihr Vater als Richter ein Jahr vor ihrem
Abitur in eine andere Stadt versetzt worden war und sie nicht die
Schule wechseln wollte.
1944 (17.–23. September) in Blankenburg bei der Stammkompanie seiner alten Einheit.
1944 (25. September) Peter ruft seine Mutter aus Goslar an.23
1944 (28. September) Abfahrt aus einer Kaserne (wahrscheinlich in Goslar oder Blankenburg), in der die Stammkompanie seiner (neuen)
Einheit untergebracht war.
1944 (29. September) in Berlin; abends Abfahrt mit dem Zug vom Stettiner Bahnhof (in Berlin, Invalidenstr. 24–27).
1944 (30. September) „nach einer langen Nachtfahrt“ wohl vormittags Ankunft in einer Frontleitstelle in einer Stadt mit Hafen (wohl Danzig
[oder Stettin]).24
1944 (30. September – 2. Oktober) Truppentransport mit einem „Reisedampfer“ nach Riga.
1944 (2. Oktober) abends Ankunft im Hafen einer Frontstadt (Riga),
Übernachtung in einer Schule (Frontleitstelle).
1944 (3. Oktober) in der Morgendämmerung Abfahrt mit dem Lkw auf
15
DIE FAMILIE PFAFF
1944
1944
1944
1944
einer „Rollbahn“ [= Straße Nr. 1 Riga–Wolmar (Valmiera)].25
Übernachtung in einem Privathaus in der Nähe der Rollbahn (vermutlich bei Segewold/Sigulda).
(4. Oktober) morgens Fußmarsch über 10 km über den Divisionsgefechtsstand (der 31. Grenadierdivision) zum Regimentsgefechtsstand (des 17. Grenadierregiments).26
(10. Oktober) Letzter erhaltener Brief an die Mutter („schweres Erleben“), vermutlich in Riga aufgegeben.
(12./13. Oktober) Die 31. Volksgrenadier-Division verläßt RigaOst über eine Notbrücke über die Düna und wird nach Vainode/
Prekuln verlegt.
(17. Oktober) „Oberjäger Hans-Peter Pfaff“ wird bei dem Dorf
„Vitini“ (Vibini) 24 km östlich von Prekuln beigesetzt. Er starb angeblich „schnell und schmerzlos“ infolge einer Granatverletzung.
Peter wollte nach dem Krieg Medizin studieren und niedergelassener Arzt
werden: „Seelenarzt“ und „Chirurg“.27 Die Kombination von Chirurgie
und Psychiatrie erinnert an seinen Ur-Ur-Großonkel Dr. med. David
Mansfeld (1797–1863), der Dozent am anatomisch-chirurgischen Institut
in Braunschweig und später Vizepräsident der „Deutschen Gesellschaft für
Psychiatrie und gerichtliche Psychologie“ war (siehe S. 24).
Der Vater: Hans Pfaff
geboren 15. 3. 1891 in Helmstedt
gestorben 23. 10. 1963 in Dortmund
verheiratet 1924 mit Ella geb. Bank (1898–1989) (Verlobung August
1922)
1910 Abitur am Gymnasium in Helmstedt.
1910–1921 Studium der Mathematik, Physik und Chemie an den Universitäten München, Göttingen und Leipzig, unterbrochen durch
Kriegsteilnahme.
1914–1918 Kriegsteilnahme, zuletzt als Offizier Kompanieführer (Verleihung des Eisernen Kreuzes I. Klasse).
1919 Entlassung aus Kriegsgefangenschaft.
1922–1923 Studienreferendar am Wilhelm-Gymnasium in Braunschweig
und an der Gauß-Oberrealschule in Braunschweig.
1923–1956 zunächst Studienassessor, dann Studienrat an der Großen
Schule in Wolfenbüttel.28
16
DIE FAMILIE PFAFF
um 1940 Oberstudiendirektor
Eduard Hogrebe lädt
Pfaff vor, weil dieser in
einem Fragebogen die
jüdische Herkunft seiner Schwiegermutter
verschwiegen habe.
1941 Studienrat Hans Pfaff
wohnt laut Adreßbuch
der Stadt Wolfenbüttel
in der Leibnizstraße 10
und ist Studienrat an der
„Großen Schule, Staatl.
Oberschule für Jungen“
(Rosenwall 12).29
1941 (12. Juni) Besuch des
Fliegerhorstes BraunschweigBroitzem durch die Klassen 6
und 7 der Großen Schule unter Führung von Studienrat
Pfaff.30
1942–1945 Kriegsteilnahme
als Hauptmann der Reserve (Transportoffizier)
Abb. 5: Hans Pfaff, um 1930.
in Narvik/Norwegen.
Er leitet die „Außenstelle Narvik des Transportoffiziers beim
Wehrmachtsbefehlshaber Norwegen“ in Oslo. Er organisiert die
Truppen- und Materialtransporte von Mosjøen am Polarkreis über
Narvik, Hammerfest, Nordkap, Petsamo nach oder von Finnland,
Schweden und Dänemark. Vor allem ist er für die Schiffstransporte
und den militärischen Geleitschutz in diesem Gebiet zuständig.
1945–1946 Kriegsgefangenschaft in einem Lager in Norwegen zusammen mit seiner Frau.
1946 Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft gemeinsam mit seiner Frau.
1963 Beisetzung auf dem Friedhof Lindener Straße in Wolfenbüttel.
Hans Pfaff war ein beliebter Lehrer, der die Mathematik fesselnd und anschaulich lehren konnte, ohne Schüler zu strafen. Er habe zu eigenem
Denken angeregt und oft auch philosophische Fragen angeschnitten, so
erinnern sich ehemalige Schüler.31
17
DIE FAMILIE PFAFF
Eine anschauliche Beschreibung des Mathematik-Unterrichts des Studienrats Pfaff am Gymnasium in Wolfenbüttel gibt Jürgen Herbst
(Schuljahrgang 1926/27), ein ehemaliger Schüler (1937–1944), der nach
dem Abitur 1946 in die Vereinigten Staaten auswanderte:
„Then there was Mr. Pfaff, our mathematics teacher during my first two years. It
was he who, when called to arms in 1939 like Bodo Wacker and my father, was
then replaced by a high-ranking and thoroughly incompetent labor leader. Mr.
Pfaff had a knack for making algebra and geometry comprehensible to ten- and
eleven-years-olds. He split us up into competing teams and, as he would say,
lubricated our little brains until they ran on over-drive, manipulating numbers
and symbols. We did compete fiercely and spurred each other on to win the contest
by solving the most problems in the shortest time. We worked with compass and
circle, and with the help of razor blades, construction paper, and glue sticks
fabricated all sorts or more or less complicated cubes and spheres. Mr. Pfaff had once
been in America, when we had especially pleased him with our class work, would in
the last five minutes tell us stories of that visit. He spoke of skyscrapers and
elevators, movie palaces and subways that to us seemed inconceivable and, we
thought, in all likelihood products of his fabulous imagination. We were most
intrigued with his description of automats in the walls of buildings, machines that,
he said, when prompted with a coin, would squirt Coco-Cola into a cup or place a
frankfurter on a paper plate and then ask you whether or not you wanted mustard
on top. We didn’t really believe him but we loved his stories and always begged for
more.“ 32
Die Mutter: Ella Pfaff
geboren 18. 4. 1898 in Helmstedt
gestorben 9. 6. 1989 in Braunschweig
verheiratet 1924 mit Hans Pfaff
Abb. 6: Ella und Hans Pfaff, um 1925.
18
Nach dem Besuch des Gymnasiums in Braunschweig musikalische und pianistische
Ausbildung in Braunschweig,
Leipzig (Teichmüller) und
Berlin (Breithaupt).
DIE FAMILIE PFAFF
1944 (März) Zehntägige Ausbildung als Helferin
beim Deutschen Roten
Kreuz in Hannover mit
einem Abschlußexamen
(Verbände,
Medizinkunde, außerdem Exerzieren).
1944 (April/Mai) Ella arbeitet
als DRK-Helferin zunächst als Nachtwache
im Krankenhaus in
Wolfenbüttel-Auguststadt (Jägerstraße 18), danach in einem Behelfslazarett („Auffangstelle
für Verwundete“) im Anton-Ulrich-Museum in
Braunschweig, wo sie gemeinsam mit Dr. med.
Abb. 7: Ella Pfaff, um 1920.
Heinz Wiebrecht (Approbation 1936) Bombenopfer versorgt.
1944 (Mitte Juli – Anfang September) sechswöchige Tätigkeit als „Schwester Ella“ in einem Soldatenheim „De Beer“ (bisher Jagdhütte des
Ehemanns der niederländischen Königin Juliane, Prinz Bernhard zur
Lippe-Biesterfeld) auf einer holländischen Insel, die strategisch wichtig vor Hoek van Holland in der Zufahrt zum Hafen Rotterdam
liegt. Die Tätigkeit der etwa 1000 Marine-Soldaten auf der Insel ist
geheim. „DRK.-Helferin Pfaff Feldpost-Nummer 36809“ [= Stab
Wehrmachts-Betreuungs-Abteilung 10; die Gebietsführerin amtierte in Hilversum]. Sie war demnach Angehörige der Wehrmacht und
deshalb später auch in Kriegsgefangenschaft.
1944 (4. September) Räumung der Insel De Beer, über Hoek van Holland, von dort Flucht mit dem Zug gemeinsam mit ca. 2500 holländischen Flüchtlingen („Nazi-Kollaborateuren“ des „NSB“) über
Schiedam, Amsterdam (Beschuß durch englische Flugzeuge),
Zwolle und Bentheim nach Köln.Von dort Weiterreise nach Solingen zur Familie Wüsthof.
1944 (7.–17. September) Urlaub in Solingen gemeinsam mit ihrem Ehemann, der aus Norwegen anreist, und ihrem Sohn bei Familie
Wüsthof.
19
DIE FAMILIE PFAFF
1944 (Ende September) als DRK-Helferin Nachtdienste im Krankenhaus Jägerstraße in Braunschweig.
1944 (15. Oktober) 32. und bisher schwerster Bombenangriff auf Braunschweig, dessen Innenstadt weitgehend zerstört wird (über 600
identifizierte Tote). Ella Pfaff arbeitet bei einer „Auffangstelle“ für
Verletzte. Nachtwachen im Krankenhaus Jägerstraße in Braunschweig
1944 (13. November) Abreise nach Norwegen, um dort als DRK-Schwester ein Soldatenheim zu leiten. Zugreise von Wolfenbüttel über
Magdeburg und Berlin nach Güstrow, dann mit dem Schiff nach
Flensburg (dort werden in drei Tagen die „Norwegenschwestern“
zusammengestellt). Von Flensburg mit einem Schiff zunächst nach
Århus (oder Kopenhagen). Dann mit einem anderen Schiff zu einem norwegischen Hafen, von dort nach einer „langen Bahnfahrt“
nach Oslo (Ankunft in Oslo am frühen Morgen des 23. November
1944).
1944 (13. November) Wenige Stunden nach Ella Pfaffs Abfahrt aus
Wolfenbüttel versucht ein Beauftragter der NSDAP, ihr die Nachricht vom Tod ihres Sohnes zu übermitteln.
1944 (23. November) In Oslo erhält sie im Armeeoberkommando telephonisch von ihrem Mann in Narvik die Nachricht vom Tod ihres
Sohnes.
1944 (2.–22. Dezember) Urlaub gemeinsam mit ihrem Mann in einem
von der Wehrmacht beschlagnahmten Schloß in der Nähe von
Oslo.
1944 (ab 24. Dezember) als DRK-Schwester Leiterin eines Soldatenheimes in Mo i Rana (300 km südlich von Narvik).
1945 (8. Mai – 1946) Kriegsgefangenschaft (Engländer) in einem Lager
in Norwegen zusammen mit ihrem Mann.
1989 Beisetzung auf dem Friedhof Lindener Straße in Wolfenbüttel.
Besser als dieser tabellarische Lebenslauf zeigt der folgende Auszug aus einem Artikel der „Wolfenbüttler Zeitung“ vom 19. 4. 1988 die Persönlichkeit von Ella Pfaff, der anläßlich des 90. Geburtstages der „Pianistin und
Klavierpädagogin Ella Pfaff“ erschien:
„Menschliche Wärme und Musik – das sind die beiden Elemente, die in Ella Pfaff
zu einer harmonischen Einheit verschmolzen sind. Als mütterliche Freundin mit
einer besonderen Gabe für Freundschaften, als stets aufmerksame und interessierte
Gesprächspartnerin und vor allem als Klavierpädagogin wird sie von zahllosen
Freunden und Schülern verehrt.
20
DIE FAMILIE PFAFF
Das Leben der Jubilarin begann Ende
des letzten Jahrhunderts in Helmstedt.
Ihre musikalische Ausbildung erhielt sie in
Studien an den Konservatorien von
Braunschweig, Leipzig und Berlin bei
namhaften Persönlichkeiten, unter anderem Max Reger. Nach der Heirat mit
Hans Pfaff (Studienrat an der Großen
Schule) wird ihr einziges Kind Peter geboren. Im Zweiten Weltkrieg stellt sie sich als
ehrenamtliche Helferin dem Roten Kreuz
zur Verfügung und arbeitet zunächst in
einem Braunschweiger Lazarett. Später
leitet sie ein großes Soldatenheim in
Moirana. Einen, wenn nicht zentralen
Einschnitt im Leben der Pfaffs markiert das
Jahr 1944: der geliebte Sohn Peter fällt
19jährig in Lettland. Erschütternde Zeugnisse aus dem Leben dieses begabten und
frühreifen Jungen wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. […] Diese Briefe
sind voller Zärtlichkeit und Poesie, ein
Abb. 8: Ella Pfaff in ihren letzten
Dokument einer ungewöhnlichen BezieLebensjahren.
hung zwischen Mutter und Sohn.
Nach Kriegsende gerät Ella Pfaff gemeinsam mit ihrem Mann, der im Kreisauer
Kreis am antifaschistischen Widerstand teilgenommen hatte, in englische Gefangenschaft. Zurückgekehrt nach Wolfenbüttel sieht sie durch den Verlust ihres Sohnes ihre besondere Aufgabe im Vermitteln von menschlichen und musikalischen
Werten an die Jugend. Über drei Jahrzehnte unterrichtet sie ganze Schülergenerationen. So schrieb eine ehemalige Schülerin sehr treffend, sie sei eine Persönlichkeit, die auch dem schwierigsten Kind Musik als etwas Beglückendes erschließen
konnte. Mit diesem pädagogischen Einfühlungsvermögen ging auch eine gewisse
Strenge einher. ‚Tante Ella‘, wie sie fast alle liebevoll nennen durften, stellte nämlich hohe Ansprüche an Genauigkeit und Technik. Das besondere Gefühl für
Spannungsbögen, für Melodie und Harmonie wollte sie auch auf ihre Schüler vermittelt wissen. Gekrönt wurde der Unterricht in öffentlichen Schülerkonzerten,
unter anderem im Schloßtheater. […] Trotz des Augenleidens erhielt sich Ella Pfaff
ihre Vitalität, ihre unglaubliche Energie bis in das hohe Alter. Was könnte diese
Tatsache besser zum Ausdruck bringen, als ihre zahllosen Reisen, die sie bis zu
ihrer Erkrankung Anfang dieses Jahres allein unternahm, um ihre Schüler in der
Ferne zu unterrichten und Freundschaften zu pflegen.“
21
DIE FAMILIE PFAFF
Ella Pfaff schreibt um 1960 in ein Poesiealbum, das Peter ihr 1943 geschenkt hatte:
„So kehren oft gerade in den Nächten die Gedanken an Pohlys zurück. Pohly:
Vater, Mutter, 2 Töchter, Hannah war meine Schülerin. – Immer wieder nagt an
mir der Vorwurf, daß ich nichts für sie tat, ehe diese Unglücklichen der fürchterlichen
Angst verfielen. Sie wohnten uns gegenüber. Wir sahen, wie in der Kristallnacht
der Vater abgeholt, nach einiger Zeit zerschlagen, zerschunden, verstummt wiedergebracht wurde.Wie keiner von ihnen mehr sich in der Straßenbahn setzen durfte,
wie sie aus ihrem Haus in ein Hundeloch vertrieben und schließlich ins – Unbekannte- abtransportiert wurden. Wir sahen, wir wussten – wir taten nichts, als nur
,gut‘ sein zu ihnen. Wir besuchten sie nicht, wir retteten sie nicht.“33
Der Großvater: Hermann Pfaff34
geboren 27. 4. 1862 in Neuhaus im Solling, Kreis Holzminden
gestorben 31. 12. 1933 in Helmstedt
verheiratet um 1890 mit Johanna Friederike
Abb. 9: Hermann Pfaff (1862–1933).
Undatiertes Gemälde eines unbekannten
Künstlers.
22
Hermann Pfaff wurde 1862
als Sohn des Glashüttenbesitzers H. Pfaff in Neuhaus
im Solling (Kreis Holzminden) geboren. Zunächst
besuchte er die Bürgerschule
und das Gymnasium in Holzminden. Er promovierte 1887
an der Universität Marburg/
Lahn zum Dr. phil. mit einer
Dissertation „Über die freie und
eine bestimmte unfreie Bewegung
eines Systems materieller Punkte,
zwischen denen den Massen und
der Entfernung proportionale
anziehende Kräfte wirken“. Von
DIE FAMILIE PFAFF
1888 bis 1931 war Pfaff Mathematiklehrer am Gymnasium in Helmstedt.
(1894 wird Dr. Pfaff als Gymnasiallehrer am Gymnasium zu Helmstedt
erwähnt.35) 1914–1916 war er während des Ersten Weltkrieges Hauptmann im Landsturm-Infanterie-Regiment Nr. 10 und erwarb bei den
Stellungskämpfen um Mitau das Eiserne Kreuz. Als Lehrer zeigte er „stetige Freundlichkeit und wahre Güte; ein wahrer Humanist“, wie es in seinem
Nachruf formuliert wird. Er verfaßte mehrere Publikationen über analytische Geometrie für die „Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht“.36 Außerdem war er Obmann der Pflegschaft
Helmstedt des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Er starb
1933 als Oberstudienrat i. R. Prof. Dr. phil. in Helmstedt.
Seine Kinder waren: Helene (Lenchen) und ihre Zwillingsschwester
Lotti, außerdem Hans, Elisabeth und Manfred.
In der Wohnung der Familie Hans Pfaff hing neben einem Gemälde von
Hermann Pfaff (siehe Abb. 9) auch ein Kupferstich-Portrait des Mathematikprofessors Johann Friedrich Pfaff (geb. 22. 12. 1765 Stuttgart, gest. 21.
4. 1825 Halle/Saale), eines Schülers von Georg Christoph Lichtenberg in
Göttingen. Pfaff war auch der Doktorvater des Mathematikers Carl
Friedrich Gauß (Promotion 1799). Johann Friedrich Pfaff stammt aus einer württembergischen Gelehrtenfamilie, aus der seit dem 17. Jahrhundert
zahlreiche Pfarrer, Theologieprofessoren und andere Gelehrte hervorgegangen sind.37 Eine Verwandtschaft der niedersächsischen Glaser-Familie
Pfaff mit der gleichnamigen württembergischen Gelehrtenfamilie läßt sich
aber nicht nachweisen.38
Ein weiteres „Ahnenbild“ in der Wohnung der Familie Pfaff in
Wolfenbüttel zeigte den Königlich Preußischen Hofzahnarzt und Chirurgus Philipp Pfaff (getauft 27. 2. 1713 in Berlin, gest. kinderlos 4. 3. 1766
ebendort). Er war der Verfasser eines der ersten deutschsprachigen Lehrbücher der Zahnheilkunde: „Abhandlung von den Zähnen des menschlichen
Körpers und deren Krankheiten“ (1756). Der Vater des Hofzahnarztes,
Johann Leonhard Pfaff (gest. 1734 in Berlin), wurde um 1680 in Heidelberg
geboren und kam als französischer Flüchtling nach Berlin, er könnte also
mit der württembergischen Familie verwandt gewesen sein.39
Vergleicht man das Wappen auf einem Kupferstichportrait40 des aus
Stuttgart stammenden Tübinger Theologieprofessors Christoph Matthaeus
Pfaff (1686–1760) mit dem Wappen auf dem Frontispizportrait des Berliner Hofzahnarztes Philipp Pfaff aus seinem Lehrbuch41, so erkennt man,
daß es sich um zwei völlig verschiedene Wappen und daher auch um
unterschiedliche Familien handelt, die nur zufällig denselben Namen
tragen.
23
DIE FAMILIE PFAFF
Beim Blick auf diese beiden berühmten Namensträger („Ahnen“) soll
der kleine Peter Pfaff zu seinem Vater gesagt haben: „Ach Vater, was sind wir
heruntergekommen!“
Die Familie der Großmutter Helene Bank geb. Mansfeld42
Peters Großmutter Helene Bank geb. Mansfeld stammte aus einer angesehenen jüdischen Juristenfamilie, die bereits im Jahre 1826 zum evangelisch-lutherischen Glauben konvertiert war. In diesem Jahr trat ihr Großvater (Peter Pfaffs Ur-Ur-Großvater), der Obergerichtsadvokat Dr. jur.
Philipp Mansfeld (1799–1871), in Wolfenbüttel zum christlichen Glauben
über. Daraufhin wurde ihm ein Jahr später (1827) der Titel „Notar“ zuerkannt. Seine Ehefrau Betty geb. Cahen folgte diesem Schritt erst im Jahre
1837. Philipp Mansfeld hatte im Jahre 1819 an der Universität Göttingen
mit öffentlich verteidigten juristischen Thesen („Theses qvas pvblice
defendet“) promoviert.
Er war ein Sohn des Braunschweiger Bankiers und Kaufmanns Marcus
Moses Mansfeld und ein Bruder des Braunschweiger Arztes Dr. med. David
Mansfeld (1797–1863), der Dozent am anatomisch-chirurgischen Institut
zur Ausbildung von Wundärzten (Chirurgen) in Braunschweig war.43 Dr.
David Mansfeld wurde 1858 Mitherausgeber des „Archivs der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie“ und des „Correspondenz=Blatt der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und gerichtliche Psychologie“, deren
Vizepräsident er 1854 war. Dr. Mansfeld scheint ein besonderes Interesse
an diesem Gebiet der forensischen Psychiatrie und Psychologie gehabt zu
haben.44
Der Vater von Helene Bank geb. Mansfeld, der spätere Braunschweiger
Oberlandesgerichtspräsident Wilhelm Mansfeld (geb. 7. 5. 1831 in Wolfenbüttel, gest. 26. 8. 1899 in Braunschweig), besuchte von 1840 bis 1849 das
Wolfenbütteler Gymnasium. 1850–1857 studierte er Rechtswissenschaften
an den Universitäten Göttingen und Heidelberg. Er heiratete 1863 die
Tochter Antonie des Staatsanwalts (später Oberamtsrichters) Görtz (gest.
im November 1906 in Braunschweig) in Wolfenbüttel. Weitere Lebensdaten:
1863 Kreisgerichtssekretär (später Assessor) beim Kreisgericht Wolfenbüttel
1867 Obergerichtssekretär
1869 Staatsanwalt (900 Taler Jahresgehalt)
1875 Obergerichtsrat beim Herzoglichen Obergericht in Wolfenbüttel
(Jahresgehalt 1600 Taler = 4800 Mark)
1879 Landgerichtspräsident in Braunschweig; Mehrere Publikationen
24
DIE FAMILIE PFAFF
über spezielle Gesetze des Herzogtums Braunschweig, die der
Reichsgesetzgebung angepaßt werden mußten
1892–1898 Oberlandesgerichtspräsident in Braunschweig
1898 Ruhestand, wohnhaft in Braunschweig (Celler Str. 80).
Seine Kinder:
Richard (geb. 29. 11. 1865 in Wolfenbüttel, gest. 5. 12. 1943 in Leipzig an
einem Schlaganfall). 1884 Maturitätszeugnis auf dem Gymnasium Martino-Catharineum in Braunschweig. 1884–1888 Jurastudium an den Universitäten Berlin, Leipzig und Göttingen.
Promotion 1888 zum Dr. jur. an der Universität Göttingen.45
1895 Amtsrichter, 1896 Landrichter, 1906 Oberlandesgerichtsrat. 1907 Reichsgerichtsrat in Leipzig. 1922–1933 als Senatspräsident Vorsitzender des 2. Zivilsenats (Handels- und Gesellschaftsrecht). 1933 (November) Pensionierung.
Helene (geb. 20. 12. 1867, gest. nach
1945), die den späteren
Oberregierungsrat Bank in
Braunschweig heiratet.46
Wilhelm (geb. 16. 10. 1875 in Wolfenbüttel, gest. 25. 12. 1955
in Braunschweig, evangelisch-lutherisch, 1946 katholisch). 1894 Maturitätszeugnis auf dem Gymnasium Martino-Catharineum
in Braunschweig. Jurastudium an den Universitäten
München, Kiel und Berlin.
1901 Gerichtsassessor. 1901
Heirat mit Helene geb.
Klipfel (gest. Juli 1946),
Tochter eines Weingutsbesitzers in Neustadt an der
Haardt (Rheinpfalz). 1907
Regierungsassessor im Braunschweigischen Staatsministerium. 1909 Landrichter. 1913
Landgerichtsrat. 1917 StaatsAbb. 10: Helene Bank mit Enkel
anwalt. 1923–1939 OberlandesPeter, Anfang der 1930er Jahre.
gerichtsrat. 1939 Versetzung in
25
DIE FAMILIE PFAFF
den Ruhestand, weil er, obwohl evangelisch getauft, als „Mischling 1. Grades“ galt, d. h. zwei (zum Zeitpunkt ihrer Geburt)
jüdische Großeltern hatte. 1945 (1. Mai) Ernennung durch die
Alliierte Militärregierung zum Oberlandesgerichtspräsidenten
(bis 1948). – 1914 bis zu seinem Tode wohnhaft Museumstraße 6,
gegenüber dem Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig. Lebenslange Freundschaft mit dem Kunsthistoriker Prof. Dr. Karl
Steinacker (1872–1944).
1937 schreibt der nationalsozialistische Oberlandesgerichtspräsident Nebelung in die Personalakte Wilhelm Mansfelds: „Seit
der Machtübernahme hält sich Mansfeld, der Halbjude ist und unter
seiner jüdischen Abstammung leidet, zurück. Seine politische Zuverlässigkeit kann ich nicht bejahen.“ Seine Gesamtbeurteilung lautete:
„Sogenannter anständiger Jude.“ 1939 erfolgt seine Pensionierung
auf eigenen Wunsch (ein Jahr vor Erreichen der Altersgrenze).
Im diesbezüglichen Schriftwechsel wird ausdrücklich erwähnt,
daß er „Mischling 1. Grades ist (zwei jüdische Großeltern hat)“.
Seine Söhne:
Walter
Hans
(geb. 1908, gest. 6. 2. 1978 Staufen im Breisgau). Zunächst Jurastudium und 1931 Promotion zum Dr. jur. an der Universität
Göttingen mit der Dissertation „Der Eigentumsvorbehalt im Konkurs- und Vergleichsverfahren“. Danach Studium der katholischen
Theologie, 1934 Konversion zur katholischen Kirche. 1940
Priesterweihe. Kaplan an der Propsteikirche St. Aegidien in
Braunschweig, 1949–1967 Generalvikariatsrat (Prälat) beim Bischof in Hildesheim.
(geb. 1911). Dr. med., 1945 Amtsarzt in Schaumburg-Lippe,
1989 wohnhaft in Grafing.
Beide Söhne hatten Schwierigkeiten, wegen ihrer jüdischen
Vorfahren (Urgroßeltern) zum Examen zugelassen zu werden.
Dank eines Briefwechsels ihres Onkels, des damaligen Senatspräsidenten beim Reichsgericht Dr. Richard Mansfeld, mit dem
Reichsjustizminister Dr. Gürtner über die „Auslegung der Arierbestimmungen des Gesetzes vom 7. April 1933“ wurde dies aber
ermöglicht.
26
DIE FAMILIE PFAFF
Die Tante: Helene Pfaff („Tante Lenchen“)
Abb. 11: Helene Pfaff mit ihren beiden Brüdern Manfred
(links) und Hans (rechts), um 1955.
Peters Tante Helene war eine Schwester seines Vaters und seit 1926 Oberin
der Diakonissenanstalt Lutherstift in Frankfurt an der Oder.47 Trotz vieler
Warnungen wegen Vergewaltigungen von Ordensschwestern durch sowjetische Soldaten in schlesischen und ostpreußischen Klöstern blieben die
Frankfurter Diakonissen 1945 in der Oderstadt. Insgesamt 15 Schwestern
weigerten sich, der Aufforderung des Frankfurter Stadtkommandanten
nachzukommen und die Stadt zu verlassen. Sie verblieben im Lutherstift,
gerieten für sieben Wochen in sowjetische Gefangenschaft und versorgten
die nicht transportfähigen Verwundeten; das Lutherstift wurde von sowjetischen Soldaten besetzt.
Nach mündlicher Überlieferung schritt Oberin Helene den einmarschierenden sowjetischen Soldaten in der Tracht einer Oberin mit großem
Brustkreuz mutig entgegen: Die Soldaten fielen auf die Knie und küßten
ihre Hände, den Schwestern geschah nichts. Nach dem Krieg lebte
Schwester Helene in der Nähe von Braunschweig und starb in den
fünfziger Jahren.
27
DIE FAMILIE PFAFF
Der Freund: Helmut Schuseil („Helmut“, „H.“)
Helmut Schuseil (geb. 5. 11. 1924 in Braunschweig) war der beste Freund
Peter Pfaffs, mit dem er gemeinsam auf die Schule (und in eine Klasse)
gegangen war. Schuseil wurde bereits im Oktober 1942 zur Stammkompanie des Landesschützen-Ersatz-Bataillons 11 eingezogen, wo er
vermutlich seine Grundausbildung absolvierte (siehe auch Peters Brief an
seinen Vater vom 19. 10. 1942 [Nr. 154, S. 239]). Im Januar 1943 war
Schuseil beim 2./Landesschützen-Ausbildungs-Bataillon 11 mit Standort
Hildesheim eingesetzt. Im April 1943 war er dem 1./Landesschützen-Bataillon 711 (der 411. Division in Bergen-Belsen48 unterstellt) zugeteilt.
Danach ist Schuseil beim 4./Landesschützen-Bataillon 739 nachweisbar,
das zur Kriegsgefangenenbewachung dem „Kommandeur der Kriegsgefangenen im Wehrkreis XI“ (in Celle) unterstellt war. Am 3. 4. 1945 geriet
Schuseil als Gefreiter in Osnabrück in westalliierte Gefangenschaft und
wurde am 27. 6. 1946 entlassen.49
Im August 1944 trafen sich Helmut Schuseil und Peter Pfaff zuletzt in
Bergen (siehe Brief Peters vom 18. 8. 1944 an seine Mutter [Nr. 98, S.
146]). Schuseil starb vermutlich 1959. In diesem Jahr (1959) schrieb Ella
Pfaff in einem fiktiven Brief an ihren gefallenen Sohn: „Dir war Freundschaft ein Heiligtum. Als Du in das reine andere Dasein gingest, mußte Dir Dein
Helmut-Freund nachfolgen. Denn mit Dir ging ihm nun wiederum die Reinheit
seiner ganzen Welt verloren.“
28
3. BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO ( LITAUEN )
April bis August 1943
Juristische Grundlage für die Einführung der Arbeitsdienstpflicht war ein von der Reichsregierung am 26. Juni 1935 erlassenes Gesetz über den „Reichsarbeitsdienst“ (RAD),
dessen § 1 lautete: „Der Reichsarbeitsdienst ist Ehrendienst am deutschen Volke.“
Alle Männer zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr hatten eine zunächst
sechsmonatige Dienstzeit abzuleisten. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges wurde sie
ständig verkürzt und betrug zum Schluß nur noch sechs Wochen, die ausschließlich zur
militärischen Ausbildung genutzt wurden. Zu den Aufgaben des RAD vor dem Krieg gehörten vor allem Kultivierungs- und Deichbauarbeiten,Tätigkeiten in der Landwirtschaft,
im Krieg auch Bau von Wegen und Brücken. Reichsarbeitsführer Konstantin Hierl (1875–
1955) ließ sich von der Vision leiten, daß die gemeinsame Arbeit im kameradschaftlichen
Lagerleben und auf der Arbeitsstelle der Jugend ein besonderes Gemeinschaftserlebnis
vermitteln könne. Unter gleichen Bedingungen sollten sich Söhne und Töchter aus allen
Schichten des Volkes gegenseitig in einer echten „Volksgemeinschaft“ kennen und achten lernen.50
Wenige Wochen nach seinem Abitur wurde Peter Pfaff im April 1943 zu einem
viermonatigen Einsatz beim „Reichsarbeitsdienst“ verpflichtet. Er wurde nach der seit
Ende 1941 zum „Reichskommissariat Ostland“ gehörigen litauischen Stadt Kauen
(Kaunas) eingezogen. Führungsprinzip war es beim RAD damals, die jungen Männer in Gebiete fern von ihrer Heimat einzusetzen. Zu dem „Reichskommissariat Ostland“ gehörten seit der Besetzung des Baltikums durch deutsche Truppen im Juni 1941 die „Generalbezirke“ Lettland, Litauen und Estland und „Weißruthenien“ (die Umgebung von Minsk).51
Entsprechend ihrer wechselvollen Geschichte hatte die litauische Stadt Kaunas unterschiedliche Namen (Kowno, Kaunas, Kauen):
1795–1915 war Kowno seit der 3. polnischen Teilung unter russischer Herrschaft.
1915–1918 deutsche Besatzung „Militärverwaltung Litauen“ mit Gouverneur in Kowno.
1920–1940 war Kaunas die provisorische Hauptstadt der neugegründeten Republik Litauen, nachdem die traditionelle Hauptstadt Wilna (litauisch Vilnius) 1920 von
Polen besetzt worden war.
1939 (22. März) wird Litauen in dem geheimen Zusatzabkommen zum Hitler-StalinPakt der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen.
1940 (15. Juni) russische Truppen besetzen Litauen mit seiner damaligen Hauptstadt
Kaunas („Litauische Sozialistische Sowjetrepublik“ innerhalb der UdSSR).
1941 (24. Juni) – 1944 (30. Juli) deutsche Besatzung; offizieller deutscher Name Kauen.52
1944–1990 ist Litauen wieder unter russischer Verwaltung (Sowjetrepublik).
1990 Unabhängigkeit der Republik Litauen von der Sowjetunion.
2004 Beitritt zur EU und NATO; Kaunas ist mit etwa 360 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Litauens.
29
BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO
Abb. 12: Militärische und zivile Gliederung der besetzten Ostgebiete
1941–1944. Kowno gehört mit Litauen zum „Reichskommissariat Ostland“.
Abb. aus: Tessin 16,3, S. 200.
30
BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO
Entsprechend der Stadt hat auch der
durch Kaunas fließende Fluß unterschiedliche Namen in den verschiedenen Sprachen: Nemunas (litauisch),
Njemen (polnisch, russisch) und
Memel (deutsch). Peter verwendet in
seinen Feldpostbriefen interessanterweise die alte russisch-polnische Bezeichnung „Kowno“ und nicht den
offiziellen deutschen Namen „Kauen“; nur den Fluß bezeichnet er
deutsch als „Memel“.
Abbildung 13 zeigt Peter Pfaff im
Sommer 1943 mit einem Kameraden
am Ufer der Memel. Auf seiner Uniform ist am linken Oberarm das
Dienststellenabzeichen des RAD (der
„Ärmelspaten“) zu erkennen: ein
nach unten gerichteter (weißer) Spaten mit folgenden (roten) Ziffern auf
Abb. 13: Peter Pfaff mit einem Kameraden
schwarzem Grund: 15 (oben) und
in der Uniform des Reichsarbeitsdienstes am
darunter 6. Diese Ziffern bedeuten
Memelufer, Sommer 1943.
im
damaligen
Sprachgebrauch
„Reichsarbeitsdienstabteilung 6/15“
und zeigen die Gliederung des damaligen RAD. Der RAD der männlichen Jugend war in
40 „Arbeitsgaue“ unterteilt. Die wichtigste organisatorische Einheit war die „Abteilung“
(mit 216 Arbeitsmännern und Führern), die in einem geschlossenen Barackenlager untergebracht war.
Arbeitsgau I: Ostpreußen (bestand aus den Arbeitsgruppen 10–17 und 19) mit etwa
15 000 Männern. Führer des Arbeitsgau I war Generalarbeitsführer Martin Eisenbeck
(geb. 13. 2. 1895 in Trebschen, Kreis Züllichau-Schwiebus), der seit 1942 auch „Der
Bevollmächtigte des Reichsarbeitsführers im Reichskommissariat Ostland“ war.53
Arbeitsgruppe 15: ca. 2000 Mann; Führer: Arbeitsführer Müller (?).
Abteilung 6/15: ca. 216 Arbeitsmänner ; Abt.-Führer war ein „Oberfeldmeister“. Die
RAD-Abteilung 6/15 war nachweislich seit 1939 in Dönhofstädt (K 15 mit 6 Abteilungen) stationiert.54 K 15 war seit Juni 1942 in Kauen im „Reichskommissariat Ostland“
tätig.55
Arbeitstrupp: ca. 18 Mann.
31
BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO
1. An die Eltern
Kowno, den 24. 4. 43.
Lieber Vater, liebe Mutti!
Heute ist nun Vater als Urlauber der erste Anwärter auf den TriumviratBrief. Eine Woche Arbeitsdienst ist vergangen. In dem Gedanken, daß
Ihr beiden hinter mir steht, bin ich glücklich, wo ich auch bin. Wäre es
noch viel mehr, wenn wir drei zusammenkuschelten, aber wir müssen
eben das hinnehmen, was auf uns zukommt, und gar nicht grübeln, wieso, weshalb.
O, Ihr ahnt nicht, wie das Arbeitsmanndasein56 blöde macht, stur wie ein
Panzerkreuzer arbeite ich immer vor mich hin. Trotzdem ist das Leben
fast erholsam, weil man keine belastende Verantwortung hat. Man hat aufzupassen, daß das Spind genau nach der Spindordnung geschichtet ist,
man hat nur: „Jawoll“ zu sagen, auch wenn man mit „nasser Sack“ oder
„blöder Pfeifenkopf“ angeredet wird. „Jawoll, Herr Unterfeldmeister,
Pfeifenkopf!“
Aber das gedankenlose Leben drückt mich etwas nieder, weil es so
furchtbar unproduktiv ist, und oft grübele ich daran herum, wie ich die
Zeit irgendwie viel nützlicher hinbringen könnte. Bei dem Exerzieren
oder Stubendienst kann man sich einfach nicht mit Problemen beschäftigen, auch wenn man sich noch so viel Mühe gibt. Schließlich denkt man
nur noch – Mittagessen – Abendpause – und zählt die Minuten bis zu dieser Zeit, guckt immer wieder nach der Uhr. Das körperliche Arbeiten ist
vorläufig ungewohnt und macht meinen kleinen Geist entsetzlich müde. In
den kurzen Atempausen wirft man sich aufs Bett und denkt nicht mehr
nach, was es eigentlich Wesentliches in der Welt gibt. Ich kann einfach
nicht nach dem Dienst den „Faust“ aus dem Spind holen und meinen
Kopf aus dem Alltag herausstrecken. Ich komme mir dann irgendwie
schwach vor, weil ich mich nicht dazu aufraffen kann. Aber ich muß doch
zuerst und zuletzt Euch schreiben, Euch auf dem Laufenden halten, damit
Ihr mein Leben mitleben könnt. Euch auch wird es wahrscheinlich wichtiger sein, daß Euer Söhnlein Euch schreibt, anstatt daß es über den
„Faust“ nachdenkt.
Sagt mir bloß ein Rezept gegen dies Stehenbleiben der geistigen Entwicklung. Ihr wißt doch sonst alles???!
Heute ist ‚Heiligabend‘ vor Ostern57. Früher hörten wir immer die
Osterglocken läuten oder waren bei Onkel Karl in der Kirche. Ich versuche, dem Österlichen nachzugehen. Sitze unter einer großen Eiche58 am
Memelufer (unsere Kaserne liegt direkt am Fluß59) und habe in dieser
Freistunde meinen Briefblock mit an den Strand genommen, damit ich
32
BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO
Euch einen kleinen Osterbesuch machen kann. Daß Ihr nicht mit mir diese herrlichen Bilder des Memelstrandes erlebt! Sonst macht das Soldatenleben alles hart, nackt und atemlos. Aber in solch einem Schauen, in solchen besinnlichen Stunden an der Memel bricht alles aus mir heraus, was
ich in mir habe.
Es ist ein richtiger Sommerabend, warm und fast schwül. Und alles so
ruhig, kein Wort zu hören, kein Motorengeräusch, kein Gefluche von Vorgesetzten: trügerischer Friedensaugenblick in dem Meer von Kampf und
Kummer. Ich vergesse für diesen kurzen Augenblick die Wirklichkeit. Ach,
Muttilein, so etwas wünsche ich Dir, vielleicht würde es Dir helfen, das
Wiese
Memelberg
Abb. 14: Ausschnitt aus dem „Stadt- und Verkehrsplan von Kowno.
Grundlagen: Kauno Miesto Ülanas 1 : 15 000,Verlag Spaudos Fondas.
Feldpostnummer: 07016. Abt. Mil.-Geo. 1941“. Markierung der Wiese von
Abb. 16 und 17 sowie des Memelberges Abb. 18 und 19.
33
BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO
Heimweh nach Mann und Söhnlein zu tragen. Nur Wehmut wäre in Dir,
weil Du sie nicht teilnehmen lassen kannst an Deiner stillen erhebenden
Stunde in der Natur.
Die Sonne geht gerade als brennende Kugel im Strom unter und läßt
ihre Glut über das weite Wasser hinströmen. Diese Farbenmischung von
weichem Grauschleier und dem feurigen Rot läßt mich erschauern, als
käme ich hinter ein göttliches Geheimnis. Ohne in mir es hervorzulocken,
höre ich die Melodie aus der „Träumerei“ von Schumann60. Daß mir
doch nur das Wort ein klein wenig zur Verfügung steht, um wiederzugeben,
– nicht Musik, nicht Malerei! Wenn ich das geliebte Zivil einmal wieder
tragen werde, werde ich am Instrument sitzen, werde zeichnen, werde
malen, mich in allem zu vervollkommnen suchen nach meiner Art und
meinen Gaben. Habe ich es denn gar nicht gewußt, wie wichtig es ist, jede
Sekunde des Daseins auszutrinken – mir kommt es vor, als ob ich jetzt erst
begriffe, was Freisein heißt. Gott schenke uns Freiheit. Damit wir ihm
danken können mit allem in uns. Ich habe einen Hunger danach, ihm zu
danken für alles Geistige in der Welt. Ich möchte mein Chemiebuch verschlingen, ich möchte mit Dir mathematische Probleme wälzen,Vater, ich
möchte mit Dir musizieren, Mutti – ich möchte – und bin doch erst eine
Woche im Arbeitsdienst.
Gott sei Dank rast hier durch den permanenten Betrieb die Zeit mehr
als in Deutschland. Und paßt auf, Ende Juni klingelt’s plötzlich bei Euch,
und Euer Söhnlein steht als Zivilist mit Koffer und sonstiger Habe vor der
heimatlichen Hütte, nimmt seine Mutti in den Arm, läßt sich in der Badewanne schrubben und lebt, lebt, lebt!
Ja, nun muß ich aber rasch wieder in die Kaserne und mich einsperren
lassen. Aber an der Memel oder in der Kaserne
Ich bleibe immer bei Euch!
Peter.
2. An Helmut Schuseil
Kowno, dritter Ostertag61 [1943]
Lieber H.,
Gestern Abend las ich grade einen herrlichen Spruch aus meinem
Gedichtbüchlein:
„Wenn sich zwei Menschen so über alle Begriffe gut sind, so stehen
ihre Seelen in nahen geheimnisvollen Beziehungen und wissen vieles voneinander und spüren ihre Körper, auch wenn sie fern sind,
und verstehen viel Unerklärliches. Und oft reden ihre Seelen mit34
BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO
einander, leis und laut. Und da wissen sie von dem tiefsten Gott,
denn sie wissen von dem Tiefsten in ihrer Brust und schenken
sich’s.“
Manchmal hab ich tolle Sehnsucht nach Dir und nach unserem schönen
Zweier-Leben mit guten Gesprächen. Ich denke noch zu gern an unsre
gemeinsamen Jahre, an das Hüttenleben, an die herrlichen Fahrten und das
gemeinsame „Gepiesacktwerden“ auf der geliebten Penne. Du musst eigentlich von mir denken, ich wäre ein wenig romantisch angehaucht. Aber
weisst Du, wenn du so im Soldatenleben völlig versturst, dann bricht alles
Andre, was über den Horizont des RAD geht, heraus. Und Du kannst es
doch mal ertragen? Manchmal kann ich es vor Heimweh nicht aushalten,
nach dem warmen Nest.
Besonders weil das Einleben mit den Kameraden garnicht einfach ist.
Weisst Du, abends ist mir manchmal sauübel, wenn ich diese Schweinigeleien höre. Eine Fantasie! einfach toll! Ich habe den Menschen mehr Idealismus zugetraut. Aber wie die Tiere stürzen sie sich auf die heissersehnte
Nahrung, und wer ein gutes Herz hat, der wird bald mager. So bin ich
jetzt auch ein nackter Egoist geworden. Ging Dir das bei Deinen lieben
Kameraden nicht auch so? Aber ich hab mich jetzt so langsam eingelebt
und bin auch ziemlich glücklich. Man lebt wie ein Kind und sorgt nur für
den Augenblick. Und so wehmütig mich das Heimweh auch macht, ich
ertrage den Schmerz gern, weil ich mich bei meinen Menschen so geborgen fühle. Du musst jetzt von mir denken: schlapper Weichling! ohne jede
Haltung!, aber ich halte es für Unsinn, sich irgendeine heroische Maske
aufzusetzen und sich seines Heimwehs zu schämen. Und bei Dir darf ich
doch sein wie ich wirklich bin.
Eben geht die Sonne gerade als feurige Kugel in dem nie endenwollenden Memel-Strom unter und gießt ihre blutigrote Glut über die unzähligen kleinen weissen Schaumkronen. Weisst Du, alles Unschöne und
Unebene wird durch den dunstig-grauen Nebel ausgeglichen, der sich
über die ganze Landschaft gesenkt hat. Diese Farbenmischung von dem
hellen Grau und dem dunkelroten Sonnenschein! Das wäre etwas für Dein
Landschaftsauge!
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BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO
3. An die Mutter
Kowno, 26. 4. 43
Liebe Mutti!
Damit Du von meiner Reise hierher genau erfährst: Durch den Schlitz des
Viehwagens sah ich die litauische Landschaft vorbeiziehen. Litauen wäre
für mich das letzte Land, in dem ich wohnen möchte.
Kurz nach der Grenze62 beginnt schon die eintönige Landschaft. Während Ostpreußen noch durch das viele Wasser und die Sonne sich herrlich
bot, so erschreckte Litauen durch die flache unendliche Steppe. Kleine
verfallene Katen, furchtbar schmutzig, spärliche Baumgruppen bringen
wenig Abwechslung. Die Litauer siedeln nicht in Dörfern, sondern nur in
Einzelgehöften, besser Einzelhöhlen. Die Dächer sind mit Stroh, Schilf
oder verbogenem Wellblech bedeckt. Alles ist verfallen. Ställe scheint man
nicht zu kennen. Das Vieh tummelt sich mit im menschlichen Wohnbereich. Nie aufhörend, die Landschaft abstoßend machend, sind die
Moore. Überall fast steht das braune Wasser, in dem auf unendlich vielen
kleinen Inseln magere Bäume wachsen. Ihr denkt: Kulturschutzgebiet?!
Ach nein, vollkommen regellos, kulturlos mit wildem Unterholz wächst
alles. Die Menschen wirken äußerst ärmlich mit ihren dreckigen, zerrissenen Kleidern. Sie sind groß, grobknochig und ungeschlacht.63 Einen schönen Menschen sah ich noch nicht. Die Bevölkerung ist sehr deutschfeindlich, wir bekommen darum wenig Ausgang. Ich bin einmal in das Elendsviertel Kownos64 gekommen: die Häuser windschief, zum Teil von den
Russen durchschossen. Ein wüster Anblick! Die Hausbewohner sitzen, in
Tücher gehüllt, doch sieht man, daß sie unterernährt sind, vor ihren Türen.
Die Kirchen wirken wie riesige, mit weißem Mörtel beklatschte Bauplätze, einen Stil zu erkennen, ist nicht möglich. Aus diesem Land läßt sich auf
keinen Fall Reichtum zaubern. Der einzige und doch nur kärgliche Besitz
sind gewisse Holzbestände.
Eben betrachte ich mir mein Osterpäckchen. Ach, Geliebte, leckere
Kekse, deren Fett von Deiner Karte abgespart ist. Du beschenkst mich, wo
ich doch eigentlich an der Reihe wäre. Gute Nacht, ich träume mich mit
Dir auf unsere Insel. Dort feiern wir.
Dein kleines Söhnlein, das so dankbar ist,
daß Du es geboren hast.
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BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO
4. An den Vater
Kowno, 5. Ostertag [27. 4. 1943]
Lieber Vater!
Heute Abend bin ich scheußlich müde. Wir stehen jeden Morgen um 5
auf, Frühsport, und jeden Abend um 9 zu Bett. Aber mindestens jede zweite Nacht kommen die russischen Flieger, und wir müssen in einem feuchten Luftschutzgraben oft 4 Stunden sitzen. Da kommst du bald auf den
Hund. Und trotzdem ist das Leben sehr erholsam, da merke ich immer
wieder, was das geistige Leben doch anstrengt. Abends bin ich zwar zum
Umfallen müde, weil ich das körperliche Training nicht gewohnt bin. Da
mußt Du mich mal trösten. Aber sonst schaff ich es, mit allem. Auch mit
den Kameraden. Weißt Du, das macht mich furchtbar traurig, Kameradschaft gibt es nur bis zu einer bestimmten Grenze. Jeder denkt doch nur an
sich, und den Glauben an den guten Kern der Menschen kann man hier
völlig verlieren. Ich habe immer gedacht, daß es etwas Liebe und Selbstaufopferung auch schon unter jungen Menschen gäbe. Aber diese Menschen haben Freunde gar nicht nötig, sie leben nur für sich ganz allein und
werden so tolle Egoisten. Da verschwindet der letzte Funke Gemeinschaftsgeist. Motto: wer hat, der hat. Scheußlich! Ich bin auch schon so
geworden, sonst wäre ich schon längst verhungert.Vielleicht wird das Zusammenleben an der Front erträglicher. Aber Du ahnst gar nicht, wie das
Leben öde wird, wenn man gar nicht geliebt wird und auch gar keinen
liebhaben kann. Da muß ich schon mein Herz ganz in die Briefe an Dich
und Mutti und an alle unsere lieben Menschen hineintun. Schreib viel und
gut, ich hab Dich ja so nötig und gern! Nun kann ich meine Augen kaum
noch aufhalten. Schlaf schön!
Immer Dein kleiner Sohn.
5. An die Mutter
Kowno, 30. 4. 43
– – – – [Briefanfang fehlt] Mutti – das ist Deutschlands Zukunft. Hiermit
soll die Front gehalten werden. Man könnte heulen über so viel Zuchtlosigkeit. Wie Wenige haben doch innere Zucht in den Knochen. Ich will mich
nicht besser dünken, aber wir leben anders und haben an schöneren Dingen
unsere Freude. So bin ich jetzt aus der Kaserne zu Dir und in Deinen Schutz
geflüchtet. Ein Mann umarmte mich eben in scheußlicher Weise auf der
Treppe, und in meinem Zorn habe ich ihm eine Ohrfeige geklebt. In sol37
BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO
cher Stunde denke ich mit um so größerer Wehmut an die schönen Zeiten
zu Hause, an die herrlichen Menschen, die ich in mir aufgenommen habe.
Mit der Wucht einer Springflut fühle ich die Einsamkeit hervorbrechen.
Aber es ist wohl gut, daß ich lerne, mich zu behaupten. Und wenn die Welt
voll Teufel wär – man muß sich selbst treu bleiben. Ich habe es mir geschworen, ein völlig sicherer selbständiger Mensch zu werden, will mir von meinem Inneren her den Maßstab geben, nach dem ich handle.
Das ist die große Kunst, um die ich mich bemühen muß, sonst ersticke
ich hier in dem Wust der Wilden. Wenn jede meiner Taten vor meinem
Gewissen, vor Gott, vor Euch Eltern sich verantworten läßt, dann kann mir
jedes negative Urteil eines anderen gleich sein. Gott verlangt, daß wir uns
selbst beurteilen oder auch verurteilen. Und erst wenn diese strenge tägliche Zucht erreicht ist, darf man Mensch zu sich sagen. Viel Kraft gehört
dazu, um solche Menschwerdung an sich selbst zu vollziehen. Helft mir,
helft, dem Ziel nur einen kleinen Schritt näherzukommen.
Dein Peter.
6. An Helene Pfaff
Kowno, 30. 4. 43.
Liebe Tante Lenchen!
Nun bin ich schon fast zwei Wochen ein kleiner Arbeitsmann in Kowno,
und Du hast noch gar keinen Gruss von mir bekommen, obwohl ich sehr
oft an Dich gedacht habe. Aber die Freizeit ist wahnsinnig knapp, den
ganzen Tag wird man herumgejagt, man kann kaum Atem holen. Morgens
um 5 h beginnt das Leben schon, und dann geht es mit kurzen Pausen bis
zum Abend um 9 h: Gewehrausbildung, Spatenarbeit, Sport und Ordnungsdienst. Abends wirft man sich dann völlig ausgepumpt aufs Bett und
denkt gar nicht mehr ans Schreiben. Aber trotzdem sollst Du einen Gruss
bekommen, damit Du weisst, wie sehr ich an Dich denke.
Früher warst Du für mich eben die Tante, die Tante, die ich ganz gern
mochte. Aber es ist jetzt ja so ganz anders, seit ich bei Dir in Bukow65 war
und Dich so richtig kennengelernt habe. Vorher haben wir uns ja nur bei
grösseren Verwandtenfeiern und grossen Sitzungen gesehen. Nun bist Du
mir nicht nur die Tante, sondern bist mir eine richtige Freundin geworden, bei der ich mich so geborgen weiss und die mich auch ein ganz klein
wenig mag. Das macht mich so glücklich, gerade jetzt, wo ich nicht mehr
im kuscheligen Nest bei Mutti bin, sondern wo mich das Leben etwas härter angepackt hat, und ich so ganz allein auf mich selbst gestellt bin. Da
einen Menschen zu haben, der hilft! Dafür kann man gar nicht genug
dankbar sein. Ich glaube, es ist nicht so recht passend, wenn man seiner
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BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO
Tante eine so platte Liebeserklärung macht. Aber ich darf Dir doch ehrlich
sagen, was ich denke? Dein Leben ist doch auch nur durch Liebegeben
und Empfangen erfüllt.Weisst Du, dieses Leben erzieht zu einem frommen
Menschen und zu einem Christen. Früher glaubte ich, dass ich doch auch
ohne einen Stellvertreter und einen Vermittler einen lieben Gott, einen
Vater habe, weil ich die Liebe doch immer um mich sah, bei Mutti, bei
Vater oder bei Dir. Aber, wenn ich hier meine Kameraden sehe, dann kann
man nicht mehr an den guten Kern bei den Menschen, an die Liebe
untereinander glauben. Da merkt man, dass es den Gott der Liebe nicht
unbedingt geben muss, sondern dass wir kleinen Menschen doch einen
Vermittler nötig haben. Früher hatte ich nur eine Sehnsucht nach der
Sehnsucht nach dem lieben Gott, weil mein herrliches geborgenes Leben
mich nicht direkt zu ihm zwang. Aber hier bin ich ein kleiner frommer
Mensch geworden und versuche auch manchmal zu beten, und schäme
mich, dass ich es früher nicht tat.
Nun kann ich meine Augen nicht mehr offen halten. Jetzt ist Zapfenstreich.
Ich schreibe bald mehr. Ich habe Dich scheusslich lieb!
Dein Peter
7. An die Mutter
Kowno, 2. 5. 43.
Verstehst Du das, Mutti –
Ich will hier glücklich sein, will das Zusammenleben mit den Kameraden
erreichen. Ich glaube, alles Zusammengewürfeltsein von Menschen muß
erst die Schrecksekunde durchmachen. Wir fangen nun an, aufeinander
eingespielt zu sein, und rein schon aus nüchterner Überlegung blüht langsam das Kameradschaftsgefühl auf. Noch ist es nicht das Sichgernmögen,
sondern kühle Überlegung: helfe ich Dir, hilfst Du mir, gibst Du mir, geb
ich Dir auch. Das alte Lied von der Wurst und der Speckseite. Aber dadurch verschwinden doch erstmal die Spannungen, der unangenehme, oft
böse Ton. Jeder geht auf den anderen ein.
Denk Dir, Dein Sohn ist Porträtzeichner des Zuges geworden, dadurch
sehr beliebt, weil jeder gern ein Bild für seine „Kleine“ oder seine Mutti
haben möchte. Einmal, mir war’s zu schwer, an Dich zu schreiben – – –,
habe ich den nettesten Jungen hier, auf den Namen Heini hörend, aufs
Korn genommen. In zwei Stunden war ein gutgelungenes Bild fertig,
ähnlich im Äußeren und, vielleicht weil ich ihn gern habe, auch im Ausdruck sprechend. Die Kameraden, die so etwas noch nicht gesehen hatten,
waren platt, und nun wollte jeder gezeichnet werden. Wie beim Frisör
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BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO
ging’s, immer der Reihe nach, pro Nase zwei Stunden. Natürlich sind
nicht alle Bilder gleich gut geworden, zum Teil sind die Gesichter noch so
unausgeglichen, so verschlafen – aber bei den meisten kann man doch sagen: Er ist’s. Es dauerte nicht lange, da wußten davon die Vormänner, daß
Arbeitsmann Peter zeichnen kann. Ich wurde mit Aufträgen überschüttet,
daß es fast nicht zu bewältigen war. So komme ich mit vielen Menschen in
nähere Berührung, denn beim Zeichnen läßt sich gut miteinander sprechen. Heute hatte mich der eine Vormann eigentlich zum Strafdienst
(Karren von Kübeln) bestimmt, weil ich einen Witz im Glied gemacht
hatte. Ein anderer Vormann aber, der noch gezeichnet werden wollte, setzte sich für mich ein: Künstler fahren keine Sch- , kommt gar nicht in Frage. So habe ich gekünstlert und nicht gekarrt, und der Unterfeldmeister
hat mein Werk beäugt und von seinem Bild eine Postkartenvergrößerung
für seine Frau bestellt.
Es geht mir durch mein bißchen Talent recht gut, auch ernährungsmäßig, denn jeder will gern meine Mühe durch ein Stückchen Brot oder
etwas Marmelade wiedergutmachen.
Gestern haben wir zum erstenmal gebadet. Es sah herrlich aus, als sich
auf einen Pfiff hin hundert hübsche schlanke Nackedeis die steilen Betonufer hinabstürzten und sich in die kalten Fluten warfen. Die ganze Käfigluft wurde ausgetobt. Die Memel hat einen schönen Wellengang, besonders, wenn – wie gestern – ein toller Wind bläst.
Am Tag vorher hatten wir Geländedienst. Im frischen Drillichanzug
ging es mit Fotoapparaten, Brotbeuteln und Spaten los, frühmorgens, die
Sonne hatte noch nicht die rechte Lust, uns schwitzen zu lassen, und hüllte
sich taktvoll in einen zarten Nebelschleier, der uns so frisch machte und
uns gut marschieren ließ. Es ist etwas Besonderes, fast Erhebendes, in einer
langen Kolonne singend mit blitzendem Spaten eingereiht zu sein. Die
Gemeinsamkeit fängt aus dem Nichts heraus an zu sprechen und stärkt erst
unbewußt, dann eindringlich das Lebensgefühl. Nachher gingen wir im
Gänsemarsch mit 20 Metern Abstand, und so war ich plötzlich allein und
konnte einmal über alles nachdenken, was mich bewegt. Die Ruhe ist hier
selten und muß in jedem Bruchteil einer Sekunde ausgenutzt werden. Die
hohen Bäume berührten sich, einen Dom bildend, und Gott ging durch
seinen Wald. Ich mußte beten. Die Gedanken erreichten Dich und Vater.
Wir waren uns ganz nah.
Dein Petja.
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