Ziele und Zielkonflikte Teil 2 Vorbild Forstwirtschaft: Nur so viel konsumieren, wie nachwächst, erhält die Lebensgrundlagen. © Emanuel Ammon/AURA Von den Zinsen leben und nicht vom Kapital Partner oder Partnerländer, die sich als gleichwertig anerkennen, sollen Interessenkonflikte nach den Regeln legitimer Ansprüche lösen und ihre Ziele nicht nach dem Prinzip der Machtanwendung durchsetzen. Dieser Grundsatz folgt aus der Ethik der Pflichten und Rechte, welche als normativer Rahmen der Nachhaltigen Entwicklung dient. Von dieser ethisch-philosophischen Basis lassen sich Kriterien für die Nachhaltige Entwicklung ableiten. Weitere Beurteilungsgrundlagen sind die revidierte Bundesverfassung von 1999 und die Agenda 21, die 1992 am «Erdgipfel» von Rio verabschiedet wurde. Beide Dokumente beziehen sich auf Normen, welche dieser Pflichtenethik entsprechen. Alle heutigen und zukünftigen Menschen haben das gleiche Recht, sich zu entfalten und ihre Lebenschancen wahrzunehmen. Die Gesellschaft muss deshalb global wie lokal ihr Zusammenleben sowie Produktion und Konsum so organisieren, dass weder gegenwärtig noch in Zukunft die Lebensgrundlagen und die Menschenwürde im eigenen Land oder anderswo in Frage gestellt sind. 6 Für eine Schweiz mit Zukunft / August 2001 Das Recht, sich zu entfalten, hat aber auch Grenzen. Eine althergebrachte goldene Regel besagt: «Was du nicht willst, das man dir tu – das füg auch keinem andern zu.» In kurzen Worten ist dies die ethisch-philosophische Grundlage der Nachhaltigen Entwicklung. Eine solche Ethik der Rechte und Pflichten gewährt das Recht auf Entfaltung nur jenen Menschen, welche die Pflicht der Stärkeren anerkennen, auf Ziele und Zielkonflikte die Schwächeren Rücksicht zu nehmen – und auch danach handeln. Diesem Ziel dient die Nachhaltige Entwicklung. In einer Welt, die sich nachhaltig entwickeln soll, kann deshalb nicht die Macht, eigene Interessen durchzusetzen, darüber entscheiden, ob wir etwas tun oder lassen. Gilt das «Recht des Stärkeren», dann werden die zentralen Grundrechte als Voraussetzung für Nachhaltige Entwicklung verletzt. Als eine der Folgen öffnet sich die Schere zwischen Reich und Arm, Norden und Süden, heutigen und kommenden Generationen immer weiter. Diese Entwicklung ist nicht zukunftsfähig. Nur ein fairer Aushandlungsprozess unter allen Betroffenen und Beteiligten führt zum Ziel des Interessenausgleichs und damit zu einer langfristig tragfähigen, freiheitlich-demokratischen Ordnung, welche allen ein menschenwürdiges Dasein in einer intakten Umwelt ermöglicht. Besonders zu berücksichtigen sind bei allen Verhandlungen die Ansprüche jener, die schon benachteiligt sind und deren Anteil an den Errungenschaften der Menschheit selbst bei einem geringen Verlust unter die Grenze des Zumutbaren sinkt. So kann eine gerechte Verteilung von Ressourcen zum Beispiel bedeuten, dass die ärmsten Länder ihren bisher sehr geringen Energiekonsum pro Kopf der Bevölkerung vorübergehend deutlich steigern, während die Schweiz und andere Industrieländer durch Investitionen in Spartechnik und erneuerbare Energien ihren Verbrauch an fossilen Brennstoffen halbieren oder gar noch weiter senken. Zurzeit anerkennen die Industriegesellschaften die legitimen Interessen der Völker vor allem des Südens, aber auch des Ostens nicht oder nur unzureichend. Kernproblem ist das verdrängte Konfliktpotenzial Nachhaltige Entwicklung wird oft verstanden als eine harmonische Zauberformel, die Konflikte zwischen den drei Dimensionen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft sozusagen von selber löst. Diese Auffassung übersieht, dass es neben allen, langfristig gemeinsamen Interessen der drei Dimensionen auch handfeste, unbequeme Interessengegensätze gibt. Und diese werden gerne verdrängt. Nur wenn nach klaren Kriterien eine kohärente Politik umgesetzt wird, ist eine Nachhaltige Entwicklung möglich. Dieser Pfad ist unter Umständen beschwerlich und für die Politik riskant, da er mächtige, kurzfristige Interessen in die Schranken weisen muss. Aushandeln statt Machtanwendung – diese Anforderung an die Entscheidungsfindung ruft nach neuen Formen der Kooperation, und zwar auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Alle Akteure – Regierungen, Nichtregierungsorganisationen, Wirtschaft, Verbände und Einzelpersonen – sind aufgefordert, gemeinsam darüber nachzudenken, wie Interessenkonflikte, aber auch Zielkonflikte zwischen den Ansprüchen von Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft im Sinne der Nachhaltigen Entwicklung gemeinsam gelöst werden können. Ein Beispiel: Wenn als Beitrag zur Luftreinhaltung und zum Energiesparen der Taktfahrplan des öffentlichen Verkehrs verdichtet wird, parallel dazu aber neue Schnellstrassen die Attraktivität des Autofahrens gleichermassen steigern, dann ist für die Luftreinhaltung, das Energiesparen und die Gesundheitsvorsorge nichts gewonnen. Das Sparbüchlein als Modell Die Studie «Politik der Nachhaltigen Entwicklung in der Schweiz» schlägt vor, den Fortschritt der Nachhaltigen Entwicklung mit dem so genannten Kapitalstockmodell zu beurteilen. Diese Messlatte hat eine Arbeitsgruppe von Fachleuten der Weltbank 1994 entwickelt. Der Grundgedanke leitet sich von der Finanzwirtschaft ab: Wenn wir nur von den Zinsen und nicht vom Kapital leben, bleibt die Basis des Wohlstandes immer erhalten – verzehren wir hingegen die Substanz, gefährden wir langfristig unsere Existenzgrundlage. Das Kapitalstockmodell betrachtet nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das ökologische und das soziale Kapital als Wert, den es zu bewahren und wo möglich zu mehren gilt. Zum ökologischen Kapitalstock gehören zum Beispiel die Artenvielfalt, die Landschaft, Bodenschätze, saubere Luft und gesundes Wasser. Gesellschaftliche oder soziale Werte sind zum Beispiel die Gesundheit, die soziale Sicherheit, der soziale Zusammenhalt, Freiheit, Gerechtigkeit, Chancengleichheit oder der Frieden. Zur Darstellung des Kapitalstockmodells gehen die Verfasserinnen und Verfasser der Studie von einer einfachen Formel aus: Kapitalstock der Nachhaltigen Entwicklung (KN) = Kapitalstock Umwelt (KU) + Kapitalstock Wirtschaft (KW) + Kapitalstock Gesellschaft (KG) Theoretisch kann diese Formel – bei der Beurteilung von Massnahmen – auf zwei Arten angewendet werden: 1. Das Prinzip «Starke Nachhaltigkeit» würde verlangen, dass kein einzelner Kapitalstock über längere Zeit abnehmen darf. 2. Das Prinzip «Schwache Nachhaltigkeit» würde verlangen, dass die Summe der drei Kapitalstöcke nicht über längere Zeit abnehmen darf. «Schwache Nachhaltigkeit» erlaubt also die Abnahme des Umweltkapitalstocks, solange ein gesellschaftlicher und ein wirtschaftlicher Aufschwung diese Entwicklung kompensieren. Aber auch im Konzept der «Schwachen Nachhaltigkeit» hat die einfache Summenbildung der Kapitalstöcke ihre Grenzen: Wenn zum Beispiel nicht erneuerbare Energien wie Erdöl oder Gas zur Neige gehen, müssen sie zwingend durch erneuerbare Energien wie Sonnenenergie oder Erdwärme ersetzt werden. Sonst kann sich die Knappheit im Umweltbereich negativ auf die Kapitalstöcke Gesellschaft und Wirtschaft auswirken. Dieses Beispiel zeigt, dass die drei Kapitalstöcke nicht unabhängig voneinander beurteilt werden können. Ebenso verzahnt sind andere Kriterien der Nachhaltigen Entwicklung. So wirken sich Konflikte innerhalb der heutigen Gesellschaft oft auch auf kommende Generationen negativ aus. «Schwache Nachhaltigkeit» anzustreben, kann dennoch sinnvoll sein, weil die Gesellschaft damit an EntscheidungsFür eine Schweiz mit Zukunft / August 2001 7 Ziele und Zielkonflikte freiheit gewinnt, ohne die Nachhaltige Entwicklung grundsätzlich zu gefährden. Dieses Modell erlaubt es beispielsweise, einen unter Druck stehenden Kapitalstock auf Kosten der beiden anderen zu «sanieren». Auf der anderen Seite ist bei der «Schwachen Nachhaltigkeit» eine besonders umsichtige Planung notwendig, wie das Beispiel der nicht erneuerbaren Energie zeigt. Die Autorinnen und Autoren der Studie gehen aus diesen Gründen bei ihrer Beurteilung der Schweizer Politik von einem Modell «Schwache Nachhaltigkeit PLUS» aus. Sie wollen also die Summe der Kapitalstöcke erhalten oder steigern, stellen aber noch einige Zusatzbedingungen: So verlangen sie die Einhaltung von Regeln für minimale, nicht zu unterschreitende Standards für Umwelt, Menschenrechte, Ungleichverteilungen oder den Umgang mit Grossrisiken. Um die Substanz der schweizerischen NachhaltigkeitsKapitalstöcke Umwelt (KU), Wirtschaft (KW) und Gesellschaft (KG) nach dem Konzept «Schwache Nachhaltigkeit PLUS» zu beurteilen, erscheint deshalb das folgende Raster von insgesamt 28 Kriterien in den drei Zielbereichen ökologische Verantwortung, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und gesellschaftliche Solidarität als sinnvoll: Mit Hilfe des Kapitalstockmodells kann die Bedeutung einzelner Sektoren der Bundespolitik für die Nachhaltige Entwicklung beurteilt werden. Dazu analysierten die Autorinnen und Autoren des Berichts «Politik der Nachhaltigen Entwicklung in der Schweiz» mit Hilfe ihrer 28 Kriterien insgesamt 25 Politiksektoren – und insbesondere ihre Interdependenzen: Dieses feinmaschige Vorgehen macht die Expertenbeurteilung so nachvollziehbar und transparent wie möglich. Für die Beurteilung haben die Autorinnen und Autoren auch noch eine grössere Zahl externer Fachleute zugezogen. Zum Beispiel Sicherheits- und Friedenspolitik Hier wird das Vorgehen am Beispiel der Sicherheits- und Friedenspolitik illustriert (siehe Tabelle Seite 9): Kriterien zur Beurteilung der Nachhaltigen Entwicklung Umwelt (KU) Umweltqualität und natürliche Ressourcen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Artenvielfalt Klima, Ozonschicht Emissionen Landschaft, Kultur-, Naturraum Wasser Stoffe, Organismen, Abfälle Energie Boden, Fläche, Fruchtbarkeit Wirtschaft (KW) Wohlstand und Zukunftsfähigkeit Gesellschaft (KG) Human- und Sozialkapital 1. BIP pro Kopf 2. Qualität und Effizienz der Infrastruktur und Dienstleistungen der öffentlichen Hand 3. Wertvermehrende Investitionsquote 4. Langfristig tragbare Staatsverschuldung 5. Ressourceneffizienz 6. Wettbewerbsfähigkeit 7. Qualitatives und quantitatives Arbeitskräftepotenzial 8. Innovationsfähigkeit und leistungsfähige Forschung 9. Ordnungspolitische Rahmenbedingungen zum Wohle der Gesamtwirtschaft 10. Wirtschaftliche Entwicklung des Südens und des Ostens 1. Bildung, Lernfähigkeit 2. Gesundheit, Wohlbefinden, Sicherheit 3. Freiheit, Unabhängigkeit, Individualität, Selbstverantwortung 4. Identität, Kultur 5. Werthaltung 6. Solidarität, Gemeinschaft, sozialer Zusammenhalt, Gerechtigkeit 7. Offenheit, Toleranz, Wandlungsfähigkeit 8. Soziale Sicherheit, Armutsanteil 9. Rechtssicherheit 10. Chancengleichheit, Gleichstellung, Partizipation Von den Zinsen leben und nicht vom Vermögen: Die oben stehenden Kriterien dienen einer allgemeinen Beurteilung der «Kapitalstöcke» Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie sind von den Grundlagendokumenten abgeleitet, welche die Nachhaltige Entwicklung definieren. Dazu gehören beispielsweise die Bundesverfassung und die Agenda 21. 8 Für eine Schweiz mit Zukunft / August 2001 Ziele und Zielkonflikte Bedeutung der Friedens- und Sicherheitspolitik für die Nachhaltige Entwicklung Kapitalstockkriterium Einfluss der Sicherheits- und Friedenspolitik auf das Kriterium Relevanz für Nachhaltige Entwicklung* Kriegerische Auseinandersetzungen können Artenvielfalt bedrohen (↔ Umweltaussenpolitik). • U1 Artenvielfalt U2 U3 U4 U5 Klima Emissionen Landschaft, Kultur-, Naturraum Vgl. U8. • Wasser Wasser (Zugangskonflikte, Überlebensfrage). •••+ Die Verknappung natürlicher, produktiver Ressourcen ist heute eine der Hauptursachen für, ebenso wie die Folge von akuten Konflikten. Dies betrifft die unverzichtbaren, erneuerbaren Ressourcen. Sicherheitsund Friedenspolitik hat einen Einfluss auf solche Konflikte, potenziell im negativen wie im positiven Sinne (Golfkrieg). Holz, produktives Landwirtschaftsland, Wasser (Verteilungskonflikte), fossile Energieressourcen, Öl, Gas (↔ Entwicklungspolitik). Stoffe, Organismen, Für Stoffe als Ressourcen siehe U8, für Abfälle: Bewaffnete • Abfälle Konflikte belasten Böden. Energie Konfliktpotenzial vor allem bei fossilen Energien. Vgl. U5. ••• Boden, Fläche, Raum (Bodenreformkonflikte), Zerstörung von Boden•• Fruchtbarkeit fruchtbarkeit. U6 U7 U8 Wirtschaft W1 W2 W3 W4 W5 W7 W8 W9 W10 BIP pro Kopf Innere (und äussere) Sicherheit und Stabilität sind zentrale Wirtschaftsfaktoren. Qualität und Effizienz der Infra- Frieden und menschliche Sicherheit als Voraussetzung struktur und Dienstleistungen funktionierender staatlicher Infrastruktur. der öffentlichen Hand Wertvermehrende Investiert wird nur in stabilen Ordnungen Investitionsquote (↔ Aussenwirtschafts- und Entwicklungspolitik). Langfristig tragbare Hohe Militärausgaben können Ursachen von Überschuldung sein. Staatsverschuldung Ressourceneffizienz Bedarf einer funktionierenden Ordnung, und diese wird von Sicherheits- und Friedenspolitik beeinflusst (↔ Entwicklungspolitik). Qualitatives und quantitatives Ist im akuten Konfliktfall nicht zu gewährleisten. Arbeitskräftepotenzial Innovationsfähigkeit und Bedarf einer funktionierenden Ordnung, kann durch leistungsfähige Forschung technologische Kooperation gefördert werden. Ordnungspolitische RahmenIst zentraler Gegenstand im positiven Friedensverständnis, bedingungen zum Wohle der in Konfliktzonen können solche Voraussetzungen weder Gesamtwirtschaft geschaffen noch genügend beachtet werden. Wirtschaftliche Entwicklung Bedarf einer funktionierenden Ordnung; Sicherheit und Frieden des Südens und des Ostens sind Kernvoraussetzungen. ••• •• •• •• •• • ••• ••• Gesellschaft G1 Bildung, Lernfähigkeit G2 Gesundheit, Wohlbefinden, Sicherheit Freiheit, Unabhängigkeit, Individualität, Selbstverantwortung Identität, Kultur G3 G4 G5 G6 G7 G8 G9 G10 Werthaltung Solidarität, Gemeinschaft, sozialer Zusammenhalt, Gerechtigkeit Offenheit, Toleranz, Wandlungsfähigkeit Soziale Sicherheit, Armut Rechtssicherheit Chancengleichheit, Gleichstellung, Partizipation Kontingenzerhöhung durch stabile Grundordnung, die durch Sicherheit und Frieden gewährleistet wird. Ohne Frieden und Sicherheit nicht möglich. ••• Voraussetzung wie Folge von Frieden und Sicherheit. ••• Eine konstruktive positive Haltung gegenüber dem eigenen Land ist nur in sicheren Verhältnissen breit konsolidierbar. Vgl. G4. Funktionierende Ordnung und Sicherheit sind Voraussetzungen für, und Resultat von Gerechtigkeit und sozialem Zusammenhalt, Ansatz der Guten Regierungsführung. •• Vgl. G4. Ohne Friede und Sicherheit ist Armutsbekämpfung nicht erfolgreich möglich (↔ Aussenwirtschafts- und Entwicklungspolitik). Positiver Friede ist Voraussetzung für (und Ergebnis von) rechtsstaatlichen Verhältnissen. Vgl. G6. •• •• ••• •• •• ••• * Die Relevanz der Sektorpolitik für Nachhaltige Entwicklung wird mit 0–3 Punkten dargestellt, das heisst, die Relevanz ist nicht erkennbar bis stark. Umwelt Zum Beispiel Sicherheits- und Friedenspolitik: Wie wichtig sind mögliche Massnahmen der Sicherheits- und Friedenspolitik für die Nachhaltige Entwicklung? Eine detaillierte Analyse mit Hilfe des Kapitalstockmodells gibt dazu Auskunft. Diese Analyse wurde insgesamt für 25 Politiksektoren vorgenommen. Das Symbol ↔ bedeutet, dass ein enger Zusammenhang mit einem anderen Politikbereich besteht, der auch genannt wird. Das Symbol + heisst: Dieser Kapitalstock ist besonders gefährdet, er befindet sich in der Nähe des gerade noch zumutbaren Minimums. Für eine Schweiz mit Zukunft / August 2001 9 Ziele und Zielkonflikte Bildung und Wissenschaft auf Platz 1 Politik für und wider die Nachhaltige Entwicklung Ähnlich wie die Friedens- und Sicherheitspolitik können auch die anderen Politiksektoren durchleuchtet werden. Das Ergebnis der Prüfung ist in manchen Fällen überraschend: Noch vor der Energiepolitik erwies sich die Bildungs- und Wissenschaftspolitik als wichtigster Politiksektor für die Nachhaltige Entwicklung. Dabei ist auch zu beachten, dass etwa die Kulturpolitik, welche für die Nachhaltige Entwicklung eine herausragende Rolle spielt, ein eher politikferner Bereich ist und deshalb auf der «Hitliste» der Bundespolitik nicht an oberster Stelle erscheinen kann. Für die Rangfolge ebenfalls massgebend sind die Fragen, welche Bereiche den grössten Nachholbedarf aufweisen und wie relevant ein Sektor für die Nachhaltige Entwicklung ist. Schliesslich entscheiden auch Auswirkungen von globalen oder nationalen Trends darüber, wie dringend und wichtig die Problemlösung erscheint (siehe dazu auch Teil 1). Die Schweizer Politik zur Nachhaltigen Entwicklung hat Licht- und Schattenseiten. Im Vergleich mit anderen Ländern des Nordens steht die Schweiz relativ gut da. Dennoch hat sie noch nicht konsequent den Weg zur Nachhaltigen Entwicklung eingeschlagen. Zum Beispiel liesse sich der hohe Ressourcen- und Energieverbrauch der Schweiz nicht auf die ganze Welt übertragen; der Kapitalstock Umwelt wäre rasch aufgebraucht. Die drei Hauptdimensionen der Nachhaltigen Entwicklung zeigen ein recht unterschiedliches Bild (siehe auch Teil 1): – Die Leistungsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft ist insgesamt sehr hoch. – Der Umweltverbrauch hat sich in einigen Bereichen stabilisiert, jedoch nimmt der Kapitalstock zum Beispiel beim Klimaschutz und bei der Artenvielfalt ab. – Gesellschaftliche Ressourcen stehen zunehmend unter Druck, teilweise als Folge der Rezession in den 90er-Jahren, teilweise als Folge des verstärkten internationalen Wettbewerbes, des technologischen Wandels und der aktuellen Privatisierungs- beziehungsweise Liberalisierungswelle, die nicht durchwegs genügend abgefedert ist. In dieser für die Nachhaltige Entwicklung unterschiedlichen, gegenläufigen Bilanz spiegeln sich die Zielkonflikte zwischen den Dimensionen Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft. Allzu oft setzen Regierung, Parlament und manchmal auch das Volk kurzfristige wirtschaftliche Interessen vor Nachhaltigkeitsziele. Dies geschieht, obwohl langfristige wirtschaftliche Ziele häufig mit Nachhaltigkeitsanliegen übereinstimmen. Nachhaltigkeitsrelevanz der Politiksektoren Bildung / Wissenschaft Energiepolitik Sicherheit und Frieden Aussenwirtschaft Staatsleitung Verkehrspolitik Wirtschaftspolitik Demokratie Migrationspolitik Gleichstellung Finanz-/Steuerpolitik Entwicklungspolitik Umweltpolitik Arbeitsmarkt Föderalismus Raumordnungspolitik Agrarpolitik Soziale Sicherheit Europäische Integration Umweltaussenpolitik F & E, Technologie Gesundheitspolitik Informationsgesellschaft Waldpolitik Kulturpolitik 0 10 20 30 40 50 60 70 Sektoren der Bundespolitik mit langen Balken sind gemäss Expertenanalyse besonders wichtig für die Nachhaltige Entwicklung in der Schweiz. 10 Für eine Schweiz mit Zukunft / August 2001 Anzahl Nennungen Ziele und Zielkonflikte Weichenstellung zugunsten Nachhaltiger Entwicklung (NE) Politische Entscheide und Tatbestände Institution Jahr/Datum Wirkung auf KU KW KG Programm Energie 2000 und Nachfolgeprogramm EnergieSchweiz zur rationelleren Energienutzung Bundesrat Parlament 1990, 1999 + + Revision Gewässerschutzgesetz: Verursacherprinzip Parlament 1991 + + Volksabstimmung zum Beitritt der Schweiz zu den Bretton-Woods-Institutionen; Schweiz erhält die Chance, global auf NE Einfluss zu nehmen Volk 1991 (+) + Zustimmung zum Alpenschutzartikel in der Bundesverfassung Volk und Stände 1994 + Nord-Süd-Leitbild: Verbesserung der politischen Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern als Schwerpunkt Bundesrat 1994 + Armeereform 95 Sicherheitspolitischer Bericht Parlament Bundesrat 1994 1999 Revision Umweltschutzgesetz: ökonomische Instrumente Parlament 1995 + + Trendumkehr in der Verkehrsinvestitionspolitik: Nachrüstung des öffentlichen Verkehrs seit den 80er-Jahren (Bahn und Bus 2000; Alptransit, FinÖv, Bahnreform) Bundesrat Parlament Volk Neunzigerjahre + + Anerkennung der Nichterwerbsarbeit in der Sozialversicherung: Annahme der 10. AHV-Revision (mit Erziehungs- und Betreuungsgutschriften) in der Referendumsabstimmung Volk 1995 Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA), Zustimmung in der Referendumsabstimmung Volk 1998 + (+) Agrarpolitik 2002: Ökologisierung der Landwirtschaft, Erweiterung der Multifunktionalität und der Marktgerechtigkeit Volk 1998 + + + Revidierte Bundesverfassung mit Verpflichtung zu NE in der Volksabstimmung angenommen Volk und Stände 18. April 1999 + + + Gesetz zur Reduktion der CO2-Emissionen Parlament 1999 + + (+) (+) + + + + + + Die Entscheide mit positiven Weichenstellungen wurden meist nicht bewusst mit Blick auf das Ziel «Nachhaltige Entwicklung» gefällt, sondern im Sinne einer guten schweizerischen Politik. Weichenstellungen gegen die Nachhaltige Entwicklung (NE) Politische Entscheide und Tatbestände Institution Jahr/Datum Wirkung auf KU KW KG Stagnierende Ressourcen für die Humankapitalbildung in den 90er-Jahren Parlament 1990–2000 (–) Ablehnung der Verfassungsbestimmung für die erleichterte Einbürgerung von in der Schweiz aufgewachsenen ausländischen Staatsangehörigen allein durch das Ständemehr Volk und Stände 1994 Exportrisikogarantie-Entscheide zugunsten von beteiligten Schweizer Unternehmen für die Grossdammbauprojekte «Ilisu» und «Drei Schluchten» mit Zehntausenden von lokal Vertriebenen Bundesrat 1997, 1998 Ablehnung einer verfassungsmässig verankerten Mutterschaftsversicherung in der Referendumsabstimmung Volk 1999 Revision des Raumplanungsgesetzes Volk 1999 – (+) (–) Ressourcenziel des Bundesrates für Entwicklungszusammenarbeit: 0,4%; politische Realität: 0,32–0,35% Bundesrat Parlament Neunzigerjahre – + – Ablehnung erster Schritte zu einer ökologischen Steuerreform (drei Energievorlagen) Volk 2000 – (–) (–) Entscheid des Bundesrates zugunsten höherer Lärmgrenzwerte für den Flughafen Unique Airport Zürich im Widerspruch zur Expertenkommission Bundesrat 2000 – + Überweisung einer nationalrätlichen Motion für den Bau eines zweiten Gotthard-Strassentunnels Nationalrat 2000 – – – – + – – Vertagung der Ratifikation der europäischen Sozialcharta Parlament 2000 (–) – Unbeschränkte Haftpflicht für Kernanlagebetreiber fehlt in der Botschaft des Bundesrates zur Revision des Atomgesetzes Bundesrat 2001 – – Unvermindert steigender Bodenverbrauch trotz anders lautender Zielsetzung des Bundes Bund Kantone bis Gegenwart – – – Erst wenn die Landesregierung, das Parlament und das Stimmvolk bei Zielkonflikten vermehrt eine ganzheitliche Beurteilung von Vorlagen im Hinblick auf die Nachhaltigkeit vornehmen, können solche Entscheide vermieden werden. Für eine Schweiz mit Zukunft / August 2001 11