Der Traum vom zweiten Leben

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Tages-Anzeiger – Dienstag, 29. November 2016
Wissen
Eingefroren bei minus 196 Grad Celsius: In diesen Tanks der Firma Alcor in den USA können je vier Tote aufbewahrt werden. Fotos: Alberto Giuliani (LUZ/Fotogloria)
Der Traum vom zweiten Leben
Eine britische Teenagerin kämpfte dafür, dass sie nach ihrem Tod eingefroren wird – in der Hoffnung, eines Tages
wieder zum Leben erweckt zu werden. Forscher sind skeptisch, die Methode hat dennoch viele Anhänger.
Barbara Reye
Es war ihr letzter Wunsch. Ihr allerletzter, kurz vor ihrem Tod. Sie wollte nicht
in der Erde begraben werden, sondern
sich stattdessen einfrieren lassen. In der
Hoffnung, dass man sie auftaut, sollte es
eines Tages eine Behandlungsmethode
für ihren bisher unheilbaren Krebs geben. Die britische Teenagerin kämpfte
vor Gericht für ihren Wunsch. In einem
Brief schrieb sie:
«Ich bin erst 14 Jahre alt, und ich
möchte nicht sterben. Doch ich
weiss, dass ich sterben werde. Ich
glaube, die Konservierung durch
Einfrieren gibt mir die Chance,
­geheilt und wieder aufgeweckt zu
werden. Auch wenn es in Hunderten von Jahren ist. Ich möchte
diese Chance haben. Das ist mein
Wunsch.»
Zwischen ihren geschiedenen Eltern
löste dieser sehr eigenwillige Wunsch
nach einer sogenannten Kryokonservierung einen heftigen Streit aus. Denn ihr
Vater, den sie seit 2008 nicht mehr gesehen hatte, war dagegen. Am 6. Oktober
entschied der Richter Peter Jackson zugunsten der Mutter und des Mädchens.
Daraufhin gab der Vater schliesslich
nach, obwohl er von der Methode immer noch nicht überzeugt war. Die
Grosseltern mütterlicherseits kommen
für die Kosten von rund 47 000 Franken
auf. Am 17. Oktober starb das Mädchen
in einem Londoner Spital, wo Freiwillige
der Cryonics UK gemäss britischen
­Zeitungen die Vorbereitungen für den
Transport in die USA sehr improvisieren
mussten.
Nach dem klinischen Tod eines Patienten wird der Körper herunter­
gekühlt, um chemische Abbauprozesse
zu verhindern. Zudem wird das Blut mit
einem speziellen Gefrierschutzmittel
ausgetauscht, damit die Zellen vor möglichen Schäden durch Eiskristallbildung
geschützt sind. Weltweit gibt es nur drei
grosse Institute, die eine Lagerung von
toten Körpern in Tanks mit flüssigem
Stickstoff bei minus 196 Grad Celsius
anbieten — das Cryonics Institute im
­
­US-Bundesstaat Michigan, die Alcor Life
Extension Foundation im US-Bundesstaat Arizona und Kriorus bei Moskau.
Ob ein gefrorener Körper jemals wieder mit Blut versorgt und vollständig
wiederbelebt werden kann, ist zum jetzigen Zeitpunkt sehr ungewiss. «Wir
schaffen es nicht einmal, Organe für
eine kurze Zeit einzufrieren», sagt der
Mediziner Franz Immer von Swiss­
transplant. Allein schon ein tiefgefrorenes Gehirn aus der Kältestarre zurückzuholen, sei momentan völlig utopisch.
Und ein ganzer Leichnam geradezu
­Science-Fiction.
Giftige Gefrierschutzmittel
Dennoch sehnen sich viele Menschen
nach dem ewigen Leben und wollen sich
auf eine solche Zeitreise ins ­Ungewisse
begeben. Der Verein Cryo­suisse, den es
erst seit 2015 gibt, hat bisher mehr als 20
Mitglieder. «Es ist wie eine letzte Wette»,
sagt Patrick Burgermeister, Molekularbiologe und Gründer von Cryosuisse.
«Die Erfolgsaussichten sind bisher zwar
klein und auch die verwendeten Gefrierschutzmittel noch giftig.» Doch er glaube
an den Fortschritt und sehe diese Art
der Bestattung quasi als letzte Ambulanz. Rechtlich gesehen dürften Kryonauten theoretisch sogar in der Schweiz
gelagert werden. Es sei z­ umindest nicht
explizit verboten – ein Graubereich in
der Gesetzgebung.
Für die Transplantationsmedizin
wäre es interessant, Organe im Tieftemperaturbereich kurz aufbewahren zu
können, um damit ein paar zusätzliche
Stunden Zeit zu gewinnen. Momentan
kann man die Organe eines Spenders
nur für wenige Stunden ausserhalb des
Körpers bei 3 bis 4 Grad Celsius auf Eiswasser gekühlt lagern, bevor sie ein
Empfänger transplantiert bekommt.
«Wir wissen, dass Temperaturen unter
dem Gefrierpunkt die Organe bisher
potenziell gefährden», sagt Immer.
Dagegen ist diese Gefriertechnik in
der Reproduktionsmedizin längst Routine. So lassen sich etwa befruchtete Eizellen, Spermien oder auch bis zu drei
Tage alte Embryos mit flüssigem Stickstoff jahrelang haltbar machen. «Wir
Vorbereitungen für eine Kryokonservierung – demonstriert an einer Puppe.
können mittlerweile auch bis zu einem
Zentimeter dicke Gewebe, etwa ein
Stück Haut, kryokonservieren und nach
einer Revitalisierung dem Patienten mit
gutem Erfolg transplantieren», sagt der
Biochemiker Johannes Heidingsfelder
vom Center of Cryo Competence in Life
Sciences Dresden. Ein ganzes Organ
sei aufgrund der Dimensionen und
der damit verbundenen unzureichenden Versorgung der unterschiedlichen
Zelltypen mit Gefrierschutzmitteln weiterhin eine zu komplexe Aufgabe und
hätte nach dem Auftauen irreparable
Schäden zur Folge.
Wie sieht die Welt dann aus?
Dass ein Verstorbener eines Tages tatsächlich aus dem kryonischen Kälteschlaf zum Leben erweckt werden wird,
hält Mervyn Singer, Intensiv- und Notfallmediziner vom University College
London, für eine Illusion. Er frage sich,
wie man es sich vorstelle, eine normale
Funktion des Gehirns sowie auch eine
annehmbare Lebensqualität der einstigen Patienten plötzlich wiederherzustellen. Soweit er wisse, habe es bisher noch
niemand geschafft, einen verstorbenen
Menschen zu reanimieren. Er schliesst
nicht aus, dass im nächsten Jahrtausend
Techniken dafür entwickelt werden,
würde jedoch nicht darauf setzen und
dafür auch kein Geld zahlen.
«Auch wenn es dereinst technisch
möglich sein sollte, Kryonauten in eine
andere Zeitepoche zu katapultieren,
gibt es viele offene Fragen, die sich auch
der Vater des Mädchens stellte», sagt die
Anthropologin Gillian Bentley von der
Durham University. Wie sieht die Welt
dann aus? Käme die 14-Jährige ohne Eltern, Verwandte oder Freunde zurecht?
Werde sie von anderen ausgenutzt, weil
sie keinen kenne? Wie und mit was
könne sie ihren Lebensunterhalt überhaupt bezahlen? Und wer würde sich darum kümmern, sie zu heilen?
Die krebskranke Teenagerin liess sich
von ihrer Meinung nicht abbringen. Es
war für sie ein Hoffnungsschimmer und
ihr letzter Wunsch. Sie nannte ihren
Richter einen Helden.
Kryonik
Wie es gemacht wird
1. 
Wenn ein Patient klinisch tot ist, wird er an
eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen.
Und zwar möglichst nicht mehr als
3–4 Minuten
nach dem Herzstillstand, um biologische
Schäden vor allem am Gehirn zu verhindern.
2.
Der Körper wird anschliessend mithilfe eines
Eisbades auf etwa
4 °C
heruntergekühlt. Danach ersetzen Gefrierschutzmittel das Blut, um die Schädigung der
Zellen durch Eiskristallbildung zu verhindern.
Auf diese Weise sollen bei einem späteren
Auftauen z. B. Risse in den Zellmembranen
vermieden werden.
3.
Am Schluss wird der Körper mithilfe von
flüssigem Stickstoff in einer speziellen
Kühlkammer auf
–196 °C
heruntergekühlt. Die Kryonauten werden bei
dieser Temperatur in einem Tank gelagert, in
dem vier bis sechs Tote Platz haben. Aufbewahrt werden sie mit dem Kopf nach unten,
damit bei einem Versorgungsengpass das
Gehirn, das wichtigste Organ, am längsten
gekühlt bleibt.
4.
In den USA haben sich bisher rund 300 Menschen nach ihrem Tod einfrieren lassen. Auch
tote Haustiere werden kryokonserviert.
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