AG1 Lsg - Universität Augsburg

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DR. BENJAMIN ROGER, MAÎTRE EN DROIT (PARIS II)
ARBEITSGEMEINSCHAFT ZUM GRUNDKURS STRAFRECHT
WINTERSEMESTER 2015/2016
Einheit 1 – Grundfragen und Grundbegriffe des Strafrechts
Frage 1: Was wird allgemein als Aufgabe des Strafrechts angesehen?
Nach überwiegender Ansicht dient das Strafrecht der Friedenssicherung durch subsidiären
Rechtsgüterschutz. Rechtsgüter können danach beschrieben werden als alle Gegebenheiten und
Zwecksetzungen, die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte
und das Funktionieren eines auf diese Zielsetzung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind (so
Roxin, AT, § 2, Rn. 7; hinsichtlich Begriff und Funktion des Rechtsguts ist allerdings vieles umstr.).
Rechtsgüter können hinsichtlich des Kreises ihrer Inhaber unterschieden werden in Individual(Rechtsgüter des Einzelnen, z.B. Leib und Leben) und Universalrechtsgüter (Rechtsgüter der
Allgemeinheit, z.B. Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege).
Strafrecht als „schärfstes Schwert der Rechtsordnung“ soll legitim nur als ultima ratio der Sozialpolitik
eingesetzt werden dürfen, wenn andere Schutzmaßnahmen und Mittel nicht ausreichen. Das
Subsidiaritätsprinzip ist Ausprägung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
Frage 2: Mit welcher Frage beschäftigen sich die sog. Straftheorien? In welche Gruppen lassen sie sich
einteilen?
Die Straftheorien versuchen, die Frage nach Sinn, Zweck und Rechtfertigung der Strafe zu
beantworten, also warum der Täter für bestimmte Verhaltensweisen bestraft werden soll und welche
Rolle speziell der Strafandrohung und –vollstreckung zukommt (mit Hilfe der Straftheorien wird die
Strafe aus einer internen Sicht (aus Sicht des strafenden Richters) behandelt – im Gegensatz zur
externen Sicht, die von außen auf die Gesellschaft gerichtet ist (so z.B. die Ansätze von Durkheim und
Freud, s. hierzu das Vorlesungsskript).
1) Absolute Straftheorien (absolutus = losgelöst):
Die absoluten Straftheorien sind deontologische Konzeptionen, die der Strafe einen „Wert an sich“
zuschreiben: Die Bestrafung ist von jeder gesellschaftlichen Wirkung losgelöst, Strafe ist für den
sittlich schuldigen Täter „Wert an sich“ und an der Tatschuld orientiert (dahinter steht das
Talionsprinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“).
a) Sühnetheorie: Täter versöhnt sich wegen der begangenen Tat wieder mit sich, dem Opfer, der
Gemeinschaft oder einer personalen Transzendenz.
Kritik: Versöhnung ist ein freiwilliger Akt, dagegen ist die Strafe ein aufgezwungenes Übel.
Die Konzeption der Versöhnung ist nicht als realer sozialer bzw. psychologischer Prozess,
sondern als metaphysischer, die empirische Erfahrbarkeit überschreitender Vorgang zu
verstehen. Daran knüpfen sich aber Legitimationsprobleme.
b) Vergeltungstheorie (Kant, Hegel): Der Einzelne wird durch die Strafe als Person geehrt. Jeder
soll mit der Strafe das erfahren, was seine Tat wert ist. Dem Unrecht müsse eine in Dauer,
Härte und der Art (Kant) oder dem Wert (Hegel) nach gleiche Strafe folgen, um die Ordnung
wiederherzustellen. Nach Hegel ist die Straftat als eine Verletzung des Rechts iSe Negierung
des Rechts zu verstehen, der die Strafe als „Verletzung der Verletzung“, d.h. Wiederherstellung
der Rechtsordnung durch Zufügung eines gerechten Übels begegnet („Strafe ist Negation der
Negation des Rechts“).
Kritik: Die absoluten Straftheorien nehmen nicht die täter- und gesellschaftsbezogenen
Auswirkungen der Strafe für die Zukunft in den Blick; Willensfreiheit des Straftäters bei
Begehung der Tat in sehr ausgeprägtem Sinne vorausgesetzt, da Strafe nach diesem Ansatz
„verdient“ ist.
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c) Gerechtigkeitstheorie (von Spendel; Zaczyk): Die Strafe dient der Gerechtigkeit und
Herstellung von Gleichheit zwischen dem Täter und dessen Mitbürgern. Die Nichtbestrafung
von Normbrechern wäre gegenüber den rechtstreuen Bürgern ungerecht.
Kritik: Problematisch ist, dass allein aus Gründen der Gleichbehandlung ein Schaden zugefügt
werden soll, dem nicht ein mindestens gleichwertiger Nutzen gegenübersteht.
2) Relative Straftheorien (relatus = bezogen auf):
Die relativen Straftheorien sind in die Zukunft gerichtet: Bestrafung als Aufgabe der
Verbrechensverhütung (allein präventive Wirkung von Strafe), Strafe legitimiert sich über die
Nützlichkeit.
a) Nach dem Ansatz der Spezialprävention ist die Strafe an der Täterpersönlichkeit orientiert und
soll auf den konkreten Täter einwirken (Vertreter v.a. Franz v. Liszt).
Elemente der Spezialprävention:
- Besserung des besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Täters - Resozialisierung
(Kritik: Erziehungsbefugnis des Staates?);
- Abschreckung des Täters;
- Sicherung der Gesellschaft vor dem Täter: Einsperren des nicht besserungsfähigen
Täters (Kritik: keine Strafmaßbegrenzung, Instrumentalisierung des Täters, die
Todesstrafe kann hiermit auch legitimiert werden)
b) Nach der Lehre von der Generalprävention wirkt die Strafe nicht auf den konkreten Täter,
sondern auf die Allgemeinheit. Strafe soll verhindern, dass andere (als der konkrete Täter)
Straftaten begehen.
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Eine Ausprägung der Theorie ist die Lehre von der positiven Generalprävention:
Danach soll Strafe der Stärkung des Rechtsbewusstseins (Befriedungseffekt) und des
Vertrauens der Allgemeinheit in die Rechtsordnung dienen (Vertrauenseffekt). Damit
soll die Erwartung in die wechselseitige Einhaltung der strafrechtlich sanktionierten
Verhaltensnormen garantiert werden. Die Bürger sollen sich darauf verlassen können,
dass die dem Strafgesetz zugrunde liegende Verhaltensnorm allgemein beachtet wird.
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Negative Generalprävention (Abschreckungstheorie; Johann Anselm v. Feuerbach
(1775-1833): Theorie des psychologischen Zwangs): Abschreckung von potenziellen
Straftätern mittels des durch das angedrohte Strafübel verübten psychologischen
Zwangs, der einen Antrieb zur Tatbegehung unterdrückt. Durch die Vollstreckung der
Strafe wird in diesem Sinne die Ernstlichkeit der Androhung verdeutlicht und bestärkt.
Kritik: Gefahr der Degradierung des Täters zum Objekt staatlichen Strafens, weil die
Bestrafung des Täters in den Dienst der Allgemeinheit gestellt wird. Kein geeigneter Maßstab
für die Begrenzung der Strafdauer.
Speziell zur Theorie der negativen Generalprävention ist anzumerken, dass Täter zumeist von
ihrer Nichtentdeckung ausgehen.
c) Vereinigungstheorien:
Die heute in der Rechtsprechung und in Teilen der Wissenschaft vertretenen (unterschiedlich
ausgeprägten) Vereinigungstheorien stellen eine Synthese der verschiedenen straftheoretischen
Konzepte dar: Durch gegenseitige Beschränkung werden die einzelnen Strafzwecke in
Einklang miteinander gebracht. Bei einander widersprechenden Zielen („Antinomie der
Strafzwecke“) gebührt einem Strafzweck der Vorrang, wobei sich hier die Theorien aufgrund
unterschiedlicher Gewichtung spalten.
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a) Vergeltende VT:
a. Additive VT (vgl. BVerfGE 39, 1, 57; 45, 187, 253): Gleichrangiges Nebeneinander der
Strafzwecke
b. Spielraumtheorie (BGH): Berücksichtigung von general- und spezialpräventiven
Aspekten im Rahmen der Schuld
b) Präventive VT: Dialektische VT (Roxin): Strafe dient Zwecken der General- und
Spezialprävention. Dabei wirkt aber das Schuldprinzip in der Höhe der Strafe als
Eingriffsbegrenzung. Eine Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe ist möglich,
wenn dies spezialpräventiv gerechtfertigt ist und generalpräventive Aspekte nicht
entgegenstehen.
Frage 3: Sind die Straftheorien im geltenden StGB verankert?
Das StGB ist heute auf keine Straftheorie festgelegt, vielmehr liegt ihm die Vereinigungstheorie
zu Grunde:
1) § 46 I 1 StGB: Schuld als Bemessungsfaktor für Strafe: Vergeltungsgedanke (absolutes
Element). Die Schuld ist immer Obergrenze der Strafe
2) § 46 I 2 StGB: Wirkung der Strafe für das Leben des Täters, Wiedereingliederung des Täters in
die Rechtsgemeinschaft als Ziel: spezialpräventive Kriterien
3) § 47 I, § 56 III StGB: „Verteidigung der Rechtsordnung“ findet Berücksichtigung: Elemente
der Generalprävention
Frage 4: Welche Rechtsfolgen gibt es im deutschen Strafrecht?
Das deutsche Strafrecht enthält (seit dem Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933) zwei Arten von
Rechtsfolgen (duales System, Zweispurigkeit): Zum einen die (repressiven) Strafen, zum anderen die
(präventiv ausgerichteten) Maßregeln. Während die Verhängung der Strafe die Schuld des Täters
voraussetzt und durch diese begrenzt wird, stellen die Maßregeln der Besserung und Sicherung auf die
konkrete Gefährlichkeit des Täters ab. Auch die Maßregeln erfordern aber die Begehung einer
rechtswidrigen Tat (Anlasstat) und werden durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB)
begrenzt.
1) Die Strafen können in Haupt- und Nebenstrafen unterteilt werden. Die Verhängung einer
Strafe kann mit einer Nebenfolge, § 45 StGB, verbunden werden.
a) Hauptstrafen sind die Freiheitsstrafe, (§§ 38 f. StGB) und die Geldstrafe (§§ 40 ff. StGB).
- Die Freiheitsstrafe kann zeitig, § 38 II StGB, oder lebenslang, § 38 I StGB, verhängt
werden. Die zeitige Freiheitsstrafe beträgt grundsätzlich mindestens einen Monat und
im Höchstmaß 15 Jahre. Dabei soll eine kurzfristige Freiheitsstrafe unter 6 Monaten nur
in Ausnahmefällen verhängt werden, § 47 StGB. Eine verhängte Strafe von bis zu zwei
Jahren kann zur Bewährung ausgesetzt werden, § 56 StGB.
- Die Geldstrafe wird in Tagessätzen verhängt. Die Anzahl der Tagessätze richtet sich
nach der Schuld des Täters und kann zwischen 5 und 360 Tagessätzen liegen, §
40 I StGB. Die Höhe eines Tagessatzes richtet sich nach dem durchschnittlichen
Einkommen, das der Täter an einem Tag zur Verfügung hat. Für die Höhe eines
Tagessatzes ist gesetzlich eine Spanne zwischen einem und 30.000 Euro festgelegt,
§ 40 II StGB. An die Stelle der uneinbringlichen Geldstrafe tritt die
Ersatzfreiheitsstrafe, § 43 StGB. Bei Geldstrafen bis 180 TS kann unter bestimmten
Umständen eine Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen werden, § 59 StGB
(entspr. Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung).
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[Exkurs: In der Sanktionspraxis bemerkenswert sind zum einen die Abnahme der
vollstreckten Freiheitsstrafen auf inzwischen unter 6 % aller Hauptstrafen und zum
anderen die Zunahme der Geldstrafe auf über 80 % aller Hauptstrafen.
Nicht zu den Sanktionen i.e.S. gehören die Diversionsentscheidungen nach §§ 153 ff. StPO,
die in der Praxis eine erhebliche Bedeutung haben (55 % aller Sanktionen i.w.S. im Jahre
2003).]
b) Als Nebenstrafe kann unter bestimmten Voraussetzungen das Fahrverbot, § 44 StGB,
verhängt werden.
c) Nebenfolgen: § 45 StGB Verlust der Amtsfähigkeit/ der Wählbarkeit und des Stimmrechts.
2) Maßregeln der Besserung und Sicherung können neben einer Strafe, aber auch allein (bei
fehlender Schuld des Täters) verhängt werden.
Als freiheitsentziehende Maßregeln sind die Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus, § 63 StGB, in einer Entziehungsanstalt, § 64 StGB, oder in der
Sicherungsverwahrung, § 66 StGB, möglich. Zudem gibt es die Maßregeln der
Führungsaufsicht, §§ 68 ff. StGB, der Entziehung der Fahrerlaubnis, §§ 69 ff. StGB, und der
Verhängung eines Berufsverbots, § 70 ff. StGB.
3) Daneben ist noch die Anordnung weiterer Maßnahmen möglich, die ebenfalls nicht von der
Schuld des Täters abhängen: Verfall, §§ 73 ff. StGB, Einziehung, §§ 74 ff. StGB,
Unbrauchbarmachung, § 74d I 2 StGB.
In der jüngeren Diskussion taucht die Frage auf, ob sich die Wiedergutmachung als dritte Spur des
strafrechtlichen Sanktionssystems ausbauen lässt (vgl. hierzu Roxin, AT I, § 3, Rn. 72 ff.). Die
Wiedergutmachung ist im geltenden Strafrecht doppelspurig teils als Diversionsmaßnahme (§§ 45 II 2,
47 I 1 Nr. 2 JGG, §§ 153, 153a, 153b StPO), teils als typisierter Strafmilderungsgrund (§ 46a StGB)
verankert und umfasst den Täter-Opfer-Ausgleich und die Schadenswiedergutmachung.
Frage 5: Was besagt das Gesetzlichkeitsprinzip und durch welche Ausprägungen ist es konkretisiert?
In Art. 103 II GG sowie (wörtlich übereinstimmend) in §§ 1, 2 StGB (und Art. 7 I EMRK) wird das
Gesetzlichkeitsprinzip formuliert, das besagt, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die
Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde („nulla poena, nullum crimen sine
lege“). Diese rechtstaatliche Garantiefunktion des Strafrechts umfasst die Erfordernisse, dass ein
Strafgesetz das verbotene Verhalten umschreiben und zugleich die Art der Strafe und ihre mögliche
Höhe als Rechtsfolge festlegen muss.
Die vier Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips lauten:
1) Bestimmtheitsgebot (nulla poena, nullum crimen sine lege certa): Geltung hinsichtlich des
Unrechtstatbestandes und des Strafrahmens. Grundsätzlich gilt das Verhältnismäßigkeitsprinzip
in der Weise, dass das Gesetz umso präziser die Strafbarkeit bestimmen muss, je schwerer die
angedrohte Strafe ist. Generalklauseln sind nicht von vorneherein wegen eines Verstoßes gegen
das Bestimmtheitsgebot verfassungswidrig: Wichtig ist aber die Auslegungsfähigkeit und
Präzisierung durch die Rechtsprechung. Ob allerdings auch eine Heilung der gesetzgeberischen
Verletzung des Bestimmtheitsgebots durch die Rechtsprechung möglich ist, ist umstritten.
Die früher in § 43a StGB geregelte Vermögensstrafe (Nebenstrafe) wurde wegen Verstoßes
gegen das Bestimmtheitsgebot für verfassungswidrig und nichtig erklärt.
2) Rückwirkungsverbot zu Lasten des Täters (…lege praevia): § 2 I StGB: Das
Rückwirkungsverbot gilt für die Normen des Allgemeinen und Besonderen Teils, aber grds.
nicht im Verfahrensrecht. Auch eine Änderung der Rechtsprechung stellt nach h.M. keinen
Verstoß gegen dieses Prinzip dar (Arg.: Wortlaut: gilt nur für Gesetze).
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Das Rückwirkungsverbot wird präzisiert durch § 2 II StGB. § 2 III StGB enthält das
Meistbegünstigungsprivileg (Rückwirkungsgebot bei Gesetzesänderungen zugunsten des
Täters zwischen Tatbeendigung und Entscheidung: lex-mitior-Grundsatz; Ausnahme vom
Rückwirkungsgebot des Abs. 3 aber bei Zeitgesetzen gem. § 2 IV StGB). Das
Rückwirkungsverbot und die Regeln des § 2 I-IV StGB gelten auch für die strafähnlichen
Sanktionen gegen das Eigentum, § 2 V StGB. Das Rückwirkungsverbot gilt jedoch
grundsätzlich nicht für die Maßregeln der Besserung und Sicherung, § 2 VI StGB.
(Achtung: Der EGMR hat in seiner Entscheidung zur Sicherungsverwahrung (Urteil vom
17.12.2009, Az.: 19359/04) die Sicherungsverwahrung als Strafe qualifiziert und deshalb auch
den rückwirkenden Wegfall der (früher in § 67d Abs. 3 StGB vorgesehenen) zeitlichen
Begrenzung der Sicherungsverwahrung als Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 7
EGMR angesehen.).
3) Verbot gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung/-schärfung (…lege scripta): Gewohnheitsrecht
zugunsten des Täters zulässig, z.B. bei den Täter entlastenden Rechtfertigungsgründen.
Problematisch aber z.B. die Rechtsfigur der actio libera in causa (hierzu später mehr, s. etwa
Einheit 9 der PÜ).
4) Analogieverbot (…lege stricta): Normkonkretisierung durch Auslegung nur bis zur
Wortlautgrenze. „Lückenfüllung“ zu Lasten des Täters im Strafrecht unzulässig, dagegen ist
eine Analogiebildung zugunsten des Täters möglich. Die Auslegung eines Gesetzes erfolgt im
Rahmen der verfassungsmäßigen Grenzen unter den vier Aspekten
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der grammatikalischen (semantischen) Auslegung: Wortlaut und Sprachbedeutung,
Wortsinn ist Grenze möglicher Wortbedeutung
der systematischen Auslegung: Berücksichtigung des gesetzlichen Kontextes
der historischen Auslegung: gesetzgeberische Motive, Regelungsziele, Wille des
(jüngeren) Gesetzgebers verbindlich (str.)
und der teleologischen Auslegung: Sinn und Zweck der Regelung, insbesondere
Schutzzweck der Norm.
Frage 6
Fraglich ist zunächst, ob eine Bestrafung des A auf Grundlage der Strafzwecktheorien begründet
werden kann.
1) Vergeltungsgedanke: Bestrafung des Unrechts zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit;
Schuldausgleich; A hat sich der schwersten Straftat, des Mordes, in 50 Fällen strafbar gemacht: die
Schwere der Schuld (auch unter Berücksichtigung einer etwaigen damaligen Konfliktsituation und
der besonderen Umstände) erfordert Bestrafung.
2) Spezialprävention: A ist geachteter und seit Ende des NS-Regimes gesetzestreuer Bürger mit
früherem ehrenamtlichen Engagement: Er ist gut sozialisiert, von ihm geht mit hoher
Wahrscheinlichkeit keine Gefahr mehr aus. Die Sicherung der Bevölkerung vor ihm ist nicht mehr
erforderlich. Die Bestrafung erfüllt keine präventiven Zwecke mehr.
3) Positive Generalprävention: Die Strafe lässt sich danach über die Stärkung der Rechtstreue und
Stärkung des Vertrauens in die Strafrechtsordnung rechtfertigen. Unter diesem Aspekt ist die
Bestrafung auch nach so langer Zeit noch sinnvoll.
Im geltenden StGB stellt § 46 I 1 grundlegend auf die Schuld des Täters ab. Da die
Vereinigungstheorie, die den Regelungen des StGB zugrunde liegt, nicht das gleichzeitige Vorliegen
der Elemente aller Strafzwecktheorien erfordert, liefe eine Bestrafung des A dem geltenden Recht
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nicht von vorneherein zuwider. Der lange Zeitablauf kann u.U. bei der Strafzumessung eine Rolle
spielen.
(Strafprozessualer Exkurs: Bei langen Zeitabläufen ist grds. an Verfolgungsverjährung zu denken, die
zu einem Verfahrenshindernis führen würde; allerdings gibt es bei Mord gem. § 78 II StGB keine
Verfolgungsverjährung.)
Frage 7
Fraglich ist, ob in der Verlängerung der Verfolgungsverjährung auch für Taten, die vor dieser
Verlängerung begangen wurden, ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich verankerte
Gesetzlichkeitsprinzip in Form des Rückwirkungsverbots liegt. Hinsichtlich der Verlängerung der
Verjährungsfrist sprechen allerdings beachtliche Gründe gegen eine Geltung des
Rückwirkungsverbots: Das Rückwirkungsverbot (lex praevia) hat die Funktion, dem Bürger
Orientierungssicherheit zu geben, was strafrechtlich verboten ist und was keine strafrechtliche
Sanktion nach sich ziehen wird. Ein Strafgesetz kann seine Abschreckungs- und Steuerungsfunktion
nur erfüllen, wenn es bereits zum Zeitpunkt der Tat in Kraft war. War dies aber der Fall, so musste der
Täter damit rechnen bestraft zu werden. Das mögliche Vertrauen auf eine schnellere Verjährung einer
bereits zum Zeitpunkt der Tat strafbewehrte Tat ist nicht schutzwürdig. (so das BVerfG: E 25, 269 ff.).
Frage 8
Hier könnte ein Verstoß gegen die Garantiefunktion des Strafgesetzes/ Gesetzlichkeitsprinzip nach
Art. 103 Abs. 2 GG, §§ 1, 2 StGB vorliegen. Das Gesetzlichkeitsprinzip besagt, dass eine Tat nur
bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde
(nullum crimen, nulla poena sine lege; s. o.).
1) Kuppelei: Der Tatbestand der Kuppelei wurde mit der Großen Strafrechtsreform 1969 aus dem
StGB herausgenommen (Ausnahme in § 180 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB bezüglich Minderjähriger).
Die strafbegründende Berücksichtigung von Gewohnheitsrecht ist wegen der Garantiefunktion des
Strafgesetzes unzulässig (lex scripta). Die Verurteilung der K wegen Kuppelei stellt einen Verstoß
gegen das Gesetzlichkeitsprinzip dar.
Kuppelei: § 180 StGB aF:
(1) Wer gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz durch seine Vermittlung oder Verschaffung von Gelegenheit der Unzucht
Vorschub leistet, wird wegen Kuppelei mit Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu 5 Jahren bestraft; auch kann
zugleich auf Geldstrafe sowie auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht erkannt werden. Sind mildernde Umstände
vorhanden, so kann die Freiheitsstrafe bis auf einen Tag ermäßigt werden.
(2) Als Kuppelei gilt insbesondere die Unterhaltung eines Bordells oder eines bordellartigen Betriebs.
(3) Wer einer Person, die das 18. Lebensjahr vollendet hat, Wohnung gewährt, wird aufgrund des Abs. 1 nur bestraft,
wenn damit ein Ausbeuten der Person, der die Wohnung gewährt ist, oder ein Anwerben oder ein Anhalten dieser
Person zur Unzucht verbunden ist.
2) Geldwäsche: Handlung der A zum Zeitpunkt der Tat straflos. Der neue Tatbestand der Geldwäsche
schließt zwar eine Strafbarkeitslücke, doch tritt das Gesetz erst nach der Tat in Kraft. Die
Verurteilung nach dem neuen Straftatbestand stellt einen Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip
in Form des Rückwirkungsverbotes dar.
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