Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech

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Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010
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Quarks & Co
Quarks & Co Leben oder sterben lassen?
Die Grenzen der Hightech-Medizin
Autoren:
Katharina Adick, Hubert Filser, Carsten Linder, Ilka aus der Mark, Corinna Sachs, Jo Siegler
Redaktion: Ingo Knopf
Nur 275 Gramm wog der weltweit leichteste Junge, der eine Frühgeburt überlebte. Sollen solche Extrem-Frühchen mit allen Mitteln
der Intensivmedizin am Leben erhalten werden? Auch wenn die Behandlung rund 130.000 Euro kostet und die Chancen auf ein Leben
ohne Spätschäden nur bei rund 30 Prozent liegen? Quarks & Co macht sich auf die Suche nach Antworten. Im Studio begrüßt Ranga
Yogeshwar einen Mediziner und eine Hebamme.
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Katharina Rost
Hebamme mit 700 Kindern
Katharina Rost ist Hebamme und selbst gerade schwanger. Die 33-Jährige hat insgesamt 700 Kinder zur Welt gebracht, hat in Afrika und China gearbeitet und in Berlin und Glasgow Gesundheitswesen studiert. Derzeit schreibt sie ihre Doktorarbeit über Frauen, die über Pränatal-Diagnostik erfahren haben, dass sie ein behindertes und nicht überlebensfähiges Kind bekommen werden.
Im Gespräch mit Ranga Yogeshwar kritisiert sie, dass Eltern oft mit unklaren Diagnose-Ergebnissen
allein gelassen werden.
Guter Hoffnung sein – das war früher mal die nette Umschreibung für Schwangerschaft. Heute
genügt die gute Hoffnung nicht mehr, sagt Katharina Rost. Heute bekommen Schwangere von allen
Seiten Tipps, wie sie sich möglichst optimal ernähren können. Sie sollen ihr Verhalten voll auf das
Kind umstellen und sich regelmäßig vom Arzt untersuchen lassen. Katharina Rost weiß das. Sie ist
Hebamme und gerade selbst schwanger. Die 33-Jährige hat insgesamt 700 Kinder zur Welt gebracht, hat in Afrika und China gearbeitet und so auch andere Kulturen kennengelernt.
In Berlin und Glasgow hat sie Gesundheitswesen studiert und schreibt derzeit an der Universität
Osnabrück ihre Doktorarbeit über Frauen, die über Pränatal-Diagnostik erfahren haben, dass sie ein
behindertes und nicht überlebensfähiges Kind bekommen werden.
Katharina Rost spürt, wie in Deutschland Schwangere ganz schnell in die Medizin-Falle gehen können, weg von einer natürlichen Geburt. Nur ein Beispiel: Laut Empfehlung soll eine Frau während
der Schwangerschaft dreimal zur Ultraschall-Untersuchung. 85 Prozent der Frauen gehen öfter.
Schwangerschaft werde so Stück für Stück als riskantes Unterfangen gesehen, das es zu überwachen gelte, meint Katharina Rost. Der Raum für natürliche Gefühle wird so immer kleiner. Die
Hebamme, die nach ihrer Zeit an Kliniken in Würzburg und Nürnberg seit zehn Jahren nur noch
Hausgeburten betreut, will genau hier wieder ein Bewusstsein schaffen, worauf wir als Gesellschaft uns rund um die Geburt eigentlich einlassen. Denn so wichtig Diagnostik ist: Technik kann
auch verunsichern, zumal nach einer Diagnose oft keine Beratung stattfindet. „Die Eltern werden
alleingelassen“, sagt Rost.
Katharina Rost im Interview mit Ranga Yogeshwar – jetzt anschauen auf www.quarks.de.
Autor: Hubert Filser
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Dr. Stephan Seeliger
Lebensretter für Frühgeborene
Stephan Seeliger ist leitender Oberarzt für Kinderheilkunde. In Göttingen betreut er sämtliche Frühchen. Wer einmal Bilder eines 300 Gramm leichten Frühchens gesehen hat, der kann den immensen Druck ahnen, unter dem Stephan Seeliger steht. Der Vater einer 7-jährigen Tochter sagt: „In
diesem Bereich gibt es kein Gut und Böse. Bei allem, was ich in der Medizin tue, überlege ich mir,
ob ich genauso handeln würde, wenn es um meine eigene Tochter ginge.“ Im Gespräch mit Ranga
Yogeshwar berichtet er über die schwierige Entscheidung, eine Frühgeburt leben oder sterben zu
lassen.
13 Minuten dauert es, bis Stephan Seeliger im Kreißsaal steht. Es ist gut, dass der Frühgeborenenmediziner nur 1700 Meter von der Universitätsmedizin Göttingen entfernt wohnt. Den Weg hat er
zigmal in höchster Eile zurückgelegt. Denn der Oberarzt weiß, dass es auf jede Sekunde ankommt,
wenn er zu einem Frühgeburts-Kaiserschnitt gerufen wird. Die entscheidenden Sekunden im Leben
eines winzigen Wesens beginnen. Hier werden die Weichen gestellt – und Stephan Seeliger
betreut sämtliche Frühchen in Göttingen. Im vergangenen Jahr waren es 96 Kinder, die hier mit
einem Gewicht unter 1.500 Gramm zur Welt kamen.
Wer einmal Bilder eines Frühchens gesehen hat, das mit 300 Gramm etwas schwerer ist als ein
Pfund Butter, dessen Haut braunlila schimmert und wo die medizinischen Klammern größer sind
als der ganze Körper, der kann den immensen Druck ahnen, unter dem Seeliger manchmal steht.
Er muss in diesem Moment zusammen mit oft überforderten Eltern entscheiden, ob er alles tut,
um das kleine Wesen am Leben zu erhalten, es in Wärmefolie einpackt, einen viel zu großen
Schlauch durch die Nase einführt, um es zu beatmen – oder ob er quasi den Daumen senkt.
Manchmal haben Kinder keine echte Überlebenschance.
Im vergangenen Jahr hat Stephan Seeliger ein Rekordfrühchen zur Welt gebracht und über die kritischen ersten Wochen begleitet, einen Jungen von 275 Gramm, den bislang kleinsten überlebenden Jungen der Welt. Wie kann man solche schwierige Entscheidungen treffen? Der Vater einer
7-jährigen Tochter sagt: „In diesem Bereich gibt es kein Gut und Böse. Bei allem, was ich in der
Medizin tue, überlege ich mir, ob ich genauso handeln würde, wenn es um meine eigene Tochter
ginge.“
Sehen Sie Dr. Stephan Seeliger im Gespräch mit Ranga Yogeshwar auf www.quarks.de – jetzt
anschauen.
Autor: Hubert Filser
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Eine Handvoll Mensch
Aus dem Alltag auf einer Frühchenstation
Ein Baby ist geboren: Lena kam viel zu früh auf die Welt – bereits in der 23. Schwangerschaftswoche. Sie ist viel zu leicht. Und ihre Lungen haben sich noch nicht entfalten können. Im Bauch der
Mutter hätte Lena ihre Lungen noch nicht gebraucht. Jetzt kommt es auf die richtige intensivmedizinische Betreuung an. Mit sehr viel medizinischem Fingerspitzengefühl versuchen die Neugeborenenmediziner der Universitätsklinik Göttingen bei jedem Frühchen die natürliche Entwicklung im
Brutkasten nachzuholen. „Das Beste ist, wenn wir die Kinder soweit wie möglich in Ruhe lassen“,
erzählt Oberarzt Stephan Seeliger. Oft ist dieses sogenannte Minimal Handling aber nicht möglich,
denn bei extremen Frühgeburten gibt es nicht selten Komplikationen.
Sehen sie mehr von Lenas dramatischem Geburtstag im Film.
Autor: Carsten Linder
Zusatzinfos
Minimal Handling
Als „Minimal Handling“ bezeichnet man es, pflegerische und ärztliche Maßnahmen auf das Unerlässliche zu beschränken, solange eine sichere Behandlung des Kindes gewährleistet ist.
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Zu früh geboren
Die Überlebenschancen der Kleinsten werden immer größer
Als Rumaisa Rahman am 19. September 2004 in der Klinik der Loyola-Universität in Chicago zur
Welt kommt, wiegt sie knapp 260 Gramm und ist nicht größer als 25 Zentimeter – sie passt gerade in die Handfläche ihrer Mutter. Noch immer schreiben Mediziner Frühchen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 350 Gramm nur sehr geringe Überlebenschancen zu. Dabei ist es weniger das geringe Gewicht als die mangelnde Entwicklung der Frühchen, die ein Überleben außerhalb der Gebärmutter so schwierig macht. Organe, Knochen und Muskeln sind einfach noch nicht
Die 1960er-Jahre: Transportinkubatoren
„fertig“. Die Folgen einer zu kurzen Schwangerschaft sind für die Frühchen schwerwiegend:
schützen die Frühchen auf dem Weg in
Hirnblutungen, Atemnot, erhöhte Infektionsneigung, Darmentzündungen, eine überempfindliche
die Spezialklinik
Netzhaut. Mit diesen und vielen anderen Problemen haben fast alle Frühchen zu kämpfen. Auch
Rumaisa musste schon in den ersten Wochen nach ihrer Geburt eine Augen-Operation über sich
ergehen lassen. Der Eingriff hat ihre Sehkraft gerettet. 50 Jahre früher hätte sie keine Überlebenschance gehabt. In den 1960er-Jahren gelten schon Frühchen mit weniger als 1.000 Gramm
Geburtsgewicht als kaum überlebensfähig. Doch die technischen Voraussetzungen in der Neugeborenen-Medizin werden immer besser: Ein wichtige Entwicklung war der Transportinkubator. Mitte
der 1960er-Jahre ist er bereits weit verbreitet und ermöglicht es, schon auf dem Weg in die
Spezialklinik Luftfeuchtigkeit, Sauerstoff und Wärme der Frühchen-Umgebung zu kontrollieren. Aber
noch bis in die 1970er-Jahre sterben mehr als 90 Prozent der Frühgeborenen, die weniger als 1.000
Gramm wiegen.
Risiko Beatmung
Die meisten Frühgeborenen können nicht selbstständig atmen. Die Lunge ist noch nicht ausgebildet, die Atemwege instabil und auch der Atemantrieb fehlt oft. Er geht normalerweise vom zentralen Nervensystem aus und reguliert die Atembewegungen. Anders als bei Erwachsenen pustet
dann die druckkontrollierte, angefeuchtete und auf 37 Grad Celsius angewärmte Atemluft die Lunge
der Frühchen regelrecht auf – so übernimmt die Maschine die Atmung für das Kind. Mit dieser
Technik kommt es aber zu neuen Risiken für die Frühchen: Viele leiden bei der Geburt unter
Die neue Technik bringt auch neue
Gefahren
Entzündungen in der Lunge. Der Beatmungsdruck kann dann die Lungenbläschen überblähen, es
entstehen Löcher im Lungengewebe und der Gasaustausch verschlechtert sich. Außerdem leiten
die Schläuche auch Krankheitserreger in den kleinen Körper, gegen die das Immunsystem noch
nicht gerüstet ist; im Blut der Frühchen stehen noch nicht genug Antikörper bereit und auch die
weißen Blutkörperchen zur Abwehr von Bakterien und Viren sind noch nicht funktionstüchtig.
Die künstliche Beatmung birgt schließlich auch noch eine Gefahr für die Entwicklung der Netzhaut
im Auge. Zu viel Sauerstoff kann sie beschädigen oder sogar ganz ablösen, sodass die Kinder im
Inkubator erblinden.
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Ein Stoff aus der Rinderlunge rettet Frühchen
Bis zu 300 Millionen Lungenbläschen sorgen dafür, dass der Körper mit ausreichend Sauerstoff versorgt wird. Sie sind mit einem dünnen Schutzfilm aus Fettbausteinen und Eiweißen überzogen –
Surfactant wird dieser Stoff genannt.
Schon Ende der 1950er-Jahre konnten Mediziner nachweisen, dass Surfactant-Mangel der Grund für
das Atemnotsyndrom bei Frühchen ist. Der Stoff wird erst mit dem Ende der 34. SchwangerDas lebensrettende Surfactant wird aus
schaftswoche in ausreichender Menge vom Körper produziert. Bei Frühchen, die vorher auf die
Tier-Lungen gewonnen
Welt kommen, fehlt er. Ohne die Substanz aber fallen die Lungenbläschen in sich zusammen, die
Fläche für den Gasaustausch ist zu klein – die Frühchen bekommen keine Luft.
Nach der Entdeckung von Surfactant dauerte es noch weitere 30 Jahre, bis es einem japanischen
Forscher gelang, den Stoff aus Rinderlungen zu gewinnen und so weiterzuentwickeln, dass er
Neugeborenen verabreicht werden konnte: Über einen Schlauch wird der zähflüssige Saft direkt in
die Lunge geführt. Innerhalb von wenigen Minuten kann dann die künstliche Beatmung von 100
Prozent Sauerstoff auf 21 Prozent – und damit auf ganz normale Raumluftverhältnisse – herabgesetzt werden. Es folgten noch eine Reihe klinischer Studien, bis die Surfactant-Therapie ihre
Wirkung Anfang der 1990er-Jahre endlich flächendeckend entfalten konnte. Bis heute sprechen
Ärzte von einer Revolution in der Frühchen-Medizin. In den darauf folgenden zehn Jahren stiegen
die Überlebenschancen extrem an: Während 1990 noch fast 60 Prozent der Neugeborenen mit
weniger als 1.000 Gramm Geburtsgewicht sterben, sind es im Jahr 2000 nur noch etwas mehr als
30 Prozent. Grundsätzlich aber liegt die Grenze der Medizin auch heute – selbst mit den modernsten Mitteln der Intensivstationen – bei der 22. Schwangerschaftswoche.
Von Kängurus lernen
In vielen Kliniken in Deutschland bemühen sich Ärzte und Schwestern um alternative Therapieansätze – um eine sogenannte minimalinvasive Behandlung der Frühchen und eine möglichst
große Nähe zwischen Eltern und Kind. Das sogenannte Känguruen soll die Verbindung der Eltern
zu den kleinen Intensivpatienten fördern. Dabei werden die Frühchen auf die Brust der Eltern
gelegt und zugedeckt – ganz ähnlich, wie es die Kängurus machen. Die Methode entstand schon
in den 1970er-Jahren in Kolumbien und war anfangs eine reine Notlösung, weil nicht genug
Heute überleben 80 Prozent der
Inkubatoren zur Verfügung standen. Die Kinder reagierten aber überraschend gut auf die
extremen Frühchen
Improvisation: Neben dem positiven Effekt für die Eltern-Kind-Bindung wurden Herzschlag und
Atmung messbar regelmäßiger, Atempausen waren seltener. Es dauerte trotzdem noch zehn Jahre,
bis die Methode auch in anderen Ländern überzeugte. Heute gehört sie zum Standard bei der
Betreuung von Frühchen.
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Die Überlebens-Chancen steigen
In Deutschland enden heute fast zehn Prozent der Schwangerschaften mit einer Frühgeburt,
Tendenz steigend. Aber immerhin ist in den letzten 40 Jahren die Überlebenswahrscheinlichkeit
für Frühchen deutlich gestiegen. Heute schaffen es etwa 80 Prozent der extremen Frühchen. Aber
bei weitem nicht alle sind auch gesund. Ein Drittel ist so beeinträchtigt, dass die Kinder intensive
therapeutische Betreuung brauchen, um überhaupt zur Schule gehen zu können, ein weiteres
Drittel trägt schwerste neurologische und körperliche Behinderungen für das ganze Leben davon
und nur etwa ein Drittel aller Frühgeborenen ist völlig gesund und leidet unter keinerlei Spätschäden.
Autorin: Katharina Adick
Zusatzinfos
Frühgeburt
Von einer Frühgeburt spricht man, wenn das Kind vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche
– und damit drei Wochen vor dem regulären Ende der Schwangerschaft – zur Welt kommt. Die
meisten Kinder sind dann leichter als 2500 Gramm, sehr kleine Frühgeborene werden vor der 32.
Schwangerschaftswoche geboren und wiegen weniger als 1500 Gramm. Immer häufiger kommen
auch extreme Frühgeburten auf die Welt. Sie werden um die 25. Woche mit weniger als 1.000
Gramm entbunden.
Inkubator / Transportinkubator
Ein Inkubator ist ein Brutkasten. Darin kann die Temperatur und Luftfeuchtigkeit genau kontrolliert
werden. Es entsteht ein stabiles Mikroklima. Das ist wichtig für die Frühchen, weil ihnen noch das
Unterhautfettgewebe fehlt und sie dadurch extrem schnell auskühlen und Flüssigkeit über die Haut
verlieren.
Surfactant
Surfactant ist ein zusammengesetztes Wort aus dem Englischen. Der Begriff kommt von "surface
active agent", was so viel bedeutet wie oberflächenaktive Substanz. Der Stoff verringert die
Oberflächenspannung der Lungenbläschen und ist notwendig für die Entfaltung der Lunge. Mit der
Verabreichung von Surfactant vergrößert sich die Oberfläche für den Gasaustausch in der Lunge –
die Frühchen können besser atmen. Schon seit einigen Jahren wird Surfactant auch synthetisch
hergestellt. Wenn absehbar ist, dass eine Frühgeburt bevorsteht, gibt es noch eine andere Möglichkeit: Die Mutter des ungeborenen Kindes nimmt Steroide zu sich. Sie regen die Bildung von
Surfactant noch in der Lunge des ungeborenen Kindes an.
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Die Spätfolgen einer Frühgeburt
Viele Frühchen sind ihr Leben lang beeinträchtigt
Anna kam vier Monate zu früh auf die Welt. Sie wog bei der Geburt gerade einmal 690 Gramm.
Die Ärzte holten sie zusammen mit ihrem Zwillingsbruder per Kaiserschnitt. Alles sah gut aus.
Doch in der Nacht bekamen die winzigen Zwillinge schwere Hirnblutungen und kämpften ums
Überleben. Anna hat es schließlich geschafft, ihr Bruder ist nach 26 Stunden in den Armen seines
Vaters gestorben. Anna hat überlebt, aber die Frühgeburt hat schwerwiegende Folgen für sie
selbst und für ihre Eltern.
Anna kam vier Monate zu früh auf
die Welt – und hat trotz schwerer
Hirnblutungen überlebt
Schädigungen im Gehirn
Hirnblutungen, wie Anna und ihr Bruder sie hatten, kommen bei Frühgeburten häufig vor. Sind sie
stark, können sie das Gehirn nachhaltig schädigen und zu Lernbehinderungen, geistigen Behinderungen und schweren neurologischen Langzeitschäden führen.
Anna hatte in den ersten Wochen nach ihrer Geburt mehrere epileptische Anfälle. Mit Medikamenten haben die Ärzte die Anfälle mittlerweile in den Griff bekommen. Aber dennoch können sie
jeden Tag wiederkommen. Annas Mutter hat für diesen Fall ein Notfallmedikament von den Ärzten
bekommen, das sie immer dabei haben muss. Bei Anna hatte die Hirnblutung außerdem dazu
geführt, dass das Hirnwasser nicht mehr richtig abfließen konnte und sich ansammelte. Die Folge
wäre ein Wasserkopf gewesen. Deshalb mussten die Ärzte Anna bereits kurz nach ihrer Geburt
operieren. Sie haben ihr einen Schlauch eingepflanzt, der das Hirnwasser vom Kopf in den Magen
leitet. Dort scheidet der Körper die Flüssigkeit aus.
Eingeschränkte Bewegungen
Forscher haben Studien ausgewertet, bei denen insgesamt 9653 Kindern untersucht wurden, die
im Durchschnitt mit 28 Wochen und 1060 Gramm auf die Welt kamen. Das Ergebnis zeigt, dass
Frühchen ein stark erhöhtes Risiko haben, bleibend an motorischen Störungen zu leiden.
Auch Anna ist in ihren Bewegungen eingeschränkt. Sie hat durch die starke Hirnblutung (in der
linken Hirnhälfte) eine spastische Muskelanspannung in der rechten Körperhälfte. Das hat gravieAnna muss täglich
Physiotherapie machen
rende Folgen: Es ist zum Beispiel nicht sicher, ob Anna jemals richtig laufen kann. Denn Annas
rechte Fußspitze ist häufig nach vorne überdehnt. Möglich, dass sie später eine Schiene am rechten Fuß tragen muss, um diese unnatürliche Fußhaltung zu korrigieren. Auch Annas rechte Hand
ist betroffen. Da ist die Spastik am deutlichsten zu sehen, denn die Hand ist meistens zu einer
Faust geballt. Anna wird ihre rechte Hand wahrscheinlich nie richtig einsetzen können. Und es ist
möglich, dass ihr die Spastik Schmerzen bereiten wird. Lebenslange Physiotherapie kann Anna
aber helfen, dieser unnatürlichen Körperspannung entgegenzuwirken und die Schmerzen möglichst klein zu halten.
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Zwei Drittel haben Spätschäden
Nur ein Drittel aller Frühgeborenen ist völlig gesund und hat keinerlei Spätschäden. Ein weiteres
Drittel ist so beeinträchtigt, dass die Kinder intensive Betreuung und verschiedene Arten von
Therapie brauchen, um überhaupt schulfähig zu werden. Und ein Drittel aller Frühgeborenen hat
schwere neurologische und körperliche Behinderungen für das ganze Leben. Dass so viele Frühchen unter Langzeitschäden leiden, ist nicht erstaunlich. Die Kinder kommen mit teilweise noch
nicht ausgereiften Organen auf die Welt. Dadurch sind diese Organe extrem anfällig oder nur
Viele Frühchen sind ihr Leben lang mit
bedingt funktionstüchtig. Häufig ist zum Beispiel auch die Sehfähigkeit von Frühchen beeinträch-
den Folgen ihrer Frühgeburt konfrontiert
tigt, hin bis zur Blindheit. Auch die Lunge ist häufig geschädigt – Asthma ist eine typische
Langzeitfolge einer Frühgeburt. Weil auch der Magen-Darm-Trakt bei der Geburt noch unreif ist,
haben viele Frühchen Ernährungsprobleme wie Unverträglichkeiten von Nahrungsmitteln oder
Entzündungen im Darm. Bei manchen Frühchen müssen die Ärzte nach der Geburt sogar vorübergehend einen künstlichen Darmausgang legen.
Ein Jahr nach ihrer Geburt macht Anna einen zufriedenen Eindruck. Noch weiß sie allerdings nichts
von dem Schlauch in ihrem Körper. Je bewusster sie sich selbst und die Welt wahrnimmt, desto
deutlicher werden die Folgen der Frühgeburt auch für sie selbst sein. Zudem muss der Schlauch
der Körpergröße angepasst werden – in einigen Jahren steht wieder eine Operation an. Wie gravierend die motorischen Beeinträchtigungen später für Anna sein werden, hängt davon ab, wie
gut die Physiotherapie anschlägt. Möglich ist auch, dass die Krampfanfälle regelmäßig wiederkehren und Anna Epileptikerin wird. Fest steht: Die Folgen der Frühgeburt werden Anna ihr Leben lang
begleiten.
Autorin: Ilka aus der Mark
Zusatzinfos
Spastik
Spastik leitet sich vom griechischen Wort „spasmos“ ab und heißt übersetzt „Krampf“. Es handelt
sich dabei um eine abnorme, übermäßige Muskelanspannung der Skelettmuskulatur, die immer auf
eine Schädigung des Gehirns oder des Rückenmarks zurückzuführen ist. Eine Spastik zeigt sich
durch Verkrampfungen (zum Beispiel eine geballte Faust) und unnatürliche Bewegungsmuster.
Epileptische Anfälle
Ein epileptischer Anfall ist ein Krampfanfall, der nicht durch eine vorausgehende erkennbare Ursache
ausgelöst wird. Die Ursache sind abnorme Vorgänge im Gehirn.
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Gefährliche Reise: Von der Befruchtung bis zur Geburt
Fast jede zweite Schwangerschaft endet vorzeitig
Sobald Samenzelle und Eizelle miteinander verschmelzen, beginnt eine rund 40 Wochen andauernde Reise bis zur Geburt. Fast jeder zweite Embryo überlebt sie nicht. Die gefährlichste Phase
beginnt unmittelbar nach der Befruchtung: Nur wenige Tage nach der Einnistung eines winzigen
Zellhäufleins in die Gebärmutter entwickelt sich allmählich aus dem sogenannten Keim ein Embryo.
12. Woche: Die gefährlichste Phase der
12 Wochen, auf die es ankommt
Schwangerschaft ist fast überstanden
Rechte: Interfoto/Silvia
Bis zur 6. Woche entwickeln sich die Anlagen für das Gehirn, das Rückenmark und die Organe.
Auch das Herz und die Blutgefäße bilden sich bereits in dieser frühen Phase: Der Blutkreislauf versorgt die Zellen mit Nährstoffen und Sauerstoff. Bis zur 12. Woche wächst der Embryo täglich um
rund einen Millimeter. Die Augen lassen sich bereits erahnen und aus den sogenannten Hand- und
Fußknospen entstehen die Arme und die Beine. Auch Muskeln, Knorpel und Sehnen beginnen sich
zu entwickeln und so nimmt der Embryo allmählich eine erkennbar menschliche Gestalt an.
Doch gerade weil so vieles zu dieser Zeit bereits angelegt wird, ist diese frühe Phase der
Im Ultraschall: Der Übergang vom
Schwangerschaft besonders anfällig für Störungen. Und so sterben viele Embryonen bereits in der
Embryo zum Fötus
4. oder 5. Woche plötzlich wieder ab – oftmals bleibt dies von der Mutter sogar unbemerkt.
Rechte: Imago/Waldm
Wissenschaftler schätzen, dass rund die Hälfte aller Schwangerschaften bis zum Ende der 12.
Schwangerschaftswoche vorzeitig beendet wird. Ursache sind hauptsächlich genetische Defekte,
die ein Weiterleben bereits hier unmöglich machen.
Die gefährlichste Phase ist vorbei
Hat der Embryo jedoch die ersten drei Monate gut überstanden und liegen auch keine genetisch
bedingten Fehlbildungen, kann ihm bis zur Geburt nicht mehr viel passieren: Im Jahr 2008 wurden nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes von über 680.000 Geburten nur 2412
Kinder tot zur Welt gebracht, die nach dem Erreichen der 13. Schwangerschaftswoche noch gelebt
hatten. Nach Untersuchungen an der Berliner Charité sind dafür vor allem Komplikationen mit dem
Mutterkuchen verantwortlich. Über den Mutterkuchen und die Nabelschnur wird das Kind mit
Sauerstoff, Nährstoffen und Antikörpern des mütterlichen Immunsystems versorgt. Ist der
Im 5. Monat: Vor allem Komplikationen
Mutterkuchen in seiner Funktion gestört oder löst er sich sogar frühzeitig ab, besteht Lebensgefahr
mit der Plazenta können das Kind jetzt
für das Ungeborene: Es kann nicht mehr ausreichend versorgt werden. Hinzu kommt, dass
noch gefährden
bestimmte Viren, Bakterien oder Giftstoffe den Mutterkuchen passieren können und das Kind
Rechte: WDR/picture-alliance
schwer schädigen oder sogar töten.
Kaum noch Gefahr zum Schluss
Gegen Ende der Schwangerschaft, ab dem 9. Monat, besteht noch eine letzte Gefahr: die
Nabelschnur. Wenn sie sich plötzlich verknotet oder zusammenzieht, kann das Kind nicht mehr
ausreichend versorgt werden und stirbt schließlich. Doch diese Komplikationen sind äußerst selten und die von vielen immer wieder befürchtete Strangulation durch die Nabelschnur ist statistisch sogar völlig unbedeutend.
Autor: Jo Siegler
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Von der Kunst, Kinder zu zeugen
Kleine Geschichte der Reproduktionsmedizin
Louise Joy Brown war das erste Retortenbaby. Als sie am 25. Juli 1978 per Kaiserschnitt das Licht
der Welt erblickte, war Louise Brown mit einem Geburtsgewicht von 2900 Gramm eher durchschnittlich. Aber medizinisch war sie eine Sensation! Mit ihrer Geburt begann ein neues Zeitalter
der künstlichen Befruchtung. Die britischen Wissenschaftler Robert Edwards und der Chirurg
Patrick Steptoe hatten bereits in den 1960er-Jahren erste Erfahrungen gesammelt. Damals kämpften sie vor allem mit dem Problem, die Eizellen zu entnehmen, ohne sie zu zerstören. Die Technik,
Louise Joy Brown war das erste
mit der Louise Brown gezeugt wurde, nennt man heute In-vitro-Fertilisation (IVF) – also übersetzt
Retortenbaby. Geboren am 25. Juli 1978
die „Befruchtung im Glas“.
Rechte: action press/Rex
Petrischale statt Bett
In Deutschland steckte die Reproduktionsmedizin Ende der 1970er-Jahre noch in den Kinderschuhen. Es dauerte noch fast vier Jahre, bis 1982 in der Universitätsklinik Erlangen das erste deutsche Retortenbaby geboren wurde. Dafür war Oliver mit einem Geburtsgewicht von 4.150 Gramm
ein richtiger kleiner Wonneproppen. Auch er wurde außerhalb des Körpers per IVF gezeugt: In der
Petrischale fügten die Forscher eine Eizelle seiner Mutter mit einer Samenspende seines Vaters
zusammen. Nach drei Tagen im Brutschrank wurde die befruchtete Eizelle wieder in die Mutter einNomen est omen: Das erste deutsche
gepflanzt.
Retortenbaby mit Mutter Maria!
Rechte: Quick dpa/lby
Tiefkühlprodukte zum Leben erweckt
Eine erstaunliche Methode ist die sogenannte Kryotechnik. So nennt man es, wenn Zellen in flüssigem Stickstoff schockgefroren werden. Im Jahre 1984 wurde zum ersten Mal ein Mädchen geboren, das aus einer vorher gefrorenen Eizelle gezeugt wurde. Die Idee, eine zuvor bei minus 196
Grad Celsius eingefrorene Zelle zu befruchten und auszutragen, erscheint selbst heute ein wenig
abwegig. Schließlich entsteht aus dieser einen Zelle durch Zellteilung der gesamte Mensch. Und
durch den Prozess des Einfrierens mit einem alkoholischen Frostschutzmittel könnte das empfindUnzählige mögliche Wunschkinder
liche Erbgut Schaden nehmen. Aber Forscher haben es gewagt und hatten Erfolg. Heute ist die
schlummern im Eis
Kryotechnik die Basis der Reproduktionsmedizin und nicht nur Eizellen und Spermien werden eingefroren, sondern auch deren Vorstufen. Bis zum Jahre 2010 gibt es über 20.000 Kinder, die aus
gefrorenen befruchteten Eizellen stammen.
Laut Gesetz dürfen in Deutschland der Frau nur drei befruchtete Eizellen eingepflanzt werden.
Durch die vorher nötige Hormonstimulation werden aber meistens mehr Eier gewonnen – diese
werden dann eingefroren, um sie später gegebenenfalls nutzen zu können, ohne der Frau erneut
Eier entnehmen zu müssen. Die Methode funktioniert aber nicht perfekt – immerhin zwei Drittel
der so behandelten Eizellen sterben ab.
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Zufall statt präziser Technik
Der nächste medizinische Durchbruch war eigentlich ein Unfall. Belgische Forscher platzierten ein
lahmes Spermium an der äußeren Hülle eines menschlichen Eies. Versehentlich durchstachen sie
die Eihülle und das Spermium landete dadurch direkt im Ei. Das Ei teilte sich. Heute nennt man
diese Methode kurz und knackig ICSI. Dahinter verbirgt sich der Fachausdruck „Intracytoplasmatische Spermieninjektion“. Praktisch bedeutet es, das Eizellen von Spermien befruchtet werden können, die noch nicht einmal mehr zappeln. Das ist völlig anders als bei der natürlichen
Erst ab 1990 helfen Forscher lahmen
Spermien ans Ziel
Zeugung. Hier konkurrieren viele Millionen um das Ei – dabei gewinnt das schnellste Spermium.
Langsame Spermien haben keine Chance. Früher glaubten die Forscher, das bei zwei Dritteln der
ungewollt kinderlosen Paare der Grund bei der Frau liegt. Jetzt beweist die hohe Anzahl der durchgeführten ICSIs, dass Frauen nur in einem Drittel der Fälle alleine „schuld“ sind.
Chancen oder Risiken?
Die Kritik an künstlicher Befruchtung ist einfach: Bei der natürlichen Zeugung werden ungefähr einhundert Millionen Spermien ins Rennen um eine Eizelle geschickt. Bei einer IVF sind es meist über
50.000 Spermien. Bei einer ICSI ist es nur ein einziges Spermium, das der Laborassistent „eingefangen“ hat. Von natürlicher Auslese ist da keine Spur mehr.
Pro Befruchtungsversuch dürfen in Deutschland maximal drei Eizellen eingesetzt werden. Trotzdem
Der Konkurrenzkampf ist hart. Nur einer
werden bei „assistierter Befruchtung“ – so heißt die charmante Zusammenfassung der verschie-
kann gewinnen!
denen Reproduktionstechniken – immer noch ein Drittel „Mehrlinge“, also Zwillinge, Drillinge oder
Rechte: mauritius images
Vierlinge produziert. Das ist ein Problem. Schon Zwillinge haben ein 10-fach höheres Risiko als
„Frühchen“ geboren zu werden. Zudem steigen die Risiken auf bleibende schwere Behinderung bis
auf das Doppelte an. Auch für die Mutter ist es gefährlicher: 15-mal häufiger müssen die Mütter
von Zwillingen intensivmedizinisch betreut werden.
Möglicherweise verursacht schon die Methode ICSI Probleme. Forscher haben das mehrfach untersucht und sind sich bei Einschätzung des Risikos uneins. Heraus kommt: Die »Retortenkinder« leiden 1,25 bis 2,5 mal häufiger an Geburtsschäden, Entwicklungsstörungen und Erbdefekten. Bis zum
Jahr 2010 sind 150.000 Retortenbabys im kinderarmen Deutschland geboren worden - ein Segen?
Oder wie Kritiker sagen, ein medizinischer Freilandversuch?
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Baby-take-Home-Rate
Ein „Baby mit nach Hause nehmen“ – das dürfen nur die wenigsten! In Deutschland führen nur
15,8 Prozent der künstlichen Befruchtungen zu einer erfolgreichen Geburt – so das Deutsche IVFRegister. Diese 15,8 Prozent sind die sogenannte Baby-take-Home-Rate. Das ist – gemessen am
Aufwand – keine gute Quote.
Die deutschen Reproduktionsmediziner verzeichnen seit 2004 wirtschaftliche Einbrüche. Seitdem
Künstliche Befruchtung ist ein hartes
zahlt die Krankenkasse nur noch die Hälfte der Behandlungskosten. Da die Paare sowieso viel
Geschäft – nur jede 6. Behandlung führt
selbst zahlen müssen, gehen sie für die Behandlung ins benachbarte Ausland. Dort ist viel mehr
zum Wunschkind
erlaubt: Eizellspenden, eigene Eizellen fremd austragen lassen oder die Präimplantationsdiagnostik
(PID). Von besonderer Bedeutung ist es auch, dass es im Ausland teilweise erlaubt ist, die Eizellen
bis zu fünf Tage lang wachsen zu lassen. Diese teilen sich zu sogenannten Blastozysten und können dann ausgewählt werden. Mit diesen Techniken kann man fast doppelt so hohe Baby-takeHome-Raten erreichen. Aber all die Techniken sind in Deutschland verboten! Ethisch versteckt sich
hier ein Problem: Befruchtete Eizellen auszuwählen bedeutet, die anderen (weniger erfolgversprechenden) nicht einzupflanzen und sterben zu lassen. Das verbietet in Deutschland das Embryonenschutz-Gesetz.
Autorin: Corinna Sachs
Zusatzinfos
Kryotechnik
Der Begriff leitet sich vom griechischen Wort „kryos“ ab, das Frost oder Kälte bedeutet.
Präimplantationsdiagnostik (PID)
Die Präimplantationsdiagnostik ist eine genetische Untersuchungsmöglichkeit für Embryonen, die
in Deutschland verboten ist: Im sogenannten Acht-Zellstadium (Blastomere) wird eine Zelle abgezupft und das darin enthaltene genetische Material untersucht. So kann man zum Beispiel schwere Erkrankungen ausschließen.
Blastozysten
In den ersten drei Tagen teilt sich die befruchtete Eizelle. Dann starten viele sehr komplizierte
Vorgänge und eine entscheidende Phase der Embyonenentwicklung beginnt: Die Blastozyste entsteht. Jetzt kann der Forscher „vielversprechende“ von weniger hochwertigen Eizellen unterscheiden. Reproduktionsmediziner in Deutschland dürfen aber nicht auswählen, welche Blastozyste am
erfolgversprechendsten aussieht.
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Erfolgreich schwanger –
zum größten Abenteuer des Lebens
An welchen Tagen haben Frauen die größte Chance, schwanger zu werden?
Viele Menschen glauben, der fruchtbarste Tag der Frau sei der Tag des Eisprungs – in unserer Grafik
Tag 14. Da kann es zwar auch noch klappen. Aber die beste Chance auf ein erfolgreiches Rendezvous zwischen Spermium und Eizelle besteht, wenn der Sex ein Tag vor dem Eisprung stattfindet. Denn das unbefruchtete Ei lebt nur 20 bis 24 Stunden. In dieser Zeit muss es befruchtet werden. Um die Eizelle zu erreichen, brauchen die Spermien mehrere Stunden. 13 bis 18 Zentimeter
müssen sie dabei zurücklegen. Muntere Spermien halten drei Tage – ganz aufgeweckte Kerlchen
bis zu fünf Tage. Der „effizienteste“ Zeitpunkt zum Kinderkriegen ist daher Sex ein bis zwei Tage
vor dem Eisprung.
In welcher Stadt gibt es die meisten Babys pro 1000 Einwohner?
Frankfurt ist der Spitzenreiter beim Kinderkriegen. Mit 10,9 Babys pro 1000 Einwohner. Erstaunlich,
da die Bankenmetropole ansonsten nicht gerade als kinderfreundlich gilt. Dresden und München
folgen mit 10,8 und 10,7 Babys pro 1000 Einwohner dicht auf. In Nordrhein-Westfalen können da
nur Köln mit zehn Babys pro 1000 Einwohner, Düsseldorf mit 9,9 und Bonn mit 9,8 mithalten.
Grundsätzlich liegen die Städte mit der Geburtenrate höher als das „flache Land“. Das war früher
anders – aber heute bestimmt der Job, wo Familien mit Kindern hinziehen.
Die Schlusslichter bei der Geburtenrate sind Baden-Baden, Cuxhaven und Garmisch-Patenkirchen.
Dort werden nur etwa sechs Kinder pro 1000 Einwohner geboren. Das liegt an der Überalterung.
Man erkennt das auch an der Sterberate: Knapp zwölf Menschen sterben dort jährlich pro 1.000
Einwohner. Somit ist es dort zweimal wahrscheinlicher zu sterben, statt schwanger zu werden.
Ab welchem Alter lässt die Fruchtbarkeit der Frau nach?
Nach dem 30. Geburtstag lässt die Fruchtbarkeit der Frau nach. Im Zeitraum von 35 bis 40 Jahren
nimmt sie schon deutlich – wenn auch noch langsam – ab! Und ab 40 Jahren schwindet die
Wahrscheinlichkeit, beim Sex schwanger zu werden, sogar rapide.
Gynäkologen bezeichnen das Alter zwischen 25 und 29 Jahren als ideal, um schwanger zu werden.
Die Erklärung ist einfach: Schon ab 30 Jahren überwiegen die Abbau-Prozesse im menschlichen
Körper. Und auch die Eizellen altern. Denn sie werden nicht laufend neu gebildet: Der gesamte
Bestand an Eizellen ist bereits im weiblichen Fötus angelegt, während er noch im Bauch der Mutter
weilt. Diese Eizellen trägt die Frau dann ihr Leben lang in sich. Das heißt eine Frau, die mit 40
Jahren schwanger wird, befruchtet eine 40 Jahre alte Eizelle. Trotzdem: Schwanger mit 40 ist heute
immer häufiger der Fall. Denn wenn es mit dem Kinderwunsch auf natürlichem Weg nicht klappt,
kommen Reproduktionsmediziner zum Einsatz.
Unfruchtbarkeit kann es natürlich auch bei jungen Menschen geben, Gründe gibt es viele und leider sind nicht alle behandelbar. Auch dann müsssen die Reproduktionsmediziner helfen.
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In welcher Stadt gibt es die meisten Reproduktionszentren?
Die Hauptstadt liegt vorne – mit zehn Kinderwunschzentren ist Berlin zumindest darin Spitze! Köln
und Hamburg folgen mít je sechs Einrichtungen. Aber Achtung: Nicht jeder, der sich Hilfe bei den
Fachleuten holt, kann auch ein Baby mit nach Hause nehmen: Die sogenannte Baby-take-homeRate liegt nur bei 15,8 Prozent. Das heißt, eine Frau muss im Schnitt 6,5 Mal künstlich befruchtet
werden, um erfolgreich schwanger zu werden. Doch Vorsicht: Die Wahrscheinlichkeit, Zwillinge
oder gar Drillinge zu bekommen, ist dann sehr hoch.
Übrigens: Die Krankenkasse übernimmt bei drei Versuchen jeweils die Hälfte der Kosten – aber nur,
wenn man verheiratet ist. Da sollte man besser auf den Ratschlag australischer Forscher hören:
Täglich Sex!
Täglicher Sex verbessert eindeutig die Qualität der Spermien. Das Team von Dr. David Greening
von der Universität in Sydney untersuchte Spermaproben von 42 Männern. Nach dreitägiger
Enthaltsamkeit stieg zwar die Anzahl der Spermien, aber diese waren häufiger fehlgebildet. Die
beste Spermienqualität lag vor, nachdem die Männer an sieben aufeinanderfolgenden Tagen ejakuliert hatten.
Werden die Paare bei der künstlichen Befruchtung immer jünger oder immer älter?
Das durchschnittliche Alter beider Partner steigt kontinuierlich an. 2010 sind die Männer im
Durchschnitt fast 38 Jahre alt und Frauen im Durchschnitt 35 Jahre. Das ist ein Problem, denn allem
medizinischen Fortschritt zum Trotz, sinken dadurch die Chancen auf das Wunschkind! Gegen das
Altern können auch die Mediziner nichts machen. Denn fatalerweise gilt die „Altersgrenze“ auch
bei der künstlichen Befruchtung: Ab 40 sinken die Chancen auf ein Kind rapide, während gleichzeitig das Risiko einer Fehlgeburt steigt. Mit 42 Jahren liegt die Fehlgeburtenrate bei knapp
40 Prozent. Sind die Frauen älter als 44 Jahre, liegt die Wahrscheinlichkeit für eine Fehlgeburt bei
80 Prozent!
In welchem Bundesland ist die Kaiserschnittquote am höchsten?
Die meisten Kaiserschnittentbindungen gab es im Jahr 2008 mit 36,8 Prozent im Saarland, gefolgt
von Bremen mit 33 Prozent und Hessen mit 32,9 Prozent. In Sachsen wurde dagegen nur bei etwa
jeder fünften Entbindung (21,7 Prozent) ein Kaiserschnitt durchgeführt. Bei der Verteilung lässt sich
ein eindeutiges Ost-West-Gefälle feststellen. Hebammen beklagen, dass Kaiserschnitte inzwischen
viel zu häufig durchgeführt werden. Seit 1991 hat sich der Anteil der Kaiserschnittentbindungen
nahezu verdoppelt. Damals lag die Rate der Schnittentbindungen bei 15,3 Prozent; 2008 waren es
30,2 Prozent.
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Eine hohe Kaiserschnittrate ist für eine Klinik kein Qualitätsmerkmal. Im Gegenteil: Wer zu schnell
zum Messer greift, riskiert bei Mutter und Neugeborenem Komplikationen und Folgeschäden: So
haben Kaiserschnittbabys beispielsweise häufiger Atemprobleme. Auch für die Mütter ist der
Kaiserschnitt nicht die bessere Methode. Sie haben ein dreifach höheres Risiko, bei einem
Kaiserschnitt zu sterben als bei einer natürlichen Geburt.
In welchem Bundesland gibt es die meisten Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren?
Auch bei der Betreuungssituation von kleinen Kindern kann man Ost und West noch deutlich
unterscheiden. In den fünf ostdeutschen Bundesländern ist das „Soll“ des Familienministeriums
von 35 Prozent längst erfüllt. Im Westen liegt die Betreuungsquote für die Kleinsten im
Durchschnitt bei lediglich 14,6 Prozent. Im Osten bei 46 Prozent.
Bei der Betreuung der unter Dreijährigen liegt Sachsen-Anhalt mit 55 Prozent vorne, gefolgt von
Mecklenburg-Vorpommern, wo die Hälfte aller unter Dreijährigen betreut wird. Unter den westdeutschen Ländern hat Rheinland-Pfalz mit 18 Prozent die höchste Betreuungsquote. Und das
Schlusslicht ist das größte Bundesland Nordrhein-Westfalen! Dort steht nur für jedes 9. Kind ein
Kindergartenplatz zur Verfügung. Erst ab dem dritten Lebensjahr gibt es einen Anspruch auf einen
Kindergartenplatz.
In welcher Stadt ist ein Kindergartenplatz kostenlos?
Kostenlose Kindergartenplätze sind in Deutschland selten. Doch es gibt sie – die Inseln der
Glückseligen: In insgesamt elf deutschen Städten müssen Eltern keine Kindergartengebühren zahlen. In Düsseldorf, Hanau, Heilbronn, Kaiserslautern, Koblenz, Ludwigshafen, Mainz, Salzgitter, Trier,
Wiesbaden und Zwickau gilt: freier Eintritt ab drei Jahren.
Kinderbetreuung ist Sache der Länder und Kommunen. Die Unterschiede bei den Gebühren sind
enorm: Am teuersten ist es für Eltern in Bremen, Cottbus, Duisburg, Hamburg, Potsdam und
Tübingen. Sie zahlen pro Jahr zwischen 1700 und 2500 Euro für einen Halbtagsplatz. Wenn die
Eltern arbeiten müssen, sind vier bis fünf Stunden Kinderbetreuung nicht viel Zeit. Für einen
Ganztagsplatz müssen Eltern noch mal mindestens 50 Prozent drauflegen. Da könnte sich sogar
ein Umzug rechnen. Wer zum Beispiel mit einem Kind im Kindergartenalter von Duisburg nach
Düsseldorf zieht, spart pro Jahr 2520 Euro – schon beim Halbtagsplatz.
Autor: Corinna Sachs
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Lesetipps
Prävention von Entwicklungsstörungen bei Frühgeborenen
Autoren:
Anne Dick, Walter-Uwe Weitbrecht, Magnus Lindroth (Hg.)
Verlagsangaben:
Pflaum Verlag, 1999
ISBN
ISBN-978-3-7905-0773-7
Sonstiges:
136 Seiten mit 68 Abbildungen, kartoniert, 19 Euro
Dieses Buch zeigt Eltern und Physiotherapeuten auf verständliche Art und Weise, wie sie durch
eine Frühgeburt hervorgerufenen Entwicklungsstörungen entgegenwirken können – sowohl auf der
physischen als auch auf der psychischen Ebene.
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Linktipps
Weiterführende Informationen zum Thema Frühgeburt
http://www.familienplanung.de/schwangerschaft/fruehgeburt
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gibt unabhängig und wissenschaftlich fundiert
Tipps zum Thema Frühgeburt.
Dachorganisation der Fördervereine und Elterninitiativen für Frühgeborene
http://www.fruehgeborene.de/index.php?option=com_content&view=article&id=104&Itemid=93
Die Dachorganisation der Fördervereine und Elterninitiativen für Frühgeborene hält eine Hotline für
Betroffene bereit und bietet vertiefende Informationen zum Thema.
Die Entwicklung von der Befruchtung bis zur Geburt en Detail
http://www.familienplanung.de
Die Informationsseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Hier findet sich alles
Wichtige zum Thema Schwangerschaft und Entwicklung – fundiert und nach dem neuesten Stand
der wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Quarks & Co: Welche Risiken birgt die ICSI?
http://www.wdr.de/tv/quarks/sendungsbeitraege/2002/0430/006_baby.jsp
Prinzipiell sind alle ICSI-Schwangerschaften sogenannte Hochrisikoschwangerschaften, die eine
intensive ärztliche Betreuung im Vorfeld und während der Schwangerschaft bedürfen. Ausführliche
Informationen dazu finden Sie in der Quarks-Sendung „ Die neuen Babys“.
Frauenärtze im Netz
http://www.frauenaerzte-im-netz.de
Hier findet man zu jedem Thema der Fortpflanzungsmedizin kompetente Information – für alle die
schon immer wissen wollten, was sich hinter MESA, TESE und GIFT verbirgt.
Deutsches IVF Register
http://www.deutsches-ivf-register.de
Alle offiziellen Statistiken des Deutschen IVF-Registers.
Wunschkind-Seite
http://www.wunschkind.de/
Seite für ungewollt Kinderlose. Hier finden sich Menschen, die keine Nacht mehr durchschlafen
wollen und sich endlich Fingerfarbe auf ihrem Laptop wünschen – so heißt es auf der Startseite
...
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Impressum:
Herausgegeben
vom Westdeutschen Rundfunk Köln
Verantwortlich:
Quarks & Co
Claudia Heiss
Redaktion:
Ingo Knopf
Gestaltung:
Designbureau Kremer & Mahler
Bildrechte:
Alle: © WDR
© WDR 2010
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