Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Quarks & Co Quarks & Co Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin Autoren: Katharina Adick, Hubert Filser, Carsten Linder, Ilka aus der Mark, Corinna Sachs, Jo Siegler Redaktion: Ingo Knopf Nur 275 Gramm wog der weltweit leichteste Junge, der eine Frühgeburt überlebte. Sollen solche Extrem-Frühchen mit allen Mitteln der Intensivmedizin am Leben erhalten werden? Auch wenn die Behandlung rund 130.000 Euro kostet und die Chancen auf ein Leben ohne Spätschäden nur bei rund 30 Prozent liegen? Quarks & Co macht sich auf die Suche nach Antworten. Im Studio begrüßt Ranga Yogeshwar einen Mediziner und eine Hebamme. Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Katharina Rost Hebamme mit 700 Kindern Katharina Rost ist Hebamme und selbst gerade schwanger. Die 33-Jährige hat insgesamt 700 Kinder zur Welt gebracht, hat in Afrika und China gearbeitet und in Berlin und Glasgow Gesundheitswesen studiert. Derzeit schreibt sie ihre Doktorarbeit über Frauen, die über Pränatal-Diagnostik erfahren haben, dass sie ein behindertes und nicht überlebensfähiges Kind bekommen werden. Im Gespräch mit Ranga Yogeshwar kritisiert sie, dass Eltern oft mit unklaren Diagnose-Ergebnissen allein gelassen werden. Guter Hoffnung sein – das war früher mal die nette Umschreibung für Schwangerschaft. Heute genügt die gute Hoffnung nicht mehr, sagt Katharina Rost. Heute bekommen Schwangere von allen Seiten Tipps, wie sie sich möglichst optimal ernähren können. Sie sollen ihr Verhalten voll auf das Kind umstellen und sich regelmäßig vom Arzt untersuchen lassen. Katharina Rost weiß das. Sie ist Hebamme und gerade selbst schwanger. Die 33-Jährige hat insgesamt 700 Kinder zur Welt gebracht, hat in Afrika und China gearbeitet und so auch andere Kulturen kennengelernt. In Berlin und Glasgow hat sie Gesundheitswesen studiert und schreibt derzeit an der Universität Osnabrück ihre Doktorarbeit über Frauen, die über Pränatal-Diagnostik erfahren haben, dass sie ein behindertes und nicht überlebensfähiges Kind bekommen werden. Katharina Rost spürt, wie in Deutschland Schwangere ganz schnell in die Medizin-Falle gehen können, weg von einer natürlichen Geburt. Nur ein Beispiel: Laut Empfehlung soll eine Frau während der Schwangerschaft dreimal zur Ultraschall-Untersuchung. 85 Prozent der Frauen gehen öfter. Schwangerschaft werde so Stück für Stück als riskantes Unterfangen gesehen, das es zu überwachen gelte, meint Katharina Rost. Der Raum für natürliche Gefühle wird so immer kleiner. Die Hebamme, die nach ihrer Zeit an Kliniken in Würzburg und Nürnberg seit zehn Jahren nur noch Hausgeburten betreut, will genau hier wieder ein Bewusstsein schaffen, worauf wir als Gesellschaft uns rund um die Geburt eigentlich einlassen. Denn so wichtig Diagnostik ist: Technik kann auch verunsichern, zumal nach einer Diagnose oft keine Beratung stattfindet. „Die Eltern werden alleingelassen“, sagt Rost. Katharina Rost im Interview mit Ranga Yogeshwar – jetzt anschauen auf www.quarks.de. Autor: Hubert Filser Seite 2 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Dr. Stephan Seeliger Lebensretter für Frühgeborene Stephan Seeliger ist leitender Oberarzt für Kinderheilkunde. In Göttingen betreut er sämtliche Frühchen. Wer einmal Bilder eines 300 Gramm leichten Frühchens gesehen hat, der kann den immensen Druck ahnen, unter dem Stephan Seeliger steht. Der Vater einer 7-jährigen Tochter sagt: „In diesem Bereich gibt es kein Gut und Böse. Bei allem, was ich in der Medizin tue, überlege ich mir, ob ich genauso handeln würde, wenn es um meine eigene Tochter ginge.“ Im Gespräch mit Ranga Yogeshwar berichtet er über die schwierige Entscheidung, eine Frühgeburt leben oder sterben zu lassen. 13 Minuten dauert es, bis Stephan Seeliger im Kreißsaal steht. Es ist gut, dass der Frühgeborenenmediziner nur 1700 Meter von der Universitätsmedizin Göttingen entfernt wohnt. Den Weg hat er zigmal in höchster Eile zurückgelegt. Denn der Oberarzt weiß, dass es auf jede Sekunde ankommt, wenn er zu einem Frühgeburts-Kaiserschnitt gerufen wird. Die entscheidenden Sekunden im Leben eines winzigen Wesens beginnen. Hier werden die Weichen gestellt – und Stephan Seeliger betreut sämtliche Frühchen in Göttingen. Im vergangenen Jahr waren es 96 Kinder, die hier mit einem Gewicht unter 1.500 Gramm zur Welt kamen. Wer einmal Bilder eines Frühchens gesehen hat, das mit 300 Gramm etwas schwerer ist als ein Pfund Butter, dessen Haut braunlila schimmert und wo die medizinischen Klammern größer sind als der ganze Körper, der kann den immensen Druck ahnen, unter dem Seeliger manchmal steht. Er muss in diesem Moment zusammen mit oft überforderten Eltern entscheiden, ob er alles tut, um das kleine Wesen am Leben zu erhalten, es in Wärmefolie einpackt, einen viel zu großen Schlauch durch die Nase einführt, um es zu beatmen – oder ob er quasi den Daumen senkt. Manchmal haben Kinder keine echte Überlebenschance. Im vergangenen Jahr hat Stephan Seeliger ein Rekordfrühchen zur Welt gebracht und über die kritischen ersten Wochen begleitet, einen Jungen von 275 Gramm, den bislang kleinsten überlebenden Jungen der Welt. Wie kann man solche schwierige Entscheidungen treffen? Der Vater einer 7-jährigen Tochter sagt: „In diesem Bereich gibt es kein Gut und Böse. Bei allem, was ich in der Medizin tue, überlege ich mir, ob ich genauso handeln würde, wenn es um meine eigene Tochter ginge.“ Sehen Sie Dr. Stephan Seeliger im Gespräch mit Ranga Yogeshwar auf www.quarks.de – jetzt anschauen. Autor: Hubert Filser Seite 3 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Eine Handvoll Mensch Aus dem Alltag auf einer Frühchenstation Ein Baby ist geboren: Lena kam viel zu früh auf die Welt – bereits in der 23. Schwangerschaftswoche. Sie ist viel zu leicht. Und ihre Lungen haben sich noch nicht entfalten können. Im Bauch der Mutter hätte Lena ihre Lungen noch nicht gebraucht. Jetzt kommt es auf die richtige intensivmedizinische Betreuung an. Mit sehr viel medizinischem Fingerspitzengefühl versuchen die Neugeborenenmediziner der Universitätsklinik Göttingen bei jedem Frühchen die natürliche Entwicklung im Brutkasten nachzuholen. „Das Beste ist, wenn wir die Kinder soweit wie möglich in Ruhe lassen“, erzählt Oberarzt Stephan Seeliger. Oft ist dieses sogenannte Minimal Handling aber nicht möglich, denn bei extremen Frühgeburten gibt es nicht selten Komplikationen. Sehen sie mehr von Lenas dramatischem Geburtstag im Film. Autor: Carsten Linder Zusatzinfos Minimal Handling Als „Minimal Handling“ bezeichnet man es, pflegerische und ärztliche Maßnahmen auf das Unerlässliche zu beschränken, solange eine sichere Behandlung des Kindes gewährleistet ist. Seite 4 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Zu früh geboren Die Überlebenschancen der Kleinsten werden immer größer Als Rumaisa Rahman am 19. September 2004 in der Klinik der Loyola-Universität in Chicago zur Welt kommt, wiegt sie knapp 260 Gramm und ist nicht größer als 25 Zentimeter – sie passt gerade in die Handfläche ihrer Mutter. Noch immer schreiben Mediziner Frühchen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 350 Gramm nur sehr geringe Überlebenschancen zu. Dabei ist es weniger das geringe Gewicht als die mangelnde Entwicklung der Frühchen, die ein Überleben außerhalb der Gebärmutter so schwierig macht. Organe, Knochen und Muskeln sind einfach noch nicht Die 1960er-Jahre: Transportinkubatoren „fertig“. Die Folgen einer zu kurzen Schwangerschaft sind für die Frühchen schwerwiegend: schützen die Frühchen auf dem Weg in Hirnblutungen, Atemnot, erhöhte Infektionsneigung, Darmentzündungen, eine überempfindliche die Spezialklinik Netzhaut. Mit diesen und vielen anderen Problemen haben fast alle Frühchen zu kämpfen. Auch Rumaisa musste schon in den ersten Wochen nach ihrer Geburt eine Augen-Operation über sich ergehen lassen. Der Eingriff hat ihre Sehkraft gerettet. 50 Jahre früher hätte sie keine Überlebenschance gehabt. In den 1960er-Jahren gelten schon Frühchen mit weniger als 1.000 Gramm Geburtsgewicht als kaum überlebensfähig. Doch die technischen Voraussetzungen in der Neugeborenen-Medizin werden immer besser: Ein wichtige Entwicklung war der Transportinkubator. Mitte der 1960er-Jahre ist er bereits weit verbreitet und ermöglicht es, schon auf dem Weg in die Spezialklinik Luftfeuchtigkeit, Sauerstoff und Wärme der Frühchen-Umgebung zu kontrollieren. Aber noch bis in die 1970er-Jahre sterben mehr als 90 Prozent der Frühgeborenen, die weniger als 1.000 Gramm wiegen. Risiko Beatmung Die meisten Frühgeborenen können nicht selbstständig atmen. Die Lunge ist noch nicht ausgebildet, die Atemwege instabil und auch der Atemantrieb fehlt oft. Er geht normalerweise vom zentralen Nervensystem aus und reguliert die Atembewegungen. Anders als bei Erwachsenen pustet dann die druckkontrollierte, angefeuchtete und auf 37 Grad Celsius angewärmte Atemluft die Lunge der Frühchen regelrecht auf – so übernimmt die Maschine die Atmung für das Kind. Mit dieser Technik kommt es aber zu neuen Risiken für die Frühchen: Viele leiden bei der Geburt unter Die neue Technik bringt auch neue Gefahren Entzündungen in der Lunge. Der Beatmungsdruck kann dann die Lungenbläschen überblähen, es entstehen Löcher im Lungengewebe und der Gasaustausch verschlechtert sich. Außerdem leiten die Schläuche auch Krankheitserreger in den kleinen Körper, gegen die das Immunsystem noch nicht gerüstet ist; im Blut der Frühchen stehen noch nicht genug Antikörper bereit und auch die weißen Blutkörperchen zur Abwehr von Bakterien und Viren sind noch nicht funktionstüchtig. Die künstliche Beatmung birgt schließlich auch noch eine Gefahr für die Entwicklung der Netzhaut im Auge. Zu viel Sauerstoff kann sie beschädigen oder sogar ganz ablösen, sodass die Kinder im Inkubator erblinden. Seite 5 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Ein Stoff aus der Rinderlunge rettet Frühchen Bis zu 300 Millionen Lungenbläschen sorgen dafür, dass der Körper mit ausreichend Sauerstoff versorgt wird. Sie sind mit einem dünnen Schutzfilm aus Fettbausteinen und Eiweißen überzogen – Surfactant wird dieser Stoff genannt. Schon Ende der 1950er-Jahre konnten Mediziner nachweisen, dass Surfactant-Mangel der Grund für das Atemnotsyndrom bei Frühchen ist. Der Stoff wird erst mit dem Ende der 34. SchwangerDas lebensrettende Surfactant wird aus schaftswoche in ausreichender Menge vom Körper produziert. Bei Frühchen, die vorher auf die Tier-Lungen gewonnen Welt kommen, fehlt er. Ohne die Substanz aber fallen die Lungenbläschen in sich zusammen, die Fläche für den Gasaustausch ist zu klein – die Frühchen bekommen keine Luft. Nach der Entdeckung von Surfactant dauerte es noch weitere 30 Jahre, bis es einem japanischen Forscher gelang, den Stoff aus Rinderlungen zu gewinnen und so weiterzuentwickeln, dass er Neugeborenen verabreicht werden konnte: Über einen Schlauch wird der zähflüssige Saft direkt in die Lunge geführt. Innerhalb von wenigen Minuten kann dann die künstliche Beatmung von 100 Prozent Sauerstoff auf 21 Prozent – und damit auf ganz normale Raumluftverhältnisse – herabgesetzt werden. Es folgten noch eine Reihe klinischer Studien, bis die Surfactant-Therapie ihre Wirkung Anfang der 1990er-Jahre endlich flächendeckend entfalten konnte. Bis heute sprechen Ärzte von einer Revolution in der Frühchen-Medizin. In den darauf folgenden zehn Jahren stiegen die Überlebenschancen extrem an: Während 1990 noch fast 60 Prozent der Neugeborenen mit weniger als 1.000 Gramm Geburtsgewicht sterben, sind es im Jahr 2000 nur noch etwas mehr als 30 Prozent. Grundsätzlich aber liegt die Grenze der Medizin auch heute – selbst mit den modernsten Mitteln der Intensivstationen – bei der 22. Schwangerschaftswoche. Von Kängurus lernen In vielen Kliniken in Deutschland bemühen sich Ärzte und Schwestern um alternative Therapieansätze – um eine sogenannte minimalinvasive Behandlung der Frühchen und eine möglichst große Nähe zwischen Eltern und Kind. Das sogenannte Känguruen soll die Verbindung der Eltern zu den kleinen Intensivpatienten fördern. Dabei werden die Frühchen auf die Brust der Eltern gelegt und zugedeckt – ganz ähnlich, wie es die Kängurus machen. Die Methode entstand schon in den 1970er-Jahren in Kolumbien und war anfangs eine reine Notlösung, weil nicht genug Heute überleben 80 Prozent der Inkubatoren zur Verfügung standen. Die Kinder reagierten aber überraschend gut auf die extremen Frühchen Improvisation: Neben dem positiven Effekt für die Eltern-Kind-Bindung wurden Herzschlag und Atmung messbar regelmäßiger, Atempausen waren seltener. Es dauerte trotzdem noch zehn Jahre, bis die Methode auch in anderen Ländern überzeugte. Heute gehört sie zum Standard bei der Betreuung von Frühchen. Seite 6 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Die Überlebens-Chancen steigen In Deutschland enden heute fast zehn Prozent der Schwangerschaften mit einer Frühgeburt, Tendenz steigend. Aber immerhin ist in den letzten 40 Jahren die Überlebenswahrscheinlichkeit für Frühchen deutlich gestiegen. Heute schaffen es etwa 80 Prozent der extremen Frühchen. Aber bei weitem nicht alle sind auch gesund. Ein Drittel ist so beeinträchtigt, dass die Kinder intensive therapeutische Betreuung brauchen, um überhaupt zur Schule gehen zu können, ein weiteres Drittel trägt schwerste neurologische und körperliche Behinderungen für das ganze Leben davon und nur etwa ein Drittel aller Frühgeborenen ist völlig gesund und leidet unter keinerlei Spätschäden. Autorin: Katharina Adick Zusatzinfos Frühgeburt Von einer Frühgeburt spricht man, wenn das Kind vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche – und damit drei Wochen vor dem regulären Ende der Schwangerschaft – zur Welt kommt. Die meisten Kinder sind dann leichter als 2500 Gramm, sehr kleine Frühgeborene werden vor der 32. Schwangerschaftswoche geboren und wiegen weniger als 1500 Gramm. Immer häufiger kommen auch extreme Frühgeburten auf die Welt. Sie werden um die 25. Woche mit weniger als 1.000 Gramm entbunden. Inkubator / Transportinkubator Ein Inkubator ist ein Brutkasten. Darin kann die Temperatur und Luftfeuchtigkeit genau kontrolliert werden. Es entsteht ein stabiles Mikroklima. Das ist wichtig für die Frühchen, weil ihnen noch das Unterhautfettgewebe fehlt und sie dadurch extrem schnell auskühlen und Flüssigkeit über die Haut verlieren. Surfactant Surfactant ist ein zusammengesetztes Wort aus dem Englischen. Der Begriff kommt von "surface active agent", was so viel bedeutet wie oberflächenaktive Substanz. Der Stoff verringert die Oberflächenspannung der Lungenbläschen und ist notwendig für die Entfaltung der Lunge. Mit der Verabreichung von Surfactant vergrößert sich die Oberfläche für den Gasaustausch in der Lunge – die Frühchen können besser atmen. Schon seit einigen Jahren wird Surfactant auch synthetisch hergestellt. Wenn absehbar ist, dass eine Frühgeburt bevorsteht, gibt es noch eine andere Möglichkeit: Die Mutter des ungeborenen Kindes nimmt Steroide zu sich. Sie regen die Bildung von Surfactant noch in der Lunge des ungeborenen Kindes an. Seite 7 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Die Spätfolgen einer Frühgeburt Viele Frühchen sind ihr Leben lang beeinträchtigt Anna kam vier Monate zu früh auf die Welt. Sie wog bei der Geburt gerade einmal 690 Gramm. Die Ärzte holten sie zusammen mit ihrem Zwillingsbruder per Kaiserschnitt. Alles sah gut aus. Doch in der Nacht bekamen die winzigen Zwillinge schwere Hirnblutungen und kämpften ums Überleben. Anna hat es schließlich geschafft, ihr Bruder ist nach 26 Stunden in den Armen seines Vaters gestorben. Anna hat überlebt, aber die Frühgeburt hat schwerwiegende Folgen für sie selbst und für ihre Eltern. Anna kam vier Monate zu früh auf die Welt – und hat trotz schwerer Hirnblutungen überlebt Schädigungen im Gehirn Hirnblutungen, wie Anna und ihr Bruder sie hatten, kommen bei Frühgeburten häufig vor. Sind sie stark, können sie das Gehirn nachhaltig schädigen und zu Lernbehinderungen, geistigen Behinderungen und schweren neurologischen Langzeitschäden führen. Anna hatte in den ersten Wochen nach ihrer Geburt mehrere epileptische Anfälle. Mit Medikamenten haben die Ärzte die Anfälle mittlerweile in den Griff bekommen. Aber dennoch können sie jeden Tag wiederkommen. Annas Mutter hat für diesen Fall ein Notfallmedikament von den Ärzten bekommen, das sie immer dabei haben muss. Bei Anna hatte die Hirnblutung außerdem dazu geführt, dass das Hirnwasser nicht mehr richtig abfließen konnte und sich ansammelte. Die Folge wäre ein Wasserkopf gewesen. Deshalb mussten die Ärzte Anna bereits kurz nach ihrer Geburt operieren. Sie haben ihr einen Schlauch eingepflanzt, der das Hirnwasser vom Kopf in den Magen leitet. Dort scheidet der Körper die Flüssigkeit aus. Eingeschränkte Bewegungen Forscher haben Studien ausgewertet, bei denen insgesamt 9653 Kindern untersucht wurden, die im Durchschnitt mit 28 Wochen und 1060 Gramm auf die Welt kamen. Das Ergebnis zeigt, dass Frühchen ein stark erhöhtes Risiko haben, bleibend an motorischen Störungen zu leiden. Auch Anna ist in ihren Bewegungen eingeschränkt. Sie hat durch die starke Hirnblutung (in der linken Hirnhälfte) eine spastische Muskelanspannung in der rechten Körperhälfte. Das hat gravieAnna muss täglich Physiotherapie machen rende Folgen: Es ist zum Beispiel nicht sicher, ob Anna jemals richtig laufen kann. Denn Annas rechte Fußspitze ist häufig nach vorne überdehnt. Möglich, dass sie später eine Schiene am rechten Fuß tragen muss, um diese unnatürliche Fußhaltung zu korrigieren. Auch Annas rechte Hand ist betroffen. Da ist die Spastik am deutlichsten zu sehen, denn die Hand ist meistens zu einer Faust geballt. Anna wird ihre rechte Hand wahrscheinlich nie richtig einsetzen können. Und es ist möglich, dass ihr die Spastik Schmerzen bereiten wird. Lebenslange Physiotherapie kann Anna aber helfen, dieser unnatürlichen Körperspannung entgegenzuwirken und die Schmerzen möglichst klein zu halten. Seite 8 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Zwei Drittel haben Spätschäden Nur ein Drittel aller Frühgeborenen ist völlig gesund und hat keinerlei Spätschäden. Ein weiteres Drittel ist so beeinträchtigt, dass die Kinder intensive Betreuung und verschiedene Arten von Therapie brauchen, um überhaupt schulfähig zu werden. Und ein Drittel aller Frühgeborenen hat schwere neurologische und körperliche Behinderungen für das ganze Leben. Dass so viele Frühchen unter Langzeitschäden leiden, ist nicht erstaunlich. Die Kinder kommen mit teilweise noch nicht ausgereiften Organen auf die Welt. Dadurch sind diese Organe extrem anfällig oder nur Viele Frühchen sind ihr Leben lang mit bedingt funktionstüchtig. Häufig ist zum Beispiel auch die Sehfähigkeit von Frühchen beeinträch- den Folgen ihrer Frühgeburt konfrontiert tigt, hin bis zur Blindheit. Auch die Lunge ist häufig geschädigt – Asthma ist eine typische Langzeitfolge einer Frühgeburt. Weil auch der Magen-Darm-Trakt bei der Geburt noch unreif ist, haben viele Frühchen Ernährungsprobleme wie Unverträglichkeiten von Nahrungsmitteln oder Entzündungen im Darm. Bei manchen Frühchen müssen die Ärzte nach der Geburt sogar vorübergehend einen künstlichen Darmausgang legen. Ein Jahr nach ihrer Geburt macht Anna einen zufriedenen Eindruck. Noch weiß sie allerdings nichts von dem Schlauch in ihrem Körper. Je bewusster sie sich selbst und die Welt wahrnimmt, desto deutlicher werden die Folgen der Frühgeburt auch für sie selbst sein. Zudem muss der Schlauch der Körpergröße angepasst werden – in einigen Jahren steht wieder eine Operation an. Wie gravierend die motorischen Beeinträchtigungen später für Anna sein werden, hängt davon ab, wie gut die Physiotherapie anschlägt. Möglich ist auch, dass die Krampfanfälle regelmäßig wiederkehren und Anna Epileptikerin wird. Fest steht: Die Folgen der Frühgeburt werden Anna ihr Leben lang begleiten. Autorin: Ilka aus der Mark Zusatzinfos Spastik Spastik leitet sich vom griechischen Wort „spasmos“ ab und heißt übersetzt „Krampf“. Es handelt sich dabei um eine abnorme, übermäßige Muskelanspannung der Skelettmuskulatur, die immer auf eine Schädigung des Gehirns oder des Rückenmarks zurückzuführen ist. Eine Spastik zeigt sich durch Verkrampfungen (zum Beispiel eine geballte Faust) und unnatürliche Bewegungsmuster. Epileptische Anfälle Ein epileptischer Anfall ist ein Krampfanfall, der nicht durch eine vorausgehende erkennbare Ursache ausgelöst wird. Die Ursache sind abnorme Vorgänge im Gehirn. Seite 9 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Gefährliche Reise: Von der Befruchtung bis zur Geburt Fast jede zweite Schwangerschaft endet vorzeitig Sobald Samenzelle und Eizelle miteinander verschmelzen, beginnt eine rund 40 Wochen andauernde Reise bis zur Geburt. Fast jeder zweite Embryo überlebt sie nicht. Die gefährlichste Phase beginnt unmittelbar nach der Befruchtung: Nur wenige Tage nach der Einnistung eines winzigen Zellhäufleins in die Gebärmutter entwickelt sich allmählich aus dem sogenannten Keim ein Embryo. 12. Woche: Die gefährlichste Phase der 12 Wochen, auf die es ankommt Schwangerschaft ist fast überstanden Rechte: Interfoto/Silvia Bis zur 6. Woche entwickeln sich die Anlagen für das Gehirn, das Rückenmark und die Organe. Auch das Herz und die Blutgefäße bilden sich bereits in dieser frühen Phase: Der Blutkreislauf versorgt die Zellen mit Nährstoffen und Sauerstoff. Bis zur 12. Woche wächst der Embryo täglich um rund einen Millimeter. Die Augen lassen sich bereits erahnen und aus den sogenannten Hand- und Fußknospen entstehen die Arme und die Beine. Auch Muskeln, Knorpel und Sehnen beginnen sich zu entwickeln und so nimmt der Embryo allmählich eine erkennbar menschliche Gestalt an. Doch gerade weil so vieles zu dieser Zeit bereits angelegt wird, ist diese frühe Phase der Im Ultraschall: Der Übergang vom Schwangerschaft besonders anfällig für Störungen. Und so sterben viele Embryonen bereits in der Embryo zum Fötus 4. oder 5. Woche plötzlich wieder ab – oftmals bleibt dies von der Mutter sogar unbemerkt. Rechte: Imago/Waldm Wissenschaftler schätzen, dass rund die Hälfte aller Schwangerschaften bis zum Ende der 12. Schwangerschaftswoche vorzeitig beendet wird. Ursache sind hauptsächlich genetische Defekte, die ein Weiterleben bereits hier unmöglich machen. Die gefährlichste Phase ist vorbei Hat der Embryo jedoch die ersten drei Monate gut überstanden und liegen auch keine genetisch bedingten Fehlbildungen, kann ihm bis zur Geburt nicht mehr viel passieren: Im Jahr 2008 wurden nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes von über 680.000 Geburten nur 2412 Kinder tot zur Welt gebracht, die nach dem Erreichen der 13. Schwangerschaftswoche noch gelebt hatten. Nach Untersuchungen an der Berliner Charité sind dafür vor allem Komplikationen mit dem Mutterkuchen verantwortlich. Über den Mutterkuchen und die Nabelschnur wird das Kind mit Sauerstoff, Nährstoffen und Antikörpern des mütterlichen Immunsystems versorgt. Ist der Im 5. Monat: Vor allem Komplikationen Mutterkuchen in seiner Funktion gestört oder löst er sich sogar frühzeitig ab, besteht Lebensgefahr mit der Plazenta können das Kind jetzt für das Ungeborene: Es kann nicht mehr ausreichend versorgt werden. Hinzu kommt, dass noch gefährden bestimmte Viren, Bakterien oder Giftstoffe den Mutterkuchen passieren können und das Kind Rechte: WDR/picture-alliance schwer schädigen oder sogar töten. Kaum noch Gefahr zum Schluss Gegen Ende der Schwangerschaft, ab dem 9. Monat, besteht noch eine letzte Gefahr: die Nabelschnur. Wenn sie sich plötzlich verknotet oder zusammenzieht, kann das Kind nicht mehr ausreichend versorgt werden und stirbt schließlich. Doch diese Komplikationen sind äußerst selten und die von vielen immer wieder befürchtete Strangulation durch die Nabelschnur ist statistisch sogar völlig unbedeutend. Autor: Jo Siegler Seite 10 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Von der Kunst, Kinder zu zeugen Kleine Geschichte der Reproduktionsmedizin Louise Joy Brown war das erste Retortenbaby. Als sie am 25. Juli 1978 per Kaiserschnitt das Licht der Welt erblickte, war Louise Brown mit einem Geburtsgewicht von 2900 Gramm eher durchschnittlich. Aber medizinisch war sie eine Sensation! Mit ihrer Geburt begann ein neues Zeitalter der künstlichen Befruchtung. Die britischen Wissenschaftler Robert Edwards und der Chirurg Patrick Steptoe hatten bereits in den 1960er-Jahren erste Erfahrungen gesammelt. Damals kämpften sie vor allem mit dem Problem, die Eizellen zu entnehmen, ohne sie zu zerstören. Die Technik, Louise Joy Brown war das erste mit der Louise Brown gezeugt wurde, nennt man heute In-vitro-Fertilisation (IVF) – also übersetzt Retortenbaby. Geboren am 25. Juli 1978 die „Befruchtung im Glas“. Rechte: action press/Rex Petrischale statt Bett In Deutschland steckte die Reproduktionsmedizin Ende der 1970er-Jahre noch in den Kinderschuhen. Es dauerte noch fast vier Jahre, bis 1982 in der Universitätsklinik Erlangen das erste deutsche Retortenbaby geboren wurde. Dafür war Oliver mit einem Geburtsgewicht von 4.150 Gramm ein richtiger kleiner Wonneproppen. Auch er wurde außerhalb des Körpers per IVF gezeugt: In der Petrischale fügten die Forscher eine Eizelle seiner Mutter mit einer Samenspende seines Vaters zusammen. Nach drei Tagen im Brutschrank wurde die befruchtete Eizelle wieder in die Mutter einNomen est omen: Das erste deutsche gepflanzt. Retortenbaby mit Mutter Maria! Rechte: Quick dpa/lby Tiefkühlprodukte zum Leben erweckt Eine erstaunliche Methode ist die sogenannte Kryotechnik. So nennt man es, wenn Zellen in flüssigem Stickstoff schockgefroren werden. Im Jahre 1984 wurde zum ersten Mal ein Mädchen geboren, das aus einer vorher gefrorenen Eizelle gezeugt wurde. Die Idee, eine zuvor bei minus 196 Grad Celsius eingefrorene Zelle zu befruchten und auszutragen, erscheint selbst heute ein wenig abwegig. Schließlich entsteht aus dieser einen Zelle durch Zellteilung der gesamte Mensch. Und durch den Prozess des Einfrierens mit einem alkoholischen Frostschutzmittel könnte das empfindUnzählige mögliche Wunschkinder liche Erbgut Schaden nehmen. Aber Forscher haben es gewagt und hatten Erfolg. Heute ist die schlummern im Eis Kryotechnik die Basis der Reproduktionsmedizin und nicht nur Eizellen und Spermien werden eingefroren, sondern auch deren Vorstufen. Bis zum Jahre 2010 gibt es über 20.000 Kinder, die aus gefrorenen befruchteten Eizellen stammen. Laut Gesetz dürfen in Deutschland der Frau nur drei befruchtete Eizellen eingepflanzt werden. Durch die vorher nötige Hormonstimulation werden aber meistens mehr Eier gewonnen – diese werden dann eingefroren, um sie später gegebenenfalls nutzen zu können, ohne der Frau erneut Eier entnehmen zu müssen. Die Methode funktioniert aber nicht perfekt – immerhin zwei Drittel der so behandelten Eizellen sterben ab. Seite 11 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Zufall statt präziser Technik Der nächste medizinische Durchbruch war eigentlich ein Unfall. Belgische Forscher platzierten ein lahmes Spermium an der äußeren Hülle eines menschlichen Eies. Versehentlich durchstachen sie die Eihülle und das Spermium landete dadurch direkt im Ei. Das Ei teilte sich. Heute nennt man diese Methode kurz und knackig ICSI. Dahinter verbirgt sich der Fachausdruck „Intracytoplasmatische Spermieninjektion“. Praktisch bedeutet es, das Eizellen von Spermien befruchtet werden können, die noch nicht einmal mehr zappeln. Das ist völlig anders als bei der natürlichen Erst ab 1990 helfen Forscher lahmen Spermien ans Ziel Zeugung. Hier konkurrieren viele Millionen um das Ei – dabei gewinnt das schnellste Spermium. Langsame Spermien haben keine Chance. Früher glaubten die Forscher, das bei zwei Dritteln der ungewollt kinderlosen Paare der Grund bei der Frau liegt. Jetzt beweist die hohe Anzahl der durchgeführten ICSIs, dass Frauen nur in einem Drittel der Fälle alleine „schuld“ sind. Chancen oder Risiken? Die Kritik an künstlicher Befruchtung ist einfach: Bei der natürlichen Zeugung werden ungefähr einhundert Millionen Spermien ins Rennen um eine Eizelle geschickt. Bei einer IVF sind es meist über 50.000 Spermien. Bei einer ICSI ist es nur ein einziges Spermium, das der Laborassistent „eingefangen“ hat. Von natürlicher Auslese ist da keine Spur mehr. Pro Befruchtungsversuch dürfen in Deutschland maximal drei Eizellen eingesetzt werden. Trotzdem Der Konkurrenzkampf ist hart. Nur einer werden bei „assistierter Befruchtung“ – so heißt die charmante Zusammenfassung der verschie- kann gewinnen! denen Reproduktionstechniken – immer noch ein Drittel „Mehrlinge“, also Zwillinge, Drillinge oder Rechte: mauritius images Vierlinge produziert. Das ist ein Problem. Schon Zwillinge haben ein 10-fach höheres Risiko als „Frühchen“ geboren zu werden. Zudem steigen die Risiken auf bleibende schwere Behinderung bis auf das Doppelte an. Auch für die Mutter ist es gefährlicher: 15-mal häufiger müssen die Mütter von Zwillingen intensivmedizinisch betreut werden. Möglicherweise verursacht schon die Methode ICSI Probleme. Forscher haben das mehrfach untersucht und sind sich bei Einschätzung des Risikos uneins. Heraus kommt: Die »Retortenkinder« leiden 1,25 bis 2,5 mal häufiger an Geburtsschäden, Entwicklungsstörungen und Erbdefekten. Bis zum Jahr 2010 sind 150.000 Retortenbabys im kinderarmen Deutschland geboren worden - ein Segen? Oder wie Kritiker sagen, ein medizinischer Freilandversuch? Seite 12 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Baby-take-Home-Rate Ein „Baby mit nach Hause nehmen“ – das dürfen nur die wenigsten! In Deutschland führen nur 15,8 Prozent der künstlichen Befruchtungen zu einer erfolgreichen Geburt – so das Deutsche IVFRegister. Diese 15,8 Prozent sind die sogenannte Baby-take-Home-Rate. Das ist – gemessen am Aufwand – keine gute Quote. Die deutschen Reproduktionsmediziner verzeichnen seit 2004 wirtschaftliche Einbrüche. Seitdem Künstliche Befruchtung ist ein hartes zahlt die Krankenkasse nur noch die Hälfte der Behandlungskosten. Da die Paare sowieso viel Geschäft – nur jede 6. Behandlung führt selbst zahlen müssen, gehen sie für die Behandlung ins benachbarte Ausland. Dort ist viel mehr zum Wunschkind erlaubt: Eizellspenden, eigene Eizellen fremd austragen lassen oder die Präimplantationsdiagnostik (PID). Von besonderer Bedeutung ist es auch, dass es im Ausland teilweise erlaubt ist, die Eizellen bis zu fünf Tage lang wachsen zu lassen. Diese teilen sich zu sogenannten Blastozysten und können dann ausgewählt werden. Mit diesen Techniken kann man fast doppelt so hohe Baby-takeHome-Raten erreichen. Aber all die Techniken sind in Deutschland verboten! Ethisch versteckt sich hier ein Problem: Befruchtete Eizellen auszuwählen bedeutet, die anderen (weniger erfolgversprechenden) nicht einzupflanzen und sterben zu lassen. Das verbietet in Deutschland das Embryonenschutz-Gesetz. Autorin: Corinna Sachs Zusatzinfos Kryotechnik Der Begriff leitet sich vom griechischen Wort „kryos“ ab, das Frost oder Kälte bedeutet. Präimplantationsdiagnostik (PID) Die Präimplantationsdiagnostik ist eine genetische Untersuchungsmöglichkeit für Embryonen, die in Deutschland verboten ist: Im sogenannten Acht-Zellstadium (Blastomere) wird eine Zelle abgezupft und das darin enthaltene genetische Material untersucht. So kann man zum Beispiel schwere Erkrankungen ausschließen. Blastozysten In den ersten drei Tagen teilt sich die befruchtete Eizelle. Dann starten viele sehr komplizierte Vorgänge und eine entscheidende Phase der Embyonenentwicklung beginnt: Die Blastozyste entsteht. Jetzt kann der Forscher „vielversprechende“ von weniger hochwertigen Eizellen unterscheiden. Reproduktionsmediziner in Deutschland dürfen aber nicht auswählen, welche Blastozyste am erfolgversprechendsten aussieht. Seite 13 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Erfolgreich schwanger – zum größten Abenteuer des Lebens An welchen Tagen haben Frauen die größte Chance, schwanger zu werden? Viele Menschen glauben, der fruchtbarste Tag der Frau sei der Tag des Eisprungs – in unserer Grafik Tag 14. Da kann es zwar auch noch klappen. Aber die beste Chance auf ein erfolgreiches Rendezvous zwischen Spermium und Eizelle besteht, wenn der Sex ein Tag vor dem Eisprung stattfindet. Denn das unbefruchtete Ei lebt nur 20 bis 24 Stunden. In dieser Zeit muss es befruchtet werden. Um die Eizelle zu erreichen, brauchen die Spermien mehrere Stunden. 13 bis 18 Zentimeter müssen sie dabei zurücklegen. Muntere Spermien halten drei Tage – ganz aufgeweckte Kerlchen bis zu fünf Tage. Der „effizienteste“ Zeitpunkt zum Kinderkriegen ist daher Sex ein bis zwei Tage vor dem Eisprung. In welcher Stadt gibt es die meisten Babys pro 1000 Einwohner? Frankfurt ist der Spitzenreiter beim Kinderkriegen. Mit 10,9 Babys pro 1000 Einwohner. Erstaunlich, da die Bankenmetropole ansonsten nicht gerade als kinderfreundlich gilt. Dresden und München folgen mit 10,8 und 10,7 Babys pro 1000 Einwohner dicht auf. In Nordrhein-Westfalen können da nur Köln mit zehn Babys pro 1000 Einwohner, Düsseldorf mit 9,9 und Bonn mit 9,8 mithalten. Grundsätzlich liegen die Städte mit der Geburtenrate höher als das „flache Land“. Das war früher anders – aber heute bestimmt der Job, wo Familien mit Kindern hinziehen. Die Schlusslichter bei der Geburtenrate sind Baden-Baden, Cuxhaven und Garmisch-Patenkirchen. Dort werden nur etwa sechs Kinder pro 1000 Einwohner geboren. Das liegt an der Überalterung. Man erkennt das auch an der Sterberate: Knapp zwölf Menschen sterben dort jährlich pro 1.000 Einwohner. Somit ist es dort zweimal wahrscheinlicher zu sterben, statt schwanger zu werden. Ab welchem Alter lässt die Fruchtbarkeit der Frau nach? Nach dem 30. Geburtstag lässt die Fruchtbarkeit der Frau nach. Im Zeitraum von 35 bis 40 Jahren nimmt sie schon deutlich – wenn auch noch langsam – ab! Und ab 40 Jahren schwindet die Wahrscheinlichkeit, beim Sex schwanger zu werden, sogar rapide. Gynäkologen bezeichnen das Alter zwischen 25 und 29 Jahren als ideal, um schwanger zu werden. Die Erklärung ist einfach: Schon ab 30 Jahren überwiegen die Abbau-Prozesse im menschlichen Körper. Und auch die Eizellen altern. Denn sie werden nicht laufend neu gebildet: Der gesamte Bestand an Eizellen ist bereits im weiblichen Fötus angelegt, während er noch im Bauch der Mutter weilt. Diese Eizellen trägt die Frau dann ihr Leben lang in sich. Das heißt eine Frau, die mit 40 Jahren schwanger wird, befruchtet eine 40 Jahre alte Eizelle. Trotzdem: Schwanger mit 40 ist heute immer häufiger der Fall. Denn wenn es mit dem Kinderwunsch auf natürlichem Weg nicht klappt, kommen Reproduktionsmediziner zum Einsatz. Unfruchtbarkeit kann es natürlich auch bei jungen Menschen geben, Gründe gibt es viele und leider sind nicht alle behandelbar. Auch dann müsssen die Reproduktionsmediziner helfen. Seite 14 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de In welcher Stadt gibt es die meisten Reproduktionszentren? Die Hauptstadt liegt vorne – mit zehn Kinderwunschzentren ist Berlin zumindest darin Spitze! Köln und Hamburg folgen mít je sechs Einrichtungen. Aber Achtung: Nicht jeder, der sich Hilfe bei den Fachleuten holt, kann auch ein Baby mit nach Hause nehmen: Die sogenannte Baby-take-homeRate liegt nur bei 15,8 Prozent. Das heißt, eine Frau muss im Schnitt 6,5 Mal künstlich befruchtet werden, um erfolgreich schwanger zu werden. Doch Vorsicht: Die Wahrscheinlichkeit, Zwillinge oder gar Drillinge zu bekommen, ist dann sehr hoch. Übrigens: Die Krankenkasse übernimmt bei drei Versuchen jeweils die Hälfte der Kosten – aber nur, wenn man verheiratet ist. Da sollte man besser auf den Ratschlag australischer Forscher hören: Täglich Sex! Täglicher Sex verbessert eindeutig die Qualität der Spermien. Das Team von Dr. David Greening von der Universität in Sydney untersuchte Spermaproben von 42 Männern. Nach dreitägiger Enthaltsamkeit stieg zwar die Anzahl der Spermien, aber diese waren häufiger fehlgebildet. Die beste Spermienqualität lag vor, nachdem die Männer an sieben aufeinanderfolgenden Tagen ejakuliert hatten. Werden die Paare bei der künstlichen Befruchtung immer jünger oder immer älter? Das durchschnittliche Alter beider Partner steigt kontinuierlich an. 2010 sind die Männer im Durchschnitt fast 38 Jahre alt und Frauen im Durchschnitt 35 Jahre. Das ist ein Problem, denn allem medizinischen Fortschritt zum Trotz, sinken dadurch die Chancen auf das Wunschkind! Gegen das Altern können auch die Mediziner nichts machen. Denn fatalerweise gilt die „Altersgrenze“ auch bei der künstlichen Befruchtung: Ab 40 sinken die Chancen auf ein Kind rapide, während gleichzeitig das Risiko einer Fehlgeburt steigt. Mit 42 Jahren liegt die Fehlgeburtenrate bei knapp 40 Prozent. Sind die Frauen älter als 44 Jahre, liegt die Wahrscheinlichkeit für eine Fehlgeburt bei 80 Prozent! In welchem Bundesland ist die Kaiserschnittquote am höchsten? Die meisten Kaiserschnittentbindungen gab es im Jahr 2008 mit 36,8 Prozent im Saarland, gefolgt von Bremen mit 33 Prozent und Hessen mit 32,9 Prozent. In Sachsen wurde dagegen nur bei etwa jeder fünften Entbindung (21,7 Prozent) ein Kaiserschnitt durchgeführt. Bei der Verteilung lässt sich ein eindeutiges Ost-West-Gefälle feststellen. Hebammen beklagen, dass Kaiserschnitte inzwischen viel zu häufig durchgeführt werden. Seit 1991 hat sich der Anteil der Kaiserschnittentbindungen nahezu verdoppelt. Damals lag die Rate der Schnittentbindungen bei 15,3 Prozent; 2008 waren es 30,2 Prozent. Seite 15 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Eine hohe Kaiserschnittrate ist für eine Klinik kein Qualitätsmerkmal. Im Gegenteil: Wer zu schnell zum Messer greift, riskiert bei Mutter und Neugeborenem Komplikationen und Folgeschäden: So haben Kaiserschnittbabys beispielsweise häufiger Atemprobleme. Auch für die Mütter ist der Kaiserschnitt nicht die bessere Methode. Sie haben ein dreifach höheres Risiko, bei einem Kaiserschnitt zu sterben als bei einer natürlichen Geburt. In welchem Bundesland gibt es die meisten Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren? Auch bei der Betreuungssituation von kleinen Kindern kann man Ost und West noch deutlich unterscheiden. In den fünf ostdeutschen Bundesländern ist das „Soll“ des Familienministeriums von 35 Prozent längst erfüllt. Im Westen liegt die Betreuungsquote für die Kleinsten im Durchschnitt bei lediglich 14,6 Prozent. Im Osten bei 46 Prozent. Bei der Betreuung der unter Dreijährigen liegt Sachsen-Anhalt mit 55 Prozent vorne, gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern, wo die Hälfte aller unter Dreijährigen betreut wird. Unter den westdeutschen Ländern hat Rheinland-Pfalz mit 18 Prozent die höchste Betreuungsquote. Und das Schlusslicht ist das größte Bundesland Nordrhein-Westfalen! Dort steht nur für jedes 9. Kind ein Kindergartenplatz zur Verfügung. Erst ab dem dritten Lebensjahr gibt es einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz. In welcher Stadt ist ein Kindergartenplatz kostenlos? Kostenlose Kindergartenplätze sind in Deutschland selten. Doch es gibt sie – die Inseln der Glückseligen: In insgesamt elf deutschen Städten müssen Eltern keine Kindergartengebühren zahlen. In Düsseldorf, Hanau, Heilbronn, Kaiserslautern, Koblenz, Ludwigshafen, Mainz, Salzgitter, Trier, Wiesbaden und Zwickau gilt: freier Eintritt ab drei Jahren. Kinderbetreuung ist Sache der Länder und Kommunen. Die Unterschiede bei den Gebühren sind enorm: Am teuersten ist es für Eltern in Bremen, Cottbus, Duisburg, Hamburg, Potsdam und Tübingen. Sie zahlen pro Jahr zwischen 1700 und 2500 Euro für einen Halbtagsplatz. Wenn die Eltern arbeiten müssen, sind vier bis fünf Stunden Kinderbetreuung nicht viel Zeit. Für einen Ganztagsplatz müssen Eltern noch mal mindestens 50 Prozent drauflegen. Da könnte sich sogar ein Umzug rechnen. Wer zum Beispiel mit einem Kind im Kindergartenalter von Duisburg nach Düsseldorf zieht, spart pro Jahr 2520 Euro – schon beim Halbtagsplatz. Autor: Corinna Sachs Seite 16 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Lesetipps Prävention von Entwicklungsstörungen bei Frühgeborenen Autoren: Anne Dick, Walter-Uwe Weitbrecht, Magnus Lindroth (Hg.) Verlagsangaben: Pflaum Verlag, 1999 ISBN ISBN-978-3-7905-0773-7 Sonstiges: 136 Seiten mit 68 Abbildungen, kartoniert, 19 Euro Dieses Buch zeigt Eltern und Physiotherapeuten auf verständliche Art und Weise, wie sie durch eine Frühgeburt hervorgerufenen Entwicklungsstörungen entgegenwirken können – sowohl auf der physischen als auch auf der psychischen Ebene. Seite 17 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Linktipps Weiterführende Informationen zum Thema Frühgeburt http://www.familienplanung.de/schwangerschaft/fruehgeburt Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gibt unabhängig und wissenschaftlich fundiert Tipps zum Thema Frühgeburt. Dachorganisation der Fördervereine und Elterninitiativen für Frühgeborene http://www.fruehgeborene.de/index.php?option=com_content&view=article&id=104&Itemid=93 Die Dachorganisation der Fördervereine und Elterninitiativen für Frühgeborene hält eine Hotline für Betroffene bereit und bietet vertiefende Informationen zum Thema. Die Entwicklung von der Befruchtung bis zur Geburt en Detail http://www.familienplanung.de Die Informationsseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Hier findet sich alles Wichtige zum Thema Schwangerschaft und Entwicklung – fundiert und nach dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Quarks & Co: Welche Risiken birgt die ICSI? http://www.wdr.de/tv/quarks/sendungsbeitraege/2002/0430/006_baby.jsp Prinzipiell sind alle ICSI-Schwangerschaften sogenannte Hochrisikoschwangerschaften, die eine intensive ärztliche Betreuung im Vorfeld und während der Schwangerschaft bedürfen. Ausführliche Informationen dazu finden Sie in der Quarks-Sendung „ Die neuen Babys“. Frauenärtze im Netz http://www.frauenaerzte-im-netz.de Hier findet man zu jedem Thema der Fortpflanzungsmedizin kompetente Information – für alle die schon immer wissen wollten, was sich hinter MESA, TESE und GIFT verbirgt. Deutsches IVF Register http://www.deutsches-ivf-register.de Alle offiziellen Statistiken des Deutschen IVF-Registers. Wunschkind-Seite http://www.wunschkind.de/ Seite für ungewollt Kinderlose. Hier finden sich Menschen, die keine Nacht mehr durchschlafen wollen und sich endlich Fingerfarbe auf ihrem Laptop wünschen – so heißt es auf der Startseite ... Seite 18 Quarks & Co | Leben oder sterben lassen? Die Grenzen der Hightech-Medizin | Sendung vom 25.05.2010 http://www.quarks.de Impressum: Herausgegeben vom Westdeutschen Rundfunk Köln Verantwortlich: Quarks & Co Claudia Heiss Redaktion: Ingo Knopf Gestaltung: Designbureau Kremer & Mahler Bildrechte: Alle: © WDR © WDR 2010 Seite 19