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Zur semantischen Analyse von Erscheinungssätzen in Sellars´
Empiricism and the Philosophy of Mind
Holger Andreas
(Entwurf eines Aufsatzes in Facta Philosophica)
1. Einleitung
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Phänomenalismus eine einflussreiche
Strömung in der Erkenntnistheorie. Seine Grundthese besagt, dass Sätze über Erscheinungen
eine fundamentale Bedeutung für das Verständnis von Sätzen über die raum-zeitliche
Dingwelt haben. Genauer: Die Bedeutung von Sätzen über makroskopische Gegenstände
lässt sich verständlich machen über logische Konstruktionen, deren Basis von Aussagen über
Erscheinungen gebildet wird. Solche Analysen sind von Carnap (1928), Goodman (1951),
C. I. Lewis (1929) und Russell (1914, 1950) entwickelt worden, um nur die bedeutendsten
Arbeiten zu nennen. In der weiteren Entwicklung der Analytischen Philosophie kommt es zu
einer weitgehenden Ablehnung phänomenalistischer Ansätze in der Erkenntnistheorie.
Hierfür waren vor allem Wittgensteins Philosophische Untersuchungen (1984), Quines Two
Dogmas of Empiricism (1953) sowie Sellars´ Empiricism and the Philosophy of Mind (1997)
- im Folgenden abgekürzt als EPM - von ausschlaggebender Bedeutung. In dem vorliegenden
Aufsatz möchte ich mich auf eine Auseinandersetzung mit der zuletzt genannten Abhandlung
beschränken. In dieser Abhandlung versucht Sellars zu zeigen, dass Aussagen über
Erscheinungen semantisch das Verständnis von Aussagen über die „Wirklichkeit“
voraussetzen. Wenn dem so ist, dann können Aussagen über Erscheinungen nicht als
semantische Erklärungsgrundlage von Aussagen über die „Wirklichkeit“ fungieren.
Entsprechend wird EPM von verschiedenen Autoren als locus classicus für die Widerlegung
des Phänomenalismus herangezogen (Brandom 1994, McDowell 1998 und Rorty 1979).
Die Argumentation von Sellars beruht, wie ich hier zeigen möchte, auf zwei Annahmen über
die Semantik natürlichsprachiger Sätze, die keineswegs allgemein gültig sind. Diese
Annahmen betreffen das Prinzip der semantischen Kompositionalität, das für die
Standardsemantik formaler Sprachen verwendet wird. Gerade vom Standpunkt modernerer
Ansätze, wie Brandoms inferentieller Semantik (1994), lässt sich dieses Prinzip für
natürlichsprachige Sätze nicht mehr aufrechterhalten. An diese Überlegungen schließt sich
-1-
eine kritische Betrachtung des Konzeptes der Reliabilität an, das in Sellars´ „realistischer“
Erkenntnistheorie eingeführt wird. Ich versuche hier zu zeigen, dass sich eine skeptizistische
Haltung zur Frage der Erkennbarkeit der raumzeitlichen Welt kaum vermeiden lässt, wenn
man die Reliabilitätstheorie in der von Sellars vorgeschlagenen Form annimmt.
Warum eine kritische Auseinandersetzung mit der Kritik der Analytischen Philosophie an
ihren empiristischen und phänomenalistischen Ursprüngen am Beispiel von Sellars´ EPM?
Zwei Gründe möchte ich hier anführen. Zum einen geht es mir um die historischsystematische Frage nach den Gründen und Motiven, die für die Ablehnung der
phänomenalistischen Ansätze in der Erkenntnistheorie ausschlaggebend gewesen sind. Wird
hier ein bestimmter Ansatz widerlegt oder nur durch eine alternative Analysestrategie
verdrängt? Zum anderen könnte eine Widerlegung von Sellars´ Kritik am Phänomenalismus
in rein systematischer Hinsicht neue Optionen sichtbar machen, da diese Kritik bis in die
gegenwärtige Debatte hinein wirkungsmächtig geblieben ist. So beziehen sich McDowell
(1996), Brandom (1994) und Rorty (1979) mit unterschiedlichen Intentionen auf Sellars, um
eigene Analysen zu entwickeln bzw. - im Fall von Rorty - das Konzept einer auf die
Erkenntnistheorie hin zentrierten Philosophie zurückzuweisen.
2. Die Kritik von Sellars am Phänomenalismus
Aussagen darüber, wie etwas erscheint, setzen - dem Verständnis nach - den kompetenten
Umgang mit Ausdrücken voraus, mit denen wir darüber reden, was wirklich der Fall ist. Dies
ist die zentrale These von Sellars´ Kritik am Phänomenalismus. Die Argumentation für diese
These wird anhand des Beispiels von Farbprädikaten entwickelt. Das Prädikat „looks red“
präsupponiert semantisch das Prädikat „is red“. Daher ist der phänomenalistische Versuch,
die Verwendung von „is red“ über den Gebrauch von „looks red“ erläutern zu wollen, zum
Scheitern verurteilt. Die folgenden Beobachtungen liegen der Argumentation von Sellars
zugrunde.
Ein kompetenter Sprecher kommentiert die Anwesenheit eines blauen Gegenstandes x bei
gelber Beleuchtung mit der folgenden Bemerkung: x sieht grün aus, ist aber nicht wirklich
grün; in Wirklichkeit ist der Gegenstand blau, denn im Sonnenlicht sieht er blau aus. Weniger
kompetente Sprecher mögen hingegen unter den gleichen Umständen zu der Behauptung
veranlasst werden, dass der vorliegende Gegenstand x grün ist. Nach und nach wird man
diese Sprecher über ihren Irrtum aufklären, bis auch sie gelernt haben werden, dass unter
bestimmten Beleuchtungsverhältnissen die Dinge in anderen Farben erscheinen als im
-2-
„natürlichen“ Sonnenlicht. Auf Grund dieser Effekte ist es notwendig, zwischen zweierlei
Verwendungsweisen von Farbwörtern zu unterscheiden: auf der einen Seite „x looks green“ ,
auf der anderen „x is green“.
Sellars gesteht der phänomenalistischen Analyse durchaus eine gewisse Plausibilität zu: Es
scheint zunächst nicht falsch zu sein, wenn man sagt, dass durch die Äußerung des Satzes
„This looks green“ etwas über die visuelle Wahrnehmung des Gegenstandes ausgesagt wird.
Da blaue Gegenstände in gelbem Licht genauso aussehen wie grüne Gegenstände im
Sonnenlicht, besteht zwischen beiden Fällen eine Ähnlichkeitsbeziehung in Bezug auf den
Gehalt der Wahrnehmung. Üblicherweise wird die Farbe eines raumzeitlichen Gegenstandes
durch die visuelle Wahrnehmung bei Tageslicht bestimmt. So könnte der folgende Satz als
Schema für die Definition des Prädikats „is red“ verwendet werden (EPM: 36):
(1) x is red =DF x would look red to standard observers in standard conditions.
In dieser Definition fungiert der komplexe Ausdruck „would look red“ als ein undefinierter
Relationsausdruck, der im Definiens von „is red“ auftritt. Sellars spricht dieser Sichtweise
nicht jede Plausibilität ab, glaubt aber, sie durch einfache Überlegung widerlegen zu können.
Die phänomenalistische Analyse setzt, so argumentiert Sellars, voraus, dass es sich bei dem
Ausdruck „looking-red“ um eine (semantisch) unauflösbare Einheit handelt. Dieser
Auffassung wird nun die folgende Behauptung entgegengesetzt (EPM: 36):
One begins to see the plausibility of the gambit that looking-red is an insoluble unity,
for the minute one gives „red“ (on the right-hand side) an independent status, it
becomes what it obviously is, namely „red“ as a predicate of physical objects, and the
supposed definition becomes an obvious circle.
Der Einwand stützt sich auf die Forderung, dass es möglich sein muss, die Bedeutung des
Farbwortes „red“ unabhängig von Sätzen der Form „x would look red to an observer“
anzugeben. Sobald man versucht, eine unabhängige Bedeutung für den Ausdruck „red“ auf
der rechten Seite des oben angegebenen Definitionsschemas anzugeben, würde man
bemerken, dass auch mit dem Ausdruck „red“ in dem komplexen Ausdruck „x would look
red to“ bzw. „looking-red“ nur ein Prädikat von physikalischen Objekten gemeint sein kann,
-3-
womit allerdings die Zirkularität der in Frage stehenden Definition nachgewiesen wäre.
Dementsprechend wird der oben angegebene Definitionsvorschlag abgelehnt.1
Untersuchen wir die Argumentation gegen die phänomenalistische Analyse etwas genauer.
Die von Sellars angeführte Argumentation verwendet implizit den folgenden Grundsatz:
(2) Die Bedeutung eines natürlichsprachigen Satzes ergibt sich aus der Bedeutung
seiner syntaktischen Komponenten und der Art und Weise, wie diese Komponenten
miteinander kombiniert werden.
Nur dann, wenn dieser Grundsatz angenommen wird, muss sich die Bedeutung des
komplexen Ausdrucks „looks red“ tatsächlich aus der Bedeutung der Komponenten dieses
Ausdrucks ergeben, also aus den beiden Ausdrücken „looks“ und „red“. Im Folgenden
möchte ich zeigen, dass dieser, auch als das Prinzip der semantischen Kompositionalität
bezeichnete Grundsatz keineswegs allgemein gilt.
Zweifelsohne gilt im Rahmen der modelltheoretischen Semantik der formalen Logik das
Prinzip der semantischen Kompositionalität. Entsprechend wird dieses Prinzip auch in jenen
linguistischen Analysen verwendet, die sich an der Semantik der formalen Logik orientieren
(Löbner 2003). Dennoch kann auch in solchen Ansätzen das Prinzip der semantischen
Kompositionalität nicht so interpretiert werden, dass es möglich sein muss, jedem einzelnen
Wort eines natürlichsprachigen Satzes eine semantische Deutung der Prädikatenlogik
zuzuordnen. Es gibt, um nur ein Beispiel zu nennen, eine ganze Reihe von
Relationsausdrücken in der natürlichen Sprache, die aus mehreren Worten zusammengesetzt
sind, so dass nur einer Verbindung von Worten eine prädikatenlogische Deutung zugeordnet
werden kann. Man denke an einen Satz der Form „x befindet sich in der Nähe von y“.
Versucht man die Bestandteile dieses Satzes im Sinne der Prädikatenlogik zu deuten, dann
können wir nur die komplexe Wortverbindung „befindet sich in der Nähe von“ als
Relationsausdruck deuten. Für die Komponenten dieser Wortverbindung, wie „befindet“ oder
„in“, scheint keine Deutung im Sinne der modelltheoretischen Semantik oder auch einer
intensionalen Semantik der formalen Logik möglich zu sein. Sellars kann sich daher nicht auf
einen allgemein gültigen Grundsatz berufen, nach dem es möglich sein muss, für jedes Wort
1. Ich konzentriere mich in der Auseinandersetzung mit Sellars´ Kritik am Phänomenalismus auf das
Kapitel III (The Logic of Looks) von EPM. In diesem Kapitel wird die Behauptung aufgestellt, dass
„looks red“ semantisch das Verständnis von „is red“ voraussetzt. Der Kritik an Sinnesdaten-Theorien
des Empirismus in den Kapiteln I und II möchte ich hier nichts entgegensetzen.
-4-
eines natürlichsprachigen Satzes eine prädikatenlogische Deutung anzugeben. Gerade dieser
Grundsatz wird allerdings von ihm verwendet, wenn er die Frage nach der Bedeutung von
„red“ in dem komplexen Ausdruck „looking-red“ stellt und hierfür eine prädikatenlogische
Deutung fordert.
Die modelltheoretische Semantik der Prädikatenlogik, in welcher das Prinzip der semantischen Kompositionalität uneingeschränkt gilt, wird auch als denotationelle Semantik
bezeichnet, weil in ihr die Zuordnung von Wahrheitswerten für Formeln und Sätze definiert
wird auf der Grundlage einer denotationellen Deutung der nichtlogischen Zeichen. Danach
denotieren Individuenkonstanten Gegenstände, Prädikate n-Tupeln von Gegenständen und
Funktionen Abbildungen zwischen einer Menge von n-Tupeln von Gegenständen und einer
Teilmenge der Gegenstände des Grundbereichs. Die Definition der Wahrheitswertzuordnung
bildet dann die Grundlage für die Definition des gültigen - weil wahrheitserhaltenden inferentiellen Übergangs zwischen Sätzen. Diese Definitionsordnung wird von der
inferentiellen Semantik umgekehrt. In dieser Alternative zur Standardsemantik bildet ein
nicht weiter definierter - weil aus dem Sprachverhalten von Sprechern ablesbarer - Begriff
des guten inferentiellen Übergangs die Erklärungsgrundlage für die Begriffe der Denotation,
der Wahrheit und der Repräsentation von Tatsachen.2 Im Rahmen einer solchen Semantik
wäre es gänzlich unangemessen, nach einer vom Satzkontext unabhängigen Bedeutung des
Ausdrucks „red“ zu fragen. Ausschlaggebend für die Bedeutungsanalyse sind vielmehr die
inferentiellen Beziehungen zwischen Sätzen, in denen dieser Ausdruck vorkommt. Ebenso ist
die Bedeutung des komplexen Ausdrucks „looking-red“ zu analysieren über die inferentiellen
Beziehungen zwischen Sätzen, in denen dieser Ausdruck vorkommt. Hier zeigt sich, dass im Rahmen der inferentiellen Semantik - die Bedeutung von „looking-red“ keineswegs aus
der Bedeutung der Ausdrücke „looking“ und „red“ abgeleitet wird, das Prinzip der
semantischen Kompositionalität daher nicht angenommen wird.3
Gewiss ist die inferentielle Semantik in ihrer radikalen - der Wahrheitsbedingungensemantik
diametral entgegengesetzten - Form erst nach dem Erscheinen von EPM formuliert worden.
2. Siehe hierzu vor allem Brandom (1994), S. 111-113. Paradoxerweise ist es daher eine SemantikKonzeption, an deren Entwicklung Sellars (1980) selbst
teilgenommen hat, welche die
Argumentation von EPM unterminiert.
3. Für die von Ned Block eingeführte Form der inferentiellen Semantik, die in einem gewissen
Sinne schwächer als diejenige Brandoms ist - weil in ihr keine Umkehrung der Erklärungsordnung der
denotationellen Semantik angestrebt wird -, hat Fodor (1992: 163-186) bereits gezeigt, dass das
Prinzip der semantischen Kompositionalität nicht gilt.
-5-
Die oben aufgezeigten Grenzen einer prädikatenlogischen Deutung natürlichsprachiger Sätze
- welche sich darin manifestieren, dass wir nicht jedem einzelnen Wort eines solchen Satzes
eine prädikatenlogische Deutung zuordnen können - sind allerdings unabhängig von den
Arbeiten Brandoms erkennbar. Und für die systematische Beurteilung der Argumente Sellars´
sollten auch modernere Untersuchungen zur Semantik natürlichsprachiger Sätze
herangezogen werden.
Weitere Schwierigkeiten, die mit dem Definitionsschema (1) verbunden sind, möchte ich hier
nur nennen, nicht aber genauer diskutieren. In diesem Schema werden Eigenschaften
makroskopischer Gegenstände als Dispositionen analysiert. Nach Carnap (1936/37) können
Dispositionsterme nicht durch Definitionen, sondern nur durch so genannte Reduktionssätze
eingeführt werden, wobei die Aufstellung des Reduktionssatzschemas bereits als eine
Verbesserung der phänomenalistischen Analyse zu betrachten ist. Weiteren Anlass zur Kritik
bietet das Definitionsschema (1), insofern auf der Seite des Definiens kontrafaktische Redeweisen verwendet werden, für deren Deutung üblicherweise eine Mögliche-Welten-Semantik
herangezogen wird. Dummett (1978) hingegen schlägt die Verwendung der intuitionistischen
Logik über den Bereich der Mathematik hinaus vor, um Aussagen über kontrafaktische
Abhängigkeiten bei der semantischen Analyse von Dispositionstermen zu vermeiden.
Schließlich bleibt in Definitionsschema (1) ungeklärt, wie sich ein Sprecher auf einen
makroskopischen Gegenstand überhaupt beziehen kann. Der Vertreter des Phänomenalismus
müsste daher, so scheint es, zeigen, dass auch so genannte Sortale - Begriffe, mit denen wir
Einzelgegenstände individuieren - einer phänomenalistischen Analyse zugänglich gemacht
werden können.
3. Gibt es Aussagen über die sinnliche Erfahrung?
Betrachten wir nun die von Sellars vorgeschlagene Analyse des Verhältnisses von „looks red“
und „is red“. Die komplexen Ausdrücke „x looks red“ und „x is red“ unterscheiden sich, so
argumentiert Sellars, nicht in Bezug auf den propositionalen Gehalt, der diesen Aussagen
zuzuordnen ist. Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass in „x is red“ der propositionale
Gehalt einer Aussage behauptet wird, wohingegen durch „looks red“ dieser Gehalt nur
erwähnt, das Bestehen eines Sachverhalts nur als eine Möglichkeit erwogen, nicht aber
behauptet wird. Nach dieser Analyse ist die Äußerung „x looks red“ stets im Sinne der
Äußerung „It seems to be the case that x is red“ zu verstehen. Damit stellt Sellars generell in
Frage, dass es (propositional gehaltvolle) Aussagen über die sinnliche Erfahrung eines
-6-
Sprechers gibt und gelangt damit zu ähnlichen Konsequenzen wie Wittgenstein (1984) in
seiner Kritik an dem Konzept einer privaten Sprache.
Sellars bestreitet nicht, dass es eine Verbindung zwischen der Äußerung „x looks red“ und
der sinnlichen Erfahrung des Sprechers gibt. Dem Erfahrungsbezug soll jedoch Rechnung
getragen werden, ohne Sachverhalte auf der Ebene der Wahrnehmung anzunehmen. Zu
diesem Zweck führt er die Unterscheidung zwischen dem propositionalen und dem
deskriptiven Gehalt einer Äußerung ein. Die Bejahung des propositionalen Gehalts bedeutet,
dass das Bestehen von Sachverhalten behauptet wird. Der deskriptive Gehalt hingegen
bezieht sich lediglich auf die Erfahrung des Sprechers. In der Äußerung „I see that x is red“
wird der propositionale Gehalt von „x is red“ bejaht und zugleich von einer Erfahrung
berichtet, die sich nicht von der mit der Äußerung „x looks red“ verbundenen Erfahrung
unterscheidet. Durch „x looks red“ wird der propositionale Gehalt von „x is red“ nicht bejaht,
jedoch von der gleichen Erfahrung berichtet wie in der Äußerung „I see that x is red“.
Hier zeigt sich die folgende Schwierigkeit: Auf der einen Seite will Sellars die Berechtigung
der Rede von Erfahrungstatsachen bestreiten, auf der anderen Seite muss er dem Umstand
Rechnung tragen, dass die Äußerungen „x looks red“ von einer Erfahrung des Sprechers
berichtet. Nicht immer gelingt es ihm, die hierfür erforderlichen terminologischen
Operationen in konsistenter Weise durchzuführen. So stehen die beiden folgenden Aussagen
in einem offenbaren Widerspruch zueinander (EPM: 39, 41):
Such a minimal fact would be the fact that the necktie looks green to John on a certain
occasion, and it would be properly reported by using the sentence „This necktie looks
green.“ It is this type of account, of course, which I have already rejected.
Thus, when I say „x looks green to me now“ I am reporting the fact that my experience
is, so to speak, intrinsically, as an experience, indistinguishable from a veridical one of
seeing that x is green.
Wenn man genauer auf die - von mir vorgenommenen - Hervorhebungen in beiden Zitaten
achtet, wird deutlich, dass sich beide Aussagen widersprechen. In der ersten Aussage wird die
Existenz von Erfahrungstatsachen gänzlich geleugnet, während Sellars in der zweiten
Aussage selbst von solchen Tatsachen (facts) ausgeht. Es gelingt ihm daher nicht, auf
Erläuterungen gänzlich zu verzichten, die der Redeweise der Empiristen entstammen.
-7-
Die Entgegensetzung von propositionalem und deskriptivem Gehalt impliziert, dass der
deskriptive Gehalt einer Äußerung nicht durch diese Äußerung selbst behauptet werden kann.
Sellars und der von ihm kritisierte Phänomenalismus divergieren somit bereits im Hinblick
auf die Frage, ob es überhaupt Aussagen über die sinnliche Erfahrung gibt, die einen
propositionalen Gehalt haben und entsprechend zur Begründung von Wissensansprüchen
herangezogen werden können. Dass durch die Äußerung „x looks red“ kein genuiner
propositionaler Gehalt bejaht wird, ist Ausdruck ihrer epistemischen Irrelevanz im Rahmen
der von Sellars vorgenommenen Normierung. Als Begründung verweist der Verfasser von
EPM auf die oben diskutierte Widerlegung der phänomenalistischen Definition von
Farbprädikaten. Da diese Widerlegung, wie oben gezeigt wurde, auf einem Grundsatz beruht,
der keineswegs allgemein gültig ist, möchte ich hier auf Verwendungen der Äußerung „x
looks red“ eingehen, in denen eine Behauptung über visuelle Wahrnehmung gemacht zu
werden scheint.
Die Frage „Does x look red?“ scheint in Situationen sinnvoll zu sein, in denen der
angesprochene Gesprächspartner, nicht aber der Fragende selbst in der Lage ist, den wie auch
immer zu spezifizierenden Gegenstand wahrzunehmen. Die Möglichkeit der Bejahung dieser
Frage zeigt an, dass durch die Äußerung „x looks red“ eine Behauptung gemacht wird. Wenn
es sinnvoll ist, eine Frage zu bejahen und zu verneinen, dann muss mit dieser Frage auch ein
beurteilbarer Inhalt ausgedrückt werden, dessen Bejahung oder Verneinung jeweils einer
Behauptung gleichkommt. Oder, um erneut einen Bezug zur inferentiellen Semantik
herzustellen: Wenn die Äußerung ein sinnvoller Zug im Spiel des Gebens und Nehmens von
Gründen ist, dann wird es nötig sein, diese Äußerung als propositional gehaltvoll
anzuerkennen.4 Es ist nicht einsehbar, warum Äußerungen der Form „x looks in such and
such a manner“ nicht für die Begründung von Wissensansprüchen herangezogen werden
können.
Weitere Beispiele für propositional gehaltvolle Aussagen über die sinnliche Erfahrung eines
Sprechers lassen sich aufzeigen, wenn man Äußerungen analysiert, in denen eine
Gleichheitsbeziehung zwischen der Wahrnehmung eines Gegenstandes und der für eine
Gegenstandsklasse typischen Wahrnehmung ausgesagt wird. „x looks like an apple“ ist
hierfür ein Beispiel. In solchen Äußerungen scheint tatsächlich etwas behauptet zu werden; in
4. In der von Brandom (1994) entwickelten Sprachanalyse, die die Arbeiten von Sellars
weitgehend assimiliert, wird die Frage, was es heisst, dass eine Äußerung einen
propositionalen Gehalt hat, gerade darüber erklärt, dass sie im Rahmen des Gebens und
Nehmens von Gründen eine signifikante Rolle zu spielen vermag.
-8-
ihnen wird noch etwas Anderes zum Ausdruck gebracht als in der Äußerung „It seems to be
the case that x is an apple“. Dies wird besonders deutlich, wenn man Äußerungen zu
verschiedenen Wahrnehmungsweisen ein und desselben Gegenstandes miteinander vergleicht. Wenn die Äußerung „x tastes like an apple“ - gemäß der von Sellars vorgeschlagenen
Analyse - nicht als propositional gehaltvoll anerkannt wird, dann kann dieser Äußerung nach
Sellars nur der Gehalt von „x is an apple“ zugeordnet werden, der allerdings mit dieser
Äußerung nur erwähnt und nicht behauptet wird. So würde mit der Äußerung „x tastes like an
apple“ nichts anderes gesagt werden als „It seems to be the case that x is an apple“ - es
scheint der Fall zu sein, dass x ein Apfel ist. Der inhaltliche Unterschied zwischen „x tastes
like an apple“ und „x looks like an apple“ würde - auf der Ebene der propositionalen Gehalte
dieser Sätze - gänzlich verschwinden. Wenn jedoch die Äußerung „x tastes like an apple“ als
propositional gehaltvoll anerkannt wird, insofern mit dieser Äußerung eine Behauptung über
die geschmackliche Wahrnehmung eines Sprechers gemacht wird, dann müssten auch die
Äußerungen „x looks like an apple“ bzw. „x looks red“ als propositional gehaltvoll anerkannt
werden.
Betrachten wir auch die inferentiellen Beziehungen, welche die Äußerungen „x tastes like an
apple“ und „x looks like an apple“ haben, sofern diese Äußerungen als Behauptungen
verstanden werden. Aus „x looks like an apple“ können Aussagen über die geometrische
Gestalt von x gefolgert werden, was im Fall von „x tastes like an apple“ nicht möglich ist.
Den Unterschied der beiden in Rede stehenden Äußerungen anhand ihrer inferentiellen
Beziehungen zu analysieren, ist allerdings nur dann zulässig, wenn diese Äußerungen als
propositional gehaltvoll angesehen werden. Werden diese Äußerungen jedoch anhand der in
EPM eingeführten Unterscheidung zwischen propositionalem und deskriptivem Gehalt
analysiert, dann kann der zwischen ihnen bestehende semantische Unterschied nicht erfasst
werden.
Die von Sellars vorgeschlagene Analyse des Ausdrucks „look“ gibt sehr genau den Sinn von
Sätzen der Form „Es scheint der Fall zu sein, dass ... “ bzw. „It seems to be the case that ...“
wieder. In solchen Sätzen wird die Behauptung eher tentativ, also ohne wirkliche
Zustimmung des Sprechers vorgetragen. Es ist allerdings nicht offensichtlich, dass diese
Deutung auch auf Sätze der Form „x erscheint mir als rot“ bzw. „x appears red“ oder „x looks
red“ anzuwenden ist. Diese Sätze scheinen tatsächlich propositional gehaltvoll zu sein,
insofern in ihnen eine Aussage über die visuelle Erfahrung gemacht wird. Noch deutlicher
zeigt sich eine solche Behauptung in Aussagen der Form „x is looking-red“.
-9-
Gewiss ist es nicht unproblematisch zu sagen, dass es Sätze gibt, die etwas über die visuelle
Wahrnehmung eines Gegenstandes aussagen. Wenn man unter „Wahrnehmung“ das sinnlich
Gegebene versteht und dieses unseren begrifflichen Fähigkeiten gegenüberstellt, dann führt
dies zu verschiedenen Problemen, wie Sellars und andere Autoren aufgezeigt haben. Sofern
der Wahrnehmung eine epistemische Signifikanz zuerkannt werden soll, scheint es daher
nötig zu sein, eine bereits begrifflich geformte Gegebenheitsweise der Wahrnehmung
anzunehmen. Die hier betrachtete Variante des Phänomenalismus präsupponiert nicht einen
Begriff des Gegebenen, nach dem dieses als sinnliches Material frei von aller begrifflichen
Bestimmung ist. Auch Sellars unterscheidet klar zwischen Sinnesdaten-Theorien und einem
weiteren Begriff des Empirismus, den er ebenfalls durch seine Kritik zu erfassen sucht. Die
hier diskutierte phänomenalistische Definition von Farbprädikaten wird von ihm bereits als
empiristische Alternative zu den Sinnesdaten-Theorien dargestellt (EPM: 33).
4. Reliabilität
In der von Sellars entwickelten Normierung zur Rechtfertigung von Farbprädikationen
fungiert der Begriff der Reliabilität (Verlässlichkeit) als Dreh- und Angelpunkt (EPM: 76):
Thus, all that the view I am defending requires is that no tokening by S now of „This is
green“ is to count as „expressing observational knowledge“ unless it is also correct to
say of S that he now knows the appropriate fact of the form X is a reliable symptom of
Y, namely that (and again I oversimplify) utterances of „This is green“ are reliable
indicators of the presence of green objects in standard conditions of perception.
Nicht eine den Gegenstand betreffende Wahrnehmung, sondern allein die Äußerung (!) von
„This is green“ bildet die Evidenz für das Vorliegen grüner Objekte. Die Rechtfertigung einer
Farbprädikation müsste dementsprechend in der folgenden Art und Weise vorgenommen
werden:
(3) Ein Sprecher S äußert einen Satz der Form „This is green“.
- 10 -
(4) Es gibt eine Menge M von Sprechern, bei denen die Äußerung „This is green“ unter
Standardbedingungen nur dann erfolgt, wenn sich in ihrer Umgebung tatsächlich ein
grünes Objekt befindet.
(5) Der Sprecher S ist Element der Menge M von Sprechern.
Offensichtlich kann aus den Aussagen (3) bis (5) die Aussage „This is green“ gefolgert
werden. Versuchen wir uns genauer über den Begriff des verlässlichen Sprechers klar zu
werden. Dieser Begriff wird - für die Verwendung des Prädikates „green“ - durch die Aussage
(4) erläutert. Danach ist ein Sprecher genau dann reliabel in Bezug auf die Verwendung des
Farbprädikates „green“, wenn Äußerungen der Form „This is green“ nur dann vorgenommen
werden, wenn sich in seiner Umgebung tatsächlich ein grüner Gegenstand befindet. Wie
können wir herausfinden, ob ein gegebener Sprecher S reliabel in dem soeben spezifizierten
Sinne ist? Woher wissen wir, dass die Menge der verlässlichen Sprecher nicht leer ist? Sollte
es uns nicht möglich sein, diese Fragen zu beantworten, dann scheint Sellars´ Verlässlichkeitsansatz in den Agnostizismus zu führen.
Wie können wir die für verlässliche Sprecher behauptete Korrelation zwischen sprachlicher
Äußerung und physikalischer Umgebung feststellen? Die Wahrnehmung oder Erfahrung ist
nicht als mögliche Evidenzform für die Eigenschaften physikalischer Objekte vorgesehen.
Streng genommen schließt die von Sellars entwickelte Sprachnormierung sogar aus, dass
Sätze über die visuelle Wahrnehmung eines Sprechers als Prämissen fungieren, aus denen
etwas über die Eigenschaften raumzeitlicher Objekte gefolgert werden kann.5 Aus Sätzen der
Form „x looks red“ oder „x appears red“ kann vielmehr überhaupt nichts gefolgert werden,
weil in solchen Sätzen - nach Sellars - kein propositionaler Gehalt bejaht wird.
Die einzige Möglichkeit zur Prüfung der für verlässliche Sprecher behaupteten Korrelation
zwischen der Äußerung einer Farbprädikation und der physikalischen Umgebung des
Sprechers scheint darin zu bestehen, die aus der Physik bekannten Zusammenhänge zwischen
Farbworten und spezifischen Frequenzspektren zum Maßstab der Beurteilung zu machen. Im
Rahmen einer allgemeinen Verlässlichkeitstheorie müsste eine solche Beurteilung sich auf
Aussagen von der folgenden Form stützen:
5. Für eine ähnliche Kritik am Verschwinden der sinnlichen Erfahrung aus der Erkenntnistheorie in
EPM siehe auch McDowell (1996), S. xiv-xvi.
- 11 -
(6) Die Emission bestimmter Farbspektren I(f) ist unter Standardbedingungen ein
verlässliches Anzeichen dafür, dass der lichtreflektierende Gegenstand grün ist.
Offensichtlich führt dieser Weg zu ähnlichen Schwierigkeiten. Wenn die Aussage (6) nicht als
Definition des Prädikates „grün“ gelesen wird, dann stellt sich auch für diese Aussage die
Frage, wie wir ihren Wahrheitswert bestimmen können. Dies wird nur dann möglich sein,
wenn wir ein von der Spektralmessung unabhängiges Kriterium für die Präsenz grüner
Gegenstände haben. Nach einem solchen Kriterium haben wir jedoch gerade gesucht, als wir
die Messung des Frequenzspektrums ins Spiel gebracht haben. Es müsste daher angenommen
werden, dass der Zusammenhang zwischen Frequenzspektrum und Farbwort eine
definitorische Geltung besitzt:
(7) x ist grün =Df x emittiert unter Standardbedingungen bestimmte Frequenzspektren
I(f).
Eine solche Deutung ist insofern inadäquat, als die Korrelationen zwischen Farbprädikaten
und Intensitätsspektren üblicherweise experimentell bestimmt werden und daher zunächst
nicht eine Angelegenheit definitorischer Festlegungen sind. Dieser Umstand schließt eine
nachträgliche Umdeutung der Korrelationen als Definitionen von Farbprädikaten nicht aus;
allerdings müssten dafür pragmatische Gründe angegeben werden können. Solange die
visuelle Beurteilung mit der Frequenzmessung übereinstimmt, spielt es keine Rolle, ob die
Korrelationen per definitionem gelten oder festgestellt werden. Erst dann, wenn Divergenzen
auftreten, müsste im Fall der Annahme von Aussage (7) als Definition eines Farbprädikats die
visuelle Beurteilung durch die Frequenzmessung korrigiert werden.
Aus welchen pragmatischen Gründen sollten Farbprädikate nach dem Schema von Aussage
(7) definiert werden? Diese Vorgehensweise implizierte eine Bedeutungsverschiebung der
Farbprädikate, denn wir assoziieren mit solchen Prädikaten tatsächlich bestimmte
Wahrnehmungen. Es wäre dann streng genommen nicht mehr zulässig, die Farbworte
weiterhin zur Artikulation unserer visuellen Wahrnehmung zu verwenden. Die nichtdefinitorische Deutung der Korrelation zwischen Farbwahrnehmung und Frequenzmessung
hingegen lässt den Gebrauch der Farbworte unabhängig neben der Messung von Spektren
bestehen. Es gibt daher pragmatische Gründe gegen die Annahme von Aussage (7) als
Definition. Die Nachteile dieser Deutung werden durch den geringen Nutzen nicht
aufgewogen, den dieselbe für die physikalische Laborpraxis hätte. Dort ist das Interesse an
den Frequenzspektren größer als an der visuellen Erscheinungsweise; die Farbworte könnten
zur Bezeichnung bestimmter Frequenzen auch dann beibehalten werden, wenn die visuelle
- 12 -
Beurteilung der Farbe eines Gegenstandes nicht mehr mit den Ergebnissen der
Frequenzmessung im Sinne des durch die Aussage (6) behaupteten Zusammenhangs
übereinstimmt. Allerdings sind die ursprünglich der visuellen Beurteilung entstammenden
Farbworte viel zu ungenau, um in der wissenschaftlichen Praxis größere Bedeutung zu
erlangen.
Eine physikalisch-technischen Prüfung der Reliabilität von Sprechern führt also nicht weiter.
Da weder die visuelle Wahrnehmung noch die physikalische Messung geeignet sind, um die
Farben physikalischer Objekte zu erkennen, scheint es gänzlich unmöglich zu sein, die für
verlässliche Sprecher behauptete Korrelation zwischen sprachlicher Äußerung und
physikalischer Umgebung festzustellen.
Der Reliabilitätstheoretiker müsste an dieser Stelle - um seine Position aufrechtzuerhalten die Forderung nach einer direkten Prüfung abweisen. Er könnte z. B. mittels holistischer
Überlegungen dafür argumentieren, dass die Annahme der Reliabilität eines Sprechers nicht
gänzlich unbegründet ist. Ein Satz, der die Reliabilität eines Sprechers behauptet, ist Element
einer Menge von Sätzen, in der es eine große Vielfalt inferentieller Zusammenhänge gibt, so
dass jeder Satz dieses Systems durch seinen Zusammenhang zum Gesamtsystem getragen
wird. Doch diese Form der Rechtfertigung scheint viel zu vage und unbestimmt zu sein, um
akzeptiert werden zu können. Wenn ein Satz allein deshalb gut begründet wäre, weil seine
Komponenten in anderen Sätzen des Gesamtsystems von akzeptierten Sätzen auftreten, dann
müssten wir jede Behauptung, die keinen offensichtlichen Widerspruch zum Gesamtsystem
aufweist, als gut begründet betrachten. Der Begriff der Begründung würde damit seine
Signifikanz weitgehend verlieren.
Die Reichweite unserer Begründungen scheint daher zu gering zu sein, um die Annahme der
Reliabilität eines Sprechers gegenüber der gegenteiligen Annahme zu rechtfertigen. Die
Reliabilitätstheorie vermag in ihrem Rahmen nur zu zeigen, dass unsere Farbprädikationen
nur dann gerechtfertigt sind, wenn es verlässliche Sprecher gibt und wir zu dieser Gruppe von
Sprechern gehören. Die Frage, ob wir tatsächlich ein Wissen von den Eigenschaften
makroskopischer Gegenstände erlangen können oder vielmehr nichts von diesen
Gegenständen wissen, wird durch die Reliabilitätstheorie nicht beantwortet.
5. Zusammenfassung
Die Aufgabe, der ich mich mit dem vorliegenden Aufsatz gestellt habe, besteht weniger in
einer Verteidigung des Phänomenalismus als darin, den Übergang der Analytischen
- 13 -
Philosophie von phänomenalistischen Ansätzen hin zu einer „realistischen“ Erkenntnistheorie
anhand von Sellars´ EPM zu analysieren. Im Ergebnis dieser Analyse möchte ich die
folgenden Schwierigkeiten festhalten, mit denen die Argumentation dieser Abhandlung
behaftet ist. Sellars verwendet das Prinzip der semantischen Kompositionalität für
natürlichsprachige Sätze ohne jede Begründung, obwohl es streng genommen nur in der
Standardsemantik formaler Sprachen etabliert ist. Nach neueren Semantik-Konzeptionen,
wie der inferentiellen Semantik Brandoms (1994), kann dieses Prinzip nicht für die Analyse
natürlichsprachiger Sätze herangezogen werden. In Sellars eigener semantischer Deutung von
Erscheinungssätzen werden propositional gehaltvolle Aussagen über Erscheinungen ausgeschlossen. Dies ist insofern unplausibel, als wir damit keine Möglichkeiten mehr haben,
unterschiedliche Wahrnehmungsformen ein und desselben Gegenstandes auf der Ebene von
Aussagen zu artikulieren. So können Unterschiede zwischen der visuellen, geschmacklichen
und haptischen Wahrnehmung eines Gegenstandes im Kontext von Begründungen - in einem
Kontext also, in dem die verwendeten Sätze einen propositionalen Gehalt haben müssen nicht mehr erfasst werden. Abschließend habe ich zu zeigen versucht, dass die Annahme der
Reliabilitätstheorie - in der von Sellars dargestellten Form - eine agnostizistische Position
nahezu zwangsläufig impliziert.
Im Lichte dieser Ergebnisse muss die Auffassung in Frage gestellt werden, dass der Übergang
von phänomenalistischen Ansätzen hin zu einer „realistischen“ Erkenntnistheorie, wie der
Reliabilitätstheorie, einen Fortschritt in der Philosophie darstellt. Natürlich stützen sich die
hier formulierten Einwände gegen eine solche Auffassung nur auf den exemplarischen Fall
einer einzelnen Abhandlung, welche diesen Übergang vollzieht. Weitere Untersuchungen
müssten zeigen, ob andere Arbeiten von ähnlichen Schwierigkeiten betroffen sind wie
Sellars´ EPM. Im Bereich der Reliabilitätstheorie wird vor allem die von Brandom (1994)
dargelegte Fassung zu berücksichtigen sein, in welcher das Konzept der Reliabilität in eine
ganz neue Semantik-Konzeption eingebunden wird. Inwiefern sich phänomenalistische
Ansätze tatsächlich revitalisieren lassen ist eine Frage, die hier noch nicht beantwortet
werden kann. Der Versuch einer solchen Revitalisierung scheint mir aus zwei Gründen nicht
ganz abwegig zu sein. Erstens mögen weitere Untersuchungen zeigen, wie die Potentiale
modernerer Konzeptionen im Bereich der Semantik formaler und natürlicher Sprachen auch
für eine phänomenalistische Erkenntnistheorie genutzt werden können. Zweitens scheint der
Skeptiker, welcher eine agnostizistische Position zu etablieren sucht, immer dann ein leichtes
Spiel zu haben, wenn die in der Kritik stehende Erkenntnistheorie auf einer realistischen
Semantik basiert.
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Literaturverzeichnis
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