Am oberen Rand der kosmischen Strahlung Unter »kosmischer Strahlung« verstehen Astronomen Teilchen aus dem Weltraum, die mit hoher Geschwindigkeit auf die Erdatmosphäre treffen und dort Schauer von Sekundärpartikeln auslösen. Im Energiebereich von 1012 bis 1015 Elektronenvolt sind etwa die Hälfte von ihnen Protonen, rund ein Viertel Alpha-Teilchen (Heliumkerne), 13 Prozent schwerere Kerne wie Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff und ein Prozent Elektronen. Die Partikel der kosmischen Strahlung, von Victor Hess 1912 bei Ballonflügen mit Elektrometern erstmals beobachtet, kommen aus den unterschiedlichsten Quellen in und außerhalb der Milchstraße. Ein Teil stammt von der Sonne, aber der Ursprung der meisten Teilchen liegt in fernen Regionen unserer Heimatgalaxie. Die wichtigste Quelle bilden wohl die Überreste von Supernovae. Das erklärt zum Teil auch die hohe Geschwindigkeit der Partikel. So können sie durch direkte Beschleunigung in Stoßwellen von Supernova-Überresten bis zu 1016 Elektronenvolt erreichen. Verfeinerte Modelle für die Explosion massereicher Sterne ergeben sogar noch mehr als hundertmal höhere Energien für galaktische kosmische Teilchen. Partikel von außerhalb der Milchstraße überschreiten freilich selbst diesen Wert. So wurden mit dem »Pierre Auger«-Detektorfeld in Argentinien bis Ende 2007 immerhin 27 Teilchen mit mehr als 6·1019 Elektronenvolt registriert. Nach den Richtungen zu urteilen, aus denen sie kamen, stammen sie aus dem Umfeld so genannter aktiver Galaxienkerne (AGN, für englisch »Active Galactic Nuclei«), die in unserer kosmischen Nachbarschaft liegen. Oberhalb von 1018 Elektronenvolt sprechen Physiker von ultrahochenergetischer kosmischer Strahlung (UHECR, nach englisch »Ultra-High Energy Cosmic Rays«). Die gewaltige Energie solcher Partikel lässt sich erahnen, wenn man sich vorstellt, dass sie gut das Millionenfache der 7·1012 Elektronenvolt erreichen, die sich heute beim leistungsstärksten irdischen Teilchenbeschleuniger, dem gerade fertig gestellte Large Hadron Collider am CERN in Genf, in jedem der beiden kollidierenden Protonenstrahlen erzeugen lassen. Gibt es eine Obergrenze für die Energie der kosmischen Strahlung? Schon 1966 bejahten Kenneth Greisen von der Cornell-Universität in Ithaka (USBundesstaat New York) sowie unabhängig von ihm Georgiy T. Zatsepin und Vadim A. Kuzmin vom Lebedev-Institut der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau diese Frage. Sie leiteten theoretisch ab, dass das Energiespektrum der kosmischen Teilchenstrahlung oberhalb eines bestimmten 11 Wertes – Greisen nannte 1020 Elektronenvolt – relativ steil abfallen sollte. Der Grund für diesen so genannten GZK-Effekt ist, dass die Teilchen ab einer gewissen Energie nur noch eine begrenzte Reichweite haben, weil sie durch Wechselwirkung mit den Photonen der kosmischen Hintergrundstrahlung abgebremst werden. Diese Strahlung erschien schon etwa 380 000 Jahre nach dem Urknall. Damals wurde das Universum, das zuvor aus einem undurchsichtigen Plasma bestanden hatte, durch die Bildung von neutralen Wasserstoff-Atomen für elektromagnetische Strahlung transparent: In ihm ging gleichsam das Licht an. Wegen der Expansion des Kosmos hat sich dieses allgegenwärtige Leuchten inzwischen zu erheblich größeren Wellenlängen verschoben und liegt heute im Mikrowellenbereich. Nach seiner Entdeckung durch Arnold Penzias und Robert Wilson im Jahre 1965 haben Astronomen sein Planck-Spektrum bei zahlreichen Ballon- und Satellitenmissionen mit hoher Genauigkeit gemessen. Die energiereichsten kosmischen Teilchen – vor allem die Protonen – sollten an den Photonen dieser Hintergrundstrahlung gestreut werden und bei der Wechselwirkung mit ihnen zudem geladene oder neutrale Pionen bilden. Das sind Quark-Antiquark-Paare jener beiden Typen (Flavors) von Quarks, aus denen (als Trio) auch das Proton und das Neutron bestehen. Sie gehören zu den so genannten Mesonen und bilden die masseärmsten Vertreter von stark wechselwirkenden Teilchen (Hadronen). Sie sind allerdings instabil und zerfallen binnen kurzem wieder, wobei im Weltall die so genannten hochenergetischen GZK-Neutrinos und -Photonen entstehen. Die Pionen-Photoproduktion, wie Physiker den Vorgang nennen, beginnt ab einer bestimmten Energie der kosmischen Teilchen – etwas unterhalb von 1020 Elektronenvolt. Energiereichere Partikel sollten dadurch unter diesen Schwellenwert abgebremst werden. Allerdings legen die fast lichtschnellen Teilchen durchschnittlich eine Strecke von etwa fünfzig Megaparsec (160 Millionen Lichtjahre) zurück (zum Vergleich: Der Durchmesser der Milchstraßenscheibe beträgt rund dreißig Megaparsec), bis sie beim Zusammenstoß mit einem Photon ein Pion erzeugen. Dadurch können sie ungebremst zu uns gelangen, wenn sich ihr Ursprungsort in einem Umkreis von weniger als rund hundert Megaparsec befindet. Mit einem hundert Quadratkilometer großen Netz aus 128 Detektoren beim Akeno-Observatorium der Universität Tokio – dem Akeno Giant Air Shower Array (AGASA) – haben Anfang des Jahrzehnts japanische Forscher den GZKEffekt experimentell geprüft. Ihr Ergebnis, das sie im Jahr 2003 veröffentlichten, bot eine handfeste Überraschung: Der erwartete steile Abfall 12 im Energiespektrum oberhalb von 1020 Elektronenvolt war nicht zu sehen. Viele zweifelten an der Zuverlässigkeit der Messungen, doch manche Theoretiker stellten sogar Einsteins Spezielle Relativitätstheorie in Frage, um dieses Ergebnis zu erklären. Andere suchten nach weniger radikalen Deutungen für das unerwartete Resultat. Eine wäre etwa, dass nicht Protonen, sondern schwerere Kerne die Messergebnisse hervorriefen oder dass die beobachteten Signale indirekt durch schwach wechselwirkende Teilchen wie Neutrinos erzeugt wurden. Aber auch instrumentelle Fehler ließen sich nicht ausschließen. Inzwischen dürften all diese Überlegungen freilich gegenstandslos und auch Einsteins Relativitätstheorie wieder einmal gerettet sein. Schon 2007 gab es neue vorläufige Messdaten, die den AGASA-Ergebnissen widersprachen. Sie stammen von der Auger-Kollaboration sowie von Wissenschaftlern des »High Resolution Fly’s Eye Experiment« (HiRes) aus den USA. Letztere haben ihre Daten mittlerweile veröffentlicht (»Physical Review Letters«, Band 100, Seite 101101, 2008). In Übereinstimmung mit dem theoretisch vorhergesagten GZKEffekt ist in diesen Daten eine deutliche Unterdrückung der hochenergetischen kosmischen Strahlung jenseits von 6·1019 Elektronenvolt zu erkennen (Bild 1) – mit einer statistischen Signifikanz von mehr als fünf Standardabweichungen, was in der Teilchenphysik gemeinhin für eine Entdeckung ausreicht. Bild 1: Im höchstenergetischen Energiebereich oberhalb von 6·1019 Elektronenvolt zeigen die HiRes Daten (rot, schwarz) den erwarteten Abfall aufgrund des GZKEffekts, während die älteren AGASA-Daten (blau) weiter ansteigen. Die AugerKollaboration bestätigt HiRes mit noch besserer Statistik. 13 Das Experiment lief über eine Dauer von neun Jahren (1997–2006) in klaren mondlosen Nächten. Die Belichtungszeit war damit mehr als doppelt so lang wie bei AGASA. Zwei Messstationen in 12,6 Kilometern Entfernung mit 22 beziehungsweise 42 Teleskopmodulen sammelten und fokussierten Ultraviolett-Fluoreszenzlicht von Luftschauern, die von der primären kosmischen Strahlung ausgelöst wurden. Cluster von jeweils 256 Photomultipliern in der Brennebene jedes Teleskopmoduls dienten als »Kameras« für das Licht. In den Daten findet sich nicht nur der steile Abfall bei sehr hohen Energien, sondern auch ein lokales Minimum und ein leichter »Höcker« im Energiebereich darunter. Die HiRes-Kollaboration erklärt ihn mit einem weiteren, allerdings viel schwächeren Bremseffekt auf die höchstenergetischen Teilchen. Diese erzeugen bei der Wechselwirkung mit der kosmischen Hintergrundstrahlung, wie schon Greisens theoretische Analyse ergab, auch Elektron-Positron-Paare, was freilich weitaus weniger Energie kostet als die Produktion der wesentlich massereicheren Pionen. Strahlungsteilchen mit mehr als 1020 Elektronenvolt werden dadurch nur leicht abgebremst und so in den Höckerbereich verschoben, wo sie die Anzahl der dort gefundenen Partikel vermehren. Möglicherweise spiegelt der leichte Anstieg im Spektrum aber auch den Übergang zur galaktischen Komponente der kosmischen Strahlung wider. Die Resultate der Auger-Kollaboration stimmen weitgehend mit den HiResErgebnissen überein (»Physical Review Letters«, Band 101, Seite 061101, 2008). Dabei sind sie noch deutlich besser abgesichert. Sie beruhen auf Untersuchungen, bei denen auf einem riesigen Detektorfeld in Argentinien zwischen Januar 2004 und August 2007 etwa 20 000 UHECR-Ereignisse registriert wurden – rund doppelt so viele wie bei HiRes. Auch hier findet sich ein deutlicher Abfall des Energiespektrums, der allerdings schon etwas früher beginnt, nämlich bei 4·1019 Elektronenvolt. Damit scheint der GZK-Effekt endgültig bestätigt. Zwar gibt es laut Johannes Blümer von der Universität Karlsruhe eine denkbare alternative Erklärung für den beobachteten Abfall im Spektrum: Er könnte auch darauf beruhen, dass weniger Strahlung im höchsten Energiebereich entsteht als gemeinhin angenommen. Blümer selbst und die meisten Kollegen halten das jedoch für unwahrscheinlich. Derzeit untersucht die Auger-Kollaboration die Zusammensetzung der hochenergetischen Partikel, um insbesondere Protonen und schwerere Kerne – vor allem Alphateilchen – zu unterscheiden. Der nun wohl bewiesene GZK-Effekt hat auch eine wichtige praktische Anwendung für die Astronomen. Da er die Strahlung niedriger Energie 14 ausblendet, die vom ganz fernen Kosmos stammt, kann man diesen Effekt als Entfernungsfilter einsetzen, um nur nahe Quellen zu sehen. »Das hätte sich Greisen wahrscheinlich nicht träumen lassen« meint dazu Johannes Blümer. Zu den energiereichsten Boten aus dem All, die auf die Erde treffen, zählt neben materiellen Teilchen auch Gammastrahlung. Sie ist sogar noch aussagekräftiger, weil Photonen anders als die geladenen kosmischen Teilchen nicht durch Wechselwirkung mit Magnetfeldern abgelenkt werden und somit aus der Richtung ihrer Quellen auf dem kürzesten Weg zu uns gelangen. Trotzdem können auch sie die Weiten des Kosmos nicht völlig ungestört durchdringen. Vielmehr interagieren sie mit dem extragalaktischen Hintergrundlicht: dem schwachen, diffusen Leuchten des Nachthimmels, das aus verschiedenen extragalaktischen Quellen stammt und die kosmische Hintergrundstrahlung als eine Komponente enthält. Bild 2: Kurz nach Sonnenuntergang wird das MAGIC-Teleskop auf der Kanareninsel La Palma in 2200 Metern Höhe auf seine Messungen in der Nacht vorbereitet. Der Spiegeldurchmesser beträgt 17 Meter, die Lichtsammelfläche 236 Quadratmeter. 15 Bei dieser Wechselwirkung verwandeln sich die Gammaquanten in Elektron-Positron-Paare. Deren Zerfall durch Paarvernichtung liefert zwar wieder Photonen, die jedoch in der Regel eine andere Frequenz und Richtung haben. Auch Gammastrahlung über ca. 50 Milliarden Elektronenvolt sollte deshalb nur aus nicht allzu weit entfernten Quellen zu uns kommen. Umso mehr überrascht, dass Wissenschaftler mit dem MAGIC-Teleskop (»Major Atmospheric Gamma-Ray Imaging Cherenkov Telescope«; Bild 2) auf La Palma einen Ausbruch von Gammastrahlung von einem Quasar namens 3C 279 entdeckt haben, der über fünf Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt ist (»Science«, Band 320, Seite 1752, 2008; die Messung war bereits 2006). Sie stammt aus der Umgebung des Schwarzen Lochs im Zentrum dieser aktiven Galaxie, das etwa eine Milliarde Sonnenmassen enthält. Die zugehörige Akkretionsscheibe emittiert im gesamten Energiespektrum von Radiowellen über optisches Licht bis zu hochenergetischer Gammastrahlung. MAGIC hat im Bereich von 8·1010 bis über 3·1011 Elektronenvolt gemessen. Der Quasar 3C279 hat eine Rotverschiebung von z = 0,536 und ist demnach mehr als doppelt so weit entfernt wie alle zuvor im Gammalicht beobachteten Galaxien. Im Energiebereich über 5·1010 Elektronenvolt ist er das bisher entfernteste im Gammalicht beobachtete kosmische Objekt überhaupt. Dass er sich trotz der enormen Distanz in diesem Spektralbereich erkennen lässt, kann nur eines heißen: Die Dichte des extragalaktischen Hintergrundlichts ist geringer als bisher angenommen. Beiträge zum Hintergrundlicht zusätzlich zu den bekannten optischen und infraroten Quellen sind dadurch anscheinend ausgeschlossen. Das MAGIC-Resultat untermauert ein Ergebnis, das 2006 bereits Forscher mit den H.E.S.S.-Teleskopen in Namibia erhielten. Bei der Beobachtung zweier etwa zwei Milliarden Lichtjahre entfernter Quasare (Rotverschiebungen 0,165 und 0,186) hatten sie festgestellt, dass die von den Quasaren ausgesandten hochenergetischen Photonen im Energiebereich um 1012 Elektronenvolt nicht so stark durch Elektron-Positron-Bildung bei Stößen mit Photonen des extragalaktischen Hintergrundlichts vernichtet werden wie erwartet; es geht also nur ein relativ kleiner Teil von ihnen auf dem Weg zur Erde verloren: Das intergalaktische Medium ist für Gammastrahlung transparenter als gedacht. www-akeno.icrr.u-tokyo.ac.jp/AGASA hires.physics.utah.edu, www.auger.org www.mpi-hd.mpg.de/hfm/HESS, wwwmagic.mppmu.mpg.de 16 Oktober 2008