DIE FORMALEN BEDINGUNGEN DER ZELLEN

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DIE FORMALEN BEDINGUNGEN DER ZELLENLEHREN UND IHR VERHÄLTNIS ZU ADJUNGTEN
THEORIEN
Theorien organischer Materie widmen ihr wissenschaftliches Interesse
den faszinierenden Gestalten und Erscheinungsweisen der lebendigen
Naturkörper; bereits die Komplementarität dieser Menge zu der verbleibenden unbelebter Körper läßt den Zwiespalt von Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit beider Klassen in einer übergreifenden Wissenschaft entstehen; die über das 19. Jh. zunehmende Etablierung der physikalischen
Naturbeschreibung in noch unerschlossen gebliebenen Domänen und ihre
scheinbare Beständigkeit in den bereits angestammten ließ gegenüber
dem revolutionsreich schwankenden Geschick der physiologischen Disziplinen vordergründig nur von der einen Alternative der Konfliktlösung
sprechen, entweder den Organismus mit physikalischer Akribie zu rekonstruieren oder mit scharfem Spürsinn der Eigengesetzlichkeit physiologischer Objekte nachzugehen. Beide Disziplinen, Physiologie und Physik,
schufen sich aus solchen unterschiedlichen Motiven ihre je eigene Herausforderung in Hinsicht auf die andere:
Die Physiker, die man doch sonst der Hypothesensucht nicht beschuldigen kann, sind allzu leicht geneigt, physikalische Hypothesen über die Erscheinungen der organischen Körper, die keinen empirischen Grund haben, aufzunehmen [sic]. Die organischen Kräfte müssen mit demselben
Fleiss untersucht werden, wie die allgemeinen physikalischen Kräfte; und
man muss für die Kenntniss dieser organischen Kräfte erst eine möglichst
reine Empirie haben, [...]
Man muss sich hüten, an sich interessante Facta, aus welchen sich jedoch
keine sicheren Schlüsse ziehen lassen, als Beweise einer aufgestellten
1
Hypothese anzunehmen.
1
J. MÜLLER (1832, pp. 573, 560-561); vgl. etwa auch die anders gesinnten Auffassungen von E. DU BOIS-REYMOND auf den pp. XXIII-XXIV (physiologierelevante Lehren
der Physik), XXV-XXXIII (Physiologie und Physik stellen Wirkungen als
„Functionen“ „aller der bekannten und unbekannten Umstände“ im Versuch dar),
XXXIII (unterschiedliche Entwicklungsgrade der „mathematischen Behandlungsweise“ in Physik und Physiologie, die aber beide deswegen nicht verschiedenwertig
sind) und XXXIV-L (dreifache Problematisierung des Lebenskraft-Begriffes überhaupt in der Physiologie) der Vorrede zu den Untersuchungen über thierische Elektrizität (1848).
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Formale Bedingungen der Zellenlehren
In der physikalistischen Denkungsart wurde die Komplexität des Organismus dasjenige, auf welches in immer entschuldigender Geste verwiesen werden konnte, wenn physikalische Prinzipien in der Anwendung am
biologischen Objekt nicht den gewünschten Erfolg herbeiführten; in der
Physiologie hingegen wurde es der Begriff der Lebenserscheinung, der
lebenstypische Phänomene kontrastierend mit den physikalischen der unorganischen Natur hervorheben sollte, aus welcher Abgrenzung sich die
physiologische Disziplin wiederum die Berechtigung zu einer eigenen
wissenschaftlichen Methodik herleitete; dennoch liebäugelte sie zugleich
mit dem hochangesetzten Ruf des Physikalismus, der eine Übertragung
auf das eigene Gebiet entgegen allen Sonderheiten der Lebenserscheinungen um so reizvoller machte, so daß sich aus diesen gegenläufigen
Tendenzen Zuneigung und Ablehnung zweier Disziplinen wechselweise
bedingten.
Eine der größten Herausforderungen für Theorien der organischen
Materie wurde bereits im Rahmen der anatomischen Zergliederungskünste des 18. Jh. der Hinweis einiger Naturforscher auf die
mikroskopisch erschließbare Binnenstruktur von Pflanzen und Tieren und
dann – in nicht mehr schleichendem Maße – die Lehre von der
Zellstruktur; die Herausforderung der letzteren Lehre wurde im 19. Jh. in
fast übersteigerter Weise durchlebt – alleine schon wegen der
progredienten Dienlichkeit technischer Randbedingungen (Mikroskopie,
Gewebs-Präparation, Mikro-Manipulation). Die Herausforderung bestand
darin, den Binnenstrukturen – und besonders denen der Zelle als iterierter
Struktur – Funktionen beizuordnen, aus deren Multiplizität die
Erscheinungsformen der Organismen derivierbar würden.
Seitdem kommt eine Theorie organischer Materie ohne einen mikroskopisch gefaßten Strukturbegriff nicht mehr aus; die Mikrostruktur ist
dabei das nächste Beschreibbare am Organismus, welches demjenigen
gegenübertritt, was in der Homogenität der einbettenden Substanz untergeht; dieser Mikrokosmos wird im ‚invertierten Teleskop’ der klassischen
Zellforschung emporgehoben und auf einer Ebene zur Schau gestellt, in
der auch das Komplementäre, das ferne Makroskopische, seinen sinnlichen Niederschlag findet. In der gegenwärtig praktizierten Molekularbiologie sind die Verhältnisse dazu insofern konträr, als durch diese
neuere Forschungsmethodik die submikroskopische stoffliche Basis der
organischen Materie in das gebänderte Muster der Gelchromatogramme
transformiert wird; der zell-strukturelle Aspekt ist viel entschiedener vorausgesetzt und der gesuchte funktionale weit offener.
Eine erste Orientierung an der organischen Individualgestalt läßt zuvorderst zwei Strukturbegriffe unterscheidbar werden; die innere Struktur
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der Gestalt und die äußere, von der sie umgeben ist; die Zelltheorie wäre
ein Exempel für den ersten, die Evolutionstheorie für den zweiten Fall.
Unter Zugrundelegung eines möglichst weitgefaßten Strukturbegriffes
wären somit Zell- und Evolutionstheorie in bezug auf die Individualgestalt komplementäre Theorien; denn wesentliche Anteile der
Zelltheorie bzw. der Evolutionstheorie befassen sich mit der inneren
Struktur des Individuums Zelle bzw. der äußeren, umgebenden Struktur
des gewöhnlich verstandenen Organismus in der Erscheinung als Tier
oder Pflanze.2
Zusammen mit der regulativ gearteten Auffassung, daß Zellen aus einem inneren Prinzip heraus und daher als Zellindividuen in Wechselwirkung mit äußeren Momenten des organischen Kollektivs eine Metamorphose durchlaufen können, verbindet sich sogar eine formale Übertragbarkeit der Zellenlehre auf die Evolutionstheorie bzw. auf den Widerstreit
des Individualprinzips der Variation mit dem kollektiven Prinzip der Selektion; diese Möglichkeit zu einer Transformation beider zunächst komplementärer Lehren ineinander soll in dieser Arbeit jedoch nicht weiter
herausgefordert werden; es sollte hier nur der historisch gegebenen Möglichkeit erwähnt werden, daß die Zellenlehre in zweifacher Weise ein gedankliches Experimentierfeld für ihre gleichsam jüngere Schwester hatte
bilden können. Eine andere Form der Transformation wird hingegen in
2
Es kann wohl darüber gestritten werden, ob ein weitgefaßter Strukturbegriff nicht besser durch ein Prinzip der Ordnung zu ersetzen wäre; dann könnte unter Umständen
eine sehr dynamisch zu begreifende Struktur substituiert werden durch ein ziemlich
konstantes Ordnungsmaß, – z.B. die eines Bienenschwarmes durch das ihres höchsten
Produktes; denn die diffuse Struktur des Schwarms beinhaltet nur insofern einen hohen Grad an Ordnung, als aus ihr eine neue Struktur hervorgehen kann – wie es
bereits ein einfallsreicher Kenner der Metamorphosenlehre gezeichnet hat:
Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten und schließt zuletzt ab mit der
Blüte und dem Samen. In der Tierwelt ist es nicht anders. Die Raupe, der
Bandwurm, geht von Knoten zu Knoten und bildet zuletzt einen Kopf; bei
den höherstehenden Tieren und Menschen sind es die Wirbelknochen, die
sich anfügen und anfügen und mit dem Kopf abschließen, in welchem
sich die Kräfte konzentrieren.
Was so bei Einzelnen geschieht, geschieht auch bei ganzen Korporationen. Die Bienen, auch eine Reihe von Einzelnheiten, die sich aneinander
schließen, bringen als Gesamtheit etwas hervor, das auch den Schluß
macht, und als Kopf des Ganzen anzusehen ist, den Bienen-König. Wie
dies geschieht ist geheimnisvoll, schwer auszusprechen, aber ich könnte
sagen, daß ich darüber meine Gedanken habe.
(J. W. GOETHE, Freitag den 13. Februar 1829, in: J. P. ECKERMANN, 1998, p. 326)
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einigen Ansätzen der folgenden Analysen thematisiert werden; sie bezieht sich auf das Verhältnis formaler Elemente der Zellenlehre zu denjenigen der Chromosomentheorie. Diese Reflexionen mögen zudem eine
Konfrontation der historisch geschöpften Elemente mit solchen der gegenwärtig praktizierten molekularbiologischen Forschung anregen.
Die Lehre von der Zelle ist also aus historischer Sicht primär eine
Strukturlehre; diese Entwicklungsrichtung evozierte nachträglich weitere
Fragen; einmal wie die Substanz es vollbringe, Strukturen zu bilden, und
wie diese Gebilde dann die Erscheinungen bedingen würden, die am Organismus zu Tage treten und den Inhalt des Lebensbegriffes ausmachen.
Wie auch immer der Durchlaufungssinn zwischen diesen drei Komponenten bestimmt werden mag – der angebotene von Substanz zu Struktur
und Funktion entspricht eher der physiologisch gängigen Denkungsart – ,
so ist doch zuzugestehen, daß die Zellenlehre mit der Zeit ganz besonders
in Abhängigkeit von den Funktionen geriet, die Substanz oder Struktur
übernehmen konnten; die wissenschaftliche Arbeit überführte die morphologische Zellenlehre so weit in eine Funktionenlehre, daß in einer
Umkehr der früheren Verhältnisse die Funktionen es schließlich sein
konnten, von denen die Bestimmungen der Strukturen ausgingen.3
Der Begriff der Funktion ist absichtlich seiner Doppeldeutigkeit wegen
gewählt, um nicht sogleich in die Diskussion um mechanistische oder teleologische Kausalität zu verfallen; die Doppeldeutigkeit des Begriffs
zeigt sich in der zweifachen Auffassungsweise der übergeordneten Frage
nach der Funktion eines organischen Teiles, etwa des Auges; in der direkten Formulierung, wie das Auge funktioniere, läßt sich eine mechanistische Antwort erwarten; dazu wird eine Kausalkette als die gedankliche
Verknüpfung sinnlicher Momente errichtet, z.B. der jeweiligen
Halbstrahlen des gebrochenen Lichtstrahls durch das Brechungsgesetz.
Und in der alternativen direkten Formulierung, welches die Funktion des
Auges sei, läßt sich eine teleologische Antwort erwarten, bei der einem
irgendwie bereits verstandenen Mechanismus ein Moment der Zweckmäßigkeit beigelegt wird; das Auge diene z.B. der Zubereitung von Wechselwirkungen des Organismus mit der Umwelt für eine effektive Gestaltung des visuellen Sinnes. Nur der Mechanismus ist von seiner sinnlichen
Seite einer empirischen Überprüfung zugänglich; nicht der teleologische
Gehalt, da selbst ein abweichend errichteter Mechanismus – etwa eine
Emanationstheorie des Sehens – den Zweckgedanken nicht aufzuheben
braucht.
Funktionen zeichnen sich also auch dadurch aus, daß in ihnen die
sinnlich erfaßbare Welt überstiegen wird; dieser Hinübergang kann auf
3
Vgl. etwa die weiter unten präsentierte Auffassung von Th. HUXLEY (1853).
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unterschiedlichen Wegen vollzogen werden, – durch den Einsatz spekulativer Gedanken, durch regulative oder konstitutive Hypothesen oder
durch eine zweite Art der Beobachtung im Experiment; das Beilegen von
Funktionen ist folglich methodenrelativ; die Wahl der Methode liegt im
Ermessensbereich menschlichen Handelns und kann sich daher einer
ethischen Dimension nicht entziehen.
Und noch in einer zweiten Hinsicht tauchen bezüglich des Funktionsbegriffs bioethische Fragestellungen auf, – insofern diese nämlich nach
einer Aufklärung des Begriffes vom organischen Leben streben. Organisches Leben zeigt sich seitens der Physiologie entweder unmittelbar in
den Lebenserscheinungen oder mittelbar in solchen Funktionen, die zu
lebensspezifischen Funktionen erhoben werden können; nur die letzteren
bieten eine Erklärung der Lebenserscheinungen organischer Materie und
tragen zum Gehalt eines wissenschaftlichen Begriffs des organischen Lebens bei. Die Lebenserscheinungen bemessen sich aber wiederum an der
ethisch bestimmten Idee des Lebens; damit ergibt sich die Frage, ob der
wissenschaftlich erhaltene Begriff des organischen Lebens den bioethischen Diskurs bereichern kann oder nicht.
Der methodenrelative Zusammenhang von Strukturen und Funktionen
und der an der Idee des Lebens gemessene von Funktion und Lebenserscheinung werden also jeweils ethischen Anforderungen entsprechend
verknüpft; wenn beide Aspekte in der folgenden historisch und analytisch
gehaltenen Darlegung der Entwicklungen des Zellbegriffs nicht zur Sprache gebracht werden, dann ist bereits jetzt darauf hinzuweisen, daß durch
diese Enthaltsamkeit gerade gezeigt werden soll, unter welchen Gesichtspunkten die Bio- sowie Medizinethik eine Verständigung über den Begriff des organischen Lebens mit den Lebenswissenschaften erreichen
können und unter welchen eben nicht; denn dazu bedarf es vorweg eines
Verständnisses der forschungsimmanenten Handhabung vitaler Gebilde;
diese letztere Weise der Einsicht kann und soll auch nur von einer analytischen Geschichte des Zellbegriffs vermittelt werden.
Abschließend wäre der Sichtweise vorzubeugen, daß eine am Zellbegriff orientierte Analyse in ihrer Tragweite selbst für die physiologischen
Wissenschaften eine nur restringierte Gültigkeit der Beschreibung und
Erfassung dieser Wissenschaft in Anspruch nehmen könne; die gebotene
Analyse ist aber nur scheinbar thematisch gebunden, sie ist vielmehr in
einem weitergehenden Sinne exemplarisch; denn ihr prinzipieller Gehalt
ist auf andere Gebiete der Forschung in den Lebenswissenschaften übertragbar, in denen durchweg morphologische Daten und funktional verstandenes Geschehen eine Verbindung zu Konzepten organischer Materie
eingehen.
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