Zahlen aus kognitionspsychologischer Sicht 1. Tiermathematik

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Pädagogische Hochschule Ludwigsburg – Institut für Mathematik und Informatik
Sonderpädagogische Aspekte des Erstrechnens (Mohr)
Wintersemester 2004/05: Mo, 15.45–17.15 Uhr, L 301
Zahlen aus kognitionspsychologischer Sicht
Lit.: Dehaene, Stanislas (1999): Der Zahlensinn, Basel: Birkhäuser
1. Tiermathematik
Neuere Forschungen belegen, dass auch Tiere (z.B. Ratten, Makaken, Schimpansen) über
abstrakte Vorstellungen für Zahlen verfügen, Anzahlen vergleichen können und über erste
Ansätze von Additionsvermögen verfügen. Schimpansen konnten sogar schon auf
symbolisches Manipulieren von Zahldarstellungen trainiert werden. Man führt dies auf einen
Bereich des Gehirns zurück (protonumerisches Modul, Akkumulator), der auch dem
Menschen eigen ist.
Auffällig ist:
1. Zwei Anzahlen werden umso besser unterschieden, je größer ihre Differenz ist (2<6 wird
stabiler erkannt als 4<5) und je kleiner die vorkommenden Zahlen sind (2<3 wird stabiler
erkannt als 7<8).
Erklärung: Die mentale Repräsentation der Anzahlen ist nicht diskret, sondern analog (ähnlich
dem Wasserstand eines Füllspeichers).
2. Die Fähigkeiten können von anderen Daseinsaspekten überlagert werden (Die Schimpansin
Sheba erkannte 2<6 symbolisch, griff bei Anzahlen von Leckereien jedoch stets zur größeren
Menge, auch wenn diese dann ein zweiter Schimpanse erhielt).
3. Der mentale Zahlenstrahl scheint nicht äquidistant strukturiert zu sein. Im Experiment mit
Ratten erwies sich 4 als Mittelwert von 2 und 8.
2. Rechenfähigkeiten von Babys
Entwicklungspsychologischer Konstruktivismus (PIAGET): In der sensomotorischen Phase
(1.–2. Lebensjahr) können Kinder definitiv nicht rechnen und auch bis zum Alter von sechs
oder sieben Jahren ist keine Bereitschaft zum Rechnen vorhanden.
Konsequenz in der Pädagogik: Pessimismus, abwartende Haltung im Hinblick auf
Arithmetikunterricht.
Neuere Forschungen mit Versuchsumgebungen wie bei den rechnenden Tieren erweisen das
Gegenteil!
Bsp.: PIAGETS berühmter Versuch zur Mengeninvarianz: Zwei Reihen angeordneter Dinge
(4–10 Stück) sollen verglichen werden. Laut Piaget wählt ein drei- bis vierjähriges Kind stets
die längere Reihe, auch wenn sich darin weniger Objekte befinden. Interpretation: Kinder
dieses Alters verfügen nicht über einen Begriff von Mengeninvarianz.
Variiert man den Versuch so, dass Bonbons verwendet werden und Kinder die ausgewählte
Reihe aufessen dürfen, wird stabil die Menge mit der größeren Anzahl ausgewählt – auch
dann, wenn die entsprechende Reihe kürzer ist (und dies ab dem Alter von zwei Jahren).
Analyse: Kinder im klassischen Piaget-Versuch verstehen den Versuchsleiter falsch. Der
Piaget-Versuch in seiner klassischen Form ist ungeeignet, herauszufinden, wann Kinder
beginnen, einen Zahlbegriff zu entwickeln.
Neuere Versuche:
• Neugeborene ab drei bis vier Tage nach der Geburt können zwischen zwei und drei
unterscheiden. Dies gilt für die Anzahl von Objekten auf Dias, die Anzahl Silben in
Unsinnswörtern sowie für eine Kopplung von akustischen und visuellen Reizen!
• Babys (4–5 Monate alt) wissen, dass 1+1=2, 2 – 1=1 ist!
• Unterscheidung zwischen 3 und 4 gelingt Kleinkindern (<1 Jahr) nur selten; 4, 5 oder
6 wird nie unterschieden (im Gegensatz zu erwachsenen Schimpansen!).
• Hypothese: Vor dem Alter von 15 Monaten gibt es keine bemerkenswerte ordinale
Kompetenz (z.B. Erkennen von 3>2), d.h. das Anzahlverständnis ist für jede Zahl
isoliert.
3. Zahlauffassung bei Erwachsenen
Vielfältige Versuche ergaben: Beim Erfassen von Mengen arbeitet das Gehirn mit zwei
Mechanismen: Mengen von 1 bis 3 werden unmittelbar erfasst (Subitisation, kein
Zählvorgang, eher ein Schätzen), größere Anzahlen werden gezählt.
Spezialfall des Weberschen Gesetzes (Multiplikationsprinzip, Skalargesetz): Verschiedene
Anzahlen werden nur dann als verschieden erkannt, wenn das Verhältnis zwischen ihrer
Differenz und der kleineren Anzahl eine bestimmte Schwelle überschreitet (z.B. entspricht
das Erkennen von 13>10 dem Erkennen von 26>20).
Diese Fähigkeiten (Subitisation und Konstanz der Unterschiedsschwelle) bauen nicht auf
mathematischen Fähigkeiten auf, sondern entsprechen den protonumerischen Fähigkeiten der
Tiere.
Weiterer Beleg ist der Distanzeffekt bei Menschen: Die Auswahl der größeren Zahl von zwei
vorgegebenen ist abhängig von der Größe der Differenz (z.B. wird 9>2 schneller erkannt als
9>8) und von der absoluten Größe der Zahlen.
Interpretation: Das Gehirn erkennt hinter der symbolischen Darstellung der Zahlen sofort die
entsprechende Kardinalität (Anzahl) einer Menge. Der mentale Zahlenstrahl ist logarithmisch
strukturiert, d.h. je größer die Zahlen, desto stärker zusammengedrängt sind sie (Wieviel
müssen Sie zu einer Million drauflegen, damit es eine Milliarde wird?)
Weitere Untersuchungen ergaben, dass Zahlen im westlichen Kulturraum mental von links
nach rechts angeordnet sind. Es ergeben sich sogar statistisch signifikante Farbverknüpfungen
(schwarz–0/8, weiß–1/9, gelb, rot, blau entsprechen kleinen Zahlen wie 2, 3, 4 usw.).
Alle diese mentalen Repräsentationen lassen sich deuten als Früchte einer evolutionär
bedingten Fähigkeit, die vor jeder mathematischen Begabung besteht und ohne das
symbolische Operieren auskommt, das die Mathematik so leistungsfähig macht. Diese Art
mentaler Entsprechung gibt es allerdings nur für die natürlichen Zahlen!
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