NL 2005, 273

Werbung
EGMR
Bader u.a. gg. Schweden
Urteil vom 8.11.2005
Kammer II
Bsw. Nr. 13.284/04
Drohende Abschiebung einer zum Tod verurteilten Person
Art. 2 EMRK
Art. 3 EMRK
Sachverhalt:
Bei den vier Bf. handelt es sich um ein Ehepaar und seine beiden minderjährigen Kinder.
Alle vier sind syrische Staatsbürger. Nach
ihrer Einreise nach Schweden am 25.8.2002
beantragten die Bf. Asyl. Der ErstBf. brachte
vor, er sei im Dezember 1999 verhaftet und
neun Monate lang festgehalten worden, weil
die Polizei Informationen über seinen Bruder
erlangen wollte, der desertiert sei. Nach seiner
Entlassung sei er noch viermal von der Sicherheitspolizei festgenommen und befragt worden,
wobei er auch Misshandlungen erlitten hätte.
Am 27.6.2003 wies das Migrationsamt (Migrationsverket) den Asylantrag der Familie ab
und ordnete ihre Abschiebung nach Syrien an.
Nach Ansicht der Behörde bestand für die Bf.
in Syrien keine Gefahr einer Verfolgung. Das
dagegen erhobene Rechtsmittel wurde von der
Berufungsbehörde (Utlänningsnämnden) am
16.9.2003 abgewiesen.
Im Jänner 2004 stellte die Familie einen
neuen Asylantrag. Sie legte eine beglaubigte
Abschrift eines Urteils eines syrischen Gerichts
vom 17.11.2003 vor, durch das der ErstBf. in
Abwesenheit wegen Beteiligung an einem Mord
zum Tod verurteilt worden war. Der ErstBf.
behauptete gegenüber der Asylbehörde, nichts
mit dem Mord zu tun zu haben. Er erklärte
auch, dass seine Anhaltung zwischen Dezember 1999 und 9.9.2000 in Zusammenhang mit
diesem Strafverfahren erfolgt sei.
Ein auf Ersuchen der Asylbehörde von der
schwedischen Botschaft in Syrien mit Ermittlungen beauftragter Rechtsanwalt bestätigte
die Echtheit des Urteils. In einem Schreiben an
die Asylbehörde gab die Botschaft an, dass es
nach Ansicht des Anwalts wahrscheinlich zu
einer Wiederaufnahme des Verfahrens käme,
sobald der Angeklagte auffindbar sei und es
sehr wahrscheinlich wäre, dass das gesamte
Verfahren neu durchgeführt werde. Die Botschaft fügte hinzu, dass der Angeklagte den
ihr vorliegenden Quellen zufolge persönlich
anwesend sein müsse, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Über die Häufigkeit der Verhängung und Vollstreckung von
Todesurteilen lägen keine Informationen vor,
doch würde diese nach Auskunft des Anwalts
nur sehr selten verhängt. Nicht ungewöhnlich
sei es hingegen, dass syrische Gerichte die
Todesstrafe verhängten, wenn der Angeklagte
trotz Vorladung nicht vor Gericht erscheine.
Die Berufungsbehörde wies den Asylantrag
am 7.4.2004 ab. Die Behörde sah es aufgrund
der Ermittlungen des syrischen Anwalts als
erwiesen an, dass der Strafprozess gegen den
ErstBf. im Falle seiner Rückkehr nach Syrien
wiederaufgenommen und in dem neuen Verfahren die Todesstrafe nicht verhängt würde.
Nach Empfehlung einer entsprechenden
vorläufigen Maßnahme nach Art. 39 VerfO
durch den GH gewährte das Migrationsamt am
19.4.2004 einen Aufschub der Durchsetzung
der Abschiebungsentscheidung.
Rechtsausführungen:
Die Bf. bringen vor, der ErstBf. würde im
Falle seiner Abschiebung von Schweden nach
Syrien einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt,
verhaftet und hingerichtet zu werden. Seine
Abschiebung würde daher eine Verletzung von
Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) und Art. 3 EMRK
(hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung) begründen.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 und
Art. 3 EMRK:
1. Allgemeine Grundsätze:
Die Vertragsstaaten haben nach anerkanntem internationalem Recht und vorbehaltlich ihrer vertraglichen Verpflichtungen
das Recht, die Einreise, den Aufenthalt und
die Ausweisung von Fremden zu regeln. Die
Abschiebung eines Fremden durch einen
Konventionsstaat kann jedoch eine Verantwortlichkeit dieses Staats nach Art. 3 EMRK
Newsletter Menschenrechte 2005/6
273
EGMR
begründen, wenn stichhaltige Gründe für die
Annahme vorgebracht wurden, die betroffene
Person würde im Fall ihrer Abschiebung einer
ernsthaften Gefahr ausgesetzt, im Heimatstaat
einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden. In solchen Fällen
verpflichtet Art. 3 EMRK, die Person nicht in
dieses Land abzuschieben.
Darüber hinaus hat der GH in früheren Fällen die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass
eine Verantwortlichkeit eines Konventionsstaats nach Art. 2 EMRK oder Art. 1 6. Prot.
EMRK begründet werden kann, wenn ein
Fremder in ein Land abgeschoben wird, in dem
er einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt ist, hingerichtet zu werden. Im Fall Öcalan/TR stellte
die Große Kammer fest, dass die Verhängung
der Todesstrafe in einem unfairen Verfahren
gegen die Konvention verstoße, da willkürliche
Tötungen auf jeden Fall verboten seien. Zudem
würde die Verhängung der Todesstrafe in einem unfairen Verfahren, wenn die Möglichkeit
ihrer Vollstreckung besteht, einen bedeutenden Grad menschlichen Leides nach sich ziehen und daher in den Anwendungsbereich des
Art. 3 EMRK fallen.
Daraus folgt, dass eine Angelegenheit nach
Art. 2 und Art. 3 EMRK vorliegen kann, wenn
ein Konventionsstaat einen Fremden abschiebt,
über den im Empfangsstaat in einem unfairen
Verfahren die Todesstrafe verhängt wurde bzw.
wahrscheinlich verhängt werden wird.
2. Zum vorliegenden Fall:
Der GH misst der Tatsache besonderes Gewicht bei, dass der ErstBf. am 17.11.2003 von
einem syrischen Gericht in Abwesenheit zum
Tod verurteilt wurde. Auch wenn es nicht unbedingt ein alltägliches Ereignis ist, wird die
Todesstrafe in Syrien für schwere Verbrechen
auch vollstreckt. In dem Urteil wird ausgeführt,
dass der Bf. eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen könne. Dies setzt jedoch
voraus, dass er sich den syrischen Behörden
stellt und er würde die Entscheidung über die
Wiederaufnahme sicherlich in Haft abwarten
müssen.
Der GH stimmt mit dem Bf. dahingehend
überein, dass die Informationen der schwedischen Botschaft hinsichtlich einer möglichen
Wiederaufnahme des Verfahrens und der
Chancen des ErstBf., im Falle eines neuen Verfahrens der Todesstrafe zu entgehen, vage und
ungenau sind. Ihr Bericht enthält nur Vermutungen darüber, was im Falle einer Abschiebung der Bf. nach Syrien geschehen würde. Die
schwedische Regierung hat von den syrischen
Behörden keine Garantie erhalten, dass der
274
Fall des ErstBf. wiederaufgenommen und der
Staatsanwalt in einem neuen Verfahren nicht
wieder die Todesstrafe beantragen wird. Unter
diesen Umständen würde die schwedische Regierung den ErstBf. durch seine Abschiebung
einer ernsthaften Gefahr aussetzen.
Die Furcht des Bf., das Todesurteil würde
im Falle seiner zwangsweisen Rückkehr in
sein Heimatland vollstreckt werden, ist daher
gerechtfertigt und wohlbegründet. Da in Syrien Hinrichtungen ohne irgendeine öffentliche
Überprüfung oder Rechenschaft durchgeführt
werden, würden die Umstände der Exekution
dem ErstBf. unvermeidbar Angst und Leiden
bereiten, weil er und die übrigen Bf. inakzeptabler Unsicherheit über Zeitpunkt, Ort und
Art der Vollstreckung ausgesetzt wären.
Wie sich aus dem syrischen Urteil ergibt,
wurde bei der Verhandlung keine mündliche
Beweisaufnahme durchgeführt. Alle herangezogenen Beweise waren von der Anklage vorgelegt worden und weder der Angeklagte noch
sein Verteidiger waren anwesend. Angesichts
seiner summarischen Art und der völligen
Missachtung der Verteidigungsrechte muss
das Verfahren als eklatante Verweigerung eines fairen Prozesses angesehen werden. Dies
muss natürlich die Unsicherheit und Besorgnis der Bf. über den Ausgang eines neuerlichen
Verfahrens in Syrien noch deutlich steigern.
Der GH gelangt zu der Ansicht, das stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, der
ErstBf. würde im Falle seiner Abschiebung
in sein Heimatland einer ernsthaften Gefahr
ausgesetzt, hingerichtet und einer Art. 2 und
Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung
unterworfen zu werden. Die Abschiebung der
Bf. nach Syrien würde daher im Falle ihrer
Durchführung Verletzungen von Art. 2 und
Art. 3 EMRK begründen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von
Richter Cabral Barreto).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
Da es die Bf. verabsäumten, Ansprüche
geltend zu machen, ist der Zuspruch einer gerechten Entschädigung nicht erforderlich.
Vom GH zitierte Judikatur:
Soering/GB v. 7.7.1989, A/161
EuGRZ 1989, 314.
H. L. R./F v. 29.4.1997
NL 1997, 92; ÖJZ 1998, 309.
Mamatkulov und Askarov/TR v. 4.2.2005
NL 2005, 23; EuGRZ 2005, 357.
Öcalan/TR v. 12.5.2005
NL 2005, 117; EuGRZ 2005, 463.
Newsletter Menschenrechte 2005/6
Czech
Herunterladen