08.11.2005 Gericht AUSL EGMR Entscheidungsdatum 08.11.2005 Geschäftszahl Bsw13284/04 Kopf Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Bader u.a. gegen Schweden, Urteil vom 8.11.2005, Bsw. 13284/04. Spruch Art 2 EMRK, Art. 3 EMRK - Drohende Abschiebung einer zum Tod verurteilten Person. Die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Syrien würde im Falle ihrer Durchführung Verletzungen von Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK begründen (einstimmig). Text Begründung: Sachverhalt: Bei den vier Bf. handelt es sich um ein Ehepaar und seine beiden minderjährigen Kinder. Alle vier sind syrische Staatsbürger. Nach ihrer Einreise nach Schweden am 25.8.2002 beantragten die Bf. Asyl. Der ErstBf. brachte vor, er sei im Dezember 1999 verhaftet und neun Monate lang festgehalten worden, weil die Polizei Informationen über seinen Bruder erlangen wollte, der desertiert sei. Nach seiner Entlassung sei er noch viermal von der Sicherheitspolizei festgenommen und befragt worden, wobei er auch Misshandlungen erlitten hätte. Am 27.6.2003 wies das Migrationsamt (Migrationsverket) den Asylantrag der Familie ab und ordnete ihre Abschiebung nach Syrien an. Nach Ansicht der Behörde bestand für die Bf. in Syrien keine Gefahr einer Verfolgung. Das dagegen erhobene Rechtsmittel wurde von der Berufungsbehörde (Utlänningsnämnden) am 16.9.2003 abgewiesen. Im Jänner 2004 stellte die Familie einen neuen Asylantrag. Sie legte eine beglaubigte Abschrift eines Urteils eines syrischen Gerichts vom 17.11.2003 vor, durch das der ErstBf. in Abwesenheit wegen Beteiligung an einem Mord zum Tod verurteilt worden war. Der ErstBf. behauptete gegenüber der Asylbehörde, nichts mit dem Mord zu tun zu haben. Er erklärte auch, dass seine Anhaltung zwischen Dezember 1999 und 9.9.2000 in Zusammenhang mit diesem Strafverfahren erfolgt sei. Ein auf Ersuchen der Asylbehörde von der schwedischen Botschaft in Syrien mit Ermittlungen beauftragter Rechtsanwalt bestätigte die Echtheit des Urteils. In einem Schreiben an die Asylbehörde gab die Botschaft an, dass es nach Ansicht des Anwalts wahrscheinlich zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens käme, sobald der Angeklagte auffindbar sei und es sehr wahrscheinlich wäre, dass das gesamte Verfahren neu durchgeführt werde. Die Botschaft fügte hinzu, dass der Angeklagte den ihr vorliegenden Quellen zufolge persönlich anwesend sein müsse, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Über die Häufigkeit der Verhängung und Vollstreckung von Todesurteilen lägen keine Informationen vor, doch würde diese nach Auskunft des Anwalts nur sehr selten verhängt. Nicht ungewöhnlich sei es hingegen, dass syrische Gerichte die Todesstrafe verhängten, wenn der Angeklagte trotz Vorladung nicht vor Gericht erscheine. Die Berufungsbehörde wies den Asylantrag am 7.4.2004 ab. Die Behörde sah es aufgrund der Ermittlungen des syrischen Anwalts als erwiesen an, dass der Strafprozess gegen den ErstBf. im Falle seiner Rückkehr nach Syrien wiederaufgenommen und in dem neuen Verfahren die Todesstrafe nicht verhängt würde. Nach Empfehlung einer entsprechenden vorläufigen Maßnahme nach Art. 39 VerfO durch den GH gewährte das Migrationsamt am 19.4.2004 einen Aufschub der Durchsetzung der Abschiebungsentscheidung. Rechtliche Beurteilung Rechtsausführungen: www.ris.bka.gv.at Seite 1 von 3 AUSL EGMR 08.11.2005 Die Bf. bringen vor, der ErstBf. würde im Falle seiner Abschiebung von Schweden nach Syrien einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt, verhaftet und hingerichtet zu werden. Seine Abschiebung würde daher eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) und Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung) begründen. Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK: 1. Allgemeine Grundsätze: Die Vertragsstaaten haben nach anerkanntem internationalem Recht und vorbehaltlich ihrer vertraglichen Verpflichtungen das Recht, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu regeln. Die Abschiebung eines Fremden durch einen Konventionsstaat kann jedoch eine Verantwortlichkeit dieses Staats nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht wurden, die betroffene Person würde im Fall ihrer Abschiebung einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt, im Heimatstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden. In solchen Fällen verpflichtet Art. 3 EMRK, die Person nicht in dieses Land abzuschieben. Darüber hinaus hat der GH in früheren Fällen die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass eine Verantwortlichkeit eines Konventionsstaats nach Art. 2 EMRK oder Art. 1 6. Prot. EMRK begründet werden kann, wenn ein Fremder in ein Land abgeschoben wird, in dem er einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt ist, hingerichtet zu werden. Im Fall Öcalan/TR stellte die Große Kammer fest, dass die Verhängung der Todesstrafe in einem unfairen Verfahren gegen die Konvention verstoße, da willkürliche Tötungen auf jeden Fall verboten seien. Zudem würde die Verhängung der Todesstrafe in einem unfairen Verfahren, wenn die Möglichkeit ihrer Vollstreckung besteht, einen bedeutenden Grad menschlichen Leides nach sich ziehen und daher in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK fallen. Daraus folgt, dass eine Angelegenheit nach Art. 2 und Art. 3 EMRK vorliegen kann, wenn ein Konventionsstaat einen Fremden abschiebt, über den im Empfangsstaat in einem unfairen Verfahren die Todesstrafe verhängt wurde bzw. wahrscheinlich verhängt werden wird. 2. Zum vorliegenden Fall: Der GH misst der Tatsache besonderes Gewicht bei, dass der ErstBf. am 17.11.2003 von einem syrischen Gericht in Abwesenheit zum Tod verurteilt wurde. Auch wenn es nicht unbedingt ein alltägliches Ereignis ist, wird die Todesstrafe in Syrien für schwere Verbrechen auch vollstreckt. In dem Urteil wird ausgeführt, dass der Bf. eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen könne. Dies setzt jedoch voraus, dass er sich den syrischen Behörden stellt und er würde die Entscheidung über die Wiederaufnahme sicherlich in Haft abwarten müssen. Der GH stimmt mit dem Bf. dahingehend überein, dass die Informationen der schwedischen Botschaft hinsichtlich einer möglichen Wiederaufnahme des Verfahrens und der Chancen des ErstBf., im Falle eines neuen Verfahrens der Todesstrafe zu entgehen, vage und ungenau sind. Ihr Bericht enthält nur Vermutungen darüber, was im Falle einer Abschiebung der Bf. nach Syrien geschehen würde. Die schwedische Regierung hat von den syrischen Behörden keine Garantie erhalten, dass der Fall des ErstBf. wiederaufgenommen und der Staatsanwalt in einem neuen Verfahren nicht wieder die Todesstrafe beantragen wird. Unter diesen Umständen würde die schwedische Regierung den ErstBf. durch seine Abschiebung einer ernsthaften Gefahr aussetzen. Die Furcht des Bf., das Todesurteil würde im Falle seiner zwangsweisen Rückkehr in sein Heimatland vollstreckt werden, ist daher gerechtfertigt und wohlbegründet. Da in Syrien Hinrichtungen ohne irgendeine öffentliche Überprüfung oder Rechenschaft durchgeführt werden, würden die Umstände der Exekution dem ErstBf. unvermeidbar Angst und Leiden bereiten, weil er und die übrigen Bf. inakzeptabler Unsicherheit über Zeitpunkt, Ort und Art der Vollstreckung ausgesetzt wären. Wie sich aus dem syrischen Urteil ergibt, wurde bei der Verhandlung keine mündliche Beweisaufnahme durchgeführt. Alle herangezogenen Beweise waren von der Anklage vorgelegt worden und weder der Angeklagte noch sein Verteidiger waren anwesend. Angesichts seiner summarischen Art und der völligen Missachtung der Verteidigungsrechte muss das Verfahren als eklatante Verweigerung eines fairen Prozesses angesehen werden. Dies muss natürlich die Unsicherheit und Besorgnis der Bf. über den Ausgang eines neuerlichen Verfahrens in Syrien noch deutlich steigern. Der GH gelangt zu der Ansicht, das stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, der ErstBf. würde im Falle seiner Abschiebung in sein Heimatland einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt, hingerichtet und einer Art. 2 und Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden. Die Abschiebung der Bf. nach Syrien würde daher im Falle ihrer Durchführung Verletzungen von Art. 2 und Art. 3 EMRK begründen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Cabral Barreto). Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Da es die Bf. verabsäumten, Ansprüche geltend zu machen, ist der Zuspruch einer gerechten Entschädigung nicht erforderlich. Vom GH zitierte Judikatur: Soering/GB v. 7.7.1989, A/161, EuGRZ 1989, 314. www.ris.bka.gv.at Seite 2 von 3 AUSL EGMR 08.11.2005 H. L. R./F v. 29.4.1997, NL 1997, 92; ÖJZ 1998, 309. Mamatkulov und Askarov/TR v. 4.2.2005, NL 2005, 23; EuGRZ 2005, 357. Öcalan/TR v. 12.5.2005, NL 2005, 117; EuGRZ 2005, 463. Hinweis: Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.11.2005, Bsw. 13284/04, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2005,273) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt. Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format): www.menschenrechte.ac.at/orig/05_6/Bader.pdf Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar. www.ris.bka.gv.at Seite 3 von 3