Sr. Birgitta - Warum wir den Anderen oft nicht so wahrnehmen, wie

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Sr. Birgitta - Warum wir den Anderen oft nicht so wahrnehmen, wie er
wirklich ist.
Einleitung:
Gott ist immer da und nimmt jeden Menschen so wahr, wie er wirklich ist. Wir Menschen versuchen
uns ähnlich zu verhalten. Auch wir geben uns jedenfalls gelegentlich Mühe, ganz bei einem
Menschen zu sein und ihn möglichst so wahrzunehmen, wie er/sie ist. Aber solange wir in diesem
Leibe leben, gelingt uns das nur sehr unvollkommen. In der kommenden Stunde wollen wir zu
verstehen versuchen, warum das so ist. Das ist deshalb wichtig, weil wir subjektiv das Gefühl
haben, dass unsere Wahrnehmungen 100%-ig richtig sind. Was wir mit eigenen Augen gesehen
und mit eigenen Ohren gehört haben, halten wir für wahr. Aber dieses subjektive Gefühl entspricht
nicht der Realität. Wenn ich mehr davon weiß, kann ich dem Anderen gerechter werden. Deshalb
beschäftigen wir uns heute mit diesem Thema.
Ich habe gesagt: „Solange wir in diesem Leibe leben“, sind unsere Wahrnehmungen nicht
objektiv. Wir wissen, dass allen seelischen Vorgängen körperliche Prozesse entsprechen. Ob wir
Gefühle wie Wut oder Angst haben, ob wir denken oder meditieren, immer kann der Physiologe
etwas messen, z.B. Veränderungen im Adrenalinspiegel oder von körpereigenen elektrischen
Strömen. Wie sich körperliche bzw. physiologische Prozesse in seelische verwandeln, die ja eine
ganz andere Qualität haben, wissen wir bis heute nicht. Wir wissen nur mit Sicherheit, dass jedem
seelischen Erleben ein körperlicher, physiologischer Prozess entspricht. Deshalb müssen wir uns
jetzt - kurz und vereinfacht - mit den wichtigsten physiologischen Vorgängen beschäftigen, die sich
auf dem Weg vom Außenweltreiz bis zur bewussten Wahrnehmung abspielenen.
1. Der Weg vom Außenweltreiz zur bewussten Wahrnehmung
Die Netzhaut im hinteren Teil des Auges hat 130 Mill. sog. Rezeptoren, winzige „Empfangsorgane“.
Wenn von den Dingen, die uns umgeben, elektromagnetische Wellen auf diese Rezeptoren treffen,
zerfällt in den Rezeptoren eine Substanz. Dieser Vorgang löst einen körpereigenen elektrischen
Impuls aus, der über den Sehnerv ins Gehirn weitergeleitet wird. Bis der Impuls im Sehzentrum in
der Großhirnrinde ankommt, läuft er über andere Gehirnzentren, z.B. den taktilen Bereich, den
emotionalen Bereich, den Wissensspeicher. Dabei verbindet er sich mit jenen dort gespeicherten
Informationen, die ähnlich oder gerade aktiv sind. Das menschliche Gehirn hat 10 bis 100 Billionen
Synapsen, über die solche Verbindungen stattfinden können. In einem konkreten
Wahrnehmungsvorgang verbindet sich der Sehimpuls nur mit wenigen gespeicherten
Informationen, nämlich jenen, die im Augenblick stark genug sind, um eine synaptische
Verbindung herzustellen; sonst käme es zu einer Übererregung des gesamten Gehirns wie bei
einem epileptischen Anfall. Aber die gespeicherten Informationen, die er in sich aufnimmt, bevor er
das Sehzentrum erreicht, ergänzen oder verändern ihn, ohne dass der Wahrnehmende etwas
davon merkt; denn die Impulse, die im Sehzentrum der Großhirnrinde ankommen - und nur diese
werden dem Wahrnehmenden bewusst - bestehen aus der Kombination all dessen, was die
ursprünglichen elektromagnetischen Wellen auf ihrem Weg über das Kleinhirn und die anderen
Bereiche des Großhirns in sich aufgenommen haben. Die bewusst werdende Wahrnehmung ist also
niemals identisch mit dem Außenweltreiz, sondern immer schon angereichert mit dem, was schon
vorher in dem Menschen war.
In der Regel ist dieser Vorgang sinnvoll. Er ermöglicht z.B., dass wir etwas als etwas erkennen.
Wenn ich gespeichert habe, wie eine Linde aussieht, werden die eletromagnetischen Wellen, die von einer Linde in mein Auge fallen, mit dem dort gespeicherten
Wahrnehmungsmuster einer Linde und dem zugehörigen Wort verbunden, so dass mir bewusst
wird, „ich sehe eine Linde“. Wenn ich nicht weiß, wie ein Ginko-Baum aussieht und zum ersten Mal
einen sehe, verbinden sich die elektromagnetischen Wellen mit anderen gespeicherten
Informationen. Und ich werde sagen: ich sehe einen großen Laubbaum, den ich noch nie gesehen
habe. Wir nehmen weithin nur das wahr, was wir schon kennen. Wenn ich durch einen Wald gehe
und keine Kräuter kenne, nehme ich nur irgendetwas Grünes am Boden wahr, dem ich in der Regel
keine Aufmerksamkeit schenke. Kenne ich dagegen z.B. Maiglöckchen und Waldmeister und
Einbeere, nehme ich jedes dieser Kräuter wahr und freue mich an ihm.
Versuchen wir uns nun klar zu machen, welche Folgen diese unbewusste Verknüpfung von
Wahrnehmungsreizen mit anderen schon vorhandenen Informationen und Erregungen für die
Wahrnehmung von Menschen haben kann.
2. Beeinflussung der Wahrnehmung von Mitmenschen durch subjektive Faktoren
2.1 Die wichtigsten subjektiven Faktoren bei diesem Vorgang
Die wichtigsten Faktoren, die unsere mitmenschliche Wahrnehmung beeinflussen sind
-
unser physischer Zustand, also Müdigkeit, Schmerzen oder körperliches Wohlbefinden
unser emotional-affektiver Zustand, oft eng mit dem körperlichen Zustand verbunden,
etwa bei Gereiztheit; aber darüber hinaus Ärger, Trauer oder Ausgelassenheit usf.
-
Erwartungen und Befürchtungen spielen bei der Wahrnehmung Anderer eine große Rolle
-
Weiterhin Einstellungen, Vorurteile und Überzeugungen
und soziokulturelle Einflüsse, also das Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, und das ich oft
mein Leben lang als Maßstab für das nehme, was ich für das „Normale“ halte.
Durch viele, viele Experimente hat man nachgewiesen, dass diese Faktoren die Wahrnehmung
anderer Menschen beeinflussen, und die Art der Beeinflussung in Theorien zusammengefasst. Im
folgenden werden wir einige dieser Theorien kennenlernen.
2.2 Einige Theorien zur Erklärung dieses Vorgangs
Die Hypothesen- und Erwartungstheorie besagt zunächst – und das wissen wir schon -, dass die
bewusst werdende Wahrnehmung immer aus einer Kombination von ursprünglichem
Wahrnehmungsreiz und bewussten, randbewussten oder sogar unbewussten Erwartungen oder
Hypothesen eines Menschen besteht. Dadurch kann die bewusst werdende Wahrnehmung ziemlich
stark verfälscht werden. Das ist dann der Fall, wenn der Wahrnehmende starke Erwartungen oder
Befürchtungen oder Vorurteile hat, und die Wahrnehmung selbst relativ kurz oder flüchtig
geschieht, man z.B. nur mit halbem Ohr zuhört. - Die bewusst werdende Wahrnehmung kann aber
auch relativ objektiv sein, wenn der Wahrnehmende dem Anderen gegenüber weder positive noch
negative Erwartungen hat, und er dem Anderen mit Offenheit und voller Aufmerksamkeit
begegnet. - Hundertprozentig objektiv ist die Wahrnehmung jedoch nie, weil z.B. das Geschlecht,
die Lebenserfahrung, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur usf. sich notwendigerweise in
meist unbewussten Erwartungen auswirken. Das macht die Einmaligkeit unserer Sichtweisen aus,
die das menschliche Miteinander interessant macht. Die Hypothesen- und Erwartungstheorie sagt
aber auch, dass Menschen andere Menschen wirklich ziemlich falsch wahrnehmen können und es
selber überhaupt nicht merken.
Frage: Welche subjektiven Faktoren verfälschen die Wahrnehmung anderer Menschen wohl am
stärksten?
Eine zweite Theorie, die ich ansprechen möchte, ist die Funktionale Theorie. Sie besagt, dass die
subjektiven Veränderungen der Wahrnehmung nicht willkürlich erfolgen, sondern für den
Wahrnehmenden eine gut verständliche Funktion besitzen. - Eine erste solche Funktion besteht
darin, dem Wahrnehmenden das Leben angenehmer zu machen. Sie führt dazu, dass man den
Anderen so lange wie möglich so wahrnimmt, wie man ihn gerne sehen möchte, d.h.
Unangenehmes lange übersieht (z.B. Schielen oder Hütluxationen beim eigenen Kind) oder
liebenswürdige Gebärden oder Worte besonders intensiv wahrnimmt und akzentuiert im
Gedächtnis speichert. – Eine zweite Funktion besteht darin, das Leben bequehmer zu machen.
Hierher gehören alle Formen von Fixationen, also das Nicht-Wahrnehmen von Veränderungen.
Alles Lebendige verändert sich, Kinder, Partnerbeziehungen, Führungsstile, Lebensstile usf. Es ist
anstrengend, sich immer wieder auf alle diese Veränderungen einzustellen. Bestimmte Fixationen
sind lebensförderlich. Es wäre schrecklich, wenn ich meinem Freund jeden Tag vom 0-Punkt aus
aufs Neue zeigen müsste, dass ich ihn mag, dass er mir vertrauen kann usw., wenn ich nicht auf
Erfahrungen von gestern zurückgreifen könnte. Aber diese gesunde Fixierung oder Konstanz ist
immer gefährdet, objektive Veränderungen zu übersehen. – Die dritte Funktion ist die wichtigste.
Sie ist die Schutzfunktion. Menschen, die viel Angst haben, nehmen ihre Umwelt so wahr, wie sie
sie aushalten können, indem sie ihnen gefährlich Erscheinendes entweder übersehen oder mit
Überwachheit und Übertreibung wahrnehmen, um sich durch Flucht oder Angriff rechtzeitig
schützen zu können.
Die Implizite Persönlichkeitstheorie besagt, dass wir unsere Mitmenschen mehr logisch stimmig
wahrnehmen als sie es in Wirklichkeit sind. Menschen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie
unterschiedliche Eigenschaften besitzen, liebenswürdige und durchaus weniger liebenswürdige. Bei
der Wahrnehmung Anderer haben wir jedoch die Tendenz sie zu vereinheitlichen. Wenn ich bei
einem Menschen z.B. Unpünktlichkeit wahrgenommen habe, habe ich die Tendenz, ihn auch für
unordentlich, ja insgesamt für unzuverlässig zu halten, auch wenn ich bisher mit ihm gar keine
entsprechenden Erfahrungen gemacht habe. Damit werden wir dem Anderen nicht gerecht. Oder
wenn jemand üblicherweise sparsam ist halten es für unmöglich, dass er/sie gleichzeitig auch
großzügig ist. Es gibt es aber durchaus, dass jemand, der im Alltag wenig Geld ausgibt, für ein
Fest alles ausgibt oder auch einem Menschen, der in Not geraten ist, großzügig hilft. Immer wenn
wir sagen: „Das hätte ich ihm/ihr nicht zugetraut“, müssten wir fast immer sagen: „Ich habe dich
bisher mit meinen Augen sehr vereinfacht und nicht richtig gesehen.“ Nur in den Fällen, in denen
sich in dieser Situation tatsächlich eine Persönlichkeitsveränderung bei dem Betreffenden vollzogen
hat, wäre mein Erstaunen berechtigt.
Und schließlich noch die Theorie der Kausalattribuierung. Sie besagt folgendes: Wir Menschen
jedenfalls der westlichen Welt neigen dazu, immer wenn wir ein auffälliges oder unerwartetes
Verhalten wahrnehmen, uns wie von selbst eine Erklärung oder Begründung für dieses Verhalten
hinzuzudenken. Den wirklichen Grund für das Verhalten sehen wir in der Regel nicht und erfahren
ihn nur selten. Die Begründung, die uns einfällt, hängt natürlich mit dem Gesamtbild zusammen,
das wir von dem Menschen haben, das wiederum unserer Impliziten Persönlichkeitstheorie
entspricht. Bei einem positiven Gesamtbild fällt uns bei einem negativen Verhalten eher ein situativ
bedingter und damit entlastender Grund ein, z.B. der Mensch ist vermutlich nicht ausgeschlafen
oder hat sich gerade über etwas anderes geärgert; bei einem eher negativen Gesamtbild sieht man
den Grund für dieses Verhalten in der Regel in einem negativen Charakterzug dieses Menschen,
seiner Unbeherrschtheit oder seinem willkürlichen, launischen Verhalten. Diesen Charakterzug
sieht man durch das beobachtete Verhalten wieder bestätigt, wodurch sich das Gesamtbild aufs
Neue verfestigt. Der wirkliche Grund für das beobachtete Verhalten kann ein völlig anderer sein,
den ich nicht weiß und auch nicht wissen kann.
Das alles zeigt, wie viel von uns selbst in unsere Wahrnehmungen unserer Mitmenschen mit
eingeht, ohne dass uns das bewusst ist. Unsere Wahrnehmung der Anderen wird aber nicht nur
durch das beeinflusst, was wir von uns selbst hinzufügen, sondern mindestens ebenso sehr durch
das interpersonale Geschehen, zum Beispiel, ob es zu Blickkontakt kommt oder nicht, und wie
beides erlebt wird, welche Position man in einer Gruppe hat, ob man sich eher als abhängig oder
eher als beeinflussend erlebt, ob einem der oder die anderen sympathisch sind, ob man sich in
einer gemeinsamen Notsituation befindet, oder umgekehrt in einer Konfliktsituation usf. Wenn es
Sie interessiert, können wir uns ein anderes Mal mit dem Einfluss dieses interpersonalen
Geschehens auf unsere gegenseitigen Wahrnehmungen beschäftigen. Ich glaube, es ist besser,
wenn wir heute bei unseren subjektiven Einflüssen bleiben. Ich schlage jetzt eine Gruppenarbeit
vor und biete Ihnen dazu drei Fragestellungen an.
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