skriptvjnrws1617_polphil7

Werbung
Übersichtsskript* zur Vorlesung:
Praktische Philosophie II: Politische Philosophie
WS 2016/17
von
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin
7.Vorlesung (13.12. 2016)
WICHTIGER HINWEIS:
Aufgrund einer Änderung der Rechtslage im Zusammenhang mit dem Urheberrecht müssen
bayerische Universitäten die (auch in dieser Vorlesung gepflegte) Praxis, Teilnehmern von
Vorlesungen und Seminaren umfangreiche Materialien über das Internet oder über
Seminarapparate zur Verfügung zu stellen, ab dem 01.01. 2017 wesentlich restriktiver
handhaben. Aller Voraussicht nach werden daher im neuen Jahr auch einige der bislang über
die Lehrstuhlwebsite zugänglichen Materialien nicht mehr abrufbar sein. Es ist den
Teilnehmern dieser Vorlesung deshalb dringend zu empfehlen, alle bislang noch zugänglichen
Materialien zur Vorlesung in den nächsten Tagen (am besten noch vor Weihnachten!)
herunterzuladen.
Zu Beginn der Vorlesung hat Prof Nida-Rümelin einen kurzen Überblick über die bisher in
der Vorlesung behandelten und noch zu behandelnden neuzeitlichen Positionen der
Politischen Philosophie gegeben. Angefangen mit Hobbes Veröffentlichung von De cive
(1642), über Rousseaus (die Französische Revolution zumindest beeinflussenden) Konzeption
der Republik und Kants Globalisierung des Vertragsgedankens in seiner Schrift „Zum Ewigen
Frieden“ (1795), bis zur im 19.Jahrhundert beginnenden Phase der Bedeutungslosigkeit der
Politischen Philosophie im Allgemeinen und des Vertragsgedankens im Besonderen240 wurde
dabei noch einmal der Bogen gespannt zu dem in der 6.Vorlesung ausführlich behandelten
Einschnitt, den die Veröffentlichung von Rawls Schrift: A Theory of Justice (1971) darstellt.
Dieses Werk bewirkte nicht nur eine Rehabilitation der praktischen und politischen
Philosophie, sondern auch eine Renaissance des Kontraktualismus in den 70er und 80er
Jahren241. In den 80er Jahren setzt dann die kommunitaristische Kritik an Rawls ein, die
zumindest zum Teil (und ohne, dass dies den entsprechenden Autoren immer bewusst ist)
Ähnlichkeiten zu Hegels Geschichtsphilosophie aufweist242. Die 90er Jahre schließlich sind in
politischer Hinsicht geprägt von einem mit dem Ende des Kalten Krieges einhergehenden
Zusammenbruch der bipolaren Welt (friedliche Revolutionen in Mittel- und Osteuropa;
Auflösung der Sowjetunion) sowie dem Beginn einer Phase des globalen Interventionismus
*
Zusammengestellt von Klaus Staudacher: © Klaus Staudacher 2016. Das Skript ist kein Ersatz für den
regelmäßigen Besuch der Vorlesung! Zusätzlich zur Vorlesung findet jeweils freitags von 14 Uhr - 16 Uhr c.t. in
Raum M 209 ein Tutorium statt, in dem der Stoff der Vorlesung rekapituliert wird. Die dort behandelten Fragen
zum Stoff der Vorlesung dienen der Lern- und Verständniskontrolle und werden ebenso wie das Skript und die
Folien allen Vorlesungsteilnehmern (also auch diejenigen, die nicht in das Tutorium kommen können oder
wollen) über die Lehrstuhlwebsite zugänglich gemacht.
240
Vgl. zu dieser Phase nochmals die Ausführungen im 6.Skript/S. 65 – 68!
241
Siehe dazu die gleich anschließende Darstellung über die „New Contractarians“ Nozick, Buchanan und
Gauthier.
242
Der Kommunitarismus wird Thema der 8.Vorlesung sein.
81
seitens des Westens. Im Bereich der Politischen Philosophie setzen sich Autoren wie Charles
R. Beitz, Brian Barry und Thomas Pogge dafür ein, Rawls Gerechtigkeitskonzeption auf die
globale Ebene (‚Global Justice‘) zu übertragen243.
Die neuen Vertragstheoretiker:
Robert Nozick – James Buchanan – David Gauthier
Grundzüge der politischen Philosophie von Robert Nozick
Robert Nozick (1938-2002) beruft sich in Anarchy, State, and Utopia explizit auf die
Konzeption von John Locke. Nozick, der lange Jahre neben John Rawls in Harvard lehrte,
wird als Vordenker des sogenannten Libertarismus (engl. Libertarianism) angesehen – einer
politischen Strömung, die vor allem in der Reagan-Ära und während der Thatcher-Regierung
in Großbritannien großen Einfluss hatte.
Vor der Darstellung seiner Theorie, sei hier ein kurzer Überblick über die verschiedenen
Spielarten des Libertarismus gegeben. Unstrittiges „Hauptmerkmal des Libertarismus ist sein
schmales normatives Fundament: Für den Libertarismus ist ausschließlich die Freiheit des
Einzelnen moralisch relevant. Konkret findet diese ihren Ausdruck in bestimmten
Freiheitsrechten, die dem Einzelnen zukommen, absolut gelten und beachtet bzw. geschützt
werden müssen. Alle Autoren führen den Rechtekanon, für den sie jeweils eintreten, auf ein
fundamentales Recht zurück, nämlich auf das Eigentumsrecht am eigenen Körper. Denn aus
diesem häufig als self-ownership bezeichneten Recht des Einzelnen, frei über seinen Körper
und seine Talente zu verfügen, lassen sich alle weiteren Freiheitsrechte, die der Libertarismus
fordert, ableiten.
Doch obwohl das normative Fundament der meisten Libertarier identisch ist, unterscheiden
sich
die
daraus
entwickelten
Ansätze
teilweise
sehr
deutlich
voneinander:
In
gesellschaftlichen Fragen nehmen die meisten Libertarier Positionen ein, die man eher dem
linken Spektrum zuordnen würde. So ist jede Form der geschlechtlichen Beziehung für den
Libertarier legitim, solange sie in beiderseitigem Einverständnis – und damit unter Beachtung
243
Wie bereits im 6.Skript/S.79 kurz angedeutet, lehnt Rawls eine Anwendung seines Ansatzes auf die globale
Ebene ab. Zumindest der späte Rawls erblickt die Aufgabe politischer Theorie vor allem in der Artikulation
und Klärung verbreiteter Überzeugungen und Gewissheiten der jeweils eigenen Traditionen und Kultur, in
seinem ( aber eben nicht im globalen) Fall die Tradition der westlichen Kultur der Menschen- und Bürgerrechte.
82
der Freiheit des Einzelnen – geschieht; ebenso sprechen sich Libertarier gegen ein generelles
Verbot von Drogen oder von Sterbehilfe aus, da solche Verbote die Freiheitsrechte mündiger
Bürger einschränken. In wirtschaftlichen Fragen sowie in Fragen sozialer Gerechtigkeit (also
der Verteilung gesellschaftlich erarbeiteter Kooperationsüberschüsse) jedoch zerfällt das
Spektrum der Libertarier in zwei unterschiedliche Lager: Einerseits in diejenigen, die jegliche
Regulierung des Marktes durch den Staat sowie jede staatlich koordinierte Umverteilung von
auf dem Markt erwirtschafteten Gewinnen im Namen der individuellen Freiheit der
Marktteilnehmer strikt ablehnen, andererseits in diejenigen, die gewisse Eingriffe in den
Markt seitens des Staates für gerechtfertigt halten. Dieser Spaltung liegt eine tiefere Differenz
zugrunde, nämlich über die Frage der ersten Aneignung: Diejenigen, die sich für den
uneingeschränkt freien Markt aussprechen, sind im Allgemeinen der Ansicht, dass natürliche
Ressourcen, solange sie sich niemand explizit […] angeeignet hat, auch niemandem gehören;
daher muss die Allgemeinheit nicht für den Verlust, der ihr durch die individuelle Aneignung
dieser Ressourcen geschieht, entschädigt werden. Das gegnerische Lager bestreitet dies:
Ressourcen sind kollektives Eigentum, so dass derjenige, der sich eine solche aneignet,
denjenigen, die ihrer dadurch verlustig gegangen sind, Kompensationszahlungen in Form von
staatlich koordinierten Umverteilungen leisten muss. Anhand dieser Frage wird das Spektrum
der Libertarier häufig in Links- und Rechts-Libertarier eingeteilt: Den ersten lassen sich
Autoren wie Philippe van Parijs und Michael Otsuka zuordnen[244] […]; zu zweiten zählen
Autoren wie Jan Narveson[245] […] sowie die mit dem Nobelpreis für Ökonomie
ausgezeichneten Milton Friedman und Friedrich August von Hayek[246] […]. Die Schriften der
beiden letztgenannten standen, ebenso wie Nozicks Anarchy, State, and Utopia, Pate für die
die wirtschaftsliberalen Reformen der 80er Jahre, die zu einer weitreichenden Deregulierung
der Märkte führten. Über diese Instrumentalisierung seines Werkes scheint Nozick selbst
nicht erfreut gewesen zu sein: Anarchy, State, and Utopia bleibt sein einziger Beitrag zur
politischen Theorie, in dessen Vorwort er zudem explizit feststellt, dass auch er hinsichtlich
der sozialen Härten, die sein Ansatz mit sich zu bringen droht, ein gewisses Unwohlsein
empfindet“247.
244
Vgl. Van Parijs, Philippe, Real freedom for all: what (if anything) can justify capitalism?, Oxford 1995 (Van
Parijs (*1951) zählt zu den Fürsprechern eines bedingungslosen Grundeinkommens); Otsuka, Michael,
Libertarianism without Inequality, Oxford 2003; und als Überblicksdarstellung: Vallentyne, Peter/ Steiner, Hillel
(Hrsg.) [2000b], The Origins of Left.
245
Vgl. dazu Narveson, Jan, The Libertarian Idea, Philadelphia 1988; ders., “Libertarianism”, in: LaFollette,
Hugh (Hrsg.), The Blackwell Guide to Ethical Theory, Malden et al. 2000, S. 306-324.
246
Vgl. dazu Friedman, Milton, Capitalism and Freedom, Chicago 1962; von Hayek, Friedrich A., The
Constitution of Liberty, Chicago 1960.
247
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 169 f. sich zum Schluss auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006
83
Libertäre Ansätze zeichnen sich also dadurch aus, dass sie als normative Grundlage für ihre
Argumentation bestimmte absolut geltende individuelle Freiheitsrechte heranziehen.
Ausgangspunkt für Nozicks Konzeption ist dabei die Locke’schen Individualrechte: Recht auf
Leben, Recht auf körperliche Unversehrtheit und Recht auf Eigentum. Deren Geltung wird
von Nozick nicht weiter begründet, sondern als gesetzt vorausgesetzt248; alle über diese
Freiheitsrechte hinausgehenden Normen lehnt Nozick hingegen ab249. Eine derartige
Vorgehensweise legt nahe, „wer der argumentative Hauptgegner des Libertären ist. Denn
wenn man fordert, dass die Freiheit des Einzelnen zu achten sei, so scheint das Unterfangen,
politische Theorie im Sinne von Legitimationstheorie staatlicher Herrschaft zu betreiben,
insgesamt verfehlt: Stellt denn nicht jeder Staat eine Einschränkung der Freiheit des
Einzelnen dar? Da also staatliche Herrschaft immer eine Einschränkung der Freiheit des
Einzelnen darstellt, sollte jemand, dem es um den Schutz individueller Freiheitsrechte geht,
eigentlich Anarchist sein und jede Form staatlicher Herrschaft ablehnen“250. Denn für einen
Anarchisten ist jede politische Herrschaft illegitim, da durch sie stets Vorrechte über andere
etabliert werden. Es ist daher nur konsequent, wenn Nozick das Grundproblem seines
Ansatzes als Rechtfertigungsaufgabe gegenüber dem Anarchisten formuliert:
“Die Grundfrage der Philosophie der Politik, die den Fragen, wie der Staat organisiert
sein sollte, vorausgeht, ist die Frage, ob es überhaupt einen Staat geben soll. Warum
keine Anarchie?”251
Da Nozick aber gerade für die Notwendigkeit staatlicher Institutionen argumentieren will,
muss er zeigen, dass der von ihm favorisierte Staat die Freiheitsrechte des Einzelnen ebenso
[1974], 23 beziehend (Hervorhebung bei Nida-Rümelin). Der Libertarismus lässt sich also nicht ohne weiteres in
ein politisches Rechts-Links-Spektrum einordnen. Hinzu kommt, dass sich dieses Spektrum aus europäischer
und insbesondere deutscher Perspektive anders gestaltet als aus US-amerikanischer. Besonders sichtbar wird dies
auch an der unterschiedlichen Bedeutung der Begriffe Liberalismus und Liberalism, jeweils verstanden hier jetzt
nicht als Bezeichnung für eine Theorie der Politischen Philosophie, sondern für eine politische Strömung.
Während der politische Liberalismus in Deutschland mit einer eher nicht links zu verortenden marktorientierten
Politik assoziiert wird, die staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft (und – je nach Ausprägung – gegebenenfalls
auch in die Bereiche Kultur und Infrastruktur) eher skeptisch gegenübersteht (und insoweit zumindest
Überschneidungen mit Rechts-Libertariern aufweist), steht liberalism in den USA für eine links von der Mitte
anzusiedelnde Politik, für die Gleichheit und gleiche Freiheit zentrale politische Ziele darstellen, und die es
gerade als Aufgabe des Staates ansieht, diese durch entsprechende Maßnahmen (etwa im Bereich der Bildungsund Gesundheitspolitik) zu verwirklichen.
248
Nozick macht sich dabei nicht die religiöse Begründung Lockes zu eigen, sondern scheint vielmehr davon
auszugehen, dass Geltung dieser Rechte intuitiv einsichtig ist (vgl. Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie
der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung, Paderborn 2009, 173).
249
Bereits an dieser Stelle seiner Argumentation kann man aber fragen, warum nur die genannten
Individualrechte und nicht noch weitere (z.B. auch soziale) Rechte als normative Basis seiner Theorie dienen
können; jedenfalls ist nicht offensichtlich, warum ausschließlich die Locke’schen Individualrechte Evidenz
beanspruchen können. Vgl. dazu auch unten S. 90 f.
250
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 171.
251
Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 23.
84
wenig einschränkt wie die Anarchie und dabei darüber hinaus aber gegenüber einem
anarchischen Gebilde Vorteile aufweist.
Nozicks Aufgabe kann nun allerdings „nicht nur darin bestehen, dem Anarchisten zu
beweisen, dass bestimmte Formen staatlicher Herrschaft durchaus mit der absoluten Geltung
individueller Freiheiten vereinbar sind. Wäre dem so, so würde sich der Libertarismus
nämlich nicht wesentlich vom Liberalismus unterscheiden. Denn auch diese politiktheoretische Schule geht – wie ihr Name bereits andeutet – davon aus, dass Freiheit ein
wichtiges politisches Gut beziehungsweise Recht ist, dem eine gelungene politische Theorie
Rechnung zu tragen hat. Doch darüber hinaus fühlt sich der Liberalismus auch anderen
normativen Prämissen verpflichtet, etwa derjenigen der Gleichheit aller Menschen (wobei
einige Liberale[252] […] Gleichheit als Bestandteil von Freiheit verstehen, andere […] sie
dagegen als eigenständige normative Bedingung anführen[253]). So zeichnen sich liberale
politische Theorien dadurch aus, dass sie für staatliche Ordnungen – die Nozick als
weitergehende Staaten bezeichnet[254] […] – argumentieren, die die Freiheit des Individuums
ernst nehmen, die zudem aber darauf achten, dass kein Individuum in radikaler Weise
schlechter gestellt ist als die anderen Bürger des Staates“255.
„Um seine Eigenständigkeit gegenüber dem Liberalismus zu behaupten und nicht lediglich als
ein Teilbereich desselben zu erscheinen, muss der Vertreter des Libertarismus daher zudem
zeigen, dass jede Ausweitung der normativen Basis unzulässig und demnach jeder Staat, der
sich um mehr als nur die Verwirklichung der Freiheit seiner Bürger bemüht, illegitim ist. Dies
könnte der Libertarier erreichen, indem er dafür argumentiert, dass tatsächlich nur die
Freiheitsrechte, die er anführt, moralisch relevant sind. Doch […] ist dies nicht der Weg, den
Nozick wählt. Statt nachzuweisen, dass nur Freiheit moralisch zählt beziehungsweise dass
andere Vorstellungen wie etwa Gleichheit tatsächlich moralisch fragwürdig sind, verlegt er
sich darauf zu zeigen, dass jeder Staat, der versucht neben den Freiheitsrechten auch noch
andere moralische Erwägungen zu berücksichtigen, dadurch gegen die Freiheiten des
Einzelnen verstößt – und daher illegitim ist“256. Folgerichtig charakterisiert Nozicks sein
252
Vgl. z.B. Dworkin, Ronald, Sovereign Virtue, Cambridge 2000.
Vgl. etwa Nida-Rümelin, Julian, „Eine Verteidigung von Freiheit und Gleichheit“, in: ders., Demokratie und
Wahrheit, München 2006.
254
vgl. Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München, 2006 [1974], 201.
255
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 171 unter Hinweis auf die Theorie von John Rawls. Vgl. dazu auch den von Rawls bereits in
Justice as Fairness (1958) entwickelten Gedanken einer sich nur am Maßstab der maximalen Gleichverteilung
zu rechtfertigenden Ungleichverteilung (siehe das 6.Skript/S. 71 u. 74.
256
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 172 (Hervorhebung bei Nida-Rümelin).
253
85
Vorhaben selber als zweistufig: “In Teil 1 wird der Minimalstaat gerechtfertigt; in Teil 2 wird
behauptet, daß sich kein weitergehender Staat rechtfertigen lasse”257.
Aber welche Argumente führt Nozick nun für die Entstehung eines derartigen Minimalstaates
an? Ebenso wie Locke verweist auch Nozick zu Begründung staatlicher Herrschaft auf die
Problematik der unverhältnismäßigen Selbstjustiz im Naturzustand258: Mangels einer
neutralen rechtsprechenden Instanz, kann es bei der Durchsetzung der (ja genau wie bei
Locke) auch im Naturzustand geltenden Individualrechte sowohl in Hinblick auf die
Bestrafung von Rechtsverletzungen als auch bei der Klärung von Eigentumsfragen zu
Fehleinschätzungen und in der Folge (insbesondere bei der Bestrafung) zu überzogenen
Maßnahmen
kommen,
die
ihrerseits
entsprechende
(und
wieder
über
das
Ziel
hinausschießende Vergeltungsmaßnahmen) nach sich ziehen können. Um dieser nicht enden
wollenden Spirale von unverhältnismäßiger Gewalt, Gegengewalt und Streit über
Entschädigungsfragen zu entgehen kommt es zur Bildung sog. (zunächst rein privater)
Schutzvereinigungen.
„In diesen Vereinigungen wird Schutz zuerst kooperativ bereitgestellt, indem sich alle
Mitglieder wechselseitig schützen. Schließlich aber werden sich die Mitglieder der
Schutzgemeinschaft aus Effektivitätsgründen nicht mehr selbst verteidigen, sondern einige
wenige, besonders starke Individuen gegen Bezahlung dazu anstellen, die Verteidigung der
gesamten Vereinigung zu übernehmen: ‚Einige Menschen werden für die Schutzleistungen
angestellt, und Unternehmer beginnen damit, Schutzleistungen zu verkaufen. Verschiedene
Schutzprogramme werden zu verschiedenen Preisen angeboten, damit man sich verschieden
umfangreichen und intensiven Schutz verschaffen kann.‘”259
Weiterhin sei es für diese Art professionalisierter Schutzvereinigungen kennzeichnend, „dass
sie gegenüber ihren Mitgliedern ein Gewaltmonopol beanspruchen – dass sie also von ihren
Mitgliedern fordern und sie bei Nichtbeachtung auch dazu zwingen, der Selbstjustiz zu
entsagen“260. Gerechtfertigt wird dieser Anspruch aufs Gewaltmonopol und der bei seiner
Durchsetzung damit einhergehende Verlust eigener Rechtdurchsetzungsbefugnis wieder mit
257
Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 16.
Vgl. dazu das 3.Skript/S. 32 f. Allerdings fasst Nozick die „Beschreibung des Naturzustandes und seiner
Eskalation anders als Locke nicht als Beschreibung eines faktischen, wenn auch vergangenen Zustands an,
sondern als potentielle Erklärung“ (Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität
und Politische Ordnung, Paderborn 2009, 175 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia,
München 2006 [1974], 29 (Hervorhebung bei Nida-Rümelin)).
259
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 176 zum Schluss Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 35
zitierend.
260
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 176.
258
86
dem ansonsten fortdauernden Kreislauf an Gewalt und Gegengewalt, der jetzt sogar noch
Maßnahmen anderer privater Schutzgemeinschaften enthalten kann261.
„Da sich bei solchen Streitigkeiten unweigerlich die stärkere Schutzvereinigung durchsetzen
wird, sind starke Vereinigungen für potentielle Kunden attraktiver, so dass sie mehr Zulauf
erfahren[…]. Die Kunden werden solange zur jeweils stärkeren Schutzvereinigung wechseln
bis schließlich innerhalb eines bestimmten geographischen Gebiets nur noch eine
Schutzvereinigung auf dem Markt besteht. Sicherheit und Schutz sind für Nozick demnach
Güter,
die
Monopolstrukturen
begünstigen,
so
dass
sich
eine
vorherrschende
Schutzvereinigung ausbilden wird“262.
Hat
Nozick
nun
mit
der
Entstehung
derartiger
territorial
abgegrenzter
Schutzvereinigungsmonopole schon sein Ziel der Etablierung eines dem Zustand der
Anarchie vorzuziehenden Minimalstaates erreicht? Nach seiner eigenen Einschätzung noch
nicht, denn damit es sich bei einer Organisation um einen Staat handelt, müssen seiner
Ansicht nach zwei notwendige und zusammen auch hinreichende Bedingungen erfüllt sein:
„Zum einen muss er innerhalb seines Territoriums das Gewaltmonopol innehaben, zum
anderen alle Menschen und nicht nur seine Bürger schützen“263. Erfüllt ein territoriales
Gebilde hingegen nur die erste Bedingung, „so kann man nach Nozick lediglich von einem
Ultraminimalstaat sprechen – nur wenn sie beiden Bedingungen gerecht wird, ist eine
Organisation ein Minimalstaat. Nozick muss also zeigen, dass die vorherrschende
Schutzvereinigung sowohl das Gewaltmonopol innehat als auch so genannte Außenseiter[264]
[…] – also Menschen, die in ihrem Einflussgebiet leben, aber nicht ihre Kunden sind –
schützt“265. Diese Miteinbeziehung der Außenseiter erscheint nun aber in zweierlei Hinsicht
in Nozicks libertären Ansatz kaum zu rechtfertigen zu sein. Denn zum einen verlieren die
Außenseiter dadurch selber ihr Recht auf Selbstjustiz, und zum anderen müssen, die
Mitglieder der das Monopol innehabenden Schutzgemeinschaft für die Außenseiter mitzahlen;
261
Nämlich dann, wenn die überzogene Selbstjustiz gegenüber einer Person ausgeübt wird, die unter dem Schutz
einer anderen privaten Schutzgemeinschaft steht, die dann zugunsten dieser Person gegen die Selbstjustiz tätig
wird, was im Falle erneuter Unverhältnismäßigkeit wiederum deren Schutzgemeinschaft auf den Plan ruft etc.,
so dass die Schutzgemeinschaften ohne ein von ihnen ausgeübtes Gewaltmonopol wesentlich mehr und
aufwendigere Arbeit zu verrichten hätten, was ihre Klienten schon aus Kostengründen nicht wollen können (vgl.
dazu Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 176 f.).
262
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 177 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 3840.
263
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 176 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 47.
264
Vgl. dazu Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 85.
265
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 177.
87
in beiden Fällen sind die Individualrechte der von diesen Maßnahmen betroffenen Personen
tangiert.
Der Verlust des Rechts auf Selbstjustiz, den die Außenseiter zu erleiden haben, ergibt sich in
Nozicks Konzeption bereits durch die Dominanz der vorherrschenden Schutzgemeinschaft
und ist bereits Kennzeichen des Ultraminimalstaates (der ja dadurch charakterisiert worden
war, dass er das Gewaltmonopol über alle seine Bewohner innehat). Die damit einhergehende
Verletzung der Freiheitsrechte der Außenseiter kann nach Nozick nur gerechtfertigt werden,
wenn sie kompensiert wird, „und die Kompensation, die er vorschlägt, ist, dass die
Außenseiter zu verbilligten Preisen in den Genuss des Schutzes durch die vorherrschende
Schutzvereinigung kommen:
‚Demgemäß
müssen die Klienten der Schutzorganisation die Außenseiter für die
Benachteiligung entschädigen, die sie durch das Verbot der Selbsthilfe zur
Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber den Klienten der Organisation erleiden. Ohne
Zweifel bestünde die am wenigsten aufwendige Entschädigung darin, ihnen bei
Konflikten mit den zahlenden Kunden der Schutzorganisation Schutz angedeihen zu
lassen.‘“266
Trotz der dadurch für sie entstehenden Kosten haben auch die Klienten der
Schutzorganisation von dieser Miteinbeziehung der Außenseiter einen Vorteil gegenüber der
Situation, in der die Außenseiter nach wie vor über ihr Recht auf Selbstjustiz verfügen. Oder
anders formuliert: erst der Minimalstaat bietet den umfassenden Schutz, der ihn attraktiver
macht gegenüber einem Zustand der Anarchie; die Einschränkung der Individualrechte, zu
der es bei der Etablierung des Minimalstaates unweigerlich kommt, wird dabei, wie gerade
dargestellt, durch einen Zuwachs an Sicherheit für die Klienten der Schutzorganisation und
durch kostenlosen Schutz der Außenseiter kompensiert.
„Nozick gelingt es also, eine hypothetische Entwicklungsgeschichte zu zeichnen, nach der der
Minimalstaat nicht intendiert, sondern spontan aus den freiwilligen Handlungen einzelner
Individuen entsteht. Doch inwiefern hilft ihm dies in der Auseinandersetzung mit dem
Anarchisten? Worin genau besteht das Argument, das Nozick gegen diesen vorbringt? Zum
einen in dem Nachweis, dass es einen Staat gibt, der mit den normativen Forderungen des
Anarchisten vereinbar ist: Der Nozick’sche Minimalstaat entsteht ohne die Freiheitsrechte der
Individuen zu verletzen, da sie jeden Schritt seiner Entwicklung freiwillig vollziehen oder
aber für Zwänge, die auf sie ausgeübt werden, entschädigt werden. Zum anderen gelingt es
266
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 178 f. am Ende Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 155
zitierend (Hervorhebung bei Nozick).
88
Nozick zu zeigen, dass der Anarchist einer nicht zu realisierenden Hoffnung nachhängt. Denn
nach Nozicks Rekonstruktion wandelt sich die Anarchie des Naturzustandes ganz natürlich in
einen staatlichen Zustand. […] Dabei ist zu betonen, dass diese Hervorbringung in einem
Prozess der unsichtbaren Hand geschieht – dass es also für die Entstehung eines Staats nicht
notwendig ist, dass die einzelnen Akteure diesen hervorbringen wollen (anders als im
Locke’schen Modell, das einen willentlichen Vertragsschluss der Individuen vorsieht). Denn
der Anarchist würde natürlich bestreiten, dass freie Menschen jemals den Wunsch entwickeln
könnten, gemeinsam ein Zwangssystem wie einen Staat zu erschaffen. Nozicks Modell
akzeptiert diese Prämisse des Anarchisten und zeigt, dass ein Staat dennoch entstehen kann
und muss“267.
Interne und externe Kritik an Nozicks Theorie
An Nozicks Konzeption lässt sich auf zwei unterschiedliche Weisen Kritik üben. Man kann
zum einen bestreiten, dass sich auf Grundlage der von ihm gewählten normativen Basis der
Locke’schen Individualrechte lediglich der von ihm beschriebene Minimalstaat herausbildet.
„Denn warum sollte es nicht in einem analogen Prozess der unsichtbaren Hand neben
Schutzvereinigungen auch zu Bildungsgemeinschaften kommen, die auf Grund individueller
Verträge entstehen? Warum sollten sich nicht die Eltern A und die Eltern B
zusammenschließen und eine Abgabe zahlen, um beider Kinder gemeinsam von einer
professionellen Kraft unterrichten zu lassen, da dies sicher effizienter ist, als den Unterricht je
individuell zu gestalten. Ebenso kann man fragen, weshalb nicht in gleicher Weise
Sozialgemeinschaften entstehen sollten, die gegen existentielle Risiken wie Krankheit, Alter
oder Arbeitslosigkeit versichern? Auch hier gilt das gleiche Argument der Größe: Je größer
die jeweilige Gemeinschaft, desto effektiver kann sie das jeweilige Gut bereitstellen. Wenn
aber solche Bildungs- und Sozialgemeinschaften wie die Schutzvereinigung auch unter
Beachtung der individuellen Freiheitsrechte entstehen, so sind sie unter den normativen
Voraussetzungen des Libertarismus legitimiert. Damit würde es Nozick aber nicht mehr zu
zeigen gelingen, dass jeder über den liberalen Nachtwächterstaat hinausgehende
weiterreichende Staat illegitim ist“268.
267
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009,179.
268
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 185/186 unter Hinweis auf ders., „Eine Verteidigung von Freiheit und Gleichheit“, in ders.,
Demokratie und Wahrheit, München 2006, 118-153, dort: 118-123.
89
Neben dieser theorieinternen Kritik kann man Nozicks Argumentation aber auch von einem
externen Standpunkt aus hinterfragen. Die von Nozick vorgenommene Beschränkung auf die
Locke‘schen Freiheitsrechte als Ausgangspunkt seiner Argumentation ist nämlich durchaus
nicht zwingend. So intuitiv plausibel die Annahme der Geltung dieser Freiheitsrechte ist – gilt
dies nicht möglicherweise in vergleichbarem Umfang auch für weitere Rechte, und
insbesondere für ein Recht auf ein Leben in Würde? „Und gehört zu diesem Recht auf ein
Leben in Würde nicht auch, dass sie das Recht darauf haben, durch den Staat eine
Grundsicherung ihrer elementarsten Bedürfnisse zu erfahren, sollten sie nicht dazu in der
Lage sein, diese selbst zu gewährleisten?“ Für Nozick ergibt sich aus dieser grundlegenden
und gegebenenfalls auch existentiellen Bedürfnislage jedoch nicht die Notwendigkeit eines
entsprechenden einklagbaren juridischen Rechts; vielmehr bleibe es „der karitativen Sorge
des Einzelnen überlassen, sich freiwillig um das Wohl seiner in Not geratenen Mitbürger zu
kümmern[269] […]. Doch dass der Einzelne für sein Überleben auf das Wohlwollen anderer
angewiesen sein soll und von denen nicht erwarten und fordern darf, dass sie ihm helfen,
scheint intuitiv wenig plausibel“270.
Ganz generell lässt sich argumentieren, dass Nozicks Freiheitsbegriff auf einem zu engen,
nämlich negativen Freiheitsverständnis beruht, dem zu Folge „Freiheit ausschließlich in der
Abwesenheit von Zwang besteht. Aber bedeutet frei sein nicht gleichermaßen ‚frei sein
von‘ wie ‚frei sein zu‘“271. Nozick würde einen derartigen positiven Freiheitsbegriff wohl aber
in dem Maße ablehnen, in dem dieser zu Umverteilung von Eigentum (auch in Form von
Vermögen) führt. Denn jede Umverteilung ist für Nozick als eine in das Eigentumsrecht
eingreifende Zwangsanwendung zu bewerten, die für ihn auch nicht durch den Umstand
gerechtfertigt werden kann, dass auch Armut, wenn sie dazu führt, dass die von ihr
betroffenen Personen mangels Chancengleichheit an bestimmten Formen des Lebens
teilhaben können, eine Einschränkung von Freiheitsrechten bedeuten kann; frei ist für Nozick
jemand eben bereits immer dann, wenn er, wie der Arme, dem ja nichts weggenommen wird,
in seinen Eigentumsrechten nicht eingeschränkt wird. Da aus Nozicks Sicht daher extreme
Ungleichverteilungen keine Verletzung der Rechte von Armen darstellen, bewertet er
Umverteilungsmaßnahmen nicht als eine Wiederherstellung, sondern im Gegenteil als Bruch
des Rechts derer, die im Zuge der Umverteilung etwas von ihrem Eigentum abgeben müssten.
269
Vgl. dazu Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 348-352.
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 185/186 unter Hinweis auf ders., „Eine Verteidigung von Freiheit und Gleichheit“, in ders.,
Demokratie und Wahrheit, München 2006, 118-153.
271
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 185/186 unter Hinweis auf vgl. MacCallum, Gerald C. Jr., “Negative and Positive Freedom”,
in: The Philosophical Review, 76 (1967), 312-342.
270
90
„Insofern verwundert es nicht, dass Nozick zu dem Schluss kommt, dass die ‚Besteuerung
von Arbeitsverdiensten […] mit Zwangsarbeit gleichzusetzen‘ ist“272. Für die Frage, ob eine
gegebene Güterverteilung gerecht ist, ist für Nozick weder relevant, ob sie gemäß
ergebnisorientierter Theorien273 (im engl. Orginal: end-state oder end-result principles)
bestimmten Idealen in einer Gesellschaft entspricht, noch ob sie nach Maßgabe von Theorien,
die
auf einem strukturierten Verteilungsgrundsatz (im englischen Original: patterned
principles) beruhen, „bestimmten Strukturen folgt, etwa ob jeder das bekommt, was ihm
aufgrund seiner Leistung oder seines moralischen Verdienstes zusteht“274. Ausschlaggebend
sei vielmehr lediglich, ob sie im Sinne von Anspruchstheorien (im englischen Original (und
wie auch bei den beiden vorangehenden Begriffen in Nozicks eigener Terminologie):
entitlement theory) „ausschließlich aufgrund legitimer Aneignungs- und Transferprozesse
zustande gekommen ist – […ob] also nur das, was rechtmäßig angeeignet und besessen
wurde, legal getauscht, verkauft oder verschenkt worden ist“275.
Nun ist Nozick sicherlich darin zuzustimmen, dass die Frage, wie es zu einer bestimmten
Verteilung gekommen ist, eine entscheidende Rolle bei Beurteilung dieser Verteilung als
gerecht oder ungerecht zu spielen hat276. Selbst wenn man aber Nozick noch weitergehend
auch darin folgen würde, dass ausschließlich Anspruchstheorien ein legitimes Kriterium zur
Beurteilung von Verteilungszuständen liefern, ist doch fraglich, ob sich die aktuelle
Güterverteilung in einem Staat im Rahmen dieser Theorien immer als gerechtfertigt erweisen
müsste; denn auch dann, wenn alle dem aktuellen Verteilungszustand vorausgehenden
Tausch, Verkaufs-, Schenkungs- und etwaige sonstigen Übereignungsprozesse rechtmäßig
verlaufen sind, könnte man zumindest in Hinblick auf natürliche Ressourcen immer noch den
historischen Ausgangspunkt eines Aneignungsprozesses in den Fokus rücken. Dabei würde
dann wieder das oben bei der Unterteilung zwischen Links- und Rechts-Libertarier
herangezogene Kriterium relevant werden: wem gehören natürliche Ressourcen, bevor sie sich
272
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 182 am Ende Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 225
zitierend.
273
Vgl Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 206.
274
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 180 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974],
209-215.
275
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung,
Paderborn 2009, 180 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 202.
276
Nozick unterscheidet zwischen historischen (die Genese der Verteilung berücksichtigenden) und am
Zeitquerschnitt orientierten Theorien (im englischen Original: historical principles im Gegensatz zu current
time-slice principles). Während die Anspruchstheorien stets als historische Theorien und die
ergebnisorientierten als Zeitquerschnitt orientiert zu qualifizieren sind, könnten die auf einem strukturierten
Verteilungsgrundsatz beruhenden Theorien sowohl historisch wie auch am Zeitquerschnitt orientiert sein (vgl.
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und Politische Ordnung, Paderborn
2009, 181 unter Hinweis auf Nozick, Robert, Anarchie, Staat und Utopia, München 2006 [1974], 206 u. 210.
91
jemand explizit angeeignet? - Niemandem, so dass sich für den/die „Ersteigentümer“ aus
seinem/ihrem Eigentumserwerb keinerlei Verpflichtungen zu Ausgleichszahlungen an die
Nichteigentümer ergeben? Oder Allen, so dass die nun vom Eigentum ausgeschlossenen
Personen ein Anrecht auf Rekompensation haben?
Exkurs: Gefangenendilemma

Da bei der anschließenden Darstellung der Theorien von Buchanan und Gauthier auf
das sog. Gefangenendilemma Bezug genommen wird, wird dieses hier kurz
behandelt. Seine genauere Kenntnis wird im Rahmen der 7.Vorlesung gleichwohl
nicht vorausgesetzt.
Das sog. Gefangenendilemma (GD; oder prisonners dilemma (PD)) wird
üblicherweise durch eine Variante der folgenden Geschichte eingeführt:
Zwei Männer werden eines Bankraubs verdächtigt, der ihnen jedoch nicht
nachgewiesen werden kann. Sie werden in einem Untersuchungsgefängnis in
getrennte Zellen gesperrt, so dass sie nicht miteinander kommunizieren können. Die
öffentliche Hand ist sich zwar sicher, dass beide den Bankraub begangen haben,
nachweisen kann man ihnen aber nur (das weitaus weniger schwere) Delikt des
illegalen Waffenbesitzes. Nun wird jeder der beiden Gefangenen einzeln vor die Wahl
einer von zwei Optionen gestellt: Den Bankraub zu gestehen, oder nicht zu gestehen.
Wenn beide Gefangenen schweigen, also nicht gestehen (d. h. miteinander
kooperieren), werden beide nur wegen des illegalen Waffenbesitzes zu einer Strafe
von je einem Jahr Gefängnis verurteilt. Wenn beide gestehen (also nicht miteinander
kooperieren, d.h. defektieren) werden beide wegen Bankraubs verurteilt, wobei die
Strafe wegen des Geständnisses jeweils von eigentlich 10 auf 8 Jahre abgemildert
wird. Wenn nur einer gesteht, dann geht der Geständige als Kronzeuge frei, während
der andere zur Höchststrafe verurteilt wird.
Nennen wir die Gefangenen 1 und 2, so können wir das jeweilige Strafmaß in
Gefängnisjahren in folgender Matrix wiedergeben (dabei ist gefangener 1 Zeilen-,
Gefangener 2 Spaltenwähler und „(10,0)“ steht für „10 Jahre Gefangenen 1 und 0
Jahre für Gefangenen 2“):
G2 schweigt
G2 gesteht
G1 schweigt (1,1) (G1 schweigt /G2 schweigt) (10,0) (G1 schweigt / G2 gesteht)
G1 gesteht
(0,10) (G1 gesteht / G2 schweigt) (8,8) (G1gesteht /G2 gesteht)
Oder, wie in der Vorlesung, dargestellt mit ordinalen Nutzenwerten (je geringer die
Gefängnisjahre, desto höher der Nutzen für die Gefangenen), wobei als weitere (und
keineswegs selbstverständliche) Voraussetzung davon ausgegangen wird, „dass sich
92
die Gefangenen ausschließlich für die Dauer des je eigenen Gefängnisaufenthaltes
interessieren, die sie zu minimieren trachten“ 277:
G1 schweigt
G1 gesteht
3/3
4/1
G2 schweigt
(G1 schweigt / G2 schweigt)
(G1 gesteht / G2 schweigt)
1/4
2/2
G2 gesteht
(G1 schweigt / G2 gesteht)
(G1gesteht /G2 gesteht)
Nach dem in der Entscheidungstheorie bedeutsamen Dominanzprinzip ist es rational,
stets diejenige Handlung zu wählen, deren Konsequenzen unter allen Umständen
besser sind als die aller andern möglichen Alternativen278.
Angewandt auf die Situation des GD bedeutet dies, dass es jeweils für beide
Gefangenen rational ist, zu gestehen, denn zu gestehen ist (unter der oben gemachten
Voraussetzung, dass es ihnen jeweils ausschließlich um die Dauer des je eigenen
Gefängnisaufenthaltes geht) für jeweils beide Gefangene unter allen Umständen (und
das heißt hier, unabhängig davon, ob der jeweils andere gesteht oder nicht gesteht)
besser als nicht zu gestehen. Da dies aber eben für beide Gefangene gilt, führt die
Anwendung des Dominanzprinzips zu dem für beide vom Ergebnis her nicht
optimalen Strategiepaar: gestehen - gestehen (defektieren- defektieren).
Insbesondere ist dieses Ergebnis nicht pareto-optimal, da es ein anderes Strategiepaar,
nämlich: nicht gestehen – nicht gestehen (kooperieren – kooperieren), gibt, welches
beide besser stellt und darüber hinaus seinerseits pareto-optimal ist279.
277
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung, Paderborn
2009, 37 (Hervorhebung bei Nida-Rümelin). Keiner der beiden Gefangenen muss also für den Fall, dass er
derjenige ist, der frei kommt, irgendwie geartete externe Sanktionen (also z.B. insbesondere Strafmaßnahmen
von Freunden des wegen seines Geständnisses nun besonders lange einsitzenden anderen Gefangenen)
befürchten. – Hinweis: Mit Ordinalzahlen (1., 2., 3. etc). wird eine Rangordnung wiedergegeben (sie antworten
auf die Frage: ‚der/die/das wievielte?‘). Der höchste Nutzenwert (in der Matrix mit „4“ angegeben) steht für die
beste Position. Dabei sind die jeweiligen Nutzenwerte weder interpersonell vergleichbar (frei zu kommen,
finden zwar beide Gefangen von den gegebenen Alternativen jeweils am besten, es kann aber durchaus sein, das
für G1 Freiheit noch wichtiger ist als für G2) noch intrapersonell einander in ein genaues Verhältnis zu setzen
(aus dem Nutzenwert „4“ lässt sich also nicht entnehmen, dass die Gefangenen die ihm zugeordnete Alternative
„frei kommen“ für jeweils doppelt so wertvoll halten wie die mit dem Nutzenwert 2 versehene Alternative „8
Jahre Gefängnis“ ). Manchmal sollen mit den Nutzenwerten aber auch kardinale Ordnungen wiedergegeben
werden. Kardinalzahlen (in der Terminologie der Grammatik auch „Grundzahlen“ genannt), geben eine
Antwort auf die Frage: ‚wie viele?‘ und sind in der Mathematik eine Verallgemeinerung der natürlichen Zahlen
zur Beschreibung der Mächtigkeit („Kardinalität“) von Mengen; „[w]ährend die Zahlenwerte in einer ordinalen
Ordnung lediglich Vergleichbarkeit, nicht aber weitere mathematische Operationen gewährleisten, kann man an
einer kardinalen Ordnung zudem ablesen, um wieviel besser oder schlechter jeder der aufgeführten Posten – d.h.
im Falle der Nutzenfunktion jede der aufgeführten Präferenzen – gegenüber den anderen ist“ (Nida-Rümelin,
Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Eine Einführung, Paderborn 2009, S.26/Fn.3 (Hervorhebung bei
Nida-Rümelin)).
278
Das Dominanzprinzip klingt höchst plausibel, sein Problem besteht allerdings darin, dass es nur dann sinnvoll
anzuwenden ist, wenn die Wahrscheinlichkeiten der relevanten Umstände, die eintreten können, von der eigenen
Entscheidung unabhängig sind. Doch das Vorliegen handlungsunabhängiger Wahrscheinlichkeiten ist
keineswegs immer der Fall (siehe dazu Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart.
Rationalität und politische Ordnung, Paderborn 2009, 16 f.)
279
Eine Verteilung/ein ökonomischer Zustand X ist pareto-optimal (oder pareto-effizient) genau dann, wenn gilt,
dass es keine andere Verteilung Y gibt, die mindestens von einer Person gegenüber X vorgezogen wird, ohne
dass dabei eine andere Person X gegen über Y vorzieht (vgl. auch die nicht zwingend auf die Präferenzen
abstellende Charakterisierung des Pareto-kriteriums im 6.Skript/Fn.205). Beim GD ist der durch das
Strategiepaar: nicht gestehen - nicht gestehen beschriebene Zustand sogar für beide besser als der Zustand:
93
Dieser Befund bedeutet auch insofern eine Herausforderung für die Spieltheorie als es
sich bei dem Strategiepaar: defektieren-defektieren um einen Gleichgewichtspunkt
bzw. ein Nash-Gleichgewicht handelt. Ein Gleichgewichtspunkt ist ein Strategiepaar,
bei dem es sich für keinen der Spieler auszahlt, einseitig (d.h. bei gleichbleibender
Strategiewahl des jeweils anderen) von seiner Strategie abzuweichen280; nur
Gleichgewichtspunkte sind also stabile Strategiepaare. (Bezogen auf unseren Fall:
gesteht der eine, ist es für den anderen stets besser, ebenfalls zu gestehen, weil er sonst
die Höchststrafe erhält; dagegen ist das pareto-optimale Strategiepaar: nicht gestehen nicht gestehen (kooperieren – kooperieren) kein Gleichgewichtspunkt, da es sich,
sofern (wie oben vorausgesetzt) sich beide nur für die Dauer des jeweils eigenen
Gefängnisaufenthaltes interessieren, sich bei gleichbleibender Strategiewahl des einen,
für den jeweils anderen lohnt, von der Strategie Kooperieren abzugehen, um als
einseitig Geständiger freizukommen).
Das unter der Bezeichnung „Gefangenendilemma“ bekannte Dilemma besteht somit
darin, „daß die übereinstimmende Wahl der dominanten Strategie zu einem Ergebnis
führt, das durch ein anderes paretodominiert wird, welches jedoch nur erreichbar ist,
wenn beide eine Strategie wählen, für die es eigentlich keine ‚rationale‘ Begründung
gibt: die nicht-dominante Strategie“281.
Rationale Interessenverfolgung im Sinne der Entscheidungstheorie führt also bei
Situationen nach Art des Gefangenendilemmas also gerade nicht zu einem optimalen
Ergebnis.
Die Grundzüge der politischen Philosophie von James M. Buchanan282
In dem Werk The Limits of Liberty von 1975 machte der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger
James M. Buchanan (1919-2013) die Essenz seiner ökonomischen Theorie für die politische
Theorie fruchtbar und entwickelt dabei eine Konzeption, die klar in der Tradition von Hobbes
kontraktualistischen Ansatz steht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei der von ihm
vertretene „Methodologische Individualismus“, den man als eine soziologische Theorie
qualifizieren kann, der zufolge sich soziale Phänomene nur unter Bezug auf individuelle
gestehen-gestehen; bemerkenswerterweise sind beim GD, abgesehen von der Kombination: defektierendefektieren (also demjenigen Strategiepaar, das sich ergibt, wenn sich beide Gefangenen jeweils gemäß dem
Dominanzprinzip verhalten), alle anderen Strategiepaare pareto-optimal. Nach einer schwächeren Variante des
Pareto-Kriteriums ist eine Verteilung X pareto-effizient genau dann, wenn es keine alternative Verteilung Y
gibt, die alle Personen gegenüber X vorziehen. Auch bei Zugrundelegung dieser Variante wären außer der
Kombination: defektieren-defektieren alle Strategiepaare des GD pareto-effizient.
280
Vgl. Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung,
Paderborn 2009, 39. WICHTIG: Es kommt dabei für das Vorliegen eines Gleichgewichtspunktes weder darauf
an, dass das Strategiepaar für alle Spieler die selben gleichgroßen ordinalen Nutzenwerte, noch darauf, dass es
für alle jeweils die höchsten ordinalen Nutzenwerte aufweist.
281
Kern, Lucian, Nida-Rümelin, Julian, Logik kollektiver Entscheidungen, München 1994, 203.
282
Die folgende Darstellung greift an einigen Stellen auf ein im WS 2012/13 von Herrn Nikolai Blaumer
verfasstes Skript zurück.
94
Handlungen und Intentionen erklären lassen. In normativer Hinsicht geht Buchanan des
Weiteren von einem Ethischen Individualismus aus, der Individuen als ausschließliche
Quellen moralischer Werte identifiziert: Alles, was sich rechtfertigen lässt, muss sich
gegenüber jedem einzelnen Individuum und dessen Eigeninteresse rechtfertigen lassen;
insbesondere sind staatliche Institutionen gegenüber einem Individuum nur dann
gerechtfertigt, wenn sie dessen Interessen dienen.
Im Naturzustand, also vor aller staatlichen Ordnung, existiert eine „natürliche“ Verteilung von
Gütern, die lediglich dem Kräfteverhältnis der Individuen unter Einschluss von
Gewaltanwendung entspricht. Da dieser Naturzustand von einem hohen Maß an Unsicherheit
für alle geprägt ist, und niemand sich seiner Güter sicher sein kann, gibt es ein gemeinsames
Interesse der Individuen, bestimmte individuelle Rechte und Freiheiten zu etablieren. Das
Recht auf Leben, d.h. das Verbot andere zu töten (und zwar auch, wenn dies im eigenen
Interesse sein sollte), gehört dazu. Rationale Individuen werden deshalb einen Vertrag
schließen, der diese individuellen Rechte und Freiheiten etabliert und sanktioniert, d.h. ihre
Übertretung mit Strafen ahndet. Buchanan nennt dies den constitutional contract, den
konstitutionellen Vertrag, und den so etablierten Staat den constitutional state, den
konstitutionellen Staat.
Die einzelnen Güter werden im konstitutionellen Staat vom Markt im Sinne von Angebot und
Nachfrage bereitgestellt. Dabei kommt es allerdings zur Problematik kollektiver Güter.
Während individuelle Güter je individuell konsumiert, nachgefragt, gekauft und transferiert
werden können, stehen kollektive Güter (häufig auch als öffentliche Güter bezeichnet),
grundsätzlich allen zur Verfügung: Kollektive Güter sind nicht teilbar und niemand ist
folglich von ihrer Nutzung ausgeschlossen; es kann sich also auch niemand ein kollektives
Gut durch Kauf für die alleinige Nutzung sichern. Zu kollektiven Gütern zählen etwa die
öffentliche Infrastruktur oder auch Umweltgüter283. Kollektive Güter sind nicht marktgängig,
denn wegen ihrer allgemeinen Verfügbarkeit hat in einem ausschließlich von individueller,
eigeninteressierter Präferenzrealisierung bestimmten Rahmen wie dem Markt niemand ein
Interesse daran, für ihre Nutzung zu bezahlen; und dies hat - zumindest dann, wenn das
283
Typische Beispiele für kollektive Güter sind etwa: Luft; Frieden; Deiche; Leuchttürme; Straßenbeleuchtung
etc. Anders als diese Beispiele es nahelegen, ist der Begriff des kollektiven Guts allerdings nicht essentialistisch
gemeint, d.h. hier: nicht auf Entitäten beschränkt, die von ihrer materiellen stofflichen Beschaffenheit das
Kriterium der Nicht-Ausschließbarkeit erfüllen; vielmehr können manche Güter auch durch staatliche
Entscheidung als kollektive Güter bereitgestellt werden. Dass die entsprechenden Entscheidungen dabei politisch
manchmal umstritten sind, zeigen Beispiele aus den Bereichen Bildung und Kultur: Welche Bildungsangebote
soll der Staat seinen Bürgern kostenlos (in dem Sinne, dass diejenigen, die die Angebote nutzen, dafür nicht
zusätzlich zu den von Ihnen gegebenenfalls geleisteten Steuerabgaben etwas bezahlen müssen) anbieten: nur
Schule oder auch das Studium an der Universität (Streitgenstand Studiengebühren)? Sollen staatliche Theaterund Opernhäuser subventioniert werden, und wenn ja, in welchem Umfang?
95
kollektive Gut nicht unbegrenzt in gleicher Qualität zur Verfügung steht – die Konsequenz,
dass das entsprechende kollektive Gut in immer schlechterer Qualität zur Verfügung steht
oder gegebenenfalls sogar gar nicht mehr vorhanden ist.
Kollektiv (d.h. von allen oder vielen Marktteilnehmern) durchgeführte individuelle
Eigennutzoptimierung, also kollektives marktkonformes Verhalten, kann also bei kollektiven
Gütern dazu führen, dass ein pareto-ineffizienter284 (also im Sinne des Marktes selbst nicht
optimaler) Zustand entsteht285.
Dies bedeutet jedoch, dass kollektive Güter nicht bereitgestellt werden, und da kollektive
Güter aber solche sind, an denen alle ein Interesse haben, ist dieser Mangel für alle von
Nachteil. Dieser Befund führt in Buchanans Konzeption hin zur zweiten Stufe des
Staatsaufbaus: Um diesen Nachteil auszugleichen, soll nämlich der Staat selber zum
Produzenten kollektiver Güter werden, deren Kosten er durch Steuern und Abgaben deckt.
Idealiter wird er nur solche kollektiven Güter bereitstellen, die im Interesse aller sind. Die
Ergänzung des konstitutionellen Staats (constitutional state) um das Element des produktiven
Staats (productive state) erscheint daher (idealiter) jedem einzelnen gegenüber gerechtfertigt
zu sein. Daher ist es nach Buchanan auch im Interesse aller, einer derartigen Erweiterung der
284
Vgl. zum Begriff der Pareto-Effiziens die Charakterisierung in Fn.279 sowie im 6.Skript/Fn.205.
Ein Beispiel für eine derartige Entwicklung ist die sog. „Tragödie der Allmende“:
„Eine bäuerliche Ansiedlung verfügt über eine Allmende, d.h. ein Areal von Weideland, das von den ansässigen
Herdenbesitzern gemeinschaftlich genutzt werden kann. Nun ist klar, daß jeder Besitzer einer Viehherde um so
mehr Nutzen aus diesem gemeinschaftlichen Weideland zieht, je mehr Tiere er darauf weiden lassen kann. Für
die Herdenbesitzer ist damit der Anreiz gegeben, die Herden auf der Allmende zunehmend zu vergrößern.
[…Damit] bahnt sich unvermeidlich die ‚Tragödie der Allmende‘ an, denn jeder Herdenbesitzer wird
argumentieren: Füge ich meiner Herde ein Tier hinzu, das ich auf der Allmende weiden lassen, so kommt der
Nutzen daraus mir zugute, während die Kosten durch die ‚Abweidung‘, die der Allmende durch ein einzelnes
Tier entstehen, nur ein Bruchteil davon sind und sich überdies auf alle Herdenbesitzer und weidenden Tiere
verteilen. Auch bei anteiliger Berücksichtigung dieser Kosten ergibt sich für jedes zusätzliche Tier ein positiver
Nutzen. Da die gleiche Überlegung für alle Herdenbesitzer und jedes zusätzliche Tier gilt, scheint es
unausweichlich, daß die Herden nach und nach vergrößert werden. Selbst wenn die Vergrößerung in kleinen
Schritten erfolgt, ist der entscheidende Punkt die Stetigkeit der Vergrößerung, so daß irgendwann der Zeitpunkt
erreicht ist, ab dem der Schaden durch ‚Überweidung irreparabel wird und die Allmende zerstört
ist“ (Textausschnitt übernommen aus: Kern, Lucian, Nida-Rümelin, Julian, Logik kollektiver Entscheidungen,
München 1994, 212) . Als „Tragödie bzw. Tragik der Allmende” (vgl. engl: „tragedy of the commons“) können
auch unabhängig von dem Bereich landwirtschaftlicher Nutzung ganz allgemein Situationen bezeichnet werden,
in denen frei verfügbare, aber begrenzte Ressourcen nicht effizient genutzt werden und dabei durch Übernutzung
in einer Weise bedroht sind, die wiederum für die Nutzer selbst bedrohlich ist.
285
Die hier geschilderte Situation entspricht einer n-Personenvariante des in dem obigen Exkurs behandelten
Gefangenendilemmas, dessen Grundstruktur hier zur Veranschaulichung noch einmal als Matrix wiedergegeben
wird (Alle Nutznießer der Allmende landen, da sie bloß danach streben, ihren Eigennutzen zu optimieren, in dem
pareto-ineffizienten Quadranten 2/2):
3/3
4/1
1/4
2/2
96
Staatsaufgaben in einer weiteren Übereinkunft, nämlich dem post-konstitutionellen Vertrag
(post-constitutional contract) zuzustimmen.
In einer Demokratie wird mit Mehrheit entschieden, welche kollektiven Güter bereitgestellt
werden. Damit entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Demokratieprinzip und der
Rechtfertigung über ökonomische Rationalität gegenüber jedermann. Es kann nämlich sein,
dass eine Mehrheit die Produktion eines kollektiven Gutes bevorzugt, dessen Kosten höher
sind als sein Gesamtnutzen. So kann es in der Demokratie zu Ineffizienzen kommen. Die
Bereitstellung kollektiver Güter kann zu einem sich immer mehr aufblähenden öffentlichen
Sektor führen; folglich zu einer Ausdehnung des Staates.
Dies wird im folgenden Beispiel deutlich, in dem wir von einem Gut mit einem Wert von 80
Nutzeneinheiten ausgehen. Da die Produktion des Gutes 90 Einheiten kostet, ist sie
ineffizient. Liegt nun folgende Aufteilung von Kosten und Nutzen vor, so gibt es trotzdem
eine 2/3 Mehrheit für die Produktion des Gutes, da Gruppe I und Gruppe II einen größeren
Nutzen als Kosten erwarten, während für Gruppe III nur Kosten entstehen. Gruppe I und
Gruppe II werden, obgleich die Gesamtkosten den Gesamtnutzen überschreiten, für die
Bereitstellung dieses Gutes votieren286:
Nutzen
40
40
0
Kosten
30
30
30
Gruppe I
Gruppe II
Gruppe III
In solchen von ihm als „Ausbeutung der Minderheit durch die Mehrheit“ bezeichneten Fällen
plädiert Buchanan dafür, durch eine „Verfassungsregel festzulegen, dass nur solche
Ausgabenprobleme in Betracht kommen, die einen allgemeinen Nutzen, und zwar für alle
Mitglieder der Gemeinschaft, versprechen“287. Würden Projekte als Ganzes und nicht getrennt
behandelt, und müssten die an der Abstimmung beteiligten Personen oder Gruppen Kosten
286
Interessanterweise kann es auch bei mehrheitlich ablehnenden Entscheidungen zu Ineffizienzen bei der
Bereitstellung kollektiver Güter kommen: Wenn Kosten und Nutzen des kollektiven Gutes ungleich verteilt sind,
kann es nämlich auch Mehrheiten gegen die Produktion eines kollektiven Gutes geben, dessen Bereitstellung
effizient wäre, also dessen Gesamtnutzen größer ausfällt als die Gesamtkosten für seine Bereitstellung (vgl. zu
dieser Konstellation die Abbildung in Folie 50). Während Buchanan befürchtet, dass die Demokratie zur
hypertrophen, zur übermäßigen Produktion kollektiver Güter führt, kann also auch der umgekehrte Fall eintreten,
nämlich dass vom Staat auf Grund demokratischer Mehrheitsentscheidungen zu wenig kollektive Güter
bereitgestellt werden.
287
Buchanan, James, „Die Grenzen der Freiheit“, Tübingen 1984 [1975], 220 (Hervorhebung bei Buchanan).
97
und Nutzen genau in Rechnung stellen, dann würden „Projekte, die nachweislich allen
Personen einen Nettoschaden zufügen, nicht bewilligt“288.
Ungeachtet der Effiziensproblematik spricht sich Buchanan klar für die Demokratie aus,
wobei er Demokratie mit dem methodologischen Individualismus gleichsetzt, oder zumindest
als dessen Ausformung interpretiert289. In der Vorlesung wurde darauf hingewiesen, dass ein
solches Demokratieverständis bezogen auf einzelne Entscheidungen, die in der Demokratie in
der Regel kaum im Konsens (also durch die Zustimmung aller an der Abstimmung beteiligten
Individuen), sondern von einer die Minderheit überstimmenden Mehrheit getroffen werden,
wenig überzeugend ist. Konsens ist in einer Demokratie nicht (oder zumindest nicht generell)
in Hinblick auf Einzelentscheidungen zu erreichen, sondern er kann sich nur auf das
Verfahren der Entscheidungsfindung - nämlich: Mehrheitsentscheidung nach einer
öffentlichen Diskussion über die zu Entscheidung anstehenden Alternativen – beziehen,
wobei es Bereiche, wie die Grundrechte geben kann, die auch bei extrem großen Mehrheiten
nicht zu Disposition stehen290.
Die Grundzüge der politischen Philosophie von David Gauthier
Für die Position von D. Gauthier (*1932) sei hier verwiesen auf die Darstellung in dem unter
dem Titel: „Rationalität Praktische Philosophie“ passwortgeschützt über die Lehrstuhlwebsite (unter: Material zur Vorlesung) vollständig zugänglichen Buch291:
Nida-Rümelin, Julian, Schmidt, Thomas, Rationalität in der praktischen Philosophie.
Eine Einführung, Berlin 2000, S. 150-165 (Kapitel 10)
288
Ebd.
Vgl. dazu Buchanan, James, „Die Grenzen der Freiheit“, Tübingen 1984 [1975], 3: „Der gewählte Ansatz
muß […] demokratisch sein. Darunter verstehen wir lediglich eine andere Definition des
Individualismus“ (Hervorhebung bei Buchanan).
290
Nach einem solchen (nicht rein prozeduralen) Demokratieverständnis ist z.B. die Versklavung einer
Minderheit auch dann nicht zulässig, wenn sie von 90 % Bevölkerung befürwortet werden würde.
291
Eine fast identische Darstellung findet sich auch in: Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der
Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung, Paderborn 2009, 153-168. Auf S. 161 ist es bei der
Formatierung offensichtlich zu einem Druckfehler gekommen: Die Striche, die die Ausdrücke xA# etc.
durchstreichen, sind „verrutscht“; es handelt sich um zwei Bruchstriche, zwischen der jeweils oberhalb und
unterhalb stehenden Subtraktion.
289
98
Die folgende Übersicht enthält eine (an der Folie zu Gauthier292 orientierte) Kurzfassung
dieser Darstellung, die man aber erst nach deren Lektüre und zur Wiederholung der darin
enthaltenen Kerngedanken lesen sollte!
•
Engführung von Moral und (aufgeklärtem) Eigeninteresse: moralische Forderungen
als unparteiliche („impartial“) Beschränkungen, die vollkommen rationale Individuen
ihrem Handeln auferlegen (würden)
 Problem: kontraintuitive Gleichsetzung, da rein (zweck-)rationale und das
Eigeninteresse befriedigende Handlungen oft mit moralischen Forderungen
kollidieren; im Gegensatz zu Rawls gesteht Gauthier Intuitionen bei der
Begründung seiner Theorie jedoch keinen großen Stellenwert zu
•
Der ideale Markt als Mechanismus, der es rationalen und eigeninteressierten Personen
problemlos ermöglicht, auch ohne Moral Interessenkonflikte zu regulieren. Da aber
die reale Welt kein idealer Markt ist, kommt der Moral die Aufgabe zu, Fälle von
Marktversagen zu kompensieren
•
Moralität als Ergebnis einer (hypothetischen) Übereinkunft rationaler Individuen zur
Beseitigung pareto-ineffizienter Verteilungszustände (Problem der Bereitstellung
öffentlichen Güter bzw. Allmende-Problematik293). Gauthier beansprucht zu zeigen,
dass es
(1) eine eindeutige und „gerechte“ Lösung von Verteilungsproblemen gibt
(2) im Sinne der eigenen Präferenzen rational ist, einer entsprechenden
Übereinkunft zuzustimmen
(3) im Sinne der eigenen Präferenzen rational ist, eine Disposition auszubilden,
sich (unter gewissen, durch Wahrscheinlichkeitsannahmen über das Verhalten
anderer charakterisierten Umständen) dieser Übereinkunft gemäß zu verhalten
292
293
•
Zu (1): Die Kalai-Smorodinsky-Lösung und das Minimax-Prinzip der relativen
Konzessionen bei Verteilungsproblemen mit „cooperative surplus“
– Problem: strikt eigeninteressierte, rationale Individuen verhalten sich nicht im
Sinne der Kalai-Smorodinsky-Lösung, sondern im Sinne der Nash-Lösung;
außerdem ist fraglich, ob es überhaupt sinnvoll ist von der eindeutigen
Lösbarkeit jedes Verhandlungsproblems auszugehen
•
Zu (2): eine faire Einigung liegt nur dann vor, wenn sie aufgrund einer Verhandlung
zustande gekommen ist, deren Ausgangspunkt ebenfalls fair war (Lockesches Proviso;
Sklavenhalterbeispiel)
– Problem: warum sollten sich strikt eigeninteressierte, rationale Sklavenhalter
dem Lockeschen Proviso unterwerfen? Des Weiteren wird das Phänomen
zufälliger und unverdienter (im Sinne von nicht durch eigene Leistung
erworbener) Vorteile durch Gauthiers Fairnesskonzeption nicht erfasst
Vgl. Folie 51.
Vgl. oben Fn.285.
99
•
Zu (3): Konzept des eingeschränkten Maximierers (EM) (constraint maximizer) in
Abgrenzung zum direkten Maximierer (DM) (straightfoward maximizers);
Ausbildung einer EM-Disposition ist auch für strikt eigeninteressierte Akteure
rational, und führt zu kooperativem Verhalten (Einhaltung der Abmachung) im Sinne
des Gefangenendilemmas
– Problem: es stellt sich die Frage, ob die ursprüngliche und nur durch die zwei
Optionen „kooperieren“ und „defektieren“ charakterisierte Situation des Gefangenendilemmas nicht durch die Möglichkeit der Entscheidung für eine Disposition um eine neuen Typ von Strategie erweitert wird. Auch ist der Status
von Dispositionen im Rahmen einer rein auf individueller (Eigen-)Nutzenmaximierung basierenden Theorie unklar. Weiterhin bleibt offen, welche Kriterien für die Identifizierung des Gegenspielers als EM oder DM heranzuziehen
sind
•
Grundsätzliches Problem der Einbeziehung von Mitgliedern der Gesellschaft, die, wie
z.B. Kinder und Behinderte, nicht in vollem Maße an Verhandlungen teilnehmen
können. Nach Gauthiers Auffassung sind sie „beyond the pale of a morality tied to
mutuality“ (ders. (1986), 268). Ansätze, die, wie der von Gauthier, Moralprinzipien als
Verhandlungslösungen auffassen, vermögen offenbar moralisch relevante Phänomene
wie Hilfsbereitschaft und Fürsorge kaum adäquat zu rekonstruieren.
Literatur: Gauthier, David, Morals By Agreement, Oxford 1986; ders,. Moral Dealing,
Ithaka/London 1990; ders., „Why Contractualism?“ in: Valentyne, Peter (HG.),
Contractualism and Rational Choice, New York 19991, 15 -30.
100
Herunterladen