SOP zur Fütterstörung für das Zentrum für Frauen – und Kindermedizin Zitierte Quelle:: Dt. Ges. F. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugenalter. Deutscher Ärzte Verlag, 3. überarbeitete Auflage 2007 – ISBN: 978-3-7691-0492-9, S. 357-378 I. Definition: Die Fütterinteraktion wird von den Eltern über einen längeren Zeitraum (> 1 Monat) als problematisch angesehen. Objektive Kriterien jenseits der ersten 3 Lebensmonate 1. Dauer der einzelnen Fütterungen > 45 min 2. und/oder Intervall zwischen den Mahlzeiten < 2h 3. kann/muss aber nicht zusätzlich eine Gedeihstörung vorliegen 4. Kriterien der Gedeihstörung: a) Säuglinge mit Geburtsgewicht über 3. Perzentile: Gewichtsverlust unter die 3. Perzentile und/oder Wechsel von mehr als 2 Gewichtsperzentilen-Kurven durch Gewichtsverlust,-stillstand über einen Zeitraum von mindestens 2 Monaten (Alter ≤ 6 Lebensmonate) bzw. mindestens 3 Monate (> 6. Lebensmonat) b) Säuglinge mit Geburtsgewicht unter der 3. Perzentile → jede fehlende Gewichts zunahme, die einen Monat oder mehr anhält Zusätzliche Symptome einer frühkindlichen Ess- und/oder Fütterstörung 1. Fehlen eindeutiger Hunger- und Sättigungssignale 2. sehr wählerisches Essverhalten 3. Nahrungsverweigerung, die durch organische Ursachen nicht erklärbar ist 4. Füttern nur mit Druck, Ablenkung oder Zwang möglich 5. Erbrechen/Rumination ohne organische Ursache 6. Schluck-, Saug-, Kauprobleme 7. orofaziale Überempfindlichkeit (angstvolle Abwehr gegenüber orofazialen Reizen) II. Schweregrade: 1. Dauer a) b) c) < 1 Monat → 1-3 Monate → > 3 Monate → passagere regulative Dysfunktion (häufig selbstlimitierend) i.d.R. mit erkennbarer Beziehungsbelastung häufig mit Beziehungsstörung 2. Pervasivität a) Andere Verhaltens- und Interaktionsbereiche sind auch betroffen. 3. Ausmaß der Beeinträchtigung in der Bewältigung kindlicher Entwicklungsaufgaben a)Keine b) Gesamtentwicklung gering beeinflusst. Einzelne Entwicklungsaufgaben nicht/oder nur unvollständig bewältigt. c) Gesamtentwicklung durch mangelnde Bewältigung von Entwicklungsaufgaben erheblich/deutlich beeinträchtigt. 4. Ausmaß der Beziehungsbelastung a) Schweregradeinteilung per PIR-GAS möglich (Parent-Infant-Global-Assessment-Scale) (erstellt: 01/2012 durch P. Hiermann, Dr. med. M. Kroll, Dr. med. F. Schlensog-Schuster) SOP zur Fütterstörung für das Zentrum für Frauen – und Kindermedizin III. Diagnostische Sub-Klassifikationen (nach DC: 0-3R, von Gontard) Diagnose Hauptsymptome Beginn Beobachtung Wachstumsdefizit Regulations-Fütterstörung (601.) zu abgelenkt zu unruhig zu schläfrig NG Geringe Mutter-KindReziprozität ja Fütterstörung der reziproken Interaktion (602.) Wachstumsdefizit, Deprivation, erstes LJ Vernachlässigung, fehlende elterliche Sorge, Defizite in sozialer Interaktion Defizite in der MutterKind-Beziehung Ja Mutter-Kind-Konflikt über die kindliche Nahrungsverweigerung Ja Frühkindliche Anore- Geringer Appetit, oft Nahrungs- < 3.LJ xie (603.) verweigerung, geringe Gewichtszunahme sensorische Nahrungsverweigerung (604.) Anhaltende Nahrungsverweigerung bestimmter Nahrungsmittel Einführung von Mutter-Kind-Konflikt Breikost, fester wegen selektiver Nahrung Nahrungsverweigerung spezifische Ernährungsdefizite Fütterstörung asso- Kind beim Füttern gestresst, ziiert mit med. keine ausreichende NahrungsErkrankungen (605.) aufnahme jedes Alter Beginnt zu essen, aber zunehmender Stress beim Füttern Ja Fütterstörung assoziiert mit Insulten des gastrointestinalen Traktes (606.) jedes Alter Kind schon bein Abhängig von Hinsetzen zum Essen Dauer oder beim Anbieten von Nahrung gestresst Anhaltende Verweigerung von Flaschen, fester oder jeder Nahrung IV. Procedere: 1. ambulant: Termin in der Psychosomatik – Sprechstunde (mittwochs) mitgeben 2. bei hoher familiärer Belastung, starker Gewichtsabnahme, schlechten klinischen Zustand → stationärer pädiatrischer Aufenthalt mit umgehenden gastroenterologisches Konsil (bevorzugt Fr. Dr. Martin, Dr. Schlensog-Schuster mit Intervision durch Dr. Kroll oder P. Hiermann) V. Anamnese: 1. Ernährungs- und Stillanamnese (Fütterfragebogen von v. Hofacker verwenden/ ggf. Eltern beim Erstkontakt mitgeben) 2. Erhebung der familiären Gesamtsituation (Eltern-Kind-Interaktion/ Tagesstruktur/ Schlafverhalten/ soziales Unterstützungsnetz der Familie/ Partnerschaftskonflikte/ Armut/ Alleinerziehendes Elternteil/ Elterliches Risikoverhalten bzgl. Alkohol-, Nikotin- und Drogenkonsum/ kulturelle, schichtspezifische Erziehungsvorstellungen und –normen) 3. eigenständige elterliche psychiatrische Erkrankungen 4. Fütter-, Gedeih- oder Essstörungen in der Vorgeschichte der Mutter (erstellt: 01/2012 durch P. Hiermann, Dr. med. M. Kroll, Dr. med. F. Schlensog-Schuster) SOP zur Fütterstörung für das Zentrum für Frauen – und Kindermedizin VI. Basisdiagnostik: 1. pädiatrischer und entwicklungsneurologische Untersuchung (bei gleichzeitiger Störung der Atmung → zuerst Atemproblematik therapieren, bei gleichzeitiger Störung des Schlaf-WachRhythmus → erst Verbesserung der Schlafstörung, dadurch Verbesserung der Nahrungsaufnahme mgl.) 2. entwicklungspsychologische Testung/ DD: psychiatrische Komorbiditäten 3. videogestützte Interaktions- und Verhaltensaufnahme von einer Füttersituation zu Hause 4. exzessives Schreien → Kuhmilchunverträglichkeit? 5. bei Gedeihstörung → siehe Leitlinie Gedeihstörung → weiterführende Diagnostik erst nach Gastrokonsil Mögliche zusätzliche Diagnostik nach Gastrokonsil: a) Kontrastmittel-Breischluck b) Mail an OÄ Sylvia Meuret wegen Termin Dysphagiediagnostik + Audiometrie c) Ggf. ph-Metrie d) Bei zusätzlicher Schlafstörung (Adenoide, Epilepsie, Asthma usw.) e) Genetische Syndrome f) Rezidivierende Schmerz- und Unruhezustände VII. Esstherapie: 1. Strukturierung des Tagesablaufes mit Nahrungspausen, um Hunger zu ermöglichen 2. Trennung von Fütter- und Spielphasen 3. Vermeiden von Zwang, Druck und Ablenkung 4. Förderung der altersadäquaten selbstständigen aktiven Beteiligung am Essen 5. kein Nahrungsangebot ohne kindliches Interesse 6. Elternarbeit 7. Einzelarbeit mit Kind und Eltern 8. Logopädie zur oralen Stimulation 9. Interaktionsarbeit 10.Multimodale kinderpsychiatrische Entwicklungsförderprogramm (Ergo-, Physio-, Musik-, Kunsttherapie etc. nach Bedarf) (erstellt: 01/2012 durch P. Hiermann, Dr. med. M. Kroll, Dr. med. F. Schlensog-Schuster) SOP zur Fütterstörung für das Zentrum für Frauen – und Kindermedizin Literatur: 1. Zero to Three (2006) DC: 0-3R diagnostic classification of mental health and development disorders of infancy and ealry childhood: revised edition. Karnac, London. 2. Chatoor I, Dickson L, Schaefer S, Egan J (1985) A development classification of feeding disorders associated with failure to thrive: diagnosis and treatment. In: Drotar D (ed) New directions in failure to thrive. Plenum, New York, pp 235-258 3. Chatoor I et al. (2001) Observation of feeding in the diagnosis of posttraumatic feeding disorder of infancy. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 40: 595-602 4. Chatoor I et al. (1997) A feeding scale for research and clinical pratice to assess mother-infant interactions in the first three years of life. Infant Ment Health J 18, 76-91 5. Dunitz M et al. (1996) Psychiatric diagnosis in infancy: a comparison. Infant Ment Health J 17: 12-24 6. Dunitz-Scheer M et al. (1997) Interaktionsdiagnostik. In: Keller H (Hrsg) Handbuch der Kleinkindforschung, 3. Aufl. Huber, Bern, S 209-234 7. Dunitz-Scheer M et al. (2004) Weaning of the feeding tube in early infancy. In: Remschmidt H, Belfer M (eds) Book of abstracts of the 16th World Congress of the IACCP. Steinkopff, Darmstadt, p99 8. Dt. Ges. F. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugenalter. Deutscher Ärzte Verlag, 3. überarbeitete Auflage 2007 – ISBN: 978-3-7691-0492-9, S. 357-378 9. Hofacker, N von et al. (1996) Diagnostik von Beeinträchtigung der Mutter-Kind-Beziehung bei frühkindlichen Störungen der Verhaltensregulation. Kindheit und Entwicklung, 3160-167 10.Gontard, Alexander von (2010): Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie. Kohlhammer Die SOP`s sind ausschließlich zur klinikinternen Anwendung durch Ärztinnen und Ärzte des UKL bestimmt. Sollten diese Behandlungsabläufe dennoch nicht von dem zur Anwendung bestimmten Personenkreis angewendet werden, so übernimmt das UKL keinerlei Haftung für einen ggf. daraus entstehenden Schaden. (erstellt: 01/2012 durch P. Hiermann, Dr. med. M. Kroll, Dr. med. F. Schlensog-Schuster)