HIV-Verbreitung in einer alternden Bevölkerung

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HIV-Verbreitung in einer alternden Bevölkerung
Konstanze Fendrich, Wolfgang Hoffmann
Weltweit waren im Jahr 2006 nach Schätzungen der UNAIDS/WHO zwischen 34,1 und 47,1
Mio. Menschen mit HIV infiziert. Der weitaus größte Anteil der Betroffenen ist dabei jünger
als 50 Jahre (UNAIDS 2006). In der Folge wird HIV/AIDS überwiegend als eine Erkrankung
junger Personen wahrgenommen und kommuniziert. Weniger beachtet wird dabei, dass
auch ältere Personen (≥50 Jahre) insbesondere in Europa und Nordamerika von HIV/AIDS
betroffen sein können. Ziel dieses Beitrages ist es, speziell die durch den demographischen
Wandel in ihrer absoluten Anzahl zunehmende Altersgruppe der über 50-Jährigen in Bezug
auf Herausforderungen der HIV/AIDS Prävention, Diagnose und Therapie zu betrachten.
Anzahl neu diagnostizierter
HIV+-Fälle
HIV-Verbreitung in Mecklenburg-Vorpommern
Mecklenburg-Vorpommern (M-V) gehörte im Jahr 2006 mit 29 HIV-Erstdiagnosen zu den
Regionen Deutschlands, die mit 1,7 Fällen / 100.000 Einwohnern eine sehr niedrige
Erstdiagnosen-Inzidenz aufweisen (AIDS Centrum Rostock e.V. 2007, RKI 2007). Die Zahl
an Erstdiagnosen schwankte dabei in M-V zwischen 15 im Jahr 2001 und 29 in den Jahren
2002 und 2006 (AIDS Centrum Rostock e.V. 2007). Nach Schätzungen des RKI leben in
Mecklenburg-Vorpommern derzeit ca. 325 Personen mit HIV/AIDS, ca. 50 HIV-Infizierte sind
seit Beginn der Epidemie gestorben (RKI 2007). Abb. 1 stellt die Altersverteilung der im Jahr
2006 neu diagnostizierten HIV-Infektionen dar. Von den insgesamt 29 Fällen entfielen 4 auf
Personen, die älter als 49 Jahre waren (AIDS Centrum Rostock e.V. 2007). Dies entspricht
13,8% der Neudiagnosen. Dieser Anteil liegt damit in derselben Größenordnung wie in den
USA, die über einen 10- bis 15-prozentigen Anteil berichten (Manfredi 2003).
10
9
8
7
6
5
4
3
2
1
0
<20
20-29
30-39
40-49
50-59
60-79
Altersgruppe (Jahre)
Abb. 1: Anzahl neu diagnostizierter HIV-Infektionen in Mecklenburg-Vorpommern 2006
(Datenquelle: AIDS Centrum Rostock e.V. 2007, eigene Darstellung)
Eine alternde Gesellschaft – der demografische Wandel
Die Bevölkerungsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern ist für den Zeitraum von 1990 bis
2006 durch eine Alterung der Bevölkerung und einen Rückgang der Einwohnerzahlen um
12,9 % gekennzeichnet (1990: ca. 1,94 Mio. Einwohner; 2006: 1,69 Mio. Einwohner). Eine
Ursache der Erhöhung des Anteils Älterer und des Bevölkerungsrückgangs in der Region ist
die starke Verringerung der Geburtenzahlen von 23.503 Geburten 1990 auf Anzahlen
zwischen 8.934 (1994) und 12.638 Geburten (2006). Gleichzeitig hatte das Land
Mecklenburg-Vorpommern für 2006 wie auch in den Vorjahren ein hohes Wanderungsdefizit
zu verzeichnen. Das Wanderungsverhalten ist durch Wanderungsverluste insbesondere in
den Altersgruppen der 15- bis 30-Jährigen, darunter besonders der Frauen, charakterisiert.
Für alle Altersgruppen über 54 Jahre ist dagegen ein Nettozuzugsgewinn erkennbar
(Statistisches Amt M-V 2007).
Bedingt durch den deutlichen Geburtenrückgang, das Wanderungsverhalten und die
zunehmende Lebenserwartung in den neuen Bundesländern ist die Bevölkerung in
Mecklenburg-Vorpommern gegenüber den alten Bundesländern nahezu im Zeitraffer
gealtert. Die Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns hat sich in 15 Jahren vom jüngsten
Bundesland auf das Altersniveau der Bundesrepublik bewegt und wird 2020 deutlich älter
sein als der Bundesdurchschnitt. Gleichzeitig wird die Gesamteinwohnerzahl in
Mecklenburg-Vorpommern zukünftig weiter sinken auf 1,4 - 1,6 Mio. Menschen im Jahr 2020
(eigene Prognose ICM-VC; Statistisches Amt M-V 2007). Dabei wird die Abnahme der
jüngeren Altersgruppe mit einer relativen und absoluten Zunahme der Älteren verbunden
sein.
Alter
100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
20
15
10
5
Tausend Personen
2002 Männer
2002 Frauen
0
5
10
15
20
Tausend Personen
2020 Männer
2020 Frauen
Abb. 2: Bevölkerungsstruktur Mecklenburg-Vorpommerns 2002 und Prognose für 2020
(eigene Prognose ICM-VC)
Die schnelle Alterung der Bevölkerung stellt gleichzeitig kein regional begrenztes Problem
von Ostdeutschland dar: Länder wie Italien und die 10 neuen Mitgliedsstaaten der EU
werden zukünftig in ähnlicher Weise betroffen sein (Greinacher et al. 2007).
Die Alterung der Bevölkerung hat als ein Faktor neben z.B. Änderungen von
gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Bedingungen Auswirkungen auf die
Häufigkeit und damit die Fallzahlen verschiedener mit bestimmten Altersgruppen
assoziierten Erkrankungen. Anzunehmen ist, dass bei gleich bleibender Inzidenz von HIVInfektionen die absolute Anzahl junger Menschen mit HIV/AIDS sinken während sich die
Anzahl älterer erhöhen wird.
Eine alternde Gesellschaft – die „Neuen Alten“ sind anders?
Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Flexibilität und Aktivität zählen in der westlichen Gesellschaft
als positive Orientierungsgrößen. Mit dem Alter werden hingegen nach wie vor häufig
negative Stereotype wie schlechte Gesundheit, Einsamkeit, Passivität und sexuelle
Inaktivität verbunden. In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch ein deutlicher Wandel der
tatsächlichen Lebenssituation älterer vollzogen, der nicht nur mit einer Verlängerung der
Lebenserwartung einherging, sondern auch mit einer Erhöhung der aktiven und in relativer
Gesundheit verbrachten Lebenszeit. Ältere Menschen verfügen heute im Vergleich zu
früheren Generationen über mehr körperliche, geistige und ökonomische Ressourcen, die
ihnen ein aktives Leben ermöglichen. Daneben ermöglicht auch die Entwicklung neuer
Medikamente der Wirkstoffklasse der PDE-5-Hemmer wie z.B. Viagra® sexuelle Aktivität und
die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen für eine größere Anzahl von älteren
Personen. Durch die Zunahme der absoluten Anzahl älterer und aktiver Personen sollte das
Problem HIV/AIDS auch für die Altersgruppe ab 50 Jahren, die traditionell kaum von der
HIV/AIDS Forschung betrachtet worden ist, an Bedeutung gewinnen.
HIV/AIDS – ältere Menschen
HIV/AIDS wird überwiegend als eine Erkrankung junger Personen wahrgenommen und
kommuniziert. Dies spiegelt sich u.a. in der Gestaltung der Mehrzahl der
Informationsangebote und -materialien sowie der Präventionskampagnen z.B. von „Gib AIDS
keine Chance“ wider, in denen der „ältere“ Mensch weitgehend ignoriert wird. Zielgerichtete
Informationen wären jedoch gerade für diese Gruppe ebenso notwendig wie für jüngere. So
zeigten Studien aus den USA, dass ältere Menschen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung
über weniger Wissen in Bezug auf HIV/AIDS verfügten und u.a. annahmen, dass HIV/AIDS
in ihrer Altersgruppe nicht vorkommt (Chiao et al. 1999; Maes et al. 2003). In der Folge wird
in dieser Altersgruppe ein geringeres Risikobewusstsein ausgebildet (The University of North
Carolina at Chapel Hill 2006).
Der häufigste Infektionsweg bei über 50-Jährigen bestand dabei in homosexuellen Kontakten
zwischen Männern (Levy et al. 2003). Gleichzeitig konnte jedoch in den letzten Jahren
beobachtet werden, dass die Anzahl derjenigen, die durch heterosexuelle Kontakte infiziert
werden in dieser Altersgruppe ansteigt, während die Anzahl derjenigen, die sich über
homosexuelle Kontakte infizieren sinkt (Lieberman 2000; Emlet et al. 2002). Zusätzlich wird
sich die Anzahl älterer HIV-positiver Personen erhöhen, da effektive Therapiemöglichkeiten
(HAART) zu einem längeren Überleben Infizierter führen. Bisher sind jedoch nur sehr wenige
Daten über sexuelles Verhalten und sexuelles Risikoverhalten von älteren Personen aus
bevölkerungsbezogenen Studien verfügbar, so dass für Deutschland derzeit keine
Abschätzung der Prävalenz von sexuellem Risikoverhalten in dieser Altersgruppe erfolgen
kann.
In M-V leben gegenwärtig 14% der 50- bis 59-Jährigen und 19% der 60- bis 69-Jährigen in
Ein-Personen-Haushalten. Seit 1990 wird insgesamt eine steigende Anzahl von dieser
Haushaltsform verzeichnet (Statistisches Amt M-V 2007). Ältere, die „Single“ werden sind
durch ihr geringeres Risikobewusstsein und Wissen über HIV/AIDS gefährdet, sich zu
infizieren. Maes et al. konnten zeigen, dass ältere Personen in neuen Partnerschaften eine
geringere Wahrscheinlichkeit hatten, ein Kondom zu benutzen als jüngere Personen (Maes
et al. 2003). Eine mögliche Begründung könnte darin liegen, dass nach Eintritt der
Menopause keine Notwendigkeit zur Schwangerschaftsverhütung mehr besteht und somit
keine antikontrazeptiven Verhütungsmaßnahmen ergriffen werden. Gleichzeitig besteht
durch altersbedingte physiologische Veränderungen (Abnahme der Gewebestärke,
verringerte Elastizität, verminderte Lubrikation) jedoch ein erhöhtes Infektionsrisiko durch
während des Geschlechtsverkehrs entstehende Mikrorisse in der Vaginalschleimhaut
(Lieberman 2000).
Ein besonderes Problem für die Prävention besteht darin, dass die Anzahl älterer infizierter
Personen weitgehend unbekannt ist, da diese wesentlich seltener als jüngere auf HIV
getestet werden (Public Health Agency of Canada 2004; Lekas et al. 2005).
~25 % HIV-Infektion
unbekannt
verantwortlich
für:
~54 % der
Neuinfektionen
~75 % HIV-Infektion
bekannt
~46 % der
Neuinfektionen
Anzahl Personen,
die mit HIV/AIDS leben (USA):
1.039.000 – 1.185.000
Jährliche Anzahl durch
sexuellen Kontakt verursachte
Neuinfektionen (USA):
~32.000
Abb. 3: Prozentualer Anteil der Personen, die über ihre HIV-Infektion informiert sind und
Schätzung des Anteils an Neuinfektionen durch informierte und nicht informierte Personen
für die USA (Marks G et al. 2006, modifiziert)
Gründe für die seltenere Durchführung von Tests liegen zum einen auf der individuellen
Ebene auf der anderen im medizinischen System. Studien zeigten, dass ältere Personen
seltener Wissen, wo sie sich testen lassen können, weniger häufig aktiv bei Ärzten nach
einem Test fragen und dass sie die Symptome einer HIV-Infektion eher als normale
Alterungserscheinung deuten. Eine ähnliche Problematik besteht auch auf Seiten der Ärzte.
Diese deuten ebenfalls Symptome weniger häufig als Verdacht auf eine HIV-Infektion, sie
fragen seltener nach Risikoverhaltensweisen bei älteren Patienten und testen diese seltener.
Dadurch kommt es zu einer Verzögerung der Diagnose bei älteren Patienten (Eldred et al.
2005; The University of North Carolina at Chapel Hill 2006). Wie Abb. 2 zeigt, ist jedoch
gerade die Gruppe, die nicht über ihre Infektion informiert ist, für einen größeren Anteil an
Neuinfektionen verantwortlich (Marks et al. 2006).
Auswirkungen von HIV auf ältere Personen
Ältere Personen mit HIV/AIDS haben im Vergleich zu jüngeren
• häufig einen schwereren klinischen Verlauf der Erkrankung
• ein kürzeres AIDS-freies Intervall
• eine höhere Anzahl von Begleitinfektionen / Komorbiditäten
• schlechtere Gesundheitswerte bei Diagnose (z.B. geringere CD4+ T- Zellzahl)
• eine kürzere Überlebenszeit trotz HAART, da die positiven Effekte von HAART bei
älteren Patienten weniger ausgeprägt zu sein scheinen
• und häufigere Medikamenteninteraktionen.
Dies resultiert zusammen mit der häufig gegenüber jüngeren verzögerten HIV-Diagnose in
einer insgesamt deutlich schlechteren Prognose des Krankheitsverlaufs und des Überlebens
(Lekas et al. 2005; Emlet et al. 2002; The University of North Carolina at Chapel Hill 2006).
Erschwerend kommt hinzu, dass aufgrund einer nur unzureichenden Studienlage,
weitgehend unklar ist, wie die optimale Therapie für ältere HIV/AIDS Patienten gestaltet
werden sollte (Manfredi 2004).
Fazit
• HIV/AIDS ist in M-V eine seltene Erkrankung, insbesondere bei älteren Menschen.
• Aber: durch Änderungen im Lebensstil in älteren Bevölkerungsgruppen kann das
Infektionsrisiko steigen.
• Es bestehen Wissensdefizite über HIV/AIDS bei der älteren Personengruppe.
•
•
Spezielle Informationen über Prävention sollten für die ältere Bevölkerung entwickelt
und verbreitet werden.
Datenbedarfe bestehen zum Risikoverhalten älterer Menschen sowie zur
Lebenssituation, Diagnose, Therapie älterer HIV+/AIDS Patienten in Deutschland.
Anmerkung:
Diese schriftliche Zusammenfassung des Vortrages „HIV-Verbreitung in einer alternden
Bevölkerung“, der auf dem Workshop „HIV-Prävention“ der Ärztekammer MecklenburgVorpommern durch Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann gehalten worden ist, wurde zeitgleich zur
Publikation in einer wissenschaftlichen Zeitschrift eingereicht.
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Chiao EY, Ries KM, Sande MA. (1999). AIDS and the elderly. Clin Infect Dis. 28(4):740-5.
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with HIV/AIDS: the role of age in the equation. J Aging Health. 14(3):315-35.
Greinacher A, Fendrich K, Alpen U, Hoffmann W. (2007). Impact of demographic changes on
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47:395-401
Lekas HM, Schrimshaw EW, Siegel K. (2005). Pathways to HIV testing among adults aged
fifty and older with HIV/AIDS. AIDS Care. 17(6):674-87
Levy JA, Ory MG, Crystal S. (2003). HIV/AIDS interventions for midlife and older adults:
current status and challenges. J Acquir Immune Defic Syndr. 33 Suppl 2:S59-S67.
Lieberman R. (2000) HIV in Older Americans: An Epidemiologic Perspective. Journal of
Midwifery & Women’s Health. Vol. 45, No. 2, pp. 176-182
Maes CA, Louis M. (2003). Knowledge of AIDS, perceived risk of AIDS, and at-risk sexual
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Manfredi R. (2004). HIV infection and advanced age emerging epidemiological, clinical, and
management issues. Ageing Res Rev. 3(1):31-54.
Marks G, Crepaz N, Janssen RS. (2006). Estimating sexual transmission of HIV from
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Public Health Agency of Canada (2004). HIV/AIDS among Older Canadians.
http://www.phac-aspc.gc.ca/publicat/epiu-aepi/epi_update_may_04/6_e.html.
Robert Koch Institut (2007). HIV-Infektionen und AIDS-Erkrankungen in Deutschland.
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The University of North Carolina at Chapel Hill (2006). UNC Program on Aging: HIV/AIDS &
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UNAIDS (2007) AIDS epidemic update: special report on HIV/AIDS: December 2006.
http://www.aids-kampagne.de/l8mimages/unaidsbericht2006.pdf
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Wolfgang Hoffmann, MPH
Institut für Community Medicine, Abt. Versorgungsepidemiologie und Community Health
Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald, Ellernholzstr. 1-2, 17487 Greifswald
e-mail: [email protected]
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