PROZESSSCHUTZ VERSUS NATURSCHUTZ Naturschützer sind es gewöhnt, gegen den Widerstand der Interessensvertreter der Wirtschaft, sei es nun solcher des Straßen- oder Schiffsverkehrs, der Industrie und der Gewerbe aber auch solcher der privaten Grundstücksbesitzer, an zu kämpfen. In Passau zum Beispiel wehren sie sich bisher erfolgreich gegen den Bau einer Nordtangente und gegen den Donauausbau. Den Kampf gegen die Lände Lindau, den Eingriff in den geplanten Bannwald an der Sperrwiese und für die Baumschutzverordnung haben sie verloren. Neu dagegen und besonders belastend, da es um die Grundlagen des Selbstverständnisses geht, sind die Angriffe aus den eigenen Reihen, nämlich durch die Vertreter des so genannten Prozessschutzes, die seit den 90er Jahren den traditionellen Naturschutz angreifen. Sie nämlich behaupten – und untermauern dies mit den Ergebnissen der Wissenschaft Ökologie – dass natürliche Prozesse die Erscheinungen der Natur einem dauerndem Wandel unterwerfen. Heide wird zu Wald, Seen verlanden. Arten von Organismen verändern sich. Neue Arten entstehen, andere sterben aus. Der traditionelle Naturschutz schütze aber, abgesehen von den Wildnisbereichen der Nationalparks, gerade diesen natürlichen Wandel nicht. Er will ja bewahren, was ist. Und das könne man nur schützen, wenn man es einerseits dem Zugriff der wirtschaftlichen Interessen entziehe, aber auch nicht dem dynamischen Prinzip der Natur aussetze. Deswegen sei schon der Begriff „Naturschutz falsch: denn geschützt werden soll nicht die Natur, sondern die Landschaft. WORIN BESTEHT DIE KRITIK DER VERTRETER DES PROZESSSCHUTZES AM NATURSCHUTZ? Der traditionelle Naturschutz sei erfolglos. Wie kann es sein, so fragt Prof. Josef H. Reichholf, dass trotz zwanzigjähriger Bemühungen, millionenschwerer Investitionen des staatlichen Naturschutzes und großer Verbände die Roten Listen der gefährdeten Arten weiter wachsen? Das Unter-Schutz-Stellen sei dann Arten zerstörend, wenn es dazu führe, dass die ökologische Dynamik eines Landschaftsraumes verloren gehe. Er hält zum Beispiel nichts von dem Klischee „Kein Donauausbau = gut, Ausbau der Donau = schlecht“. Heutzutage könnten nämlich Staustufen so gebaut werden, dass sich die Natur auf Grund der ökologischen Dynamik zu einem gegenüber dem jetzigen verbesserten Zustand regenerieren könne. Es sei sinnlos, mit dem Vorkommen der Donaukahnschnecke, von der man nicht wisse seit wann und wie lange sie noch in der Donau zu finden sei, deren Ausbau zu verhindern. Vertreter des Prozessschutzes werfen dem traditionellen Naturschutz außerdem vor, er sei konservativ und museal. Er trete lediglich für die Bewahrung bestimmter Zustände ein und bekämpfe krampfhaft Veränderungen, indem er sich gegen die Dynamik natürlicher Prozesse stelle. Traditioneller Naturschutz schütze nicht die Natur, sondern das, was er für die wahre, urwüchsige Natur halte. Die Lüneburger Heide, früher als öd und minderwertig verachtet, entwickelte sich zum Inbegriff des Naturschutzgebiets, weil man sie plötzlich mit anderen Augen sah und sie als romantisch schön empfand. Ihre Schönheit sollte gegen die Dynamik der Natur erhalten bleiben. Ziel war also die Bewahrung eines bestimmten landschaftlichen Zustandes unter Ausschluss der dynamischen natürlichen Prozesse. Das Leitbild des konservierenden Naturschutzes sei Konstanz und Stabilität sowie Ordnung und Schönheit. Mit besserwisserischer Arroganz werde die natürliche Dynamik und der damit verbundene Artenwandel der Lebensräume verhindert durch Mahd, Entbuschung und Manipulation. Kurzum, der Naturschutz bemühe sich nicht um die Natur, sondern um das, wie der Mensch sie haben will. Des weiteren sei der Naturschutz unwissenschaftlich. Denn er stütze sich auf falsche ökologische Theorien. Er gründe nämlich auf der veralteten Theorie, Ökosysteme seien geschlossene, stabile, auf ein Klimaxstadium gerichtete Systeme, die sich in einem Gleichgewicht befänden. Dadurch werde die Natur falsch interpretiert mit der Folge, dass der Naturschutz die Natur in einem naturfernen Zustand konserviere und in der Landschaft dadurch eine „gepflegte, gestaltete, gezähmte und geschönte“ Natur geschaffen habe. Vor allem wird kritisiert, dass Wälder als eine Art Superorganismus gedacht würden, in dem sich ein Klimaxstadium als Höhepunkt der Waldentwicklung, als Inbegriff von Schönheit und Harmonie, einstelle. Auch sei der Naturschutz irrational. Denn die Vorstellung eines Klimaxzustandes als Höhepunkt einer Waldentwicklung hin zu Schönheit und Harmonie sei ein irrationales, märchenhaftes Waldbild, das die Sehnsüchte und Wünsche nach einem verlorenem Paradies widerspiegele, aber von der ökologischen Realität weit entfernt sei. Der Naturschutz solle sich auf Fakten und nicht auf Glaubensbekenntnisse und Naturromantik stützen. IST DIESE HARSCHE KRITIK BERECHTIGT? Prof. Josef H. Reichholf hat sicher Recht, dass die von Naturschützern immer wieder vorgebrachte Behauptung, es sei vor allem der neugierige Mensch, der die Natur bedrohe und der deswegen von ihr fern gehalten werden müsse, Unsinn ist. Denn die von ihm verursachten Verluste sind minimal und bedrohen die Natur keinesfalls. Im Gegensatz zu den Amerikanern, die in den Paragraphen ihres „Wilderness Act“ von 1964 festlegten, dass Nationalparks bewusst für Besucher geöffnet sein müssen, um ihnen das Erlebnis der Wildnis zu ermöglichen, haben die passauer Naturschützer sogar einen Radweg durch das Ilztal deswegen abgelehnt, weil das Ilztal genug erschlossen sei, und das Ilztal durch Radfahrer zu sehr belastet werde. Lieber ist ihnen die Freizeitbahn: denn dort bleiben die die Natur belastenden Touristen im Wagon eingesperrt und können die Natur nicht stören. Eine solche Einstellung ist der sichere Weg, die Leute der Natur zu entfremden. Prof. Josef H. Reichholf hat auch sicher mit seiner Aussage Recht, dass unsere Wälder dunkel, kühl und feucht sind, was nur wenig Arten mögen. Hier müssten natürliche Störungen in Form von Windbrüchen oder auch, wenn nötig, Kahlschläge dafür sorgen, dass die Arten, die Licht und Sonne brauchen, eine Chance des Überlebens erhalten. Unverständlich ist es daher, dass passauer Naturschützer auf dem rechten Innufer die Zielsetzung „Baumweidenaue“ zumindest teilweise durchsetzten. Ein Auf-Stock-Setzen alle paar Jahre hätte der Fauna und Flora, die Licht, Sonne und Wärme brauchen, bessere Lebensbedingungen geboten. Das Umweltamt hat die Zulassung der Sukzession, also das Aufwachsen hoher Weiden, zum einem damit begründet, dass damit ein größerer Anteil des für die Artenvielfalt notwendigen Totholzes verbunden sei, zum anderen damit, dass Häuser, die nicht dem für die Innstadt kennzeichnenden historischen Haustyp entsprechen, hinter den Bäumen den Blicken von der Altstadtseite her entzogen bleiben sollten. Die Bewohner dieser Häuser, die nun, statt einen Blick auf den Fluss und die Stadt genießen zu können, auf eine grüne Wand schauen dürfen, haben verständlicherweise darauf mit großer Aversion gegen den Naturschutz reagiert. Prof. Josef H. Reichholf hat auch sicherlich Recht, wenn er darauf hinweist, dass die Städte mit ihren vom Naturschutz bekämpften Straßen, Industrie- und Gewerbegebieten mittlerweile mehr Artenvielfalt aufweisen als das Land, so sehr, dass sich dort neben verschiedenen Vogelarten jetzt dort auch Füchse und sogar Wildschweine einfinden. Die eigentlichen Verursacher des Artenschwundes, nämlich die intensive Landwirtschaft mit ihren Getreideund Maissteppen sowie eine Arten zerstörende Überdüngung verschwinde aus dem Fokus des Naturschutzes. Aber in einem hat Prof. Josef H. Reichholf und die anderen Vertreter des Prozessschutzes sicher Unrecht, nämlich darin, dass eine Kulturlandschaft, wie sie im Laufe vieler Generationen entstanden ist, in seiner Eigenart nicht bewahrt werden sollte. Sie ist und bleibt Identifikationsmittelpunkt aller Menschen, die in ihr beheimatet sind. Der Mensch braucht auch Stabilität und Bewahrung der Eigenart der Landschaft, in der er wohnt. Die Wildnis hat ihren Platz im Nationalpark Bayerischer Wald. Die Kulturlandschaft aber, die durch menschlicher Einflussnahme über viele Generationen hinweg entstanden ist, muss nachhaltig geschützt werden, und zwar nicht nur gegen die Interessen der Wirtschaft, sondern auch gegen die Dynamik der Natur. K. Schürzinger, 15.08.2009