infoSekta Jahresbericht 2013 «Wir haben alle Identitätsprobleme» Wie die evangelikale Community mit Homosexualität umgeht Regina Spiess Homosexualität ist eine Sünde, aber in vielen Fällen heilbar – darüber war man sich innerhalb der evangelikalen Community lange einig. Was bedeutet das für die betroffenen Gläubigen? Und wie reagiert die evangelikale Gemeinschaft auf Ereignisse der letzten Zeit, die diese Annahmen in Frage stellen? Die Stellungnahme der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA) zum Thema Homosexualität ist deutlich: Gelebte Homosexualität entspreche nicht dem Willen Gottes, Betroffene sollten in einem «Prozess der Veränderung» unterstützt werden oder enthaltsam leben.1 Die Stellungnahme wurde anlässlich der Europride 2009 publiziert. 19 Unter dem Vorzeichen tiefer Tragik Die SEA ist der Dachverband der evangelikalen Gemeinschaften und Werke in der Schweiz, ihm gehören auch verschiedene reformierte Kirchgemeinden an. Beim Autor der Stellungnahme handelt es sich um den SEA-Präsidenten Wilf Gasser. Ursprünglich Arzt, ist Gasser heute unter anderem als Ehe- und Sexualtherapeut tätig. Gasser beschreibt Homosexualität – Bi- und Transsexualität werden kaum thematisiert – als schwerwiegende Störung der Identitätsentwicklung. Er rückt Homosexualität in die Nähe von Pädophilie: «Der fliessende Übergang von Homosexualität zu Pädophilie ist problematisch und zum Beispiel bei Homo- sexuellen beliebte Feriendestinationen in Asien sind augenfällig» (S.12-13). Die Möglichkeit von männlicher «in Liebe und Treue gelebte(r) Homosexualität» schliesst der Autor aus und hält dagegen, «dass in der schwulen Szene Treue umdefiniert und auf die Beziehungsebene reduziert wird. Treue lebt man ‚oberhalb der Gürtellinie’. Häufiges Wechseln des Sexualpartners, anonymer Sex in Darkrooms und öffentlichen Toiletten (...) ist untrennbar mit praktizierter männlicher Homosexualität verbunden» (S. 12). Als «orgasmusorientiert» gelebte Anfragen bei der Fachstelle Die Fachstelle hat auf verschiedene Weise mit dem Thema Homosexualität in freikirchlichem Kontext zu tun. Häufig geht es dabei um Jugendliche: So wendet sich ein Vater an infoSekta, weil sich der 16-jährige Sohn stark in einer Freikirche engagiere. Kürzlich habe er seiner lesbischen Tante erklärt, gelebte Homosexualität sei eine Sünde. Auch im Zusammenhang mit evangelikaler Jugendarbeit ist Homosexualität immer wieder ein Thema: Was bedeutet es für einen jungen Menschen, wenn er lernt, dass er seine Sexualität nicht leben dürfe, weil sie angeblich sündhaft sei? «Wir haben alle Identitätsprobleme» Sexualität habe Homosexualität ein Suchtpotential und gehe auch überdurchschnittlich häufig mit anderen Suchtproblemen einher. Weiter behauptet Gasser, Homosexualität, verstanden als psychische Fehlentwicklung, sei der eigentliche Grund für eine erhöhte Suizidalität und nicht etwa gesellschaftliche Diskriminierung. Es gehe aber nicht darum, homosexuell empfindende Menschen zu verurteilen, vielmehr sei gelebte Homosexualität in erster Linie «unter dem Vorzeichen der tiefen Tragik» zu verstehen (S.14). «Es gibt auch Ex-Homosexuelle» Aber, und darauf läuft die Stellungnahme hinaus, Veränderung sei möglich: «Es gibt auch Ex-Homosexuelle», titelt Gasser. Schon weiter vorne hat er ausgeführt: «Die moderne Sexualwissenschaft geht davon aus, dass die sexuelle Orientierung formbar ist (...). Veränderung in die eine oder andere Richtung ist selbst in höherem Lebensalter noch mög- lich» (S. 8). Der Autor liefert für obige Behauptung, die wissenschaftlichen Erkenntnissen völlig entgegensteht, keine Belege. Dafür schliesst er aus der Beobachtung, dass sich Menschen auch in fortgeschrittenem Alter zu ihrer Homosexualität bekennen, der umgekehrte Prozess sei ebenfalls möglich. Das werde «jedoch von einem Segment der Homosexuellen-Szene aus ideologischen Gründen noch immer verneint» (S. 8). Gasser behauptet gar, ein Drittel der Veränderungswilligen finde zu Heterosexualität und ein Drittel erlebe wesentliche Veränderungen in der sexuellen Ausrichtung – was immer das bedeuten mag (S. 8). Auch für diese unglaublichen Zahlen führt er keine wissenschaftlichen Belege an, er dürfte sich aber auf Markus Hoffmann von Wüstenstrom Deutschland stützen. Als Voraussetzung für Veränderung nennt Gasser eine starke Motivation sowie den Umstand, dass die gleichgeschlechtliche An- ziehung als nicht zur eigenen Persönlichkeit zugehörig, als «ichdyston» erlebt werde. Auch die Website «Homosexualität-Veränderung-Beratung» eines anonymen Vereins ohne Impressum wirbt entsprechend: «Gehören Sie zu den Menschen, die sagen: ‚Die Homosexualität gehört irgendwie nicht zu mir? (...)’ Die Fachsprache nennt das ich-dystone Homosexualität.»2 Ein solches ichdystones Erleben hat nach Gasser, der Homosexuelle als eher pädophil, sex- und drogensüchtig, beziehungsunfähig, als in ihrer Identität gestört und infolge dessen erhöht suizidal beschreibt, nichts mit der gesellschaftlichen Diskriminierung zu tun, wie manche «homosexuelle Autoren» behaupten würden (S. 8). Gasser propagiert, wovor psychologische und medizinische Fachverbände seit Jahren warnen: «Behandlungen» zur Veränderung der sexuellen Ausrichtung. Er benutzt dabei die Diagnose der ichdystonen Sexualorien- 20 «Wir haben alle Identitätsprobleme» tierung als Hintertür, um Homosexualität zu pathologisieren – auch dagegen sprechen sich Fachpersonen entschieden aus. Der amerikanische Psychologen-Verband APA analysierte 2009 in einer Übersichtsstudie die bestehenden Studien zur Wirkung von Therapien, die auf eine Veränderung der sexuellen Ausrichtung abzielen.3 Der Verband kommt zum Schluss, es gebe keine Hinweise auf die Wirksamkeit solcher Therapien, hingegen auf deren Risiken, weshalb darauf verzichtet werden solle. Im Jahr 2012 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation einen Bericht mit dem Titel «’Therapies’ to change sexual orientation lack medical justification and threaten health». Auf Deutsch: «’Therapien’ zur Veränderung der sexuellen Orientierung haben keine medizinische Grundlage und gefährden die Gesundheit.»4 21 Der Veränderungsmythos Die diskriminierende und wissenschaftlichen Fakten entgegenstehende Darstellung der SEA von Ursachen und Konsequenzen sexueller Orientierung mündet in der Forderung nach Gewissens-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit. Es wird Nicht-Diskriminierung von Beratern verlangt, die «veränderungswillige Menschen» begleiten. Kämpferisch heisst es: «Angriffe von Homosexuellen-Organisationen oder Medienschaffenden nehmen wir zum Anlass, das ‚Recht auf Veränderung’ einzufordern»; es werden vier Organisationen, die Hilfe bei diesem «Veränderungsprozess» anbieten, aufgeführt (S.14). Laut der SEA-Stellungnahme ist Homosexualität nicht nur abzulehnen, weil es verschiedene eindeutige Bibelstellen dazu gebe, sondern auch, weil Homosexualität dem biblischen Menschenbild von Mann und Frau als Ebenbild Gottes zuwiderlaufe, wie Gasser ausführt. Er kritisiert denn auch den Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) für dessen liberale Haltung: «(....) damit wird die Autorität der Bibel, als Grundlage des Lebens und der Lehre sowohl der Kirche als auch des Einzelnen, relativiert» (S.5). In der SEA-Stellungnahme wird nicht erwähnt, dass es evangelikale Christen gibt, die Homosexualität als vereinbar mit evangelikalem Glauben verstehen, und auch entsprechende Initiativen wie etwa die Organisation Zwischenraum existieren. In der Stellungnahme der SEA wird aber durchaus auch ein Bewusstsein für das Ausschliessende gegenüber Menschen in der eigenen Mitte deutlich. So heisst es, man stelle sich «entschieden gegen jede Diskriminierung» und fordere christliche Gemeinschaften auf, sich zu fragen, welche Hilfestellungen sie gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen bieten können – um die Antwort aber gleich vorzugeben: «Hilfesuchende sollen «Wir haben alle Identitätsprobleme» ernst genommen und begleitet, statt mit der Aufforderung, ihre ‚Veranlagung’ zu akzeptieren, abgespiesen zu werden» (S.14). Die Doktrin darf also nicht angetastet werden, weil dadurch, so das Argument, der vertretenen Ethik letztlich die Grundlage entzogen würde. Dennoch können im Namen der Doktrin nicht Menschen ausgeschlossen werden, die vom gesellschaftlichen Mainstream längt akzeptiert sind. Es geht um einen Wertekonflikt, der sich, so scheint es, nur durch ein Wunder lösen lässt: die Veränderung der sexuellen Ausrichtung. Was als nicht zum Glauben gehörig verstanden werden darf, wird zum «ichdystonen Erleben» der Betroffenen, die im Prozess der Veränderung begleitet werden sollen. Die Ex-Gay-Bewegung Damit folgt die SEA-Stellungnahme den Argumenten der Ex-Gay-Bewegung, hinter der überwiegend evangelikale Gruppen stehen. Die Bewegung entstand in den siebziger Jahren in den USA. Sie postuliert «Heilung» von Homosexualität, wendet sich gegen «gelebte Homosexualität» und prangert den «homosexuellen Lebensstil» an. In sogenannt reparativen Therapien oder Konversionstherapien, die häufig vorgeben, tiefenpsychologisch zu sein, wird in der Kindheit nach den «Ursachen» homosexuellen Erlebens gesucht – und oft genug bei angeblichen Fehlern der Eltern gefunden. Die amerikanische Organisation Exodus war eine der ersten, welche eine Art Selbsthilfe-Gruppen für Homosexuelle anbot: Mit Gebet, seelsorgerischer Begleitung und reparativen Therapien sollte die sexuelle Orientierung der Betroffenen verändert werden. Zu jener Zeit waren viele der ExGay-Aktivisten von der Wort-des-GlaubensLehre als Teil der charismatischen Bewegung beeinflusst: der Vorstellung, dass wenn der Mensch nur stark genug glaube, er Wohlstand und Heilung erfahre. Wie Michael Bussee, einer der Mitbegründer von Exodus, berichtet, gab es keinerlei Evaluation der Wirksamkeit der Interventionen.5 Die meisten Personen seien irgendwann aus den Gruppen ausgestiegen, manche betrachteten sich als «geheilt» und heirateten, so auch Bussee. Nach mehreren Jahren stellte er jedoch fest, dass nicht nur er weiterhin mit seiner sexuellen Orientierung kämpfte: Von den Hunderten von Personen, die er kennengelernt oder betreut hatte, war keine einzige heterosexuell geworden. Bussee verliess Exodus 1979. Seinem Ausscheiden war ein tragischer Vorfall schwerer Selbstverletzung eines Klienten vorausgegangen, der sich nach einem sexuellen Fehltritt selbst bestrafen wollte. Als Dachorganisation ähnlicher Initiativen entwickelte sich Exodus zu einer der bedeutendsten Organisationen der Ex-Gay-Bewegung. In der Schweiz ist die Ex-Gay-Bewegung insbesondere mit der Organisation Wüs- 22 «Wir haben alle Identitätsprobleme» tenstrom vertreten, die sich zunächst in Deutschland aus der amerikanischen Seelsorge-Initiative Living Waters entwickelte. Der schwierigen Geschichte der Bewegung scheint man sich bewusst zu sein. Im Sinne der These der fehlgelaufenen Identitätsentwicklung richtet sich das Angebot von Wüstenstrom Schweiz denn auch nicht nur an Homosexuelle, sondern generell an Menschen mit (angeblichen) Identitätsproblemen im Zusammenhang mit Sexualität und Geschlecht. Die belasteten Begriffe Konversionstherapie oder reparative Therapie werden vermieden, es ist von Beratung und Begleitung die Rede – wohl auch, weil die wenigsten BeraterInnen dieser Szene über therapeutische Qualifikationen verfügen. Interventionen, bei denen es um nicht weniger als die Bearbeitung von tiefliegenden Störungen der Identität geht, wären jedoch eindeutig im therapeutischen Bereich anzusiedeln. 23 Menschen wie Du und ich Rolf Rietmann, Leiter von Wüstenstrom Schweiz, erklärt bei einem Auftritt bei ICF Mittelland im Jahr 2012, welchen Prozess er als homosexuell empfindender Mann selber durchlaufen habe.6 In der Rolle des Experten erläutert er, man verstehe heute Homosexualität als frühkindliche Störung, von der man bei Wüstenstrom glaube, sie sei veränderbar. An seiner eigenen Biographie führt Rietmann aus, dass der Kern seiner «Identitätsstörung» und der damit verbundenen Homosexualität in seinem grossen Wunsch nach Zugehörigkeit gelegen habe. Daran habe er in seinem Veränderungsprozess mit Markus Hoffmann von Wüstenstrom Deutschland gearbeitet. Seine heutige heterosexuelle Orientierung sei eher als Nebenprodukt dieser Identitätsarbeit zu verstehen. Bei dieser Celebration unter dem Titel «Was wenn.... Homosexualität für Gott ok ist» berührt die Einführung durch ICF-Leiter Phil Sternbauer seltsam. Es gehe heute um ein brisantes und heikles Thema, sagt er, und eben weil es ein so schwieriges Thema sei, ein heisses Eisen, habe er einen Gast eingeladen. Als Warming-up erzählt er in klischierter Weise von einem früheren schwulen und modebewussten Mitbewohner mit Flair fürs schönere Wohnen. Dieser Mitbewohner sei ein Freund geworden, von dem er viel habe lernen dürfen. Ein Mensch wie Du und ich, scheint die Botschaft zu sein. Warum, fragt man sich, muss Sternbauer eine Distanz schaffen, um sie dann scheinbar abzubauen? Hat es mit dem Unbehagen zu tun, das man erlebt, wenn man Menschen zu verkünden hat, dass sie zwar von Gott geliebt werden, wie sie sind, aber so wie sie sind, nicht lieben dürfen? Dass etwas, was heute bei Evangelikalen als so wichtig gilt, wovon so viel gesprochen wird, nämlich eine von Gott gewollte erfüllte Sexualität, für sie als homosexuell Empfindende leider nicht vorgesehen ist bzw. erst nach der Identitätsarbeit – vielleicht? «Wir haben alle Identitätsprobleme» «Wir haben alle Identitätsprobleme» Tobias Teichen, Leiter des ICF-Ablegers in München, geht die Sache offensiver an und bringt die «Identitäts-These» besonders auf den Punkt7: «Hat Gott ein Problem mit Homosexualität?» fragt er im Juni 2013. Ja, hat er, um die Antwort vorwegzunehmen, aber: Homosexualität, so Teichen, betrifft uns alle. Wir alle haben im Bereich der Identität unsere Baustellen – wir haben alle Identitätsprobleme. Homosexuelle, könnte man schliessen, sind in einem bestimmten Bereich der Identitätsentwicklung herausgeforderte Menschen, es hat sie bei der sexuellen Ausrichtung erwischt. Auch Teichen versucht mit der unerträglichen Tatsache umzugehen, dass er Menschen im Publikum – prozentual ähnlich viele wie evangelikal Gläubige an der Gesamtbevölkerung – erklären muss, weshalb ihr tiefstes Erleben als Störung zu verstehen ist. Teichen nennt schwierige Kindheitserfahrungen oder eine ungünstige Beziehung zum gleichgeschlechtlichen Elternteil als Ursache von Identitätsproblemen und daraus folgender Homosexualität. Er beschuldigt überdominante Väter und solche, die abhauen, verortet das Problem bei Scheidungen und verdächtigt «die alleinerziehende Mutter, die etwas ins Kind hineinprojiziert, was dort nicht hingehört», um zu guter Letzt die Möglichkeit sexuellen Missbrauchs ins Feld zu führen. Auch Teichen wirkt, als stützte er sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse, er psychologisiert und verortet Schuld. Hätte der Vater nicht, wäre die Mutter nur... Aus ideologischem Wunschdenken und psychologischen Versatzstücken bastelt er eine poppige Collage menschlichen Seins: Ein Bild des Menschen, das den Gott, der ihn als sein Ebenbild geschaffen haben soll, wahrlich fürchten lässt. Die umstrittene Spitzer-Studie Die Behauptung, dass homosexuell empfindende Menschen – man spricht nicht von Lesben und Schwulen und hält so den Raum für Veränderung offen – ihre sexuelle Orientierung ändern können, wurde lange vor allem von einer Studie (scheinbar) gestützt: Der Spitzer-Studie, die auch in der SEA-Stellungnahme zitiert wird.8 Robert L. Spitzer ist eine der herausragenden Figuren der modernen Psychiatrie, er gilt als Architekt der modernen Klassifikationssysteme psychischer Krankheiten. 1974 war er wesentlich dafür verantwortlich, dass Homosexualität aus dem Katalog psychischer Störungen und Krankheiten DSM entfernt wurde. Fast dreissig Jahre später kam Spitzer in einer aufsehenerregenden Studie zum Schluss, dass die Änderung der sexuellen Orientierung bei einem Teil «hochmotivierter» Veränderungswilliger möglich sei. Die Ergebnisse dieser Studie hatte er 2001 an 24 «Wir haben alle Identitätsprobleme» einem Kongress vorgestellt und 2003 publiziert. Der Herausgeber der Zeitschrift veröffentlichte die Studie wegen ihrer offensichtlichen methodischen Mängel nur unter der Bedingung, dass FachkollegInnen ihre Kritik zusammen mit der Studie publizierten – und diese Kritik fiel vernichtend aus: Sie betraf vor allem den Umstand, dass es sich bei den rund 200 Teilnehmenden, die Spitzer telefonisch interviewt hatte, um Personen handelte, die sich selbst als erfolgreich therapiert verstanden. 25 Es lässt sich daraus nicht schliessen, wie gross der Prozentsatz der erfolgreichen Interventionen insgesamt ist. 200 Personen sind nicht viel angesichts Zehntausender, die reparative Therapien durchlaufen haben. Im Jahr 2003 waren allein bei den Organisationen unter dem Dach von Exodus International rund 11‘000 Personen in einem Veränderungsprogramm. Dennoch war es Ex-Gay-Organisationen nicht gelungen, mehr Personen für die Studie zu rekrutieren. Dazu kam, dass die Studie ausschliesslich auf Selbstaussagen der Betroffenen beruhte, die sich natürlich sehr wünschten, «geheilt» zu sein. Ein Teil der Befragten war überdies in der Ex-Gay-Bewegung engagiert, vertrat also auch politische Interessen. Falsche Verallgemeinerungen wie etwa jene, Homosexualität sei grundsätzlich veränderbar, korrigierte Spitzer stets – sofern er davon erfuhr, was vermutlich meist nicht der Fall war. So publizierte etwa das christliche Medienportal Livenet, gestützt auf das factum-Magazin, einen Artikel mit dem Titel «Homosexualität ist heilbar», in welchem es um die Spitzer-Studie ging.10 Das evangelikale Magazin idea Spektrum bespricht 2002 ein Video des Deutschen Institutes für Jugend und Gesellschaft, das mehrheitlich Positionen der Ex-Gay-Bewegung vertritt.11 idea Spektrum schreibt: «Homosexualität wurzelt in einer Entwicklungsstörung.» Spitzer wird als ColumbiaProfessor neben anderen angeblichen Fachpersonen, die in der Fachwelt nicht als solche gelten, zitiert. Gegen die Sichtweise von Homosexualität als Störung hatte er sich bekanntlich 1974 erfolgreich durchgesetzt. Spitzers Distanzierung von seiner Studie Im Mai 2012 distanzierte sich Spitzer in einer beispiellosen Richtigstellung von seiner umstrittenen Studie: In der gleichen Zeitschrift, in welcher er die Studie veröffentlicht hatte, räumte er deren Mängel ein und schloss eine Entschuldigung an: «Ich entschuldige mich bei allen homosexuellen Menschen, die ihre Zeit und Energie für irgendeine Form der reparativen Therapie verschwendet haben, weil sie glaubten, ich habe bewiesen, dass diese bei einigen ‚hochmotivierten Personen‘ wirksam sei.»12 «Wir haben alle Identitätsprobleme» Man würde vermuten, dass dieses Ereignis in evangelikalen Medien intensiv diskutiert wurde: Was bedeutet es für die von evangelikaler Seite vertretene Veränderungsthese, sind darauf basierende Therapien noch vertretbar? Livenet publizierte einen Artikel mit dem Titel: «Diskussion über Therapien für Homosexualität.»13 Es bleibe umstritten, ob Therapien gegen Homosexualität wirksam seien, heisst es einführend. Der New Yorker Professor Spitzer habe sich von den Ergebnissen seiner Studie, die kurz dargestellt werden, distanziert. Er wird indirekt zitiert mit der Aussage: «Vielmehr könnten Versuche, Homosexualität zu unterdrücken, viel Schaden anrichten. Vertreter der Homosexuellenbewegung halten eine «Umpolung» oder «Heilung» für unmöglich und kritisieren christliche Organisationen, die Beratungen für unzufriedene Homosexuelle anbieten.» Zuvor jeweils als Columbia-Professor zitiert wird Spitzer nun in die Nähe der vielkritisierten «Homosexuellenbewegung» gerückt. Als Vertreter der Gegenposition wird ein englischer Professor angeführt, der bedeutende «Veränderungen» durch Seelsorge und Beratung für möglich halte. Die Leserin erfährt nichts zu den Gründen, weshalb Spitzer die Studie zurückzog, auch nicht zur Bedeutung, welche sie für die Ex-GayBewegung hatte. Vielmehr entsteht der Eindruck, es gebe verschiedene wissenschaftliche Standpunkte, die sich gleichberechtigt gegenüberstehen. Kaum einem Leser dürfte aufgefallen sein, dass über ein für Evangelikale wichtiges Ereignis berichtet wird. Die Schliessung von Exodus Anfang 2012, kurz bevor Spitzer seine Studie zurückzog und die WHO ihren Bericht zur Gefährlichkeit von Konversionstherapien publizierte, erklärte Alan Chambers öffentlich: «Die Mehrheit der Menschen, die ich getroffen habe, und ich spreche von einer Mehrheit von 99.9%, hat keine Veränderung ihrer sexuellen Orientierung erlebt (...)».14 Dies sagte Chambers als Leiter von Exodus International, der weltweit grössten Ex-Gay-Organisation. Knapp anderthalb Jahre später, im Juni 2013, kündigten Chambers und der Vorstand von Exodus International die Auflösung der Organisation an. Nach fast vierzig Jahren wurden sämtliche 270 Stellen in Nordamerika und weiteren 17 Ländern geschlossen. Als Grund nannte Chambers die fehlende Grundlage für die Behauptung, die sexuelle Orientierung sei veränderbar.15 Anlässlich der angekündigten Schliessung der Organisation entschuldigte sich Chambers bei allen Betroffenen für das ihnen zugefügte Leid; er bat auch die Familienangehörigen, die durch die reparativen Therapien oft stigmatisiert worden seien, um Entschuldigung. Chambers gab ausserdem 26 «Wir haben alle Identitätsprobleme» seinem grossen Bedauern Ausdruck, dass viele Menschen die Zurückweisung durch die christliche Gemeinschaft als Zurückweisung durch Gott erlebt hätten: «Ich bedaure zutiefst, dass viele Betroffene ihren Glauben verloren haben und manche sich gar umgebracht haben.» («I am profoundly sorry that many have walked away from their faith and that some have chosen to end their lives.») Chambers spricht auch seine Rolle als Täter und Opfer an. Er, der selbst eine Konversionstherapie durchlaufen habe, habe nach wie vor homosexuelle Empfindungen. Diese Gefühle, für die er sich früher zutiefst geschämt habe, akzeptiere er heute als Teil seines Seins, so wie auch seine Frau, seine Familie und Gott ihn als den akzeptierten, der er sei. 27 Auch die Schliessung von Exodus wurde von den evangelikalen Medien kaum auf- genommen. Livenet berichtet im Juli 2013 gestützt auf einen Artikel des Magazins idea Deutschland über die angeblich grosse Nachfrage bei Wüstenstrom Deutschland. Unter dem Titel «Wüstenstrom betreut 300 Homosexuelle», erfährt die Leserin, dass Wüstenstrom Deutschland viele Anfragen zu verzeichnen habe.16 Markus Hoffmann wird mit abenteuerlichen Zahlen zitiert: Bei unter 20jährigen liege die Veränderungsquote bei 85 % – was evangelikale Eltern dazu veranlassen müsste, Kinder, bei denen sich eine homosexuelle Orientierung abzeichnet, möglichst früh «therapieren» zu lassen. Unter dem Zwischentitel «Es braucht professionelle Therapiearbeit» wird die Schliessung von Exodus International beiläufig erwähnt. Hoffmann kommentiert, die Organisation habe nicht professionell gearbeitet und nur mit Gebet heilen wollen, was nicht stimmt. Auch diesem Artikel kann der Leser nicht entnehmen, dass über ein Ereignis berichtet wird, das für die evange- likale Debatte zum Thema Homosexualität wichtig ist. Rückschläge der Ex-Gay-Bewegung Spitzers Distanzierung von seiner Studie war für die Ex-Gay-Bewegung ein Rückschlag, allerdings hatte diese schon zuvor an Rückhalt verloren. Das mochte mit der zunehmenden Akzeptanz von Homosexualität in westlichen Gesellschaften zu tun haben, aber auch mit der Unmöglichkeit der Mission. 2011 erklärte John Smid, ebenfalls langjähriges Mitglied der Exodus-Leitung, Konversionstherapien seien sinnlos. Früher bekannt für Aussagen wie «Lieber tot als schwul» sagte er, er habe in seiner ganzen Zeit als Ex-Gay-Aktivist keinen einzigen homosexuellen Mann getroffen, der heterosexuell geworden sei.17 Smid war lange Leiter von Love in Action, einer weiteren Pionier-Organisation der Ex-Gay-Bewegung, später «Wir haben alle Identitätsprobleme» unter dem Dach von Exodus International. Sie war in Verruf geraten, weil sie bereits für Jugendliche Konversionstherapien anbot, wofür sich Smid 2010 entschuldigte. Auch bei Love in Action war mit John Evans eine der Gründungsfiguren zum dezidierten Kritiker der Ex-Gay-Bewegung geworden. Evans verliess die Organisation 1979, nachdem sich ein Freund von ihm aus Verzweiflung darüber, dass die «Veränderung» nicht gelang, umgebracht hatte. Ende März 2014 löste sich die grösste ExGay-Organisation in Australien, Living Waters auf, wegen mangelnder Nachfrage und fehlendem qualifizierten Personal wie es hiess. Zur Schliessung dürfte neben dem ausbleibenden Erfolg auch der Umstand beigetragen haben, dass sich immer mehr christliche Gemeinschaften für homo- und bisexuelle Personen öffnen. Jeremy Marks, ehemaliger Leiter von Exodus Europa, wandte sich im Jahr 2000 nach zwölf Jahren von der Ex-Gay-Ideologie ab und baute seine britische Organisation Courage zu einer Organisation für homosexuelle Gläubige um.18 Der Gründer von Wüstenstrom Deutschland, Günter Baum, wurde ebenfalls zu einem Kritiker der Ex-Gay-Bewegung und gründete mit Zwischenraum eine Selbsthilfe-Organisation für homosexuelle (evangelikal) Gläubige. In Deutschland sorgte 2008 das Christival, eine Grossveranstaltung für junge vornehmlich evangelikale Christen, grosszügig unterstützt vom Familienministerium, für Schlagzeilen: Einer der Kurse mit dem Titel «Homosexualität verstehen – Chancen für Veränderung» wurde vom Deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft angeboten, dann aber aus dem Programm genommen. Ein Jahr später führte ein Kongress des evangelikalen Vereins «Akademie für Seelsorge und Beratung» zu heftigen politischen Debatten, Gegenveranstaltungen und Demonstrationen bei enormer medialer Präsenz: Wiederum waren es Veranstaltungen des Deutschen Instituts für Jugend und Gesellschaft sowie von Wüstenstrom Deutschland zum Thema Homosexualität als «Störung» sowie deren angeblicher Therapierbarkeit, welche für Empörung sorgten. Auf evangelikaler Seite war die Irritation gross, dass eine «wissenschaftliche» Sichtweise solche Reaktionen hervorrufen konnte. Möglicherweise war es gerade auch diese Irritation, die zusätzlich für Empörung sorgte. Die Minderheit, die eine andere diskriminierte, schien dies nicht im Ansatz als Unrecht zu erkennen und rief stattdessen «Diskriminierung». 28 «Wir haben alle Identitätsprobleme» «Sexuelle Orientierung lässt sich nicht verändern» Prof. emer. Dr. rer. nat., Dipl.-Pych. Udo Rauchfleisch gilt als einer der ausgewiesensten Experten zum Thema Homosexualität, Transsexualität und Transidentität. Zur Entstehung sexueller Orientierungen, der Frage ihrer Veränderbarkeit sowie den Folgen von Veränderungsversuchen äussert er sich folgendermassen: Entstehung sexueller Orientierung «Die uns heute vorliegenden humanwissenschaftlichen Forschungsergebnisse lassen erkennen, dass die sexuellen Orientierungen homosexueller wie heterosexueller Art einerseits auf genetischen Dispositionen beruhen und andererseits, von 29 diesen Dispositionen ausgehend, sehr früh im Leben eine in ihrer Grundstruktur nicht veränderbare Ausformung erfahren.» Frage der Veränderbarkeit «Im Verlauf des weiteren Lebens sind Änderungen des sexuellen Verhaltens möglich, vor allem wenn, wie in evangelikalen Kreisen, die Bezugsgruppe eines Menschen einen starken Druck auf ihn ausübt. Das Resultat solcher Beeinflussung von aussen ist aber höchstens eine Änderung des Sexualverhaltens, d. h. in diesem Fall der Wechsel von gleichgeschlechtlichen zu gegengeschlechtlichen Partnerinnen und Partnern. Die eigentliche sexuelle Orientierung mit den daran geknüpften Gefühlen, den erotischen und sexuellen Phantasien sowie den sozialen Präferenzen lässt sich jedoch nicht verändern.» Folgen von Veränderungsversuchen «Versuche, die sexuelle Orientierung von Lesben und Schwulen zu verändern, haben schwerwiegende negative Folgen in Gestalt von Depressionen, Ängsten und Selbstwertkrisen bis hin zur Suizidalität. Derartige Aktivitäten, die Menschen dazu drängen, ihre sexuelle Identität zu unterdrücken, sind nicht nur untherapeutisch, sondern auch unethisch.» «Wir haben alle Identitätsprobleme» Die Anti-Homosexuality Bill in Uganda Vielen Menschen trat die Ex-Gay-Bewegung aber durch einen Skandal um ein Anti-Homosexuellen-Gesetz in Uganda erstmals ins Bewusstsein, das war ebenfalls im Jahr 2009. In Kampala, der Hauptstadt Ugandas, fand eine Konferenz zum Thema Homosexualität statt. Auf der Agenda standen als Themen die «sexuelle Umorientierung» Homosexueller, die angebliche Neigung Homosexueller zu Pädophilie sowie die vermeintliche Zerstörung der auf der Ehe basierenden Gesellschaft durch Homosexuelle. An dieser Konferenz nahmen auch drei us-amerikanische Evangelikale teil, darunter ein Führungsmitglied von Exodus International. Sie nutzten die Konferenz für Gespräche mit dem evangelikalen Parlamentsabgeordneten David Bahati sowie weiteren Politikern über einen Gesetzesentwurf zur Sanktionierung von Homosexualität. Diese AntiHomosexuality Bill reichte Bahati im Herbst 2009 im Parlament ein: Homosexuelle Handlungen sollten mit lebenslanger Haft, in bestimmten Fällen gar mit der Todesstrafe geahndet werden. Alan Chambers hatte sich nachträglich in einem Brief von solch repressiven Massnahmen distanziert, doch da war der Schaden bereits angerichtet, auch für Exodus. In der Folge kam es in Uganda zu einer regelrechten Hetze gegen Schwule, an der die Medien einen grossen Anteil hatten. 2010 outete eine Zeitung 100 angebliche Top-Homosexuelle mit Foto und dem Aufruf «Hang them – they are after our kids» («Hängt sie, sie sind hinter unseren Kindern her»). Einer der Geouteten war der Aktivist David Kato, der kurz darauf ermordet wurde. Auch aufgrund weltweiter Proteste scheiterte das erste Gesetzesvorhaben. Bahati reichte einen neuen Gesetzesentwurf ein, der im Februar 2014 vom ugandischen Präsidenten Museveni, ebenfalls evangelikaler Christ, ratifiziert wurde: Es sieht lebenslange Haft für homosexuelle Handlungen im Wiederholungsfall vor, ebenfalls Haftstrafen bei unterlassener Denunziation. Am Tag nach der Ratifizierung veröffentlichte eine Boulevardzeitung eine Liste mit den Namen von 200 (mutmasslichen) bekannten Homosexuellen. Bereits wurden zwei Personen aufgrund des neuen Gesetztes angeklagt. Die Weltbank, die sich grundsätzlich nicht in politische Fragen einmischt, sistierte einen 90-Millionen-Kredit. Sowohl idea Spektrum als auch livenet berichten gerade über Uganda besonders häufig, dennoch findet sich kein Beitrag zur evangelikal geschürten Homophobie in Uganda. Dabei wäre es doch ein Thema, das Evangelikale umtreiben müsste: Was heisst es für uns, wenn wir eine Position vertreten, die in Afrika und auch in Russland zu schwersten Menschenrechtsverletzungen führt? Wie werden wir wahrgenommen, 30 «Wir haben alle Identitätsprobleme» wenn wir zwar immer wieder auf die Diskriminierung von Christen hinweisen, aber als Christen die Grundlage für Diskriminierung liefern – und dazu erst noch schweigen? Wissen auch für Evangelikale In der SEA-Stellungnahme zu Homosexualität mahnt Wilf Gasser die Wissenschafts-, Gewissens- und Meinungsfreiheit an. Die Wissenschaftsfreiheit wird aber gerade von ihm unterlaufen, indem er falsche, aus einem Dogma abgeleitete Behauptungen als wissenschaftliche Erkenntnisse darstellt. Jeder darf im Namen des Glaubens Berge versetzen. Will er das jedoch als wissenschaftliche Tatsache geltend machen, muss er es belegen. 31 Genau das macht Gasser jedoch nicht und behindert damit die beschworene Gewissens- und Meinungsfreiheit. Das gilt auch für evangelikale Medien, wenn sie über relevante Ereignisse, welche das eigene Welt- verständnis herausfordern, nicht oder nur selektiv berichten. Meinungs- und Gewissensfreiheit kann es nur geben, wenn Menschen tatsächlich über Informationen und Wissen verfügen. Mit neuem Wissen ändern sich auch Meinungen und Bewertungen, so dass Haltungen von heute morgen möglicherweise als Unrecht verstanden werden. Auch innerhalb der evangelikalen Community in der Schweiz haben sich in den letzten dreissig Jahren Ansichten zu zentralen Fragen teilweise stark verändert – etwa zur Frage der «richtigen» christlichen Erziehung oder der Stellung der Frau in der Gemeinde. Es gibt zu verschiedenen zentralen Themen unter dem Dach der SEA und innerhalb der Freikirchen des VFG unterschiedlichste Positionen. Beim Thema Homosexualität hingegen schien man sich einig, die einhellige Ablehnung von Homosexualität hatte schon fast identitätsstiftenden Charakter. Homosexualität bedroht den christlichen Lebens- entwurf, sie steht dem Bild von Mann und Frau als Ebenbild Gottes und Grundlage der Familie entgegen. Das Gegenteil von homosexuell ist heilig Heute wird in evangelikalen Kreisen allerdings oft betont, dass Homosexualität keine andere Kategorie von Sünde darstelle. Auch in der SEA-Stellungnahme heisst es, Homosexualität solle nicht als «besonders grosse Sünde» herausgestrichen werden (S.14). Man kann der SEA-Stellungnahme zugutehalten, dass sie bemüht ist, Homosexualität, wenn diese schon keine gleichwertige Liebe darstellen soll, wenigstens als gleichwertige Sünde zu verstehen: Niemand wird für diese angebliche Störung verantwortlich gemacht, lediglich für den Umgang damit. Niemand würde je zu einer «Veränderung» gedrängt, auch wenn sie natürlich Voraussetzung für sexuelles Erleben ist – jeder kann sich frei für ein enthaltsames Leben ent- «Wir haben alle Identitätsprobleme» scheiden. In der Ex-Gay-Bewegung heisst es denn auch, das Gegenteil von Homosexualität sei nicht Heterosexualität, sondern Heiligkeit. Auf der Website des evangelikalen Beratungsangebots «Der Neue Weg» steht: «Es ist uns ein wichtiges Anliegen, dass du deine eigene Entscheidung triffst, denn wir glauben, dass jeder Mensch vor Gott zur Eigenverantwortlichkeit aufgerufen ist. Im seelsorgerlichen Gespräch mit uns ist es dir möglich, das auszudrücken, was du empfindest und als Schwierigkeit bezüglich deiner Homosexualität erlebst.» Es wird ausserdem betont, dass die Entscheidungsfindung ergebnisoffen begleitet werden soll. Vor evangelikalem Hintergrund bedeutet «Ergebnisoffenheit» ein Szenario mit drei schlimmen Möglichkeiten: Betroffene können sich für einen «Prozess der Veränderung», für ein zölibatäres Leben oder gegen Gott entscheiden. Und die meisten werden sich, ob sie nun «Veränderung» oder ein zölibatäres Leben wählen, als versagend, schwach und schuldig erleben. In dieser Wahrnehmung der eigenen menschlichen Schwäche und Sündhaftigkeit angesichts göttlicher Vollkommenheit werden sie aber Unterstützung erfahren. Schliesslich ist das die zentrale Figur evangelikalen Glaubens, verbunden mit dem Reflex, Gottes Vergebung zu suchen. Vor dem Hintergrund evangelikalen Glaubens fällt es schwer, über Nicht-Wahlmöglichkeiten nachzudenken, auch evangelikaler Glaube basiert auf einer Nicht-Wahl. Dennoch haben die heterosexuellen Mitchristen eine Möglichkeit mehr – jene der erwiderten partnerschaftlichen Liebe, für viele das Salz ihres Lebens. Die Solidarität mit den «homosexuell empfindenden» Menschen in der eigenen Mitte und ihre Unterstützung erscheinen so ledig- lich als eine subtilere Form der Diskriminierung – nicht weniger ausgrenzend als das frühere Totschweigen oder die offene Ablehnung, aber schwerer zu durchschauen. Denn selbst wenn das Gegenteil von Homosexualität Heiligkeit wäre: Das Gegenteil von Heiligkeit ist des Teufels. Bedrohung der göttlichen Ordnung Erklärt das die Herabwürdigung und Abwertung Homosexueller in einer offiziellen Stellungnahme eines Dachverbands, der sich wünscht, politisch gehört zu werden und immer wieder auf den eigenen Minderheitenstatus verweist? Was ist an Homosexualität so bedrohlich, dass wissenschaftliche Fakten unterschlagen oder falsch wiedergegeben werden? Weshalb wird Tausenden von Menschen in der eigenen Mitte mit diesem Veränderungsmythos solches Leid zugefügt? Weshalb sind sie, so scheint es, keine Nächsten und gehören offenbar nicht einmal zu den Geringsten? 32 «Wir haben alle Identitätsprobleme» Hat es möglicherweise damit zu tun, dass Menschen an sich selbst erleben, dass sich die sexuelle Orientierung nicht von ihrem Sein subtrahieren lässt, sowenig wie das Geschlecht? In dem Fall wäre Homosexualität nicht ein behebbarer «Defekt» wie etwa eine vorübergehende Erkrankung; kein Unkraut, das sich ausreissen lässt. Homosexualität wäre dann eine mit dem Menschen verwachsene Sünde, die dem Boden seines Seins entspringt und genährt wird vom seinem Erleben. Eine Sünde, die sich nicht vom Menschen trennen lässt und deshalb für den Menschen selbst steht. Homosexualität wäre das Kainsmal sündigen Seins, eines Seins, aus dem nichts Gutes kommen kann. Kein Halleluja einer solchen Seele, das nicht nach unten fällt. 33 Eine solche ins Sein eingewobene Sünde bedroht nicht nur die Beziehung des Menschen zu Gott, sondern die ganze göttliche Ordnung. Die verordnete Enthaltsamkeit oder die propagierte «Veränderung» könnte man deshalb auch als Metaphern verstehen: Das sündige Sein wird in sich selbst eingeschlossen oder aus sich selbst vertrieben. Möglicherweise ist das der Grund, weshalb entgegen besseren Wissens auf «Veränderung» gedrängt wird. Weshalb Menschen ermutigt werden, sich auf einen Prozess einzulassen, der sich über Jahre hinziehen könne, schmerzhaft und im Ausgang ungewiss sei. Vielleicht geht es dabei ja weniger um das Ergebnis als den Prozess selbst: darum den Boden des eigenen Seins wieder und wieder umzupflügen, das eigene Erleben auszutrocknen – um so der Sünde ihre Grundlage zu entziehen. Denn die Sünde selbst, davon geben nicht nur die Berichte von Aussteigern, sondern gerade auch viele Ex-Gay-Vertreter beredtes Zeugnis, lässt sich nicht ausrotten. Der Kampf um Gut und Böse wird im Innersten des Individuums ausgetragen: Auf Kosten seines Aufgehobenseins in sich selbst und Gott, oft auf Kosten familiärer Beziehungen und immer auf Kosten partnerschaftlicher Bindung und Erfüllung. Im Namen Gottes ist nicht alles möglich Auf Anfrage von infoSekta schreibt Wilf Gasser, die SEA plane, ihre Stellungnahme zum Thema Homosexualität zu überarbeiten. Das sei kein einfaches Unterfangen, weil es zu diesem Thema heute auch innerhalb der Evangelikalen unterschiedliche Positionen gebe. Nicht erst heute, möchte man entgegnen. Viele evangelikal Gläubige finden eine echte, auf Fakten basierte Diskussion längst überfällig. Viele sind auch der Ansicht, dass gerade im Namen Gottes nicht alles möglich ist. Und vielen ist längst klar, dass Homosexualität kein Identitätsproblem ist, aber der Umgang damit für die evangelikale Community eines werden könnte. «Wir haben alle Identitätsprobleme» Gasser, W., 2009. Zwischen Annahme und Veränderung – Christlicher Glaube und gleichgeschlechtliche Orientierung. Ein Arbeitspapier der Schwei- 2 Zwei Mail-Anfragen von infoSekta, wer hinter dem Angebot stehe, blieben unbeantwortet. 3 American Psychological Association, 2009. Report of the American Psychological Association task force on appropriate therapeutic responses. www. 1 zerischen Evangelischen Allianz. www.each.ch/sites/default/files/090511%20Homosexualitaet%2093_Arbeitspapier.pdf (Zugriff: 7.5.14) apa.org/pi/lgbt/resources/therapeutic-response.pdf (Zugriff: 7.5.14) PAHO/WHO, 2012. «Therapies» to change sexual orientation lack medical justification and threaten health. www.paho.org/hq/index.php?option= 5 ExGay-Observer, 11. Juni 2011. Michael Bussee über seine Erfahrungen als Ex-Gay. exgay-observer.blogspot.ch (Zugriff: 7.5.14) 6 ICF-Mittelland, 29. Januar 2012. Was wenn… für Gott Homosexualität OK ist? www.tinyurl.com/nhp-7ku2 (Zugriff: 7.5.14) 7 ICF-München, 9. Juni 2013. Hat Gott ein Problem mit Homosexualität? www.icf-muenchen.de/media/podcast/2013/good-question/hat-gott-ein- 4 com_content&view=article&id=6803&Itemid=1926 (Zugriff: 7.5.14) 8 problem-mit-homosexualitaet.html (Zugriff: 7.5.14) Spitzer, R.L., 2003. Can some gay men and lesbians change their sexual orientation? 200 participants reporting a change from homosexual to hete- New York Times, 12. Februar 2007. Some tormented by homosexuality homo look to a controversial therapy. Gefunden: www.nytimes.com (Zugriff: 7.5.14) 9 rosexual orientation. In: Archives of Sexual Behavior, 32/5, 403–417. 10 Livenet, 17. Oktober 2002. Homosexualität ist heilbar. www.livenet.ch (Zugriff: 7.5.14) 11 idea spektrum 3. Dezember 2002. Homosexuelle brauchen unsere Zuwendung. 12 Spitzer, R. L., 2012. Spitzer reassesses his 2003 study of reparative therapy of homosexuality. In: Archives of Sexual Behavior, 41/4, 757. 13 Livenet (ohne Datum). Diskussion über Therapien für Homosexualität. www.livenet.ch/ (Zugriff: 7.5.14) 14 Throckmorton, A., 9.1.12. Alan Chambers: 99.9 % have not experienced a change. www.patheos.com/blogs/warrenthrockmorton (Zugriff: 7.5.14) 15 Christianity Today, 19.6.13. 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