«Wir haben alle Identitätsprobleme» Wie die evangelikale

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infoSekta Jahresbericht 2013
«Wir haben alle Identitätsprobleme» Wie die evangelikale Community mit Homosexualität umgeht
Regina Spiess
Homosexualität ist eine Sünde, aber in
vielen Fällen heilbar – darüber war man
sich innerhalb der evangelikalen Community lange einig. Was bedeutet das
für die betroffenen Gläubigen? Und wie
reagiert die evangelikale Gemeinschaft
auf Ereignisse der letzten Zeit, die diese
Annahmen in Frage stellen?
Die Stellungnahme der Schweizerischen
Evangelischen Allianz (SEA) zum Thema Homosexualität ist deutlich: Gelebte Homosexualität entspreche nicht dem
Willen Gottes, Betroffene sollten in einem «Prozess der Veränderung» unterstützt werden oder enthaltsam leben.1
Die Stellungnahme wurde anlässlich der
Europride 2009 publiziert.
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Unter dem Vorzeichen tiefer Tragik
Die SEA ist der Dachverband der evangelikalen Gemeinschaften und Werke in der
Schweiz, ihm gehören auch verschiedene
reformierte Kirchgemeinden an. Beim Autor
der Stellungnahme handelt es sich um den
SEA-Präsidenten Wilf Gasser. Ursprünglich
Arzt, ist Gasser heute unter anderem als
Ehe- und Sexualtherapeut tätig.
Gasser beschreibt Homosexualität – Bi- und
Transsexualität werden kaum thematisiert –
als schwerwiegende Störung der Identitätsentwicklung. Er rückt Homosexualität in die
Nähe von Pädophilie: «Der fliessende Übergang von Homosexualität zu Pädophilie ist
problematisch und zum Beispiel bei Homo-
sexuellen beliebte Feriendestinationen in
Asien sind augenfällig» (S.12-13). Die Möglichkeit von männlicher «in Liebe und Treue
gelebte(r) Homosexualität» schliesst der
Autor aus und hält dagegen, «dass in der
schwulen Szene Treue umdefiniert und auf
die Beziehungsebene reduziert wird. Treue
lebt man ‚oberhalb der Gürtellinie’. Häufiges Wechseln des Sexualpartners, anonymer Sex in Darkrooms und öffentlichen
Toiletten (...) ist untrennbar mit praktizierter männlicher Homosexualität verbunden»
(S. 12). Als «orgasmusorientiert» gelebte
Anfragen bei der Fachstelle
Die Fachstelle hat auf verschiedene Weise mit dem Thema Homosexualität in freikirchlichem Kontext zu tun. Häufig geht es dabei um Jugendliche: So wendet sich ein Vater
an infoSekta, weil sich der 16-jährige Sohn stark in einer Freikirche engagiere. Kürzlich
habe er seiner lesbischen Tante erklärt, gelebte Homosexualität sei eine Sünde. Auch
im Zusammenhang mit evangelikaler Jugendarbeit ist Homosexualität immer wieder
ein Thema: Was bedeutet es für einen jungen Menschen, wenn er lernt, dass er seine
Sexualität nicht leben dürfe, weil sie angeblich sündhaft sei?
«Wir haben alle Identitätsprobleme»
Sexualität habe Homosexualität ein Suchtpotential und gehe auch überdurchschnittlich häufig mit anderen Suchtproblemen
einher. Weiter behauptet Gasser, Homosexualität, verstanden als psychische Fehlentwicklung, sei der eigentliche Grund für eine
erhöhte Suizidalität und nicht etwa gesellschaftliche Diskriminierung. Es gehe aber
nicht darum, homosexuell empfindende
Menschen zu verurteilen, vielmehr sei gelebte Homosexualität in erster Linie «unter
dem Vorzeichen der tiefen Tragik» zu verstehen (S.14).
«Es gibt auch Ex-Homosexuelle»
Aber, und darauf läuft die Stellungnahme hinaus, Veränderung sei möglich: «Es gibt auch
Ex-Homosexuelle», titelt Gasser. Schon weiter
vorne hat er ausgeführt: «Die moderne Sexualwissenschaft geht davon aus, dass die
sexuelle Orientierung formbar ist (...). Veränderung in die eine oder andere Richtung
ist selbst in höherem Lebensalter noch mög-
lich» (S. 8). Der Autor liefert für obige Behauptung, die wissenschaftlichen Erkenntnissen völlig entgegensteht, keine Belege.
Dafür schliesst er aus der Beobachtung,
dass sich Menschen auch in fortgeschrittenem Alter zu ihrer Homosexualität bekennen, der umgekehrte Prozess sei ebenfalls
möglich. Das werde «jedoch von einem Segment der Homosexuellen-Szene aus ideologischen Gründen noch immer verneint» (S.
8). Gasser behauptet gar, ein Drittel der Veränderungswilligen finde zu Heterosexualität
und ein Drittel erlebe wesentliche Veränderungen in der sexuellen Ausrichtung – was
immer das bedeuten mag (S. 8). Auch für
diese unglaublichen Zahlen führt er keine
wissenschaftlichen Belege an, er dürfte sich
aber auf Markus Hoffmann von Wüstenstrom Deutschland stützen.
Als Voraussetzung für Veränderung nennt
Gasser eine starke Motivation sowie den
Umstand, dass die gleichgeschlechtliche An-
ziehung als nicht zur eigenen Persönlichkeit
zugehörig, als «ichdyston» erlebt werde.
Auch die Website «Homosexualität-Veränderung-Beratung» eines anonymen Vereins
ohne Impressum wirbt entsprechend: «Gehören Sie zu den Menschen, die sagen:
‚Die Homosexualität gehört irgendwie nicht
zu mir? (...)’ Die Fachsprache nennt das
ich-dystone Homosexualität.»2 Ein solches
ichdystones Erleben hat nach Gasser, der
Homosexuelle als eher pädophil, sex- und
drogensüchtig, beziehungsunfähig, als in
ihrer Identität gestört und infolge dessen
erhöht suizidal beschreibt, nichts mit der
gesellschaftlichen Diskriminierung zu tun,
wie manche «homosexuelle Autoren» behaupten würden (S. 8).
Gasser propagiert, wovor psychologische
und medizinische Fachverbände seit Jahren
warnen: «Behandlungen» zur Veränderung
der sexuellen Ausrichtung. Er benutzt dabei
die Diagnose der ichdystonen Sexualorien-
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«Wir haben alle Identitätsprobleme»
tierung als Hintertür, um Homosexualität zu
pathologisieren – auch dagegen sprechen
sich Fachpersonen entschieden aus.
Der amerikanische Psychologen-Verband
APA analysierte 2009 in einer Übersichtsstudie die bestehenden Studien zur Wirkung
von Therapien, die auf eine Veränderung
der sexuellen Ausrichtung abzielen.3 Der
Verband kommt zum Schluss, es gebe keine Hinweise auf die Wirksamkeit solcher
Therapien, hingegen auf deren Risiken,
weshalb darauf verzichtet werden solle. Im
Jahr 2012 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation einen Bericht mit dem
Titel «’Therapies’ to change sexual orientation lack medical justification and threaten
health». Auf Deutsch: «’Therapien’ zur Veränderung der sexuellen Orientierung haben
keine medizinische Grundlage und gefährden die Gesundheit.»4
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Der Veränderungsmythos
Die diskriminierende und wissenschaftlichen Fakten entgegenstehende Darstellung
der SEA von Ursachen und Konsequenzen
sexueller Orientierung mündet in der Forderung nach Gewissens-, Meinungs- und
Wissenschaftsfreiheit. Es wird Nicht-Diskriminierung von Beratern verlangt, die
«veränderungswillige Menschen» begleiten. Kämpferisch heisst es: «Angriffe von
Homosexuellen-Organisationen oder Medienschaffenden nehmen wir zum Anlass,
das ‚Recht auf Veränderung’ einzufordern»;
es werden vier Organisationen, die Hilfe bei
diesem «Veränderungsprozess» anbieten,
aufgeführt (S.14).
Laut der SEA-Stellungnahme ist Homosexualität nicht nur abzulehnen, weil es verschiedene eindeutige Bibelstellen dazu gebe,
sondern auch, weil Homosexualität dem
biblischen Menschenbild von Mann und
Frau als Ebenbild Gottes zuwiderlaufe, wie
Gasser ausführt. Er kritisiert denn auch den
Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) für dessen liberale Haltung:
«(....) damit wird die Autorität der Bibel, als
Grundlage des Lebens und der Lehre sowohl
der Kirche als auch des Einzelnen, relativiert» (S.5). In der SEA-Stellungnahme wird
nicht erwähnt, dass es evangelikale Christen gibt, die Homosexualität als vereinbar
mit evangelikalem Glauben verstehen, und
auch entsprechende Initiativen wie etwa die
Organisation Zwischenraum existieren.
In der Stellungnahme der SEA wird aber
durchaus auch ein Bewusstsein für das Ausschliessende gegenüber Menschen in der eigenen Mitte deutlich. So heisst es, man stelle
sich «entschieden gegen jede Diskriminierung»
und fordere christliche Gemeinschaften auf,
sich zu fragen, welche Hilfestellungen sie
gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen bieten können – um die Antwort aber
gleich vorzugeben: «Hilfesuchende sollen
«Wir haben alle Identitätsprobleme»
ernst genommen und begleitet, statt mit
der Aufforderung, ihre ‚Veranlagung’ zu akzeptieren, abgespiesen zu werden» (S.14).
Die Doktrin darf also nicht angetastet werden, weil dadurch, so das Argument, der
vertretenen Ethik letztlich die Grundlage
entzogen würde. Dennoch können im Namen der Doktrin nicht Menschen ausgeschlossen werden, die vom gesellschaftlichen Mainstream längt akzeptiert sind. Es
geht um einen Wertekonflikt, der sich, so
scheint es, nur durch ein Wunder lösen lässt:
die Veränderung der sexuellen Ausrichtung.
Was als nicht zum Glauben gehörig verstanden werden darf, wird zum «ichdystonen
Erleben» der Betroffenen, die im Prozess der
Veränderung begleitet werden sollen.
Die Ex-Gay-Bewegung
Damit folgt die SEA-Stellungnahme den
Argumenten der Ex-Gay-Bewegung, hinter der überwiegend evangelikale Gruppen
stehen. Die Bewegung entstand in den
siebziger Jahren in den USA. Sie postuliert
«Heilung» von Homosexualität, wendet sich
gegen «gelebte Homosexualität» und prangert den «homosexuellen Lebensstil» an.
In sogenannt reparativen Therapien oder
Konversionstherapien, die häufig vorgeben,
tiefenpsychologisch zu sein, wird in der
Kindheit nach den «Ursachen» homosexuellen Erlebens gesucht – und oft genug bei
angeblichen Fehlern der Eltern gefunden.
Die amerikanische Organisation Exodus war
eine der ersten, welche eine Art Selbsthilfe-Gruppen für Homosexuelle anbot: Mit
Gebet, seelsorgerischer Begleitung und
reparativen Therapien sollte die sexuelle
Orientierung der Betroffenen verändert
werden. Zu jener Zeit waren viele der ExGay-Aktivisten von der Wort-des-GlaubensLehre als Teil der charismatischen Bewegung
beeinflusst: der Vorstellung, dass wenn der
Mensch nur stark genug glaube, er Wohlstand und Heilung erfahre.
Wie Michael Bussee, einer der Mitbegründer
von Exodus, berichtet, gab es keinerlei Evaluation der Wirksamkeit der Interventionen.5
Die meisten Personen seien irgendwann aus
den Gruppen ausgestiegen, manche betrachteten sich als «geheilt» und heirateten,
so auch Bussee. Nach mehreren Jahren stellte er jedoch fest, dass nicht nur er weiterhin
mit seiner sexuellen Orientierung kämpfte:
Von den Hunderten von Personen, die er
kennengelernt oder betreut hatte, war keine einzige heterosexuell geworden. Bussee
verliess Exodus 1979. Seinem Ausscheiden
war ein tragischer Vorfall schwerer Selbstverletzung eines Klienten vorausgegangen,
der sich nach einem sexuellen Fehltritt selbst
bestrafen wollte. Als Dachorganisation ähnlicher Initiativen entwickelte sich Exodus zu
einer der bedeutendsten Organisationen
der Ex-Gay-Bewegung.
In der Schweiz ist die Ex-Gay-Bewegung
insbesondere mit der Organisation Wüs-
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«Wir haben alle Identitätsprobleme»
tenstrom vertreten, die sich zunächst in
Deutschland aus der amerikanischen Seelsorge-Initiative Living Waters entwickelte.
Der schwierigen Geschichte der Bewegung
scheint man sich bewusst zu sein. Im Sinne der These der fehlgelaufenen Identitätsentwicklung richtet sich das Angebot von
Wüstenstrom Schweiz denn auch nicht nur
an Homosexuelle, sondern generell an Menschen mit (angeblichen) Identitätsproblemen im Zusammenhang mit Sexualität und
Geschlecht. Die belasteten Begriffe Konversionstherapie oder reparative Therapie
werden vermieden, es ist von Beratung und
Begleitung die Rede – wohl auch, weil die
wenigsten BeraterInnen dieser Szene über
therapeutische Qualifikationen verfügen.
Interventionen, bei denen es um nicht weniger als die Bearbeitung von tiefliegenden
Störungen der Identität geht, wären jedoch
eindeutig im therapeutischen Bereich anzusiedeln.
23
Menschen wie Du und ich
Rolf Rietmann, Leiter von Wüstenstrom
Schweiz, erklärt bei einem Auftritt bei ICF
Mittelland im Jahr 2012, welchen Prozess er
als homosexuell empfindender Mann selber
durchlaufen habe.6 In der Rolle des Experten erläutert er, man verstehe heute Homosexualität als frühkindliche Störung, von der
man bei Wüstenstrom glaube, sie sei veränderbar. An seiner eigenen Biographie führt
Rietmann aus, dass der Kern seiner «Identitätsstörung» und der damit verbundenen
Homosexualität in seinem grossen Wunsch
nach Zugehörigkeit gelegen habe. Daran
habe er in seinem Veränderungsprozess
mit Markus Hoffmann von Wüstenstrom
Deutschland gearbeitet. Seine heutige heterosexuelle Orientierung sei eher als Nebenprodukt dieser Identitätsarbeit zu verstehen.
Bei dieser Celebration unter dem Titel «Was
wenn.... Homosexualität für Gott ok ist»
berührt die Einführung durch ICF-Leiter Phil
Sternbauer seltsam. Es gehe heute um ein
brisantes und heikles Thema, sagt er, und
eben weil es ein so schwieriges Thema sei,
ein heisses Eisen, habe er einen Gast eingeladen. Als Warming-up erzählt er in klischierter Weise von einem früheren schwulen und modebewussten Mitbewohner mit
Flair fürs schönere Wohnen. Dieser Mitbewohner sei ein Freund geworden, von dem
er viel habe lernen dürfen.
Ein Mensch wie Du und ich, scheint die Botschaft zu sein. Warum, fragt man sich, muss
Sternbauer eine Distanz schaffen, um sie
dann scheinbar abzubauen? Hat es mit dem
Unbehagen zu tun, das man erlebt, wenn
man Menschen zu verkünden hat, dass sie
zwar von Gott geliebt werden, wie sie sind,
aber so wie sie sind, nicht lieben dürfen?
Dass etwas, was heute bei Evangelikalen als
so wichtig gilt, wovon so viel gesprochen
wird, nämlich eine von Gott gewollte erfüllte Sexualität, für sie als homosexuell Empfindende leider nicht vorgesehen ist bzw.
erst nach der Identitätsarbeit – vielleicht?
«Wir haben alle Identitätsprobleme»
«Wir haben alle Identitätsprobleme»
Tobias Teichen, Leiter des ICF-Ablegers in
München, geht die Sache offensiver an und
bringt die «Identitäts-These» besonders
auf den Punkt7: «Hat Gott ein Problem mit
Homosexualität?» fragt er im Juni 2013. Ja,
hat er, um die Antwort vorwegzunehmen,
aber: Homosexualität, so Teichen, betrifft
uns alle. Wir alle haben im Bereich der
Identität unsere Baustellen – wir haben alle
Identitätsprobleme. Homosexuelle, könnte
man schliessen, sind in einem bestimmten
Bereich der Identitätsentwicklung herausgeforderte Menschen, es hat sie bei der sexuellen Ausrichtung erwischt. Auch Teichen
versucht mit der unerträglichen Tatsache
umzugehen, dass er Menschen im Publikum
– prozentual ähnlich viele wie evangelikal
Gläubige an der Gesamtbevölkerung – erklären muss, weshalb ihr tiefstes Erleben als
Störung zu verstehen ist.
Teichen nennt schwierige Kindheitserfahrungen oder eine ungünstige Beziehung
zum gleichgeschlechtlichen Elternteil als Ursache von Identitätsproblemen und daraus
folgender Homosexualität. Er beschuldigt
überdominante Väter und solche, die abhauen, verortet das Problem bei Scheidungen und verdächtigt «die alleinerziehende
Mutter, die etwas ins Kind hineinprojiziert,
was dort nicht hingehört», um zu guter
Letzt die Möglichkeit sexuellen Missbrauchs
ins Feld zu führen.
Auch Teichen wirkt, als stützte er sich auf
wissenschaftliche Erkenntnisse, er psychologisiert und verortet Schuld. Hätte der Vater
nicht, wäre die Mutter nur... Aus ideologischem Wunschdenken und psychologischen
Versatzstücken bastelt er eine poppige
Collage menschlichen Seins: Ein Bild des
Menschen, das den Gott, der ihn als sein
Ebenbild geschaffen haben soll, wahrlich
fürchten lässt.
Die umstrittene Spitzer-Studie
Die Behauptung, dass homosexuell empfindende Menschen – man spricht nicht von
Lesben und Schwulen und hält so den Raum
für Veränderung offen – ihre sexuelle Orientierung ändern können, wurde lange vor
allem von einer Studie (scheinbar) gestützt:
Der Spitzer-Studie, die auch in der SEA-Stellungnahme zitiert wird.8 Robert L. Spitzer ist
eine der herausragenden Figuren der modernen Psychiatrie, er gilt als Architekt der
modernen Klassifikationssysteme psychischer Krankheiten. 1974 war er wesentlich
dafür verantwortlich, dass Homosexualität
aus dem Katalog psychischer Störungen
und Krankheiten DSM entfernt wurde.
Fast dreissig Jahre später kam Spitzer in
einer aufsehenerregenden Studie zum
Schluss, dass die Änderung der sexuellen
Orientierung bei einem Teil «hochmotivierter» Veränderungswilliger möglich sei. Die
Ergebnisse dieser Studie hatte er 2001 an
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«Wir haben alle Identitätsprobleme»
einem Kongress vorgestellt und 2003 publiziert. Der Herausgeber der Zeitschrift veröffentlichte die Studie wegen ihrer offensichtlichen methodischen Mängel nur unter
der Bedingung, dass FachkollegInnen ihre
Kritik zusammen mit der Studie publizierten
– und diese Kritik fiel vernichtend aus: Sie
betraf vor allem den Umstand, dass es sich
bei den rund 200 Teilnehmenden, die Spitzer telefonisch interviewt hatte, um Personen handelte, die sich selbst als erfolgreich
therapiert verstanden.
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Es lässt sich daraus nicht schliessen, wie
gross der Prozentsatz der erfolgreichen Interventionen insgesamt ist. 200 Personen
sind nicht viel angesichts Zehntausender, die
reparative Therapien durchlaufen haben. Im
Jahr 2003 waren allein bei den Organisationen unter dem Dach von Exodus International rund 11‘000 Personen in einem
Veränderungsprogramm. Dennoch war es
Ex-Gay-Organisationen nicht gelungen,
mehr Personen für die Studie zu rekrutieren. Dazu kam, dass die Studie ausschliesslich auf Selbstaussagen der Betroffenen
beruhte, die sich natürlich sehr wünschten,
«geheilt» zu sein. Ein Teil der Befragten war
überdies in der Ex-Gay-Bewegung engagiert, vertrat also auch politische Interessen.
Falsche Verallgemeinerungen wie etwa
jene, Homosexualität sei grundsätzlich veränderbar, korrigierte Spitzer stets – sofern
er davon erfuhr, was vermutlich meist nicht
der Fall war. So publizierte etwa das christliche Medienportal Livenet, gestützt auf das
factum-Magazin, einen Artikel mit dem Titel
«Homosexualität ist heilbar», in welchem es
um die Spitzer-Studie ging.10
Das evangelikale Magazin idea Spektrum
bespricht 2002 ein Video des Deutschen
Institutes für Jugend und Gesellschaft, das
mehrheitlich Positionen der Ex-Gay-Bewegung vertritt.11 idea Spektrum schreibt:
«Homosexualität wurzelt in einer Entwicklungsstörung.» Spitzer wird als ColumbiaProfessor neben anderen angeblichen
Fachpersonen, die in der Fachwelt nicht als
solche gelten, zitiert. Gegen die Sichtweise
von Homosexualität als Störung hatte er
sich bekanntlich 1974 erfolgreich durchgesetzt.
Spitzers Distanzierung von seiner Studie
Im Mai 2012 distanzierte sich Spitzer in einer beispiellosen Richtigstellung von seiner
umstrittenen Studie: In der gleichen Zeitschrift, in welcher er die Studie veröffentlicht hatte, räumte er deren Mängel ein
und schloss eine Entschuldigung an: «Ich
entschuldige mich bei allen homosexuellen
Menschen, die ihre Zeit und Energie für irgendeine Form der reparativen Therapie
verschwendet haben, weil sie glaubten,
ich habe bewiesen, dass diese bei einigen
‚hochmotivierten Personen‘ wirksam sei.»12
«Wir haben alle Identitätsprobleme»
Man würde vermuten, dass dieses Ereignis
in evangelikalen Medien intensiv diskutiert
wurde: Was bedeutet es für die von evangelikaler Seite vertretene Veränderungsthese, sind darauf basierende Therapien noch
vertretbar?
Livenet publizierte einen Artikel mit dem
Titel: «Diskussion über Therapien für Homosexualität.»13 Es bleibe umstritten, ob
Therapien gegen Homosexualität wirksam
seien, heisst es einführend. Der New Yorker
Professor Spitzer habe sich von den Ergebnissen seiner Studie, die kurz dargestellt
werden, distanziert. Er wird indirekt zitiert
mit der Aussage: «Vielmehr könnten Versuche, Homosexualität zu unterdrücken, viel
Schaden anrichten. Vertreter der Homosexuellenbewegung halten eine «Umpolung»
oder «Heilung» für unmöglich und kritisieren christliche Organisationen, die Beratungen für unzufriedene Homosexuelle anbieten.»
Zuvor jeweils als Columbia-Professor zitiert
wird Spitzer nun in die Nähe der vielkritisierten «Homosexuellenbewegung» gerückt.
Als Vertreter der Gegenposition wird ein
englischer Professor angeführt, der bedeutende «Veränderungen» durch Seelsorge
und Beratung für möglich halte. Die Leserin erfährt nichts zu den Gründen, weshalb
Spitzer die Studie zurückzog, auch nicht
zur Bedeutung, welche sie für die Ex-GayBewegung hatte. Vielmehr entsteht der Eindruck, es gebe verschiedene wissenschaftliche Standpunkte, die sich gleichberechtigt
gegenüberstehen. Kaum einem Leser dürfte
aufgefallen sein, dass über ein für Evangelikale wichtiges Ereignis berichtet wird.
Die Schliessung von Exodus
Anfang 2012, kurz bevor Spitzer seine Studie zurückzog und die WHO ihren Bericht
zur Gefährlichkeit von Konversionstherapien publizierte, erklärte Alan Chambers
öffentlich: «Die Mehrheit der Menschen,
die ich getroffen habe, und ich spreche von
einer Mehrheit von 99.9%, hat keine Veränderung ihrer sexuellen Orientierung erlebt
(...)».14 Dies sagte Chambers als Leiter von
Exodus International, der weltweit grössten Ex-Gay-Organisation. Knapp anderthalb Jahre später, im Juni 2013, kündigten
Chambers und der Vorstand von Exodus International die Auflösung der Organisation
an. Nach fast vierzig Jahren wurden sämtliche 270 Stellen in Nordamerika und weiteren 17 Ländern geschlossen. Als Grund
nannte Chambers die fehlende Grundlage
für die Behauptung, die sexuelle Orientierung sei veränderbar.15
Anlässlich der angekündigten Schliessung
der Organisation entschuldigte sich Chambers bei allen Betroffenen für das ihnen
zugefügte Leid; er bat auch die Familienangehörigen, die durch die reparativen Therapien oft stigmatisiert worden seien, um
Entschuldigung. Chambers gab ausserdem
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«Wir haben alle Identitätsprobleme»
seinem grossen Bedauern Ausdruck, dass
viele Menschen die Zurückweisung durch
die christliche Gemeinschaft als Zurückweisung durch Gott erlebt hätten: «Ich bedaure
zutiefst, dass viele Betroffene ihren Glauben
verloren haben und manche sich gar umgebracht haben.» («I am profoundly sorry
that many have walked away from their
faith and that some have chosen to end
their lives.»)
Chambers spricht auch seine Rolle als Täter und Opfer an. Er, der selbst eine Konversionstherapie durchlaufen habe, habe
nach wie vor homosexuelle Empfindungen.
Diese Gefühle, für die er sich früher zutiefst
geschämt habe, akzeptiere er heute als Teil
seines Seins, so wie auch seine Frau, seine
Familie und Gott ihn als den akzeptierten,
der er sei.
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Auch die Schliessung von Exodus wurde
von den evangelikalen Medien kaum auf-
genommen. Livenet berichtet im Juli 2013
gestützt auf einen Artikel des Magazins
idea Deutschland über die angeblich grosse
Nachfrage bei Wüstenstrom Deutschland.
Unter dem Titel «Wüstenstrom betreut 300
Homosexuelle», erfährt die Leserin, dass
Wüstenstrom Deutschland viele Anfragen
zu verzeichnen habe.16 Markus Hoffmann
wird mit abenteuerlichen Zahlen zitiert: Bei
unter 20jährigen liege die Veränderungsquote bei 85 % – was evangelikale Eltern
dazu veranlassen müsste, Kinder, bei denen sich eine homosexuelle Orientierung
abzeichnet, möglichst früh «therapieren»
zu lassen. Unter dem Zwischentitel «Es
braucht professionelle Therapiearbeit» wird
die Schliessung von Exodus International
beiläufig erwähnt. Hoffmann kommentiert,
die Organisation habe nicht professionell
gearbeitet und nur mit Gebet heilen wollen,
was nicht stimmt. Auch diesem Artikel kann
der Leser nicht entnehmen, dass über ein
Ereignis berichtet wird, das für die evange-
likale Debatte zum Thema Homosexualität
wichtig ist.
Rückschläge der Ex-Gay-Bewegung
Spitzers Distanzierung von seiner Studie
war für die Ex-Gay-Bewegung ein Rückschlag, allerdings hatte diese schon zuvor
an Rückhalt verloren. Das mochte mit der
zunehmenden Akzeptanz von Homosexualität in westlichen Gesellschaften zu tun haben, aber auch mit der Unmöglichkeit der
Mission.
2011 erklärte John Smid, ebenfalls langjähriges Mitglied der Exodus-Leitung, Konversionstherapien seien sinnlos. Früher bekannt
für Aussagen wie «Lieber tot als schwul»
sagte er, er habe in seiner ganzen Zeit als
Ex-Gay-Aktivist keinen einzigen homosexuellen Mann getroffen, der heterosexuell
geworden sei.17 Smid war lange Leiter von
Love in Action, einer weiteren Pionier-Organisation der Ex-Gay-Bewegung, später
«Wir haben alle Identitätsprobleme»
unter dem Dach von Exodus International.
Sie war in Verruf geraten, weil sie bereits
für Jugendliche Konversionstherapien anbot, wofür sich Smid 2010 entschuldigte.
Auch bei Love in Action war mit John Evans
eine der Gründungsfiguren zum dezidierten
Kritiker der Ex-Gay-Bewegung geworden.
Evans verliess die Organisation 1979, nachdem sich ein Freund von ihm aus Verzweiflung darüber, dass die «Veränderung» nicht
gelang, umgebracht hatte.
Ende März 2014 löste sich die grösste ExGay-Organisation in Australien, Living Waters auf, wegen mangelnder Nachfrage
und fehlendem qualifizierten Personal wie
es hiess. Zur Schliessung dürfte neben dem
ausbleibenden Erfolg auch der Umstand
beigetragen haben, dass sich immer mehr
christliche Gemeinschaften für homo- und
bisexuelle Personen öffnen.
Jeremy Marks, ehemaliger Leiter von Exodus Europa, wandte sich im Jahr 2000 nach
zwölf Jahren von der Ex-Gay-Ideologie ab
und baute seine britische Organisation Courage zu einer Organisation für homosexuelle
Gläubige um.18 Der Gründer von Wüstenstrom Deutschland, Günter Baum, wurde
ebenfalls zu einem Kritiker der Ex-Gay-Bewegung und gründete mit Zwischenraum
eine Selbsthilfe-Organisation für homosexuelle (evangelikal) Gläubige.
In Deutschland sorgte 2008 das Christival, eine Grossveranstaltung für junge vornehmlich evangelikale Christen, grosszügig
unterstützt vom Familienministerium, für
Schlagzeilen: Einer der Kurse mit dem Titel
«Homosexualität verstehen – Chancen für
Veränderung» wurde vom Deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft angeboten, dann aber aus dem Programm genommen. Ein Jahr später führte ein Kongress
des evangelikalen Vereins «Akademie für
Seelsorge und Beratung» zu heftigen politischen Debatten, Gegenveranstaltungen
und Demonstrationen bei enormer medialer Präsenz: Wiederum waren es Veranstaltungen des Deutschen Instituts für Jugend
und Gesellschaft sowie von Wüstenstrom
Deutschland zum Thema Homosexualität
als «Störung» sowie deren angeblicher Therapierbarkeit, welche für Empörung sorgten.
Auf evangelikaler Seite war die Irritation
gross, dass eine «wissenschaftliche» Sichtweise solche Reaktionen hervorrufen konnte. Möglicherweise war es gerade auch
diese Irritation, die zusätzlich für Empörung
sorgte. Die Minderheit, die eine andere diskriminierte, schien dies nicht im Ansatz als
Unrecht zu erkennen und rief stattdessen
«Diskriminierung».
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«Wir haben alle Identitätsprobleme»
«Sexuelle Orientierung lässt sich nicht verändern»
Prof. emer. Dr. rer. nat., Dipl.-Pych. Udo
Rauchfleisch gilt als einer der ausgewiesensten Experten zum Thema Homosexualität, Transsexualität und Transidentität.
Zur Entstehung sexueller Orientierungen,
der Frage ihrer Veränderbarkeit sowie den
Folgen von Veränderungsversuchen äussert er sich folgendermassen:
Entstehung sexueller Orientierung
«Die uns heute vorliegenden humanwissenschaftlichen Forschungsergebnisse
lassen erkennen, dass die sexuellen Orientierungen homosexueller wie heterosexueller Art einerseits auf genetischen Dispositionen beruhen und andererseits, von
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diesen Dispositionen ausgehend, sehr früh
im Leben eine in ihrer Grundstruktur nicht
veränderbare Ausformung erfahren.»
Frage der Veränderbarkeit
«Im Verlauf des weiteren Lebens sind Änderungen des sexuellen Verhaltens möglich, vor allem wenn, wie in evangelikalen
Kreisen, die Bezugsgruppe eines Menschen einen starken Druck auf ihn ausübt.
Das Resultat solcher Beeinflussung von
aussen ist aber höchstens eine Änderung
des Sexualverhaltens, d. h. in diesem Fall
der Wechsel von gleichgeschlechtlichen
zu gegengeschlechtlichen Partnerinnen
und Partnern. Die eigentliche sexuelle
Orientierung mit den daran geknüpften
Gefühlen, den erotischen und sexuellen
Phantasien sowie den sozialen Präferenzen lässt sich jedoch nicht verändern.»
Folgen von Veränderungsversuchen
«Versuche, die sexuelle Orientierung von
Lesben und Schwulen zu verändern, haben schwerwiegende negative Folgen in
Gestalt von Depressionen, Ängsten und
Selbstwertkrisen bis hin zur Suizidalität.
Derartige Aktivitäten, die Menschen dazu
drängen, ihre sexuelle Identität zu unterdrücken, sind nicht nur untherapeutisch,
sondern auch unethisch.»
«Wir haben alle Identitätsprobleme»
Die Anti-Homosexuality Bill in Uganda
Vielen Menschen trat die Ex-Gay-Bewegung
aber durch einen Skandal um ein Anti-Homosexuellen-Gesetz in Uganda erstmals
ins Bewusstsein, das war ebenfalls im Jahr
2009. In Kampala, der Hauptstadt Ugandas,
fand eine Konferenz zum Thema Homosexualität statt. Auf der Agenda standen als
Themen die «sexuelle Umorientierung» Homosexueller, die angebliche Neigung Homosexueller zu Pädophilie sowie die vermeintliche Zerstörung der auf der Ehe basierenden
Gesellschaft durch Homosexuelle. An dieser
Konferenz nahmen auch drei us-amerikanische Evangelikale teil, darunter ein Führungsmitglied von Exodus International. Sie
nutzten die Konferenz für Gespräche mit
dem evangelikalen Parlamentsabgeordneten David Bahati sowie weiteren Politikern
über einen Gesetzesentwurf zur Sanktionierung von Homosexualität. Diese AntiHomosexuality Bill reichte Bahati im Herbst
2009 im Parlament ein: Homosexuelle
Handlungen sollten mit lebenslanger Haft,
in bestimmten Fällen gar mit der Todesstrafe geahndet werden. Alan Chambers
hatte sich nachträglich in einem Brief von
solch repressiven Massnahmen distanziert,
doch da war der Schaden bereits angerichtet, auch für Exodus.
In der Folge kam es in Uganda zu einer regelrechten Hetze gegen Schwule, an der die
Medien einen grossen Anteil hatten. 2010
outete eine Zeitung 100 angebliche Top-Homosexuelle mit Foto und dem Aufruf «Hang
them – they are after our kids» («Hängt sie,
sie sind hinter unseren Kindern her»). Einer
der Geouteten war der Aktivist David Kato,
der kurz darauf ermordet wurde.
Auch aufgrund weltweiter Proteste scheiterte das erste Gesetzesvorhaben. Bahati
reichte einen neuen Gesetzesentwurf ein,
der im Februar 2014 vom ugandischen Präsidenten Museveni, ebenfalls evangelikaler
Christ, ratifiziert wurde: Es sieht lebenslange Haft für homosexuelle Handlungen im
Wiederholungsfall vor, ebenfalls Haftstrafen
bei unterlassener Denunziation. Am Tag
nach der Ratifizierung veröffentlichte eine
Boulevardzeitung eine Liste mit den Namen
von 200 (mutmasslichen) bekannten Homosexuellen. Bereits wurden zwei Personen
aufgrund des neuen Gesetztes angeklagt.
Die Weltbank, die sich grundsätzlich nicht
in politische Fragen einmischt, sistierte einen 90-Millionen-Kredit.
Sowohl idea Spektrum als auch livenet
berichten gerade über Uganda besonders
häufig, dennoch findet sich kein Beitrag
zur evangelikal geschürten Homophobie
in Uganda. Dabei wäre es doch ein Thema,
das Evangelikale umtreiben müsste: Was
heisst es für uns, wenn wir eine Position vertreten, die in Afrika und auch in Russland
zu schwersten Menschenrechtsverletzungen
führt? Wie werden wir wahrgenommen,
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«Wir haben alle Identitätsprobleme»
wenn wir zwar immer wieder auf die Diskriminierung von Christen hinweisen, aber als
Christen die Grundlage für Diskriminierung
liefern – und dazu erst noch schweigen?
Wissen auch für Evangelikale
In der SEA-Stellungnahme zu Homosexualität mahnt Wilf Gasser die Wissenschafts-,
Gewissens- und Meinungsfreiheit an. Die
Wissenschaftsfreiheit wird aber gerade von
ihm unterlaufen, indem er falsche, aus einem Dogma abgeleitete Behauptungen als
wissenschaftliche Erkenntnisse darstellt.
Jeder darf im Namen des Glaubens Berge
versetzen. Will er das jedoch als wissenschaftliche Tatsache geltend machen, muss
er es belegen.
31
Genau das macht Gasser jedoch nicht und
behindert damit die beschworene Gewissens- und Meinungsfreiheit. Das gilt auch
für evangelikale Medien, wenn sie über relevante Ereignisse, welche das eigene Welt-
verständnis herausfordern, nicht oder nur
selektiv berichten. Meinungs- und Gewissensfreiheit kann es nur geben, wenn Menschen tatsächlich über Informationen und
Wissen verfügen. Mit neuem Wissen ändern sich auch Meinungen und Bewertungen,
so dass Haltungen von heute morgen möglicherweise als Unrecht verstanden werden.
Auch innerhalb der evangelikalen Community in der Schweiz haben sich in den letzten dreissig Jahren Ansichten zu zentralen
Fragen teilweise stark verändert – etwa zur
Frage der «richtigen» christlichen Erziehung
oder der Stellung der Frau in der Gemeinde.
Es gibt zu verschiedenen zentralen Themen
unter dem Dach der SEA und innerhalb der
Freikirchen des VFG unterschiedlichste Positionen. Beim Thema Homosexualität hingegen schien man sich einig, die einhellige
Ablehnung von Homosexualität hatte schon
fast identitätsstiftenden Charakter. Homosexualität bedroht den christlichen Lebens-
entwurf, sie steht dem Bild von Mann und
Frau als Ebenbild Gottes und Grundlage der
Familie entgegen.
Das Gegenteil von homosexuell
ist heilig
Heute wird in evangelikalen Kreisen allerdings oft betont, dass Homosexualität keine
andere Kategorie von Sünde darstelle. Auch
in der SEA-Stellungnahme heisst es, Homosexualität solle nicht als «besonders grosse
Sünde» herausgestrichen werden (S.14).
Man kann der SEA-Stellungnahme zugutehalten, dass sie bemüht ist, Homosexualität,
wenn diese schon keine gleichwertige Liebe
darstellen soll, wenigstens als gleichwertige Sünde zu verstehen: Niemand wird für
diese angebliche Störung verantwortlich
gemacht, lediglich für den Umgang damit.
Niemand würde je zu einer «Veränderung»
gedrängt, auch wenn sie natürlich Voraussetzung für sexuelles Erleben ist – jeder kann
sich frei für ein enthaltsames Leben ent-
«Wir haben alle Identitätsprobleme»
scheiden. In der Ex-Gay-Bewegung heisst es
denn auch, das Gegenteil von Homosexualität sei nicht Heterosexualität, sondern Heiligkeit.
Auf der Website des evangelikalen Beratungsangebots «Der Neue Weg» steht:
«Es ist uns ein wichtiges Anliegen, dass du
deine eigene Entscheidung triffst, denn wir
glauben, dass jeder Mensch vor Gott zur
Eigenverantwortlichkeit aufgerufen ist. Im
seelsorgerlichen Gespräch mit uns ist es dir
möglich, das auszudrücken, was du empfindest und als Schwierigkeit bezüglich deiner
Homosexualität erlebst.» Es wird ausserdem
betont, dass die Entscheidungsfindung ergebnisoffen begleitet werden soll.
Vor evangelikalem Hintergrund bedeutet
«Ergebnisoffenheit» ein Szenario mit drei
schlimmen Möglichkeiten: Betroffene können sich für einen «Prozess der Veränderung», für ein zölibatäres Leben oder gegen
Gott entscheiden. Und die meisten werden
sich, ob sie nun «Veränderung» oder ein
zölibatäres Leben wählen, als versagend,
schwach und schuldig erleben. In dieser
Wahrnehmung der eigenen menschlichen
Schwäche und Sündhaftigkeit angesichts
göttlicher Vollkommenheit werden sie aber
Unterstützung erfahren. Schliesslich ist das
die zentrale Figur evangelikalen Glaubens,
verbunden mit dem Reflex, Gottes Vergebung zu suchen.
Vor dem Hintergrund evangelikalen Glaubens fällt es schwer, über Nicht-Wahlmöglichkeiten nachzudenken, auch evangelikaler Glaube basiert auf einer Nicht-Wahl.
Dennoch haben die heterosexuellen Mitchristen eine Möglichkeit mehr – jene der
erwiderten partnerschaftlichen Liebe, für
viele das Salz ihres Lebens.
Die Solidarität mit den «homosexuell empfindenden» Menschen in der eigenen Mitte
und ihre Unterstützung erscheinen so ledig-
lich als eine subtilere Form der Diskriminierung – nicht weniger ausgrenzend als das
frühere Totschweigen oder die offene Ablehnung, aber schwerer zu durchschauen.
Denn selbst wenn das Gegenteil von Homosexualität Heiligkeit wäre: Das Gegenteil
von Heiligkeit ist des Teufels.
Bedrohung der göttlichen Ordnung
Erklärt das die Herabwürdigung und Abwertung Homosexueller in einer offiziellen Stellungnahme eines Dachverbands, der sich
wünscht, politisch gehört zu werden und
immer wieder auf den eigenen Minderheitenstatus verweist? Was ist an Homosexualität so bedrohlich, dass wissenschaftliche
Fakten unterschlagen oder falsch wiedergegeben werden? Weshalb wird Tausenden
von Menschen in der eigenen Mitte mit
diesem Veränderungsmythos solches Leid
zugefügt? Weshalb sind sie, so scheint es,
keine Nächsten und gehören offenbar nicht
einmal zu den Geringsten?
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«Wir haben alle Identitätsprobleme»
Hat es möglicherweise damit zu tun, dass
Menschen an sich selbst erleben, dass sich
die sexuelle Orientierung nicht von ihrem
Sein subtrahieren lässt, sowenig wie das
Geschlecht? In dem Fall wäre Homosexualität nicht ein behebbarer «Defekt» wie etwa
eine vorübergehende Erkrankung; kein Unkraut, das sich ausreissen lässt. Homosexualität wäre dann eine mit dem Menschen
verwachsene Sünde, die dem Boden seines
Seins entspringt und genährt wird vom seinem Erleben. Eine Sünde, die sich nicht vom
Menschen trennen lässt und deshalb für
den Menschen selbst steht. Homosexualität
wäre das Kainsmal sündigen Seins, eines
Seins, aus dem nichts Gutes kommen kann.
Kein Halleluja einer solchen Seele, das nicht
nach unten fällt.
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Eine solche ins Sein eingewobene Sünde
bedroht nicht nur die Beziehung des Menschen zu Gott, sondern die ganze göttliche
Ordnung. Die verordnete Enthaltsamkeit
oder die propagierte «Veränderung» könnte man deshalb auch als Metaphern verstehen: Das sündige Sein wird in sich selbst eingeschlossen oder aus sich selbst vertrieben.
Möglicherweise ist das der Grund, weshalb
entgegen besseren Wissens auf «Veränderung» gedrängt wird. Weshalb Menschen
ermutigt werden, sich auf einen Prozess
einzulassen, der sich über Jahre hinziehen
könne, schmerzhaft und im Ausgang ungewiss sei. Vielleicht geht es dabei ja weniger
um das Ergebnis als den Prozess selbst: darum den Boden des eigenen Seins wieder
und wieder umzupflügen, das eigene Erleben auszutrocknen – um so der Sünde ihre
Grundlage zu entziehen. Denn die Sünde
selbst, davon geben nicht nur die Berichte
von Aussteigern, sondern gerade auch viele
Ex-Gay-Vertreter beredtes Zeugnis, lässt sich
nicht ausrotten.
Der Kampf um Gut und Böse wird im Innersten des Individuums ausgetragen: Auf
Kosten seines Aufgehobenseins in sich
selbst und Gott, oft auf Kosten familiärer
Beziehungen und immer auf Kosten partnerschaftlicher Bindung und Erfüllung.
Im Namen Gottes ist nicht alles möglich
Auf Anfrage von infoSekta schreibt Wilf Gasser, die SEA plane, ihre Stellungnahme zum
Thema Homosexualität zu überarbeiten.
Das sei kein einfaches Unterfangen, weil es
zu diesem Thema heute auch innerhalb der
Evangelikalen unterschiedliche Positionen
gebe.
Nicht erst heute, möchte man entgegnen.
Viele evangelikal Gläubige finden eine echte, auf Fakten basierte Diskussion längst
überfällig. Viele sind auch der Ansicht, dass
gerade im Namen Gottes nicht alles möglich
ist. Und vielen ist längst klar, dass Homosexualität kein Identitätsproblem ist, aber der
Umgang damit für die evangelikale Community eines werden könnte.
«Wir haben alle Identitätsprobleme»
Gasser, W., 2009. Zwischen Annahme und Veränderung – Christlicher Glaube und gleichgeschlechtliche Orientierung. Ein Arbeitspapier der Schwei-
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Zwei Mail-Anfragen von infoSekta, wer hinter dem Angebot stehe, blieben unbeantwortet.
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