LG/6883.01-1/9 Zwangsheirat verhindern Definition „Zwangsverheiratung liegt dann vor, wenn sich jemand zur Ehe gezwungen fühlt und entweder mit der Weigerung kein Gehör findet oder es nicht wagt, sich zu widersetzen, weil Eltern, Familie, Verlobte und Schwiegereltern mit den unterschiedlichsten Mitteln versuchen, Druck auszuüben. Dazu gehören physische und sexuelle Gewalt, Nötigung durch Drohungen, Einsperren, Entführung, unausweichlicher psychischer und sozialer Druck diskriminierenden Ausmaßes sowie emotionale Erpressung, Einschränkungen in Bezug auf Lebensstil, beruflicher Werdegang und Bewegungsspielraum und andere erniedrigende, herabsetzende Behandlungen.“1 Ist-Zustand Der Landesfrauenrat beobachtet mit Sorge, dass Zwangsverheiratung in Deutschland in traditionell patriarchalen Rollen- und Familienverhältnissen stattfindet. Patriarchale Familiensysteme räumen einer Frau keine Anerkennung ein, wenn sie nicht verheiratet ist. Eine unverheiratete Frau wird genauso behandelt wie ein minderjähriges Kind, es wird ihr keine selbstständige Entscheidung zugestanden.2 Daher nehmen die Eltern dem jungen Mädchen die Entscheidung ab und bestimmen, wen die Tochter oder auch der Sohn heiraten soll. Die Kinder werden dann sehr früh verlobt, möglichst mit einem oder einer Verwandten, damit die Familienbande und auch die Verbindung zur Heimat gestärkt werden. Es gibt verschiedene Wege, wie es zu einer Zwangsheirat kommt: - Ein junger Mann möchte ein Mädchen aus der Heimat heiraten, das noch nicht so stark von der westlichen Lebensweise geprägt ist. Für ihn sucht die Familie im Heimatort eine Heiratskandidatin. Diese junge Frau kommt dann mit geringen Deutschkenntnissen in eine für sie völlig fremde Umgebung und lebt häufig abgeschottet in der Wohnung der Schwiegereltern. Da sie ihre Rechte nicht kennt und auch nicht weiß, wo sie sich Hilfe holen kann, ist sie unter Umständen den Gewalttätigkeiten der Familienangehörigen ausgeliefert. - Andere Eltern haben die Sorge, dass ihre Töchter zu stark die freiheitlich demokratischen Werte übernehmen könnten und suchen daher rechtzeitig nach einem geeigneten Heiratskandidaten in der Heimat. Bei Ferien im Heimatland werden die Töchter dann, auch gegen ihren Willen, verheiratet. Oft müssen sie dann dort bleiben und können ihre Schul- oder Berufsausbildung nicht mehr abschließen. - Dem Ehemann soll durch diese Heirat die Möglichkeit eröffnet werden nach Deutschland zu kommen, um hier eine Arbeit zu finden. Wirtschaftliche Gründe sind hier das Motiv für die Eheschließung. So wird auch die Verpflichtung gegenüber der Verwandtschaft oder der Dorfgemeinschaft erfüllt. - Zwangsverheiratung wird auch deshalb möglichst früh forciert, weil an der Jungfräulichkeit der Töchter die gesamte Familienehre hängt. Bei sexueller Selbstbestimmung der Frau fühlen sich oft die Männer der Familie in ihrer Ehre verletzt. Umgekehrt ist weder der Ehebruch des Ehemannes noch der voreheliche Geschlechtsverkehr des unverheirateten Mannes ein ehrenrühriges Verhalten.3 1 vgl. Begründung des Gesetzesantrages des Landes Baden-Württemberg in: BR-Drs. 767/04, Seite 4 Filiz Sütçü, Zwangsheirat und Zwangsehe, 2009, Seite 61 3 Filiz Sütçü (Fn. 2), Seite 129 2 -2- Wenn eine Frau sich einer Zwangsverheiratung widersetzt, kann es für sie zur Folge haben, dass sie von den Familien bedroht wird, bis hin zur Tötung. Gegenwärtige rechtliche Situation Zwangsverheiratungen beeinträchtigen die menschliche Würde und selbstbestimmte Lebensführung der Betroffenen. Sie verstoßen gegen das Grundgesetz und die allgemeinen Menschenrechte und sind nach dem neu gefassten § 237 StGB ein Straftatbestand, der mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft werden kann. Dieses Gesetz ist am 17. März 2011 im Bundestag beschlossen worden. Das Rückkehrrecht für die von Zwangsheirat Betroffenen ist auf zehn Jahre ausgedehnt, die Antragsfrist zur Aufhebung der Zwangsehe von einem auf drei Jahre verlängert worden. Hier kommt es auf den Beweis an, dass eine Zwangsehe vorliegt. Die Abgrenzung zur arrangierten Ehe, die mit einem normalen Scheidungsverfahren aufgehoben wird, ist aber sehr schwierig. Bei der arrangierten Ehe suchen auch die Eltern die Ehepartner aus, aber in diesem Fall können die Ehekandidaten zumindest theoretisch den Partner ablehnen. Eine junge Frau weiß aber, dass sie auf jeden Fall heiraten muss und wird dann auch gegen ihre Überzeugung einmal „ja“ sagen, in der Hoffnung, mit diesem Partner ein freieres Leben zu haben als im Elternhaus und eine gute Ehe zu führen. Stellt sich dann aber heraus, dass die Ehe unglücklich und der Partner gewalttätig ist, kann es vorkommen, dass die Familien von beiden Ehepartnern eine Ehescheidung nicht zulassen. Dann liegt zwar keine Zwangsheirat vor, aber eine Zwangsehe, aus der die Frau auch nur durch Flucht ausbrechen kann. Um Scheinehen zu verhindern verlangt das neue Gesetz eine Ehedauer von drei statt wie bisher zwei Jahren, bevor diese Frauen eine eigenständige Aufenthaltsgenehmigung erlangen. Das bedeutet für Frauen in einer häufig von Gewalt geprägten Ehe, dass sie länger diese Ehe aushalten müssen. Soll-Zustand Eine Ehe darf nur in freiem und vollem Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden (Artikel 16 Abs. 2 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte). Jeder Mensch hat das Recht auf Selbstbestimmung über die Gestaltung seines eigenen Lebens, also auch ob, wann und wen er oder sie heiratet. Eine Frau muss nicht verheiratet sein. Daher ist es wichtig und richtig, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf gegen Zwangsverheiratung eingebracht hat, der jetzt vom Bundestag beschlossen wurde. Ein Gesetz alleine ist jedoch noch nicht ausreichend und kann nur der erste Schritt sein auf dem Weg, Zwangsverheiratung in Deutschland zu verhindern. Es muss auch ein Bewusstseinswandel in der Gesellschaft passieren. In Artikel 3 Grundgesetz steht, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Das bedeutet auch, dass Männer und Frauen den gleichen Wert in der Gesellschaft unabhängig von ihrer gewählten Lebensform haben. Eine unverheiratete Frau muss ihr Leben genauso selbstbestimmt führen können wie ein Mann. Auch in der Ehe ist sie nicht Eigentum des Ehemannes, genauso wenig wie Kinder Eigentum ihrer Eltern sind. -3- In den Integrations- und Sprachkursen muss das Thema der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung von Frauen und Männern thematisiert werden, auch in Hinsicht auf den problematischen „Ehrbegriff“, der Frauen fälschlicherweise zum Eigentum der Familie erklärt. Diese Grundsätze von der Gleichwertigkeit der Geschlechter muss auch in die Gesellschaft der Migrantinnen und Migranten hineingetragen werden. Das kann bei den Kindern in den Kindertagesstätten beginnen, in den Schulen und den Deutschkursen umgesetzt werden. Über ausgebildete Stadtteilmütter4, die selbst aus dem Migrantenmilieu kommen, können Mütter angesprochen werden, wenn sie die Kinder aus der Tagesstätte abholen. So können Kontakte entstehen, wo auch ein Austausch über Rechte und Pflichten statt finden kann. Dies ist eine Möglichkeit, Frauen aus ihrer familiären Isolation herauszuholen. Junge Mädchen haben häufig ein gutes Vertrauensverhältnis zu ihren Lehrerinnen und Lehrern. Daher wenden sie sich auch bei familiären Problemen an sie. Lehrerinnen und Lehrer müssen daher befähigt sein, in Konfliktfällen zu beraten und Lösungswege aufzuzeigen. Auch eine gute Zusammenarbeit mit Jugendämtern ist notwendig. Notfalls muss auch die Polizei eingeschaltet werden. Hierbei muss auf einen sensiblen Umgang mit den Daten (Namen und Aufenthaltsort) geachtet werden, damit die Gefährdung nicht größer wird. Zwangsverheiratung ist z. B. auch in der Türkei ein Straftatbestand. ‚Der Islam verbietet die Zwangsheirat’, sagt auch der Koordinationsrat der Muslime. Daher können die Imame und die Moscheevereine in die Aufklärung mit eingebunden werden, denn sie haben einen großen Einfluss vor allem auf die gläubigen Moslems. Bei all diesen Maßnahmen muss darauf geachtet werden, dass die Menschen in der Minderheitsgesellschaft nicht den Eindruck bekommen, dass ihnen ihre Kultur genommen werden soll und über sie schlecht geredet wird. Zwangsverheiratungen haben ihre Wurzeln nicht in der Religion sondern in der Tradition. Traditionen dürfen aber nicht akzeptiert werden, wenn sie offensichtlich den Menschenrechten widersprechen. Forderungen 1. Keine Verschlechterung, wie z. B. durch die Verlängerung der Ehedauer von zwei auf drei Jahre als Voraussetzung für eine eigenständige Aufenthaltsbewilligung, durch das ansonsten zu begrüßende Gesetz gegen Zwangsheirat. 2. Ausweitung und Spezialisierung von Fachberatungsstellen; Schutzeinrichtungen und mehrsprachige Telefon-Hotlines oder Online-Beratung für von Zwangsheirat Betroffene. 4 Stadtteilmütter sind Multiplikatorinnen und leben eine Vorbildfunktion. Ziel ist es, durch die aufsuchende Familienarbeit und die Mitarbeit in Familiencafés, die Entwicklungs- und Bildungschancen von Kindern aus sozial benachteiligten Familien nachhaltig zu verbessern. Vor Ort sollen Familiennetzwerke gestärkt, Nachbarschaftskontakte aufgebaut und Unterstützungssysteme für Familien geschaffen werden. (so z. B. die Projektbeschreibung des Diakonischen Werks Berlin Mitte e.V.) Inhaltliches und methodisches Vorbild ist das „Rucksack“- Elternbildungs- und Sprachförderprogramm für Migrantenfamilien aus Rotterdam, Niederlande. -4- 3. Errichtung von Inobhutnahmestellen für aus der Zwangsehe flüchtende oder von Zwangsheirat bedrohte Minderjährige, da Frauenhäuser in der Regel für diese Zielgruppe ungeeignet sind. Beratungsstellen brauchen einen eigenen Fonds für Nothilfe. 4. Thematisierung der Zwangsheirat in den Schulen, Stärkung der Elternarbeit sowie stärkere Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern sowie ‚Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen und deren Ausstattung mit einem entsprechenden Zeitkontingent. 5. Einbindung der Moschee-Vereine und Migranten-Selbstorganisationen in die Aufklärung. 6. Regelung von unterhaltsrechtlichen Bestimmungen und Erweiterung des Aufenthaltsrechts für Flüchtende aus der Zwangsehe. 7. Getrennte Anhörung der Parteien beim Familiengericht. 8. Geschlechtergetrennte Sensibilisierung, fachliche Qualifizierung und Vernetzung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von psychosozialen Beratungsstellen, Familienberatungsstellen, Migrationsdiensten, Jugendämtern, Polizei, Justiz, etc. für die Problematik der Zwangsheirat. Sensibilisierung der Anlaufstellen im Hinblick auf die zu wahrende Anonymität der Schutzbedürftigen. 9. Erleichterung der Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit oder sonstiges Recht auf Namensänderung, um aus Schutzgründen anonym bleiben zu können. München, 5. August 2011 Hildegund Rüger Präsidentin Bayerischer Landesfrauenrat Hausanschrift: Winzererstraße 9 80797 München Telefon (089) 1261-1520, -1412 Telefax (089) 1261-1633 Briefanschrift: Internet: Postfach 40 02 29 www.lfr.bayern.de 80702 München E-Mail: [email protected]