Superblocco

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Seite 16 / Süddeutsche Zeitung Nr. 218
HF2
Dienstag, 22. September 2009
LITERATUR
Im Namen des
Gemeinwohls
Für Ultra-Narzissten
Amélie Nothomb sucht Schokolade
und findet Zuckerwerk
Simone Weils Plädoyer für die
Abschaffung der Parteien
Wer heute sämtliche politischen Parteien abschaffen wollte, würde rasch totalitärer Neigungen verdächtigt werden.
Die Existenz mehrerer Parteien und deren geregelter Wettkampf um die Macht
gelten inzwischen als wertvoll an sich. Simone Weil sah dies anders. „Die Demokratie, die Macht der größeren Zahl sind
keine Güter“, heißt es in ihrer erstmals
1950, also posthum veröffentlichten „Anmerkung zur generellen Abschaffung der
politischen Partei“, die nun auch auf
Deutsch vorliegt. Demokratie und Macht
der größeren Zahlen seien lediglich „Mittel zum Guten, die zu Recht oder zu Unrecht für wirksam gehalten werden.“
Simone Weil, 1909 in einer liberalen jüdischen Familie in Paris geboren, schrieb
die „Anmerkung“ im Londoner Exil,
während sie über die politische Nachkriegsordnung Frankreichs nachdachte.
Im Namen der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls plädierte sie, wenige Monate
vor ihrem frühen Tod im August 1943, gegen Parteien überhaupt. Diese schienen
ihr durch drei Merkmale hinreichend
charakterisiert: Eine Partei sei erstens
„eine Maschine zur Fabrikation kollektiver Leidenschaft“, als Organisation übe
sie zweitens „kollektiven Druck auf das
Denken“ ihrer Mitglieder aus; ihr einziger Zweck sei schließlich das eigene, unbegrenzte Wachstum. „Aufgrund dieser
drei Merkmale ist jede Partei in Keim
und Streben totalitär. Wenn sie es nicht
in Wirklichkeit ist, dann nur, weil die anderen Parteien um sie herum es nicht weniger sind als sie.“
Die kurze Schrift ist überreich an solchen sehr klaren, sehr strengen Sätzen.
Das ist eine Sprache, die zur Meditation
einlädt, nicht zum Gespräch. Ein Gutes
kann Weil der Existenz der Parteien
nicht abgewinnen. Deren Abschaffung
sei legitim und wünschenswert und könne nur gute Wirkungen zeitigen. Parteien
zwängen dazu, die Öffentlichkeit, sich
selbst und die Partei zu belügen. Sie seien also ein Übel: „Vertraute man die Organisation des öffentlichen Lebens dem
Teufel an, er könnte nichts Tückischeres
ersinnen.“
Unverzüglich wird man Weil zustimmen wollen, wenn sie darüber spottet, einer sei aufgefordert, den kommunistischen Standpunkt oder den sozialistischen oder den radikalen darzulegen.
Wer auf Wahrheit aus ist, sollte sich
nicht darum kümmern, ob dies mit einem
bestimmten Standpunkt, einer vorgefassten Meinung konform sei. Das informative Nachwort von Thomas Macho und Helen Thein skizziert die politischen Erfahrungen Weils. Dazu gehörte der Spanische Bürgerkrieg, in dem sie die Erfordernisse des Krieges über die Ideale triumphieren sah, zu deren Verteidigung er geführt wurde. Vergleichbares, so glaubte
sie, habe sich bereits in Lenins Sowjetrussland ereignet. Die Entwicklung des
Gaullismus ließ Ähnliches befürchten.
Darauf reagiert ihre melancholische Radikalität.
Der heutige Leser sucht unwillkürlich
nach einem dritten, einem gangbaren
Weg jenseits von unangefochtener Herrschaft der Lüge oder genereller Abschaffung. Ist das politische Leben tatsächlich
zur Verlogenheit, zu Gruppenzwang und
Hetze verdammt, solange Parteien existieren? In England scheint es anders auszusehen oder doch wenigstens einmal anders gewesen zu sein. Dort, so Weil, eigne
den Parteien ein „Element von Spiel, von
Sport“ – ein Moment der aristokratischen Tradition und daher nicht übertragbar. Französische Parteien seien dagegen vom Ernst geprägt, wie alle Institutionen mit plebejischer Herkunft.
In Deutschland werden die Parteileidenschaften inzwischen durch programmatische Angleichung gemildert, durch
das, was man „Sozialdemokratisierung“
nennt. Der gegenwärtige Wahlkampf
zeigt vor allem, wie schwer es fällt, politische Emotionen zu wecken, glaubwürdig
Propaganda für Parteiinteressen zu betreiben. Zu allgemein ist die Vorliebe für
Kompromisse und pragmatische Lösungen geworden, zu häufig scheinen Sachfragen und technokratisches Wissen
wichtiger als Doktrin und Standpunkt.
Wenn Simone Weils „Anmerkung“
heute dennoch berührt, dann vor allem
durch den klaren Duktus, die rousseauistische Leidenschaft fürs Gemeinwohl
und den ungeheuren Ernst der Argumentation.
JENS BISKY
SIMONE WEIL: Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien. Aus dem Französischen von Esther
von der Osten. Diaphanes Verlag, Zürich, Berlin 2009. 60 Seiten, 10 Euro.
Alain Claude Sulzer
Erhält den Hesse-Literaturpreis
Der mit 15 000 Euro dotierte Hermann-Hesse-Literaturpreis geht in diesem Jahr an den Schweizer Schriftsteller
Alain Claude Sulzer. Der 1953 in Basel
geborene Autor erhalte die Auszeichnung für seinen Roman „Privatstunden“,
teilte die von der Literarischen Gesellschaft Karlsruhe betreute Stiftung Hermann Hesse Literaturpreis am Wochenende mit. Mit dem Roman zeige sich Sulzer als „eleganter Stilist und einfühlsamer Psychologe“, hieß es. Er entfalte „diskret, aber sehr eindringlich ein bewegtes
Seelendrama, das bis in die feinsten Verästelungen hinein behutsam ausgeleuchtet wird“. Der mit 5000 Euro dotierte Förderpreis geht in diesem Jahr an den 1978
in Wiesbaden geborenen Autor Christophe Fricker für „Das schöne Auge des Betrachters“. Die Preisübergabe ist für den
26. November in Karlsruhe geplant. dpa
Einer der Dioskuren vor dem „Palazzo della Civiltà italiana“ im Stadtviertel EUR in Rom. Das Gebäude wurde von den Architekten Giovanni Guerrini, Ernesto
Bruno La Padula und Mario Romano entworfen und zwischen 1938 und 1943 erbaut.
Foto: Siephoto / Masterfile
Superblocco
Hier ging’s mit Furie ans Werk: Franz J. Bauers brillante Geschichte des modernen Rom
Die Stadt Rom ist das begehbare Realsymbol der europäischen Kultur. Hier
werden ihre Zusammenhänge anschaulich und greifbar wie nirgendwo sonst:
der Zusammenklang von heidnisch-antikem Fundament mit christlich-päpstlicher Neugründung und der daraus entspringende unendlich fruchtbare Mechanismus ästhetischer Reprisen und Renaissancen. Für deutsche Rom-Besucher
pflegt dieser gigantische Kurs kurz vor
dem Zeitalter Goethes zu enden, im Hochbarock mit seinen Kirchen, Plätzen und
Brunnen. Der Rest ist Literatur: zahllose
Italienische Reisen, die Geschichtsepen
von Mommsen und Gregorovius, die
Künstlerbiographien
von
Herman
Grimm und Carl Justis „Leben Winckelmanns“.
Dabei muss man viel übersehen, denn
die Geschichte der Stadt Rom ging weiter. Das größte Bauwerk der Stadt neben
dem antiken Colosseum und dem katholischen Petersdom ist ein unchristlicher Altar des Vaterlands. Ihre höchste Erhebung am Gianicolo trägt nicht das Standbild eines Apostels, sondern die Reiterstatue eines modernen Freischärlers, der
den Katholizismus verachtete: Giuseppe
Garibaldi. Am Sockel darunter liest man
eine politische Parole von heidnischer
Gewaltsamkeit: Roma o morte – Rom
oder der Tod.
Das war der Schlachtruf der Italiener,
die seit 1848 die Ewige Stadt der erdumspannenden Kirche entwinden und einen
bisher ökumenischen Besitz nationalisieren wollten; was ihnen 1870 im Schatten
des deutsch-französischen Krieges endlich gelang. Seither ist Rom gleichzeitig
die Hauptstadt eines modernen Staates
und der Sitz einer Weltreligion, und dies
wunderbarerweise ganz friedlich, wenn
auch nach einem generationenlangen
Konflikt, der erst 1929 mit der gegenseitigen Anerkennung von Vatikanstaat und
Italien gelöst werden konnte. Zu diesem
Zeitpunkt regierte längst ein moderner
Imperator Italien, der Duce Mussolini,
der auch die Stadt Rom ein letztes Mal radikal umbaute, in einem neuheidnischen,
gewaltsamen Stil von schillernder Modernität.
Der Duce baute Rom ein
letztes Mal um, in einem
neuheidnischen, gewaltsamen Stil
Diesen großen Vorgang, der das Jahrhundert von 1848 bis 1943 umspannt, erzählt in deutscher Sprache zum ersten
Mal umfassend der Regensburger Historiker Franz J. Bauer. Sein zupackendes,
knappes und doch anschauliches Buch bewältigt souverän den Dreiklang, den dieser Stoff verlangt: Politische Geschichte,
Ideologiegeschichte und architektonische
Stadtgeschichte müssen in ein Gleichgewicht kommen, das die Wechselbeziehungen sichtbar macht, ohne einen Faktor einseitig zu bevorzugen. Angesichts solcher
Schwierigkeit nötigt die Leichthändigkeit von Bauers Synthese Bewunderung
ab – eine enorme, hierzulande kaum be-
kannte italienische Forschung wird dabei
jedem Gebildeten zugänglich.
Der Leser erfährt, wie das päpstliche
Rom aussah, die scheinbar zeitlose Ruinenkapitale von Religion und Bildung; er
sieht, wie in dieses Reservat Alteuropas
das Neue einbricht, eine moderne Hauptstadt mit Hof, Parlament und Ministerien.
„Man baut mit Furie“, schrieben entnervte deutsche Bildungsreisende, und
mancher Bewohner Ostberlins konnte es
ihnen in den letzten zwanzig Jahren nachfühlen. Das neue Rom hat zu kämpfen: Alles in der Stadt spricht von glorreicher
Vergangenheit, also müssen neue Denkmäler, breite Straßen, große Plätze her, gebauter Liberalismus mit vielen historischen Zitaten. Jetzt wird das hellenistisch-römisch-moderne Monstrum am Kapitol entworfen, in dessen Mitte ein zwergenhafter König über der Stadtgöttin reitet, den stolzen Blick auf die Peterskuppel
geheftet.
Gleichzeitig wächst die Bevölkerung
von 200 000 auf eine halbe Million Einwohner, die Bauindustrie boomt, Rom bekommt „amerikanische“ Neubauviertel,
bald aber münden Finanzkrisen auch in
Immobilienpleiten. Trotzdem entwickelt
Rom bis 1914 eine moderne Stadtplanung, einen rationalen Wohnungsbau, der
sich neben Berlin und Paris nicht verstecken muss. Ja, im Faschismus wird hier eine Alternative zur Stahl-, Beton- und
Glasmoderne des Bauhauses entwickelt,
die – dem südlichen Klima mit seinen Kühlungsbedürfnissen angepasst – an Stein
und Ziegel festhält und heute längst wie-
derentdeckt wurde. Doch die faschistische Rom-Ideologie hält sich nicht bei
noch so imponierender urbanistischer Bedürfnisbefriedigung für eine weiter wachsende Stadt auf. Sie rasiert mit antiliberaler und antihumanitärer Geste altes Gewinkel zwischen isolierten und ins Heroische vereinsamten Denkmälern der
Vorzeit.
Die barocken Sichtachsen zwischen
den Obelisken bekommen Konkurrenz
durch eine breite Prachtstraße zwischen
Kapitol und Colosseum für Aufmärsche,
Reden und Rituale. In Rom wird der Stil
der totalitären Epoche, der bis in Speers
Berlin und Stalins Moskau ausstrahlt, mitbegründet. Im monumental modernen
Projekt der EUR, des für 1942 geplanten
Weltausstellungsviertels an der Straße
nach Ostia, mündet der faschistische Gewaltstil in eine unfertige Baustelle, in der
dann die leichtlebigeren fünfziger Jahre
fast bruchlos weitermachen konnten – in
den Filmen Federico Fellinis lässt es sich
traumhaft besichtigen.
Dieses Buch gehört ins Gepäck jedes
Rom-Fahrers, der Zeit für mehr als die üblichen zehn Höhepunkte hat und der seine
Aufmerksamkeit nicht nur RenaissancePalästen widmen will, sondern auch der
babylonischen Modernität eines „Superblocco“ am Viale Eritrea aus den zwanziger Jahren.
GUSTAV SEIBT
FRANZ J. BAUER: Rom im 19. und 20.
Jahrhundert. Konstruktion eines Mythos. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2009. 352 S., 34,90 Euro.
Schlaue Narzissten erkennt man daran, dass sie sich ausgiebig über sich
selbst lustig machen. Sie lachen charmant darüber, dass sie sich für bemerkenswert, grandios und gottgleich halten. Das Abgefeimte dieser Camouflagetechnik: Sie glauben, Gelächter hin oder
her, trotzdem an ihre gottgleiche Persönlichkeit. Die Selbstironie ist nur ein Präventivschlag, der dem Verlachen durch
andere zuvorkommt. Die belgische Autorin Amélie Nothomb ist eine Galionsfigur der Ultra-Narzissten: Seit 1992
schreibt sie einen Bestseller nach dem anderen, und sehr oft geht es in diesen Büchern um monströs-niedliche kleine Mädchen, die sich mit entwaffnender Komik
beim Großwerden zuschauen und dabei
den Lebenslauf der Amélie Nothomb
selbstironisch in Szene setzen.
Auch die „Biographie des Hungers“
handelt vom Aufwachsen der kleinen
Amélie: Als Diplomatenkind besucht sie
in Japan den Kindergarten, geht in China zur Schule, nimmt Ballettunterricht
in New York und durchlebt die Pubertät
in Bangladesch. Und wie kommt da der
Hunger ins Spiel? Die Icherzählerin beschreibt sich als gefräßiges Monster, das
nach Süßigkeiten giert und allmählich
die Sprache entdeckt. Es „hungert“ und
„dürstet“ sie nach Literatur, nach Liebe,
nach Alkohol, nach Aufregung, ja, nach
dem Leben im Allgemeinen. Ein Ego also, das ständig befüllt und betankt sein
will – mit wachsendem Erstaunen nimmt
man zur Kenntnis, dass ein derart
schlichter Gedanke tatsächlich auf 207
Seiten ausgebreitet wird.
Das „Schleckermäulchen“ sucht Schokolade, doch dann wird das Lesen zum
„Zuckerwerk für den Geist“. Nach solchen stilistischen Aussetzern und Plattitüden rechnet man mit dem Schlimmsten
– mit einer Vokabel wie „Naschkatze“
zum Beispiel (die zwar nicht auftaucht,
aber das angestrebte neckisch-verspielte
Image auf den Punkt gebracht hätte).
Der dauererregte Tonfall komplettiert
das Bild der exaltierten Diplomatentochter: „Ich umarmte die Welt bis zum Ersticken“, heißt es, Birma ist zum Zusammenbrechen schön und New York bedeutet „Jubel, Jubel, Jubel“. Da hilft es auch
nicht mehr, dass sich die Icherzählerin
auf durchaus komische Weise über ihren
kindlichen Größenwahn lustig macht.
Klar, es geht auch um Alkoholismus
und Anorexie, um Probleme also, die bedrohlich unter der Oberfläche des Lebenshungers lauern und der Luxusgöre
das Leben schwermachen. Und dennoch
ertappt man sich immer häufiger bei
niedrigen Wünschen in Nazi-Opa-Manier: Dass dieses Ego wenigstens einmal
im Leben richtig Hunger haben müsste.
JUTTA PERSON
AMÉLIE NOTHOMB: Biographie des
Hungers. Roman. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes Verlag, Zürich 2009. 207 Seiten, 18,90 Euro.
Kathrin Schmidt
Preis der SWR-Bestenliste 2009
Die Schriftstellerin Kathrin Schmidt
erhält in diesem Jahr den mit 10 000
Euro dotierten „Preis der SWR-Bestenliste“. Sie wird ausgezeichnet für ihren Roman „Du stirbst nicht“, der im Mai, Juli/
August und September auf der SWR-Bestenliste stand. Kathrin Schmidt wurde
1958 in Gotha/Thüringen geboren. Sie
studierte Psychologie und arbeitete als
Kinderpsychologin. Seit 1994 ist sie freie
Schriftstellerin. Der „Preis der SWR-Bestenliste“ wird seit 1978 jedes Jahr von
den Jury-Mitgliedern der SWR-Bestenliste bei einem gemeinsamen Treffen in Baden-Baden vergeben.
SZ
Die Plötzlichkeit des Blitzlichts
In seinem Roman „Lazarus“ verknüpft Aleksandar Hemon das Schicksal eines vermeintlichen Anarchisten in Chicago und den Bosnienkrieg in Europa
Am frühen Morgen des 2. März 1908
klingelt ein dürrer junger Mann in abgerissener Kleidung an der Haustür des Polizeipräsidenten Chicagos und wird zunächst abgewiesen. Als er zum zweiten
Mal vorstellig wird, hat man sich schon
ein Bild von ihm gemacht: Er sieht aus
wie ein Anarchist. Er verhält sich wie ein
Anarchist. Und wie ein Anarchist wird
er vom Polizeichef erschossen.
Sein Name ist Lazarus Averbuch. Er
ist 19 Jahre alt geworden, und seine Hoffnung, den Pogromen in seiner osteuropäischen Heimat zu entkommen, hat sich
nicht erfüllt. Fast ein Jahrhundert später
stößt der junge Bosnier Vladimir Brik
auf diese Geschichte, die vage Parallelen
zu seiner eigenen aufweist.
Wie der 1964 in Sarajevo geborene
Aleksandar Hemon ist auch sein Protagonist 1992 bei einem USA-Besuch vom
Krieg in seiner Heimat überrascht worden und dageblieben. Während sich Hemon dort als Schriftsteller etabliert hat
und für diesen Roman höchstes Lob erhielt, steckt sein Held noch in den Vorarbeiten. Der Originaltitel lautet deshalb
„The Lazarus Project“ und verschränkt
Szenen der an realen Vorkommnissen orientierten Lazarus-Handlung mit einer
Gegenwartserzählung, in der Brik sich
dank eines Stipendiums in Europa auf
die Suche nach Averbuchs Vorgeschichte macht.
Gemeinsam mit seinem Freund, dem
Fotografen und begnadeten Geschichtenerzähler Rora, reist er durchs marode
Hinterland des alten Kontinents und gerät dabei aus den verblassenden Spuren
Averbuchs in die seiner eigenen Herkunft. In Träumen verfließen die Grenzen zwischen Projekt und Projektion,
und schließlich wird Rora durch einen
dummen Zufall in Sarajevo erschossen.
Diese dramatische und unvermittelte Zuspitzung wirkt so, als sei es bei Briks Reise weniger um Lazarus gegangen als um
ein Nachholen seines eigenen, bosnischen Schicksals.
Der in Amerika mit einer erfolgreichen Neurochirurgin verheiratete Brik
läuft mit seiner Europareise nämlich
auch vor dem drohenden Scheitern in
der Neuen Welt davon. Das Schicksal
Averbuchs wird damit zum historischen
Beleg für eine Geschichte, die auch AntiIntegrationsroman sein soll. Hemon lässt
Parallelen zwischen der Anarchistenhysterie von 1908 und der Islamistenjagd
nach dem 11. September 2001 ebenso
durchschimmern wie zwischen antijüdischen Pogromen im alten und dem Bosnienkrieg im neuen Europa.
Geschickt hat er damit an das schlechte Gewissen eines Amerikas der ausgehenden Bush-Ära appelliert. Gerade der
Erfolg seiner Romans in den USA aber
belegt, dass es um deren Integrationsfähigkeit so schlecht nicht stehen kann.
Der Romanheld Brik erschmeichelt sich
ein Stipendium, indem er für die Frau eines Geldgebers den wilden Mann vom
Aleksandar Hemon, geboren 1964 in Sarajevo, und Lazarus Averbuch (rechts),
der 1908 in Chicago erschossen wurde.
Fotos: getty images (links), Knaus Verlag
Balkan mimt, während Hemons Lazarusprojekt von der John Simon Guggenheim
Foundation und der John D. and Catherine T. MacArthur Foundation gefördert
wurde.
Entstanden ist auf dieser Basis ein uneinheitliches Werk – eine eher schwache
Geschichte getragen von einer starken,
garniert mit Signalen postmodernen Erzählens und Kriegsanekdoten Roras. Das
Buch beginnt zwar mit der Feststellung:
„Zeit und Ort sind die einzigen Dinge, deren ich mir sicher bin“, schreitet nach die-
„Plötzlich plärrten alle Radios
und Fernseher wieder los,
ganze Gebäude erwachten“
ser salvatorischen Klausel aber forsch voran und stützt sich auch auf alte Fotos,
die unter anderem den toten Averbuch
zeigen.
Doch als dem noch lebenden die Tür
des Polizeichefs geöffnet wird, folgt der
Einschub „(die sicher bedrohlich
knarrt)“, was sich am Gartentor noch einmal wiederholt. Man mag das als ironisches Spiel mit der Souveränität des Erzählers verstehen, doch ist es hier deplaziert. In einem Viertel, dessen Häuser
„wahre Schlösser“ sind, wäre 1908 wohl
nicht nur Averbuch, sondern auch der
nachlässige Hausdiener erschossen worden, wenn eine Tür geknarrt hätte.
Da winkt jemand mit dem falschen
Zaunpfahl. Auch dass in beiden Strängen der Handlung ein Reporter namens
Miller auftaucht und dass ein Barkeeper
den Namen Bruno Schultz trägt, was
trotz des überzähligen „t“ an den Verfas-
ser der „Zimtläden“ denken lässt, fällt
zwar auf, aber wozu?
All das wirkte weniger aufgesetzt,
wenn Briks eigene Geschichte diesen Roman tragen würde, aber das gelingt ihr
nicht. Was den Bosnienkrieg angeht, so
stammen die wichtigsten Beiträge von
Rora. Im belagerten Sarajewo, so berichtet er einmal, habe es monatelang keinen
Strom gegeben. „Als er wieder kam,
brannten plötzlich alle Lichter, die vor
Wochen nicht ausgeschaltet worden waren, alle Radios und Fernseher plärrten
los, ganze Gebäude erwachten, wurden
hell.“ Plötzlich habe man die Stadt „in einem anderen Licht gesehen“, aber nicht
das Licht habe sich verändert, sondern
Sarajevo sei von den „Hässlichkeiten des
Krieges“ entstellt worden: „ausgebrannte Autos wie zerquetschte Kakerlaken,
Hunde, die in den Schatten trotteten,
Paare, die sich im Dunklen geliebt hatten und plötzlich sahen, wie ausgemergelt ihre Körper waren“.
Verglichen damit erscheint Briks eigene Geschichte blass und hätte keinerlei
Aufmerksamkeit erregt, hätte Hemon sie
nicht auf die Schultern eines Lazarus gestellt, der sich unter dieser Last schwerlich erholen wird. Gesunden wird hingegen Briks rechte Hand, die er sich beim
Kontakt mit der postjugoslawischen
Wirklichkeit gebrochen hatte: „Die brauchen Sie zum Schreiben“, sagt eine Ärztin mit dem letzten Satz des Romans. So
tief kann Tiefsinn sinken.
ULRICH BARON
ALEKSANDAR HEMON: Lazarus. Roman. Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein. Knaus Verlag, München
2009. 352 Seiten, 19,95 Euro.
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