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VO 853.102 Ökologie in der Landschaftsplanung
Alexander Bruckner, Inst. Zoologie BOKU, 2013
Populationsökologie
Stabilität umfasst 2 unterschiedliche Konzepte:
1) Resistenz ist die Fähigkeit eines Systems, einer Störung Widerstand zu leisten, Stress zu ertragen.
2) Resilienz ist die Fähigkeit eines Systems, nach einer Störung wieder in die Ausgangsposition
zurückzukehren, sich nach Stress zu erholen.
Resistenz und Resilienz werden unterschiedlich quantifiziert: als Amplitude der Auslenkung vom "normalen
Bereich" bzw. als Zeit, die nötig ist, um nach Störung wieder in diesen Bereich einzulenken.
Regulation: Fähigkeit eines Systems zur Aufrechterhaltung eines stabilen Zustands als Folge von
Rückkoppelungsprozessen. Ein stabiler Systemzustand kann auch ohne Rückkoppelungsprozesse erreicht
werden, er wird dann durch äussere Faktoren bestimmt.
Population (in der biologischen Ökologie): Gruppe von Individuen, die derselben Art angehören und dasselbe
geographische Gebiet bewohnen. Alle Individuen einer Population können mit jedem anderen Individuum der
Population interagieren (zB. in Nahrungskonkurrenz treten oder sich paaren).
Populationen sind dynamisch, sie verändern sich zeitlich und räumlich.
Populationsdynamik (zeitliche Veränderung von Populationen)
Das Studium der Populationsdynamik und -struktur heisst Demographie. Populationen gewinnen Individuen
durch Geburten (births B) und durch Zuwanderung von aussen (immigration I). Populationen verlieren
Individuen durch Tod (death D) und Abwanderung in andere Gebiete (emigration E).
Population im Gleichgewicht:
B+I=D+E
Population wächst:
B+I>D+E
Population schrumpft:
B+I<D+E
Die Veränderung der Populationsgrösse N über einen
bestimmten Zeitraum (von t zu t+1) kann kalkuliert werden
durch Addition von ursprünglicher Populationsgrösse Nt,
Geburten und Immigrationen, und Subtraktion der Tode und
Emigrationen (Bilanzgleichung):
Nt+1 = Nt + B + I - D - E
Manche Populationen sind sehr variabel, andere sehr stabil,
zB eine Population des Nördlichen Mannsschilds Androsace
septentrionalis in Polen:
Die zeitliche Dynamik einer Population gibt nur wenig Auskunft
über
deren
Zukunft
Gefährdungsrisiko).
(zB
Überlebensfähigkeit
Aufschlussreicher
sind
Daten
und
zu
Altersstruktur und Geschichte von Populationen, die zB durch
survivorship curves und Populationspyramiden dargestellt werden
können.
Den beiden "Überlebenskurven-Typen" I (Bsp. grosse
Säugetiere und Vögel) und III (Bsp. viele Insekten) lässt
sich eine ganze Reihe von Populationscharakteristika
zuordnen, die zusammen als K-Strategie und r-Strategie
bezeichnet werden (die Buchstaben kommen aus den
Populationswachstumsgleichungen, siehe unten).
r- Strategie
K- Strategie
III
variabel, oft extrem
I
konstant
hoch und variabel
niedrig und konstant
Lebensdauer
kurz
lang
Nachwuchs (pro Kopf)
viel
wenig, oft Brutpflege
niedrig
hoch
survivorship curve
Populationsgrösse
Mortalität
Konkurrenzkraft
variabel, unvorhersehbar;
Lebensraum
in gestörten Lebenräumen
konstant oder variabel,
immer vorhersehbar; in entwickelten
Lebensräumen
Life tables geben Aufschluss über stadien- oder alterspezifische Mortalität, geben Hinweise auf
Mortalitätsursachen und können für den Schutz oder die Bekämpfung von Populationen genutzt werden
(Abbildung für Chorthippus brunneus am Ende des Skriptums).
Wachstum von Populationen
Trotz häufiger grosser Fluktuationen überschreiten Populationen kaum
jemals dauerhaft eine bestimmte obere Dichte. (Scheinbar) Unreguliertes
Wachstum ist manchmal auffällig, zB. in Massenentwicklungen von
Schädlingen. Trotzdem sind solche Erscheinungen nicht häufig;
Populationen wachsen selten ungezügelt. Als Ressourcen werden alle
konsumierbaren lebensnotwendigen Dinge bezeichnet, zB. Nahrung,
Sonnenlicht
und
CO2
(für
grüne
Pflanzen),
Höhlenbrüter), Raum (für alle Organismen), etc.
(1) unreguliertes (exponentielles) Populationswachstum
dN/dt = r ! N und Nt+1 = Nt ! ert
Bruthöhlen
(für
N = Populationsgrösse,
t = Zeit,
Nt
bzw.
Nt+1 = Populationsgrösse
zum
Zeitpunkt
t
bzw.
t+1,
dN/dt = Veränderung der Populationsgrösse in Abhängigkeit von der Zeit, r = Wachstumsrate pro Kopf
(= Anzahl Nachkommen pro Zeiteinheit), e = Basis der natürlichen Logarithmen.
Exponentielles Wachstum kommt vor:
! wenn die Ressourcen unbegrenzt sind
! nur für kurze Zeitspannen
! nach "Katastrophen" (zB. Neubesiedlung zerstörter Flächen, neugeschaffener Inseln, ...)
! besonders bei r-strategischen Populationen, die "günstige Gelegenheiten" zur schnellen Vermehrung nutzen.
zB. Wiederbesiedlung und Wachstum
der Population von Pinus sylvestris nach
der Eiszeit
(2) reguliertes (logistisches) Populationswachstum
Prinzip: je grösser eine Population wird, desto geringer wird ihre
Zuwachsrate,
es
resultiert
eine
sigmoidale
(S-förmige)
Wachstumskurve.
dN/dt = rm N (1 - N/K)
rm = intrinsische Wachstumsrate = maximal möglicher Wert der
Pro-Kopf-Wachstumsrate r. K = carrying capacity = maximale
Populationsdichte,
die
der
Lebensraum
"erträgt".
N/K = "Umweltwiderstand gegen Populationswachstum".
Logistisches Wachstum kommt vor, wenn Ressourcen limitiert sind
und von einer wachsenden Population immer stärker verbraucht
werden. Die Dichte von K-strategischen Populationen bewegt sich
häufig nahe der carrying capacity. Stehen kurzzeitig unbegrenzte
Ressourcen zur Verfügung (zB. nach einer Katastrophe), können
K-Strategen diese nicht voll ausschöpfen, sie nutzen "günstige
Gelegenheiten" nur schlecht, um zu expandieren.
Die
Gründe
für
die
Begrenzung
der
Wachstumskurve nach oben sind selten einfach
(zB. bei Konkurrenz um Raum, self-thinning =
-3/2-Regel bei Pflanzen), meistens komplex (dh.
mehrere
Faktoren
wirken
ineinander,
zB.
Saccharomyces verbraucht Zucker und produziert
dabei toxisch wirkenden Alkohol).
Steuerung der Populationsgrösse
Steuerung bei Populationen drückt sich aus als Tendenz, die Dichte (Anzahl der Organismen pro Fläche) nicht
über eine obere bzw. unter eine untere Grenze gelangen zu lassen. Steuerung kann als Regulation funktionieren
(über Rückkoppelungsprozesse) oder durch externe Faktoren wirken. Steuernde Faktoren können also dichteabhängig (Regulation) oder dichte-unabhängig sein. Die beiden Typen wirken unterschiedlich auf
Populationsstruktur und -dynamik.
dichteunabhängige Faktoren: wirken "von aussen" auf die Populationen, , ihr Effekt auf die Populationen hängt
nicht mit deren Dichte zusammen. Bsp. Wetter, Länge der Vegetationsperiode, Katastrophen.
dichteabhängige Faktoren: ihr Effekt auf die Populationen korreliert mit der Populationsdichte, er ist für dichte
Populationen stärker als für kleine. Bsp. intraspezifische (= innerartliche) Konkurrenz, Parasitismus,
Räuberdruck (der aber nur dann, wenn mit steigender Beutedichte ein zunehmend grösserer Anteil durch den
Räuber elimiert wird = Verlustrate durch Räuber grösser als Zuwachsrate der Beute).
Dichteabhängige Faktoren regulieren durch Rückkoppelungsprozesse, dichteunabhängige determinieren die
Populationsgrössen ohne Rückkoppelung.
Ob dichteabhängige oder unabhängige Faktoren bedeutsamer
sind, ist in der Populationsökologie seit Jahrzehnten heftig
umstritten. Konsens ist, dass die Faktoren zusammen regulieren.
Die jeweilige Wirkung ist abhängig von der untersuchten Art
und wird auch von den Umständen bestimmt, zB. kann die
Regulationsfähigkeit einzelner Faktoren bei unterschiedlichen
Dichteniveaus wechseln (multiple Equilibria).
Dichteunabhängigkeit. Die Dichte
von
Graureihern
erleidet
durch
besonders schwere Winter markante
Einbrüche, von denen sich die
Population nur langsam erholt.
Dichteabhängigkeit. Eine Zikadenart frisst Gras.
Experimentell wird die Dichte der Zikaden erhöht,
von 3 auf 40 Tiere pro Versuchskäfig. Die Grasindividuen in den stark besetzen Käfigen reagieren
auf die erhöhte Frassaktivität mit einer Reduktion der
Protein-, und Chlorophyllgehalte der Blätter. Das
wiederum erniedrigt den Nährwert der Pflanze für die
Zikaden, deren Überlebensrate und Körpergrösse
abnimmt.
Erhöhte
intraspezifische
Konkurrenz
bewirkt eine Erniedrigung der Ressourcenqualität und
in Folge eine Reduktion der Populationsparameter.
Dichteabhängigkeit.
Die
Dichte
der
Population des kanadischen Luchses folgt
sehr eng der Dichte seiner hauptsächlichen
Beute, des Schneeschuhasen. Hier liegt
vermutlich keine Regulation der Beute durch
den
Räuber
vor,
die
Dichte
der
Hasenpopulation hängt in erster Linie von
dessen Nahrungsangebot ab.
Dichteabhängigkeit. Die Anzahl der Spatzen auf
einer kleinen Insel im Meer ist begrenzt; steuernder
Faktor ist die Verfügbarkeit von Nahrung, der
steuernde Mechanismus ist die Fruchtbarkeit: Wird
die Dichte der Tiere experimentell erhöht, so sinkt
der Fortpflanzungserfolg. Wird zugefüttert, so bleibt
die Fruchtbarkeit trotz grosser Dichten hoch.
Dichteabhängigkeit. Experimentell wurde
die Dichte junger Forellen in Zuchtbecken
erhöht und nach einiger Zeit die Zahl
überlebender Tiere bestimmt. Über einen
bestimmten Schwellenwert bewirken auch
weitere Zugaben kein Steigen der Dichten,
da
diese
durch
erhöhte
Mortalität
kompenisert werden.
Dichteabhängige
Fruchtbarkeits-
und
Mortalitätsraten können die Einstellung
einer stabilen K bewirken. Es ist dabei
unerheblich, ob nur Fruchtbarkeit bzw.
Mortalität dichteabhängig sind, oder beide.
Ordinatenbeschriftung Abbildung:
"Mortalitäts-bzw. Fruchtbarkeitsrate pro Kopf"
K-Strategen sind tendenziell von dichteabhängigen Faktoren gesteuert (also reguliert), r-Strategen sind von
dichteunabhängigen Faktoren gesteuert (sie "taumeln von einer Katastrophe zur nächsten"). Dichteabhängige
Faktoren wirken tendenziell stabilisierend auf die Populationsdynamik, dichteunabhängige Faktoren können
dagegen grosse Schwankungen produzieren.
Allee effect
(benannt
nach
W.C.
Allee,
einem
US-Ökologen).
Kleine
Populationen
haben
eine
höhere
Aussterbenswahrscheinlichkeit als große Populationen. Für sie kann das zufällige Zusammentreffen mehrerer
dichtereduzierender Einflüsse (Krankheiten, strenge Winter, Nahrungsmangel, …) fatal sein. Wenn
Tier(!)populationen eine kritische Schwellengröße unterschreiten, kann der so genannte Allee effect auftreten
und der ohnehin schon kleinen Population den "Todesstoß" versetzen. Unter dem Allee effect wird eine
dichteabhängige Verringerung der per capita Wachstumsrate verstanden (bezogen auf die gesamte
Lebensspanne); der individuelle Reproduktionserfolg wird also von der Dichte abhängig.
Ein Allee effect bei sehr kleinen Populationen kann beispielsweise auftreten, wenn:
! Kopulationspartner aufgrund der geringen Individuendichte stark zerstreut sind, einander schwer finden
und viele Weibchen daher unbefruchtet bleiben;
! lebensnotwendige Ressourcen nur ab einer bestimmten Dichte genutzt werden können (zB. Jagd im
Rudel);
! die Immigrationsrate stark herabgesetzt ist, weil potenzielle Immigranten durch das weitgehende Fehlen
von Artgenossen "abgeschreckt" werden (die conspecific attraction hypothesis besagt, dass dichte
Populationen attraktiv auf Immigranten wirken, weil sie auf günstige Plätze hinweisen);
! die Verringerung der Heterozygosität (der genetischen Vielfalt) eine bestimmte Schwelle unterschreitet.
Das führt zu "Inzuchtdepression" und einem Verlust an Fitness der Population.
Das
Beispiel
einer
schwedischen
Mittelspechtpopulation
zeigt
exemplarisch den typischen Knick
des Allee effects in der Dichtekurve,
der
den
endgültigen
Zusammen-
bruch der Population einleitet. Die
Population war von 1967 bis etwa
1975 stabil, äußere Faktoren konnten
als
Extinktionsursachen
ausgeschlossen werden.
Der Bruterfolg der Mittelspechte war in der
Zusammenbruchsphase
(vergleiche
reproduction"
sehr
gering
Kurven
der
"observed
und
der
"potential
reproduction").
Die
Heterozygosität
Abhängigkeit
von
ging
der
mit
der
Zeit
Populationsgröße
und
in
drastisch
zurück.
Der Allee effect hat immense Bedeutung für den Schutz stark bedrohter Populationen und für die Planung der
Größe von Reservaten. Das "unerklärliche" Aussterben kleiner Restpopulationen in winzigen Schutzgebieten
hängt vermutlich häufig mit dem Allee effect zusammen.
Aussterbeprozesse und die Gefährdung von Arten
Das Aussterben (die Extinktion) von Arten ist ein natürlicher Prozess; Schätzungen geben an, dass 99% aller
jemals lebenden Arten heute ausgestorben sind. Die weltweite natürliche Extinktionsrate wird mit 100 bis 1000
Arten pro Jahrhundert geschätzt. Die aktuelle, anthropogen mitbedingte Rate ist allerdings um den Faktor 100
bis 1000 größer, durch den Menschen hat also eine deutliche Beschleunigung des Aussterbens von Tier- und
Pflanzenarten stattgefunden.
Wichtig für die Feststellung der Gefährdung von Arten ist, ob die Art nur lokal (z.B. in einem Schutzgebiet),
regional (z.B. in ganz Mitteleuropa) oder sogar global vom bedroht ist. Im letzteren Fall droht der Totalverlust
von Arten.
Der Gefährdungsgrad von Arten wird in (mehr oder weniger aktuellen) "Roten Listen" dargestellt. Die
Einstufung wird von ExpertInnen gutachterlich geschätzt. Zugrunde liegt dafür eine Kombination von
Extinktionswahrscheinlichkeit und der Zeitspanne, die bis zum Eintreten des Aussterbens voraussichtlich
verstreichen wird.
Gefährdete und ausgestorbene Arten haben häufig Eigenschaften wie:
=> einen großen Körper, damit korreliert Langlebigkeit und großer Lebensraumbedarf;
=> eine geringe Anzahl von Nachkommen;
=> schlechte Ausbreitungsfähigkeit;
=> Seltenheit (oft in kleinen, isolierten Populationen);
=> stenöke Klimaxarten (siehe Community Ecology), spezialisiert auf seltene Habitattypen;
=> wertvolle Körper(teile): Fleisch, Tran, Fell; Körperteile, die als Medizin verwendet werden.
Extinction debt: Anthropogene Störungen
können das lokale Aussterben von Arten
bewirken. Diese Aussterbepozesse sind oft
deutlich
erkennbar
und
die
Ursachen
identifizerbar. Andererseits können solche
Prozesse aber auch langfristig ablaufen und
lange Zeit unentdeckt bleiben. In solchen
Fällen entspricht die aktuelle Anzahl von
Arten
in
einem
Lebensraum
nicht
der
möglichen, sondern ist zu hoch; einige Arten
befinden sich im Zustand des Aussterbens.
Eine solche extinction debt tritt am wahrscheinlichsten auf (1) bei langlebigen Arten, die mehrmals in ihrem
Leben reproduzieren, (2) wenn die Ressourcen für das nachhaltige Überleben der Art gerade nicht mehr
reichen, die Art sozusagen "langsam verhungert". Soweit bekannt, können extinction debts Jahre bis
Jahrhunderte lang "unbezahlt" bleiben; möglicherweise enthalten daher viele mitteleuropäische Landschaften
aufgrund von anthropogenen Störungen in historischer Zeit zuviele Arten. Extinction debts sind sehr schwer
nachzuweisen, das Ausmass dieses Problems für die Artenschutzpraxis ist daher noch weitgehend unklar.
Lernen und Tradition
Tierpopulationen sind nicht völlig an ihr ererbtes Verhaltensrepertoire gebunden. Vor allem Säugetier- und
Vögelindividuen haben aufgrund ihrer Intelligenz die Möglichkeit, auftretenden "Schwierigkeiten" mit neuen
Lösungen zu begegnen und diese "Erkenntnisse" an Artgenossen weiterzugeben. Das hat vor allem dann
Bedeutung, wenn Tierarten ihr Ressourcen- oder Habitatspektrum erweitern und dadurch die Größe der
Population erhöhen. Sie können nun zu Lästlingen/Schädlingen (zB. Nebelkrähen dringen in die Städte ein)
oder von gefährdeten zu relativ häufigen Arten werden (zB. Kiebitz "schwenkt" von Ufern und Feuchtwiesen
auch auf intensiv genutztes Kulturland "über").
Metapopulationen
Die klassische Populationsökologie hat vor allem mit den Faktoren Geburts- und Todesrate versucht,
Populationsentwicklungen zu verstehen und zu prognostizieren. Immigrationen und Emigrationen wurden eher
stiefmütterlich behandelt, obwohl Hinweise auf deren große Bedeutung schon lange vorlagen. Die
Metapopulationstheorie von Ilkka Hanski hat das etwa seit Ende der 80er Jahre gründlich verändert.
Reale Populationen weisen häufig kein einheitliches, geschlossenes Areal auf, sondern erscheinen zersplittert
und fleckenhaft (patchy).
Haben einzelne Patches des Areals geringe
Ausdehnung, werden sie von kleinen Populationen
bewohnt. Kleine Populationen haben eine große
Extinktionswahrscheinlichkeit: Sie sterben immer
wieder aus und werden durch Immigration immer
wieder
neu
besiedelt
(hier
bei
Edith's
Scheckenfalter Euphydryas editha).
Wird eine ganze Landschaft mit solchen Patches
betrachtet, so sind immer einige gerade besiedelt,
andere leer. Welche das jeweils sind, ist zufällig
(wenn auch das Aussterben der Population eines
Patches natürlich konkrete Ursachen hat!).
Es ist wahrscheinlich, dass Populationen einzelner
Patches aussterben. Für terrestrische Wirbeltiere
und Höhere Pflanzen wird geschätzt: 1-10% pa;
für terrestrische Arthropoden 10-100% pa. Die
Extinktionswahrscheinlichkeit
nimmt
annähernd
linear mit der Generationsdauer der betrachteten
Organismen ab.
Lokale Extinktionen können also "normal" sein und häufig vorkommen. Auch die Häufigkeit leerer Patches in
einer Landschaft kann hoch sein (also die Häufigkeit von Patches nach einer Extinktion und vor einer
Immigration). Beispielweise schätzt Ilkka Hanski für die Fauna des Wegerich-Scheckenfalter Melittaea cinxia
einer von ihm untersuchten Landschaft, dass 70% aller Patches leer sind und 60% der Gesamtfläche der
Patches leer ist.
Unter einer Metapopulation ("Überpopulation") wird ein Ensemble von Einzelpopulationen einer Landschaft
verstanden, die miteinander durch gelegentliche Kolonisation in Wechselwirkung stehen und dadurch als
Einheit funktionieren. Für sie besteht eine zufallsgesteuerte (stochastische) Balance lokaler Extinktionen und
Immigrationen.
Die
Metapopulationstheorie
liefert
ein
Konzept
von
Aussterbe-
und
Wiederbesiedlungsvorgängen, das nicht nur Vorgänge in Einzelpopulationen, sondern in einer ganzen
Landschaft beschreibt.
Drei Bedingungen müssen erfüllt sein, damit von einer Metapopulation gesprochen werden kann:
(1)
Lokale Einzelpopulationen müssen in isolierten und diskreten (= von ihrer Umgebung klar abgesetzten)
Patches vorliegen, dazwischen muss für die Art ungeeignetes Gebiet liegen (Modell "Insel im Ozean").
(2)
Die Einzelpopulationen lokaler Patches müssen groß genug sein, dass Fortpflanzung möglich ist und
wenigstens einige Generationen überleben können; sie müssen aber so klein sein, dass ein reales
Extinktionsrisiko besteht.
(3)
Die lokalen Einzelpopulationen müssen eine eigenständige und asynchrone Dynamik aufweisen, sodass
die gleichzeitige Auslöschung aller Einzelpopulationen einer Metapopulation unwahrscheinlich ist. Je
stärker synchron die Dynamik der Einzelpopulationen ist, desto größer ist das Extinktionsrisiko der
Metapopulation!
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein lokaler Patch besiedelt ist, hängt ab von:
(1)
seiner Größe: je größer ein Patch, desto wahrscheinlicher ist er besiedelt, weil
(a) große Patches individuenreiche Teilpopulationen enthalten, die wiederum eine geringe
Extinktionswahrscheinlichkeit haben;
(b) große Patches lange Randlinien aufweisen und von Immigranten daher leicht auf ihrer
Wanderung "getroffen" werden
(2)
invers von seiner Isolation: je weiter ein Patch von seinen Nachbarn entfernt ist, desto
wahrscheinlicher ist er leer, weil die Kolonisationsfähigkeit von Organismen mit zunehmender
Distanz abnimmt.
Achtung: wenn der Grad der Isolation einer Population beurteilt werden soll, muss das auf die Mobilität der
untersuchten Organismengruppe bezogen werden, nicht auf absolute Distanz: Schmetterlinge können größere
Distanzen überwinden als Schnecken; Schneckenpopulationen werden daher schon bei geringeren absoluten
Distanzen isoliert sein als Schmetterlingspopulationen.
Für den Natur- und Artenschutz ist die Metapopulationstheorie besonders interessant und wichtig.
Einerseits sind gerade Landschaftelemente
mit besonders hohem Naturschutzwert sehr
oft
reliktär
und
patchy,
wie
zB.
Trockenrasen, Moore, Salzflächen. So wie
in
der
nebenstehenden
Abbildung
für
Waldflächen dargestellt, wurden einstmals
ausgedehnte
jahrhundertelange
Flächen
menschliche
durch
Nutzung
immer mehr fragmentiert.
Andererseits kann das regionale Aussterben einer Art durch die Dynamik einer Metapopulationsstruktur
"maskiert" werden, die die tatsächliche Gefährdung nicht deutlich werden lässt. Hier kann ein delay effect (ein
"Verzögerungseffekt") wirken, der das endgültige Erlöschen vieler Einzelpopulationen verzögert: obwohl deren
lokale Patches nicht mehr die für längere Besiedlung nötige Qualität aufweisen, wird das durch ständig neue
Immigrationen aus noch besiedelten Patches verunklart. Möglicherweise befinden sich viele Populationen der
mitteleuropäischen Kulturlandschaft in einem solchen Prozess. Das herauszufinden ist schwierig und wird in
der Praxis nicht gemacht, weil Untersuchungen von Metapopulationssystemen erheblich aufwändiger und
teurer sind als von lokalen (Einzel)Populationen.
Auch große Einzelpopulationen in Patches hoher Lebensraumqualität haben ein gewisses Extinktionsrisiko.
Ein Trend in der Naturschutzpraxis geht daher heute vom ausschließlichen Schutz besonders hochwertiger
Flächen in Richtung "Gebietsschutz" oder "Umlandschutz". Hier wird versucht, neben den hochwertigen
Flächen auch solche minderer Qualität zu berücksichtigen, wenn auch eventuell mit weniger Schutzaufwand.
Ein wichtiger "Spezialfall" von Metapopulationen betrifft Source-Sink-Metapopulationen (engl. source = Quelle,
Ursprung; sink = Senkgrube, Pfuhl). Hier liegt der Fall vor, dass nicht alle Patches gleiche Lebensraumqualität
aufweisen, sondern dass gleich große Patches unterschiedliches K (carrying capacity) und r (Wachstumsrate
pc) haben. Von den Source-Einzelpopulationen geht ein ständiger Immigrationsstrom zu den SinkEinzelpopulationen, aber nicht (oder kaum) retour! Es gilt also:
Sources:
r > 0, Populationsgröße " K, Emigranten wandern aus;
Sinks:
r ! 0, aber Immigranten halten Populationsgröße > K
Daher sind Sink-Einzelpopulationen größer als die K ihrer Patches. Die lokale Populationsgröße kann ein
falsches Bild von der Lebensraumqualität des Patches geben: Es können auch Patches besiedelt werden, die
gar keine Reproduktion ermöglichen (K = 0).
Sink-Einzelpopulationen sind als solche nur schwer identifizierbar. Nur wenn die Ausbreitung der fraglichen Art
nach der Juvenilphase stattfindet, kann aufgrund der "abgeschnittenen" Alterverteilung auf eine Source-SinkDynamik geschlossen werden (Fehlen von Jungtieren, "Altersheim").
Ausbreitungsökologie (va. von Tieren)
Ausbreitung (engl. dispersal) meint die Vergrößerung der von einer Art oder Population bewohnten Fläche,
bezeichnet also eine Dynamik. Verbreitung (engl. distribution) meint die Ausdehnung dieser Fläche selbst,
bezeichnet also einen Zustand.
Unter Mobilität wird die Fähigkeit von Individuen oder Populationen zur Ortsveränderung verstanden.
Migration meint (meist) gerichtete Wanderungen mit Rückkehr zum Ursprungsort, oft in wiederkehrendem
Rhythmus (Tages-, Jahresrhythmus).
Höhere Pflanzen breiten sich üblicherweise über Diasporen aus (Ausbreitungseinheiten, zB. Samen, Früchte,
Brutknospen). Tiere (zumindest die in der Vorlesung behandelten) breiten sich dagegen als vollständige
Individuen aus. Ausbreitung ist daher für Tierindividuen gefährlicher und kostenintensiver als für Pflanzen.
Für Tiere bedeutet Ausbreitung sowohl Chancen als auch Risiken. Zu den Chancen zählen (1) geringere
Wahrscheinlichkeit von Inzuchtdepression (Nachwuchs mit schlechter Fitness durch Paarung mit verwandten
Partnern), (2) möglicherweise geringerer Räuberdruck am Zielort, (3) möglicherweise bessere Verfügbarkeit
von Ressourcen am Zielort (entweder weil Ressourcen dort absolut besser verfügbar sind oder weil die intraund interspezifische Konkurrenz schwächer ist), und (4, aus der "Sicht" der Zielpopulation) ein Gewinn von
immigrierenden Individuen. Zu den Risiken zählen (1) unwirtliche Zieldestinationen (die "schlechter" sind als
der Ursprungsort), (2) eine meist beträchtlich erhöhte Predationsgefahr während der Wanderung und am
Zielort, (3) eine geringe Möglichkeit, in die Reproduktion zu "investieren" (weil durch Mobilität Energie
verbraucht wird, zB. Fettreserven), und (4, aus der "Sicht" der Ursprungspopulation) ein Verlust von
emigrierenden Individuen (beispielsweise kann sich schon das Abwandern weniger Individuen für sehr kleine
Populationen fatal auswirken, siehe Allee effect).
Mobilität ist also immer ein trade off,
"kostet" zB. Reproduktionsfähigkeit.
Beispielsweise bestehen die Vorteile des Vogelzugs im phantastisch großen Nahrungsangebot der
temperaten Breiten in der Vegetationsperiode (während Nahrung in der (sub)tropischen Zone ganzjährig
konstant, aber gering verfügbar ist) und in den langen Tageslichtphasen temperaten Breiten, die für Aktivität
genutzt werden kann (Äquator: 12h).
Die Kosten bzw. Risiken bestehen im Aufwand, der für den Aufbau eines Fettdepots getrieben werden muss
("Brennstofflager" für den Flug, kann nicht in Reproduktion investiert werden) und in den hohen unmittelbaren
Gefahren des Zugs (Predation, Schlechtwetter).
Für die Dynamik von Populationen ist Mobilität ein enorm wichtiger Faktor. Emigrationen, Immigrationen und
Migrationen sind für viele Tiergruppen populationsbestimmende Ereignisse.
Als Krebs effect wird das Steigen der Populationsdichte
bezeichnet,
wenn
die
Emigration
unterbunden
wird.
Der
Ausdruck
(experimentell)
geht
auf
ein
Experiment von Charles Krebs zurück, der 1967 eine
Population von Wühlmäusen (Microtus pennsylvanicus)
eingezäunt hat. Zufällig erlebte er einen starken Anstieg
der Dichte mit, der in der Emigrations-behinderten
Population wesentlich stärker ausfiel: Hinweis auf eine
"Überschussproduktion"
von
Populationen.
Der
"Überschuss" muss auswandern und hat eine sehr hohe
Mortalitätsrate.
Hohe
Mobilität
korreliert
oft
mit
guter
Kolonisationsfähigkeit. Diese ist besonders bei
Arten zu beobachten, die durch menschliche
Verschleppung
(Neobiota).
neue
Der
Areale
erobern
Kartoffelkäfer
können
Leptinotarsa
decemlineata ist ein klassisches Beispiel für ein
Neozoon, das enorme wirtschaftliche Schäden
angerichtet hat.
Nicht alle Tiergruppen sind uneingeschränkt mobil. Schwer überwindbare Barrieren (Wälder, Hecken,
Schattenflächen, …) oder "Wanderunlust" können Populationen philopatrisch machen. "Wanderunlust" kann
durch lang andauernde Isolation bewirkt werden, die einen Zuzug mobiler Immigranten unterbindet. Da vor
allem "wanderlustige" Individuen emigrieren, besteht die Population nach einiger Zeit nur noch aus
philopatrischen Individuen (setzt allerdings voraus, dass "Wanderlust" genetisch fixiert ist!).
Beim Schwalbenschwanz Papilio machaon
wird die Wanderfähigkeit über die Größe der
Flugmuskulatur gemessen (Thoraxweite zu
–länge). Im lange isolierten Moorgebiet
Wicken
Fen
bewirkte
"Wanderunlust-
Selektion" eine Reduktion der Flugfähigkeit.
Die Norfolk-Population wurde erst ab "1915
isoliert; in der Folge verkleinerte sich auch
dort die Flugmuskulatur der Schmetterlinge.
Die Ausbreitungsfähigkeit kann zwischen den Geschlechtern einer Art differieren. Bei Säugetieren wandern
eher die !!, bei Vögeln eher die "". Die Ursachen dafür liegen im Fortpflanzungssystem: Säuger!!
konkurrieren meist direkt um "", Vögel!! meist um Territorien. Säuger!! sind oft polygam, Vögel!! oft
monogam. Weiters tragen Säuger!! seltener zur Brutpflege bei als Vögel!!. Bei Insekten sind die !! häufig
mobiler als die "". Einen Extremfall bilden sexualdimorphe Arten, bei denen das " flugunfähig ist und vom
flugfähigen ! aufgesucht werden muss (zB. beim Leuchtkäfer Lampyris noctiluca).
Die Ausbreitungsfähigkeit kann innerhalb von Populationen differieren. Ein anschauliches Beispiel findet sich
bei den Arten der Familie der Laufkäfer (Carabidae). Hier kommen macroptere (langflügelig, exzellente
Flieger), brachyptere (kurzflügelig) und aptere (flügellos, flugunfähg) Formen vor.
Die
Flügelform
hauptsächlich
und
–funktion
zwischen
den
variiert
Arten
der
zwar
Familie,
innerhalb von Populationen einzelner Arten gibt es
aber ebenfalls Variabilität der Flügel.
Der Anteil der "Flügelformentypen" innerhalb einzelner
Populationen
ist
dabei
stark
vom
Lebensraum
abhängig: Gestörte und junge Lebensräume haben
einen hohe Anteil macropterer, ungestörte und alte
Lebensräume einen hohen Anteil brachy- und apterer
Individuen.
Die
meisten
Population
Individuen
haben
eine
einer
mässige
Ausbreitungsfähigkeit, der Anteil sehr
mobiler Individuen ist eher gering =>
Die
Häufigkeitsverteilung
Ausbreitungsfähigkeit
ist
der
stark
linksschief (hier beim Heidegrashüpfer
Stenobothrus lineatus. Unklar ist, ob
diese
unterschiedliche
genetisch fixiert ist.
"Wanderlust"
Die Ausbreitungsfähigkeit kann zwischen von
Populationen differieren, hier experimentell gezeigt
an
Populationen
der
Fruchtfliege
Drosophila
melanogaster.
Der
Aktionsradius
kann
Verwandtschaftsgruppe
zwischen
differieren,
Arten
einer
Beispiel
Amphibien.
Bewegung von Tieren im Raum findet häufig entlang von Grenzlinien statt (Waldränder, Gräben, Hecken,
Zäune, …), viele Tiere meiden offene Flächen. Strukturarme Landschaften können daher unüberwindlich sein,
obwohl sie "an sich" gut geeignete Habitate darstellen würden. Der Fang von Tieren ist vor allem an solchen
Grenzen erfolgreich.
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