Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer KAPITEL 3 Literatur zur Kernphysik T. Mayer-Kuckuk, Kernphysik (Standardwerk) Teubner Verlag, 1992 K. Bethge, Kernphysik, Springer Verlag, 1996 A. Das, T. Ferbel, Kern- und Teilchenphysik, Spektrum Akademischer Verlag, 1995 Bogdan Povh, Klaus Rith, Christoph Scholz u. a. Teilchen und Kerne, Springer Verlag, Berlin Karl Heinrich Lieser, Einführung in die Kernchemie VCH, Weinheim • New York • Basel • Cambridge Bernhard G. Harvey, Kernphysik und Kernchemie – Eine Einführung, K. Thiemig Verlag 1984 241 SS 2011 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik Prof. Dr. Manfred Bayer 3 Der Atomkern Nach dem bisher entwickelten Modell besteht ein Atom aus einem sehr kleinen Kern (d ≈ 10-15 m), der praktisch die gesamte Masse enthält und einer diesen Kern umgebenden Elektronenhülle, deren Durchmesser etwa D ≈ 10-10 m beträgt. Wichtige Frage: „Hat der Atomkern eine Struktur ?“ 3.1 Die Entdeckung des Protons E. Rutherford beschoß 1919 Stickstoff mit α-Teilchen, die man inzwischen als ionisierte He-Atome identifiziert hatte. O α-Teilchen N positives Teilchen langer Reichweite p 242 SS 2011 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik Prof. Dr. Manfred Bayer Er vermutete, daß durch den Stoß aus dem Stickstoffkern ein leichter Bestandteil herausgeschleudert worden ist. Teilchen mit derartigen Eigenschaften hatte er auch schon beim Beschuß von Wasserstoff entdeckt. Er schloß daher, daß es sich bei diesen Teilchen um Kerne des Wasserstoffatoms handelt ⇒ Proton Das Proton ist also Bestandteil des Stickstoffkerns. Damit war gezeigt, daß Atomkerne eine Struktur haben und aus mehreren Bestandteilen aufgebaut sind. Bei dem Experiment hat folgende Reaktion stattgefunden : 14N + 4He → 17O +p Mit diesem Stoßprozeß wurden Kerne eines Elements (hier N) in Kerne eines anderen Elements (hier O) umgewandelt. 243 SS 2011 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik Prof. Dr. Manfred Bayer 2R 3.2 Massenspektrometer Beschleunigungsstrecke B v0 R − Ub = q, m + Schirm Teilchenquelle Spektrallinie Die geladenen Teilchen werden durch Ub beschleunigt und erhalten die Geschwindigkeit 2 qU b v0 = m 244 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Im Magnetfeld B werden sie auf einem Halbkreis abgelenkt. Das Kräftegleichgewicht ist hier 2 0 mv = q v0 B ⇒ R m v0 = qB R Quadriert man beide Ausdrücke folgt 2 qU b 2 v0 = m und v02 q 2 2 = 2B 2 m R ⇒ 2U b q q 2 2 = 2B 2 R m m Daraus erhält man schließlich q 2U b = 2 2 m R B Mit dieser Methode kann das Ladungs-Massenverhältnis von Elementarteilchen und Ionen bestimmt werden. 245 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Doppeltfokussierendes Massenspektrometer sortiert nach Energie sortiert nach Impuls rE rM Die Biegeradien sind 2 Ekin M v 2 rE = = QE Q E p M v rM = = QB Q B 246 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 3.3 Die Entdeckung des Neutrons Die Massenzahl A und die Ladungszahl Z der Kerne verschiedener Elemente sind keineswegs immer gleich. Element H He N Fe Pb A 1 4 14 56 207 Bestimmung durch Massenspektrometer: Z 1 2 7 26 82 Q Ze = m A mnu ⇒ Z A Das legt die Vermutung nahe, daß ein Atomkern außer Protonen weitere Teilchen besitzen muß, die elektrisch neutral sind. 247 SS 2011 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik Prof. Dr. Manfred Bayer Bei Beschuß vom Atomen mit α-Teilchen war eine „neutrale Strahlung beobachtet worden, die man zunächst nicht erklären konnte. Das Problem war, daß man neutrale Teilchen nicht direkt durch Szintillationen mit Hilfe eines ZnS-Schirms oder durch Ionisationskammern nachweisen konnte. James Chadwick gelang es 1932, die neutralen Kernteilchen, die „Neutronen“, indirekt nachzuweisen. Er schoß aus einem Poloniumpräparat α-Teilchen auf Berillium, aus dem dann die Neutronen austraten. 209 James Chadwick Po α 9 4 Be p, ... n H, He, ... 248 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Nachweis des Neutrons 249 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Die Neutronen treffen dabei auf die Kerne des Wasserstoffs, Heliums usw. und schießen diese heraus. Die Rückstoßenergie dieser positiv geladener Kerne kann dann z.B. mit einer Ionisationskammer gemessen werden. Chadwick fand dabei, daß die Masse der Neutronen etwa denselben Wert hat, wie die Protonen. Protonenmasse : 938,272 MeV/c = 1836,149 me Neutronenmasse : 939,565 MeV/c2 = 1838,679 me 2 Elektronenmasse : 0,511 MeV/c 2 Die Atomkerne sind aus Protonen und Neutronen („Nukleonen“) aufgebaut. Um sie herum ist die Hülle aus Elektronen, wodurch die positive Kernladung kompensiert wird. Nach diesem (vorläufigen) Bild bilden p, n und e die elementaren Bausteine der Atome und damit der Materie. 250 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 3.4 Struktur der Atomkerne Die Nukleonen sind im Kern dicht gepackt, dadurch ist die Dichte aller Kerne gleich. Kern Neutron N Proton Z Die positive Ladung der Protonen im Kern bewirkt eine Abstoßung. Dem wirkt die „starke Wechselwirkung“ entgegen, die aber nur eine kurze Reichweite hat, sie wirkt nur auf die unmittelbaren Nachbarnukleonen („Fliegenfängerkraft“). 251 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Die Masse des Kerns ist M (Z , N ) = Z ⋅ M p + N ⋅ M n − B / c 2 M p : Masse des Protons M n : Masse des Neutrons Z : Anzahl der Protonen N : Anzahl der Neutronen B : Bindungsen ergie Als atomare Massenzahl u wurde 1/12 der Atommasse des 12C eingeführt 1 1 ⋅ u = M 12 C = 931,481 MeV/c2 = 1,66943 ⋅ 10−27 kg 12 Die sehr kleine Masse der Elektronenhülle ist M Hülle = Z me 252 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Häufigkeit der Elemente im Sonnensystem 253 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 3.4.1 Das Tropfenmodell Zur Berechnung der Kernmassen hat C.F. von Weizsäcker das Tropfenmodell vorgeschlagen. Nach diesem Modell sind die Nukleonen (Neutron n, Proton p) dicht gepackt wie Moleküle in einem Tropfen. Die Kernmasse berechnet sich nach M (Z , N ) = Z ⋅ M p + N ⋅ M n − B / c 2 Carl Friedrich von Weizsäcker Die Bindungsenergie B ergibt sich aus verschiedenen Einflüssen: B = B0 + B1 + B2 + B3 + B4 254 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 1. Die Volumenenergie Jedes Nukleon reagiert nur mit seinem unmittelbaren Nachbarn, die daraus resultierende Bindungsenergie ist also einfach proportional zur Anzahl der Nukleonen B0 ∝ A = Z + N Daraus folgt mit dem empirischen Faktor av B0 = av ⋅ A 2. Die Oberflächenenergie Teilchen an der Oberfläche haben nur auf der Innenseite eine Bindung, sie sind also weniger stark gebunden. Dieser Einfluß ist proportional zur Oberfläche, also B1 ∝ O 255 SS 2011 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik Prof. Dr. Manfred Bayer Nun ist V ∝ r3 und O ∝ r2. Daraus folgt r = V13 ⇒ O ∝V23 Da V ∝ A erhält man B1 = − as ⋅ A2 3 3. Die Coulombenergie Die positiven Protonenladungen im Kern stoßen sich ab. Es gilt (e Z ) 2 E = −a Da r ∝ A folgt 13 r Z2 B2 = −aC 1 3 A 256 SS 2011 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik Prof. Dr. Manfred Bayer 4. Die Asymmetrieenergie (Neutronenüberschuß) Die Coulombkräfte nehmen mit steigendem Z stark zu. Daher werden schwere Kerne mit Z = N instabil. Man braucht also einen Überschuß an Neutronen. N stabile Kerne N = Z 80 Z 257 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Andererseits sind dann die Neutronen auf höheren Energiniveaus und weniger stark gebunden. Das Defizit der Bindungsenergie ist E B3 ∝ ( N − Z ) = ( A − 2 Z ) 2 2 Eine genauere Berechnung liefert p n B3 = − aa ( A − 2Z )2 A 258 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 5. Die Paarungsenergie Kerne mit gerader Nukleonenzahl sind wesentlich stabiler als mit ungerader Zahl Typ gg gu ug uu Zahl der stabilen Isotope 165 55 50 4 Die empirische Formel liefert −3 4 ⎧+ ap A ⎪ B4 = ⎨ 0 ⎪ − a A −3 4 ⎩ p für gg für gu, ug für uu 259 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Damit ergibt sich schließlich die gesuchte Massenformel 2 2 ⎛ ⎞ ( 1 A − 2Z ) Z 23 + B4 ⎟⎟ M (Z , A) = Z mp + N mn − 2 ⎜⎜ av A + as A + aC 1 3 + aa A A c ⎝ ⎠ mit den empirischen Konstanten B/A [MeV] av = 14,1 MeV as = 13,0 MeV aC = 0,595 MeV aa = 19,0 MeV ap = 33,5 MeV A 260 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 3.4.2 Das Schalenmodell Die Experimente zeigen, daß Kernevauf höhere, diskrete Energiezustände angeregt werden können und umgekehrt diskrete γ-Strahlung aussenden. Das ist ganz analog zur Elektronenhülle der Atome. p n Die Kernkräfte haben keine große Reichweite (< 10-15 m). Daher wird die Kraftwirkung um durch ein Kastenpotential angenähert. Näherungsweise wird die Energie der Niveaus durch einen 3-dim. harmonischen Oszillator beschrieben: D 2 V (r ) = r 2 261 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Nach dem Schalenmodell sind die Energieniveaus En,l = h ω[2(n − 1) + l ] n = 1, 2, L Hauptquantenzahl l = 0,1, 2,L Bahndrehimpulss p d quantenzahl Jedes Nukleon besitzt den Spin 1 S= 2 Mit dem Bahndrehimpuls hat jedes Nukleon den Gesamtdrehimpuls Jk = jk ( jk + 1) h, 1 jk = lk + S k = lk ± 2 Für die z-Komponente von Jk gilt ( J k )z = m h mit m = − jk ,L,0,L jk 262 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Pauli-Prinzip: Jeder Zustand im Kern kann nur von einem Nukleon eingenommen werden. Die Zustände werden durch die Quantenzahlen n, l, j und m bestimmt. Dieses Prinzip führt ganz analog zur Elektronenhülle der Atome zu abgeschlossenen Schalen die durch die „magischen Zahlen“ gegeben sind: 2, 8, 20, 28, 50, 82, 126 Die durch das Schalenmodell gelieferten „magischen Zahlen“ liefern in der Natur besonders stabile Kerne. Man hat im Prinzip wieder Energieniveaus wie in der Elektronenhülle. Die Elektronenenergien liegen im eV-Bereich während die Nukleonenergien im Kern im Bereich von MeV liegen. 263 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Anordnung der Kernniveaus: j =5 2 n=1 l=3 n=1 l=2 n=2 l=0 n=1 l=1 n=1 l=0 1f j =7 2 j =3 2 1d 2s 1p 1s j =1 2 j =5 2 28 8 4 2 20 40 20 Ca 6 j =1 2 2 j =3 2 4 j =1 2 „Doppelt magische“ Kerne 6 8 16 8 2 4 2 O He 2 264 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Nuklidkarte 265 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Nuklidkarte 266 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Bereiche instabiler Kerne 267 SS 2011 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik Prof. Dr. Manfred Bayer 3.5 Radioaktiver Zerfall Wie schon in Kapitel 4.5.3 kurz angedeutet wurde, gibt es neben stabilen Kernen auch solche, die unter Ausstrahlung von Teilchen und Energie zerfallen. Dieses Phänomen bezeichnet man als „radioaktiven Zerfall“. Es gibt drei Arten des Zerfalls: α - Zerfall β _Zerfall γ - Zerfall α A -4 2+ 4 X⎯ Y He ⎯→ α = Z− 2 2 ± β A + X ⎯⎯→ Y e , e , Neutrinos Z±1 γ A X* ⎯ ⎯→ γ − Strahlung, hω ZX A Z A Z A Z Z β− α β+ N 268 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 3.5.1 Der α-Zerfall Beim α-Zerfall emittiert der Kern einen vollständig ionisierten HeliumKern. 4 2 He2+ Dieser ist besonders stabil, da er doppelt magisch ist: 2 Protonen 2 Neutronen 269 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer α-Zerfall nach Gamow: Durch das Kernpotential werden die Nukleonen zusammengehalten. Sie können die Potentialbarriere aber durchtunneln. 1 ∝ r Coulombpotential α-Teilchen im Kern freies α-Teilchen E(r ) r0 r Kernpotential 270 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Potentialbarriere V Beim α-Zerfall wirkt der quantenmechanische Tunneleffekt: Ψ1 Ψ2 Ψ3 E 0 b Nach Durchtunnelung der Potentialbarriere wird das α-Teilchen durch die Coulombkraft abgestoßen. Dabei gewinnt es insgesamt die Energie 1 2(Z − 2 ) e 2 Eα = 4πε0 r0 271 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Der Transmissionskoeffizient T für die Durchtunnelung ist definiert als Zahl der Durchtunnelung T= Zahl aller Versuche Beliebige Potentialbarriere: Aus der Wellenmechanik folgt für beliebige Potentiale V(x) V(x) E x a b b ⎛ ⎞ m 2 ⎟ T ∝ exp⎜ − 2⌠ V x − E dx ( ( ) ) ⎟ ⎜ ⎮ ⌡ h2 ⎠ ⎝ a 272 SS 2011 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik Je höher die Energie Eα wird, umso kleiner wird (b - a) und V - Eα und umso größer wird T. Je größer wiederum T wird, umso schneller zerfällt der Kern, d.h. die Halbwertzeit nimmt ab und zwar 1 T1 2 ∝ T Je höher die Enegie der beim Zerfall austretenden α-Teilchen ist, je kürzer ist also ihre Halbwertzeit der zerfallenden Kerne. Das ist an einigen Beispielen in der Tabelle gezeigt. Prof. Dr. Manfred Bayer Beispiele für α-Strahler: Kern Eα [MeV] T1 2 238 4,1 4,5 ⋅ 109 a Ra226 4,7 1,62 ⋅ 103 a Po210 5,3 138 d 214 7,7 1,6 ⋅ 10−4 s Po212 8,8 3,0 ⋅ 10−7 s U Po 273 SS 2011 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik Prof. Dr. Manfred Bayer 3.5.2 Der ß-Zerfall Kerne sind nur bei einem relativ eng begrenzten Verhältnis von Protonen und Neutronen stabil. Hat der Kern bei konstanter Anzahl von Protonen (Z = const.) zu viel Neutronen, sendet er ein Elektron (e-) aus, − β - Zerfall : A Z β- X ⎯⎯→ Z+A1Y, e- , ν Hat er zu wenig Neutronen, wird ein positiv geladenes Elektron (!) emittiert. + β - Zerfall : A Z β+ X ⎯⎯→ Z−A1Y, e + , ν Beispiel: Sauerstoffisotope β+-Zerfall stabil β--Zerfall 274 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Beim ß-Zerfall werden negative oder positive Elektronen emittiert. Die Ladung und die Art des emittierten Teilchens kann durch Ablenkung im Magnetfeld gemessen werden. Mit dem positiven Elektron („Positron“) wurde erstmals ein Antiteilchen in der Materie nachgewiesen. 275 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Der Atomkern hat, wie die Atomhülle, diskrete Energiezustände. Man erwartet daher eine fest definierte Energie der emittierten Elektronen. Bereits 1914 hat Chadwick durch Messungen mit magnetischen Spektrometern gezeigt, daß die Elektronen eine kontinuierliche Energieverteilung haben. Eine weitere Diskrepanz ergibt sich beim Drehimpuls: Beim ß-Zerfall unterscheiden sich die Spins von Mutter- und Tochterkern um 0 oder 1, während das Elektron den Spin 1/2 hat. ⇒ Energie-, Impuls- und Drehimpulssatz scheinen beim ß-Zerfall verletzt zu sein. 276 SS 2011 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik Prof. Dr. Manfred Bayer Wolfgang Pauli fand 1930 den zunächst hypotetischen Ausweg, indem er ein weiteres Teilchen annahm, das beim ß-Zerfall mit dem Elektron emittiert wird. Es musste ungeladen sein und wird daher „Neutrino“ genannt. Der ß-Zerfall hat daher die Form A Z Wolfgang Pauli A Z ß+-Zerfall 230 91 Pa ν 230 90 Th β- X ⎯⎯→ Z+A1Y + e- + ν β+ X ⎯⎯→ Z−A1Y + e + + ν ν = Neutrino ν = Antineutrino β+ = +01 e Zerfall des Protactiniums (Pa) 277 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Der Nachweis des Neutrinos ist sehr schwierig, da es kaum Wechselwirkung mit der Materie macht. Er gelang schließlich durch den inversen ß-Zerfall. Der normale ß-Zerfall ist n → p + β- + ν Der inverse ß-Zerfall ist dann ν + p → β+ + n d.h. wenn ein Antineutrino ein Proton trifft, werden ein Neutron und ein Positron erzeugt. Dann müssen das Positron und das Neutron eindeutig identifiziert werden. Trifft das Positron auf ein Elektron, zerstahlen beide und es werden zwei γ-Quanten emittiert. ( 113 ) Wird das Neutron von einem Cadmium-Kern Cd eingefangen, wird γ-Strahlung von insgesamt 9,1 MeV emittiert. 278 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Experiment zum Nachweis der Neutrinos nach Covans und Reines Neutrinos vom Reaktor Die praktisch gleichzeitig emittierten γ-Quanten werden durch Szintillationszähler in Koinzidenz nachgewiesen. 279 SS 2011 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik Prof. Dr. Manfred Bayer Energieverhältnisse bei Kernen mit gleichem A ug, gu-Kerne β − β + 280 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Energieverhältnisse bei Kernen mit gleichem A uu-Kerne gg-Kerne 281 SS 2011 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik Prof. Dr. Manfred Bayer 3.5.3 Der γ-Zerfall Nach dem Schalenmodell können Nukleonen im Kern diskrete angeregte Zustände einnehmen. Wenn die Nukleonen dann auf niedrigere Niveaus übergehen, senden sie die Energie in Form von hochenergetischen Photonen, den γ-Quanten ab. Em Eγ = h ν γ-Quant En Kernniveaus Ein γ-Zerfall läßt sich schreiben in der Form A Z X* → A Z X+γ 282 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 3.5.4 Zerfallsreihe Ein radioaktives Isotop kann nach Zerfall wieder ein radioaktives Isotop bilden, das dann weiter zerfällt Zerfallsreihe ⇒ Beispiel: Zerfallsreihe des Radiums 283 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 3.6 Nachweis von ionisierenden Teilchen 3.6.1 Ionisationskammer ionisierende Teilchen Der Strom zwischen Rohr und Innenelektrode ist proportional zur Zahl der Teilchen 284 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 3.6.2 Geiger-Müller Zährlohr Das Geiger-Müller-Zählrohr ist ähnlich aufgebaut wie eine Ionisationskammer. Bei höherer Spannung setzt aber ein „Lawineneffekt“ ein. 285 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Kennlinie eines Geiger-Müller-Zählrohrs U [V] 286 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Technische Ausführung von Geiger-MüllerZählrohren 287 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 3.6.3 Szintillationszähler Treffen ionisierende Strahlen auf geeignete Festkörper oder auch Flüssigkeiten, dann regen sie Atome an, die danach die Energie als Photonen abstrahlen („Szintillation“). Diese wird durch Multiplier nachgewiesen . 288 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 3.6.4 Große Teilchendetektoren Der Neutrinodetektor „Super Kamiokande“ 289 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Das Innere des Neutrinodetektors Super-Kamiokande (Japan) 290 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Das Auger-Projekt (Utah, Argentinien) 291 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 292 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Prinzip eines großen Teilchendetektors 293 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Teilchenspuren, nachgewiesen in einem großen Detektor 294 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Der Atlas-Detektor beim CERN 295 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Der LHC-Detektor beim CERN 296 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer 3.7 Die C14-Methode Durch Kernreaktionen lassen sich zu den einzelnem Elementen verschiedene, teilweise radioaktive Isotope erzeugen. Sind die hinreichend langlebig, können sie zur Altersbestimmung herangezogen werden. 1947 entwickelte Willard Frank Libby die zur Datierung von organischen Stoffen geeignete C14-Methode (eigentlich 14C). Alle organische Substanzen bestehen zu einem wesentlichen Teil aus Kohlenstoff. Die 3 wichtigsten Isotope sind: Willard Frank Libby 1908 - 1980 (stabil, 98,5% ) 12 C 13 C (stabil, 1,1%) 14 C (radioaktiv, T 12 = 5730 a ) 297 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Solange die Pflanze oder das Tier lebt, wird durch Stoffwechsel der Kohlenstoff ständig erneuert, und das Verhältnis von 14C zu 12C bleibt erhalten, also N C14 = R0 = 1,2 ⋅ 10−12 = const. N C12 Stirbt das Lebewesen, hört die Erneuerung des Kohlenstoffs auf und das 14C zerfällt mit der Halbwertzeit von 5740 Jahren, während das 12C stabil erhalten bleibt. Das Verhältnis N C14 = R (t ) N C12 →∞ ⎯t⎯ ⎯→ 0 verringert sich also. Nach dem Zerfallsgesetz gilt ⎛ ln 2 ⎞ N C14 = R(t ) = R0 exp⎜⎜ − t ⎟⎟ N C12 ⎝ T1 2 ⎠ ⇒ T1 2 t = − ln R (t ) ln 2 298 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Das 14C wird durch die Höhenstrahlung über eine Reaktion mit dem Stickstoff der Luft erzeugt: 14 7 N +10 n → 146C +11 p Das radioaktive Kohlenstoffisotop verbindet sich mit dem Sauerstoff der Luft zu 14CO2, das über Photosynthese in die lebenden Organismen eingebaut wird Das 14C zerfällt als ß-Strahler: 14 6 C → 147 N + e- + ν 299 Struktur der Materie & Probleme der modernen Physik SS 2011 Prof. Dr. Manfred Bayer Das 14C und 14N in der Nuklidkarte NeutronenAnzahl 14 N 14 C 300