AKTUELL Flüchtlingslager Dadaab, Kenia: Hunderttausende Somalier flohen 2011 vor der Dürre KEYSTONE Schweiz setzt sich für Umweltvertriebene ein Nansen-Initiative · Opfer von Naturkatastrophen sind keine Flüchtlinge im Rechtssinn. Zu ihrem Schutz hat die Schweiz einen internationalen Konsultationsprozess mit dem Ziel einer «Globalen Schutzagenda für Umweltvertriebene» initiiert. E rdbeben und Überschwemmungen, Windstürme oder Vulkanausbrüche zwingen regelmässig Millionen Menschen zu Evakuation oder Flucht. Zwischen 2008 und 2012 mussten ungefähr 144 Millionen Menschen – davon 32 Millionen allein im Jahre 2012 – wegen solcher Naturkatastrophen fliehen. Die Zahl jener, die wegen schleichender Umweltveränderungen wie Dürre oder steigendem Meeresspiegel ihre Wohnorte verlassen müssen, ist unbekannt. Allerdings deutet viel darauf hin, dass der Klimawandel eine Zunahme von Naturkatastrophen bewirkt. So hat sich die Zahl plädoyer 5/13 der jährlichen Taifune in den Philippinen seit 1950 verdoppelt. Inselstaaten wie Kiribati, Tuvalu oder die Malediven und grosse Küstengebiete (zum Beispiel in Bangladesch) riskieren, mittelfristig unbewohnbar zu werden. Flüchtlinge bleiben in der eigenen Region Umweltvertriebene, wie solche Menschen oft genannt werden, bleiben meist im eigenen Land und können nach kürzerer oder längerer Zeit in ihre Häuser zurückkehren. Manche fliehen aber ins Ausland. Auf dem Höhepunkt der Dürre in Somalia suchten im Jahr 2011 zwischen 100 000 und 200 000 Menschen Zuflucht in Kenia, weil sie ihre Ernten oder die letzten Tiere verloren hatten und vom Hungertod bedroht waren. Nach dem Erdbeben in Haiti versuchten 2010 Tausende, in die benachbarte Dominikanische Republik zu fliehen. Doch die Grenzen wurden geschlossen und es kam zu Rückschiebungen. Nach verheerenden Windstürmen in Zentralamerika Ende der 1990er-Jahre gewährten gemäss der «Washington Post» die USA rund 82 000 Staatsangehörigen aus Honduras und 300 000 Menschen aus Salvador vorübergehenden Schutz. Wie die Beispiele zeigen, bleiben Betroffene meist in der eigenen Region; deshalb blieben Europa und die Schweiz bisher von solchen Fluchtbewegungen verschont. Was ist der Rechtsstatus dieser Menschen? Die kurze Antwort 21 AKTUELL «Polarforscher Fridtjof Nansen schuf als erster Hochkommissar für Flüchtlinge ein Reisedokument für Papierlose» lautet: Sie besitzen keinen. Es sei denn, ein Land kenne wie die USA und wenige weitere Staaten für Opfer von Naturkatastrophen einen spezifischen Status als vorübergehend Aufgenommene. Sie sind in der Regel nicht verfolgt und deshalb keine Flüchtlinge im Rechtssinn. In den Geltungsbereich der Konvention über die Rechte der Wanderarbeiter von 1990 fallen sie nicht, weil diese nur Personen erfasst, die ins Ausland emigrieren, um dort zu arbeiten. Natürlich stehen Betroffene unter dem Schutz der Menschenrechte; diese bieten aber keine Antworten auf Fragen wie: Wer hat unter welchen Voraussetzungen ein Recht auf Zugang und Aufenthalt im Zufluchtsstaat? Unter welchen Voraussetzungen dürfen schutzbedürftige Personen in den Herkunftsstaat zurückgeschoben werden? Welche Rechte haben sie während ihres Aufenthaltes? Kurz: Das Völkerrecht enthält für Menschen, die wegen Naturkatastrophen und Umweltveränderungen ins Ausland fliehen, eine ausgesprochene Regelungslücke. Staaten fanden bei erstem Versuch keinen Konsens Die Staaten anerkennen dies wenigstens grundsätzlich. Das von den Vertragsstaaten der Uno-Klimakonvention 2010 in Cancún verabschiedete Schlussdokument betont nämlich, dass Migration, Vertreibung und organisierte Umsiedlung innerstaatlich und über Staatsgrenzen hinweg zu den Themen gehören, welche Massnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und verstärkte internationale Kooperation nötig machen. Die Klimaverhandlungen der Uno sind allerdings für migrationsrechtliche Diskussionen wenig geeignet. Deshalb nahm der Hochkommissar für Flüchtlinge 2011 das Thema mit dem Ziel auf, Regeln über temporären Schutz für 22 Opfer von Naturkatastrophen zu schaffen. Ein Expertentreffen und eine Konferenz – die Nansen-Konferenz über Klimawandel und Vertreibung – sollten den Boden für ein Mandat an das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR bereiten, einen zwischenstaatlichen Konsultationsprozess zum Schutz für Umweltvertriebene in die Wege leiten. Der Versuch misslang. Verschiedene Staaten fanden, das Thema sei für Verhandlungen im Rahmen der Uno zu heikel, andere hielten das UNHCR für die falsche Institution, um den Prozess zu leiten, oder betonten, über die Aufnahme schutzbedürftiger Personen, die nicht Flüchtlinge im Rechtssinn sind, sollten die Staaten auch künftig souverän entscheiden können. In dieser Situation erklärten sich die Schweiz und Norwegen bereit, mit interessierten Staaten, dem UNHCR und anderen relevanten Akteuren zusammenzuarbeiten. Sie wollen einen Konsens erzielen, wie Menschen, die wegen Naturkatastrophen in andere Länder fliehen, zu schützen und zu unterstützen seien. Dies war die Geburtsstunde der Nansen-Initiative. Sie ist nach Fridtjof Nansen (1861–1930) benannt, der sich als Polarforscher mit Klimafragen befasste. Als erster Hochkommissar für Flüchtlinge schuf er den Nansen-Pass, ein international anerkanntes Reise- und Identifikationsdokument für die vielen papierlosen Flüchtlinge nach dem Ersten Weltkrieg. Ziel nicht Konvention, sondern Konsultationen Die Nansen-Initiative ist als dreijähriger Konsultationsprozess ausserhalb der Uno konzipiert. Sie wird von einer Gruppe interessierter Staaten (neben der Schweiz und Norwegen auch Australien, Bangladesch, Costa Rica, Deutschland, Kenia, Mexiko und die Philippinen) geleitet. Ziel ist nicht die Schaffung einer Konvention für Umweltvertriebene: Dies ist angesichts des Fehlens jeglichen Konsenses verfrüht und ausserhalb internationaler Organisationen heute kaum mehr möglich. Vielmehr geht es darum, in einem ersten Schritt eine Serie von Konsultationen mit Regierungen, akademischen Kreisen und Vertretern der Zivilgesellschaft in fünf bis sechs besonders betroffenen Regionen durchzuführen. Die erste regionale Konsultation fand im Mai 2013 im Pazifik statt, die zweite wird Anfang Dezember 2013 in Zentralamerika durchgeführt. Die Ergebnisse der regionalen Konsultationen werden 2015 in eine globale Konsultation einfliessen, deren Ergebnis eine «Globale Schutzagenda für Umweltvertriebene» sein soll. Da wird sich zeigen, inwiefern sich die beteiligten Staaten einig sind, was die Situation ist und welche Herausforderungen bestehen, welche guten Praktiken bereits existieren und was die nächsten Schritte sein sollen, um den Schutz solcher Menschen sicherzustellen. Dabei wird sich die Agenda nicht nur mit Standards und Modellen für den Schutz der Vertriebenen befassen, sondern auch mit der Frage, wie die Kooperation zwischen Aufnahme- und Herkunftsstaaten sichergestellt und die Arbeit von humanitären Organisationen und Entwicklungsorganisationen verbessert werden kann. Die Agenda wird hoffentlich ein Sprungbrett und eine solide Basis für formelle Diskussionen und Verhandlungen im Rahmen der Uno oder Regionalorganisationen sein. Die Konsultation im Pazifik, wo nicht nur der steigende Meeresspiegel sondern auch Tsunamis, Erdbeben und Vulkanausbrüche die Menschen bedrohen, fand auf Ministerebene statt und zeigte das grosse Interesse der beteiligten Staaten und der Zivilgesellschaft. plädoyer 5/13 KEYSTONE Überschwemmungsopfer in Pakistan: Konsultationen haben eine globale Schutzagenda für Umweltvertriebene als Ziel Die Teilnehmenden betonten, primär sollte in Massnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und zur Reduktion der Risiken von Naturgefahren investiert werden, damit die Bevölkerung dieser Länder so lange wie möglich an ihren Wohnorten bleiben kann. Gleichzeitig sei mehr für den Schutz von Vertriebenen zu tun, die im eigenen Land Zuflucht finden oder umgesiedelt werden müssen. Zu erwarten sei aber, dass mittel- oder langfristig viele Menschen ihre Heimat verlassen müssten. Um Flucht und Vertreibung zu vermeiden, seien Arbeitsmigration in der plädoyer 5/13 Region inklusive Australien und Neuseeland zu erleichtern und junge Leute für den internationalen Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Gegen Schaffung der Kategorie «Klimaflüchtling» Soweit organisierte Umsiedlungen unumgänglich werden, sei von schlechten Beispielen aus der Vergangenheit zu lernen; neue Standards müssten die Rechte und die Würde der Betroffenen schützen. Die Teilnehmenden legten grossen Wert darauf, die eigene Kultur bewahren zu können. Die Regierun- AKTUELL gen werden diese Anregungen im Rahmen der Regionalorganisation Pacific Islands Forum weiter bearbeiten. Die Nansen-Initiative beschränkt sich aber nicht auf die Folgen des Klimawandels, sondern befasst sich mit allen Arten von Naturkatastrophen. Schutznormen nur für Menschen zu schaffen, welche durch klimatische Ereignisse zur Flucht getrieben werden, wäre gegenüber den Opfern geophysikalischer Naturkatastrophen wie Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüche höchst diskriminierend. Deshalb ist die Schaffung einer Kategorie «Klimaflüchtlinge» abzulehnen. Sie würde im Einzelfall den Nachweis voraussetzen, dass eine bestimmte Naturkatastrophe Folge des Klimawandels ist. Mit den heutigen Methoden lässt sich eine solche Kausalität für einzelne Naturkatastrophen wissenschaftlich nicht nachweisen. Hinzu kommt die Komplexität von Fluchtursachen: Neben der Naturgefahr spielen weitere Gründe – etwa die Unfähigkeit der Behörden, adäquate Hilfe zu leisten, oder die Unzugänglichkeit innerstaatlicher Zufluchtsorte – eine Rolle beim Entscheid, ins Ausland zu fliehen. Für den Schutz sollte genügen, dass jemand im Kontext von Naturkatastrophen gezwungen ist, das eigene Land zu verlassen, und schutzbedürftig ist, weil die Rückkehr temporär oder permanent nicht möglich oder zumutbar ist. Es wird sich zeigen, ob sich diese Auffassung durchsetzt. Antworten auf solche rechtlichen Herausforderungen sollen nicht von den Initianten zu Beginn der Konsultationen vorgegeben werden, sondern Ergebnis des Prozesses sein. Nur so lässt sich international ein tragfähiger Konsens für die Erarbeitung neuer Regeln erzielen. «Die Initiative beschränkt sich nicht auf die Folgen des Klimawandels, sondern befasst sich mit allen Arten von Naturkatastrophen» Walter Kälin Professor für Staats- und Völkerrecht, Bern 23