Biologie nach der Mode - Zentrum für Literatur

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literaturkritik.de » Nr. 2, Februar 2009 » Schwerpunkt: 200. Geburtstag von Charles Darwin » Charles Darwin aus
heutiger Sicht
Biologie nach der Mode
Charles Darwin als Leser ästhetischer Theorien und
Seismograph kultureller Entwicklungen
Von Winfried Menninghaus
Charles Darwin gebraucht im zweiten und längeren Teil seines Buches "The
descent of man selection in relation to sex" (1872) konsistent leitende Begriffe
der philosophischen Ästhetik. Nicht nur spricht er wieder und wieder
allgemein von "beauty", er verwendet auch die genuinen Leitchiffren der
anthropologischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts wie "taste for the beautiful"
oder "sense of beauty". In Übereinstimmung mit dieser Tradition hebt er einen
positiven Reizwert von "novelty" und "variety" für die ästhetische Rezeption
hervor. Des weiteren bezieht Darwin sich insbesondere auf umkämpfte
Kategorien der Arabesken-, Grotesken- und Ornamentästhetik des 18.
Jahrhunderts, namentlich auf den Kernbegriff "ornament". Schließlich zögert
er nicht, mit Rücksicht auf das Tierreich von "fashion" und "caprices of
fashion" zu sprechen. Die Begriffe "caprice" beziehungsweise "whim" sind
ebenfalls kurrente und Darwin zweifellos bekannte Kategorien insbesondere
der britischen Ästhetik. Ihre deutschen Äquivalente sind "Laune", "Marotte",
"Tick" und "Manier". Immanuel Kants wunderbarer Absatz über die "launichte
Manier" in § 54 der "Kritik der Urteilskraft" bietet sich als direkte
Vergleichsgröße für Darwins Sprachgebrauch an.
Die Evolutionsbiologie pflegt diese Terminologie gern systematisch wie eine
peinliche Erinnerung an vorwissenschaftliche Schreibweisen mit Lizenzen zu
losen Metaphern zu vermeiden. In Reformulierungen Darwins kommen solche
Begriffe seit etlichen Dekaden schlicht nicht mehr vor. Alle
assoziationsreicheren Terme Darwins werden tendenziell auf den Begriff
"physical attractiveness" reduziert - ein Begriff übrigens, der selbst durchaus
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reich an aktueller kultureller Semantik und mithin keineswegs
wissenschaftlich ,clean' ist. Im Gegensatz dazu möchte ich gerade die
ästhetisch-kulturellen Semantiken in Darwins Konzept eines "sense of beauty"
hervorheben. Im Einzelnen betrachte ich fünf Aspekte:
- die historische Konfiguration von Biologie und Ästhetik, in der Darwin
verortet werden kann;
- die historische Semantik von "beauty", die Darwin fortschreibt;
- seine sehr speziellen Rekurse auf Positionen der Ornamentästhetik;
- seine Referenzen auf den zeitgenössischen Modemarkt;
- seine Neubegründung und zugleich Brechung des klassischen Ideals des
menschlichen Körpers.
Meine Ausführungen werden primär Darwins Aneignung der
Ornamentästhetik und seiner neuen Perspektive auf die klassische Debatte um
die Schönheit des menschlichen Körpers gelten. Grundsätzlich kann die
Funktion kultureller Semantiken in den Wissenschaften nach zwei Polen
differenziert werden: sie ermöglichen Erkenntnis und sie begrenzen sie
zugleich. Mein Fokus wird darauf liegen, Darwins Verwendung kultureller
Semantiken nicht so sehr als Trübung und Begrenzung, sondern als
Ermöglichung neuer biologischer Einsichten zu lesen.
1. Biologie und Ästhetik
Das Prädikat "schön" verschränkt in den meisten westlichen Sprachen seit je
Präferenzen für natürliche Körper mit Präferenzen für kulturelle Artefakte. Ich
verweise exemplarisch auf Platos Konzept des Eros nach dem Schönen
beziehunsgweise des tókos en kaló, der Zeugung im Schönen, sowie Edmund
Burkes Deutung der Attraktion durch körperliche Reize als List der Natur zum
Zwecke der Beförderung der Fortpflanzung. Das Denken der "Lebhaftigkeit"
und "Lebendigkeit" von Darstellungen ist spätestens seit der Renaissance ein
topisches Desiderat der Poetik; die Ästhetik des 18. Jahrhunderts schließt
dieses Denken direkt an den zeitgenössischen Diskurs über "Leben" überhaupt
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an. Kants Rede von einer ästhetischen "Beförderung des Gefühls des Lebens"
und seine Definition sowohl der ästhetischen Lust als auch des Lebens selbst
als Selbstfortsetzung, als Autopoiesis, bezeugen diese Verschränkung von
Biologie und Ästhetik nachdrücklich. Von Alexander Gottlieb Baumgarten bis
Kant und darüber hinaus wird die Ästhetik geprägt und transformiert durch
solche Interferenzen mit biologischen Diskursen; Darwin dagegen
transformiert das biologische Denken durch zahlreiche Interferenzen mit
ästhetischen Diskursen. Indem er die Konfiguration von Biologie und Ästhetik
fortsetzt, setzt er mithin historisch eine fundamentale diskursive Formation der
philosophischen Ästhetik fort. Darwins evolutionsbiologische Theorie der
Schönheit ist insofern keineswegs ein Kuriosum am Rande eines ansonsten
Biologie-freien Diskurses. Im Gegenteil: gerade als biologisch
argumentierende gehört seine Ästhetik durchaus zur Überlieferung der
historischen und philosophischen Ästhetik.
2. Schönheit als autonomer Aufwand
Darwin hat vor allem deshalb mehrere Jahrzehnte über "beauty" nachgedacht,
weil sie ein Problem für die Theorie der natürlichen Selektion darstellt.
Schmückende Federn, Hörner und Geweihe etwa sind bei etlichen Tierarten
"carried to a wonderful extreme": sie haben eine solche Größe
beziehungsweise eine solche Form angenommen, dass sie in den "general
conditions of life" eher hinderlich und als Waffen nur noch wenig tauglich
sind. Ein kardinaler Text der philosophischen Ästhetik, den Darwin auch
mehrfach explizit zitiert hat, scheint ganz direkt sein Fragen nach "beauty" und
"taste" angeleitet zu haben: Edmund Burkes "A Philosphical Enquiry into the
Origin of Our Ideas of the Sublime and the Beautiful" (1756).
Burke behandelt bereits Darwins kardinales evolutionstheoretisches master
example, die "extreme beauty" des Pfauenschmucks, und er tut dies auch
bereits in Darwins Begriffen eines Konflikts mit natürlicher "fitness" und einer
Irreduzibilität als schön empfundener Körperformen auf das Prinzip, etwa für
einen praktischen Überlebenszweck "well adapted" zu sein. Die Selektion für
schöne Ornamente folgt nach Darwins Einsicht einer fortgesetzten
Selbstverstärkung, eines Differenzgewinns um des Differenzgewinns willen ein Prinzip übrigens, dessen Entdeckung Darwin Alexander von Humboldt
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zuschreibt. Formulierungen wie "beauty for beauty's sake" oder "variety for
the sake of variety" betonen massiv - und ganz im Stile dessen, was gern die
Autonomie-Ästhetik genannt wird - die Selbstgesetzlichkeit ästhetischer
Präferenzen gegenüber pragmatischen Rücksichten. Darwin denkt Schönheit
zuallererst als exorbitanten Eklat, als tendenziell selbstschädigende
Verschwendung, fast könnte man mit Bataille sagen: als souveräne
Verausgabung.
Wie allerdings selbst Kant und die idealistische Ästhetik die Begriffs- und
Zwecklosigkeit des Schönen an eine Zweckmäßigkeit eigener Art knüpfte, so
auch Darwin: was in den "general conditions of life" eher hinderlich ist,
verschafft Konkurrenzvorteile im hochspezifischen Kontext der sexuellen
Werbung. Die Unterscheidung natürlicher und sexueller Selektion erlaubt
Darwin, die konfligierenden Merkmale ästhetischer Zwecklosigkeit und
ästhetischer Zweckmäßigkeit durch Aufteilung auf zwei verschiedene
Rücksichten zu entparadoxieren. Die nicht-adaptiven Effekte im Register der
allgemeinen Lebensbedingungen begründen die ,Autonomie' des Ornaments,
der adaptive Bezug auf die Art-eigenen Geschlechtsrollen dagegen die
Zweckmäßigkeit des zwecklosen Ornaments.
Gewiss wird die Kantische Interesselosigkeit des ästhetischen Urteils in
Darwins Theorie vom idealistischen Kopf eines rein "intellektuellen
Interesses" auf die Füße eines markanten sexuellen Interesses gestellt, doch
zugleich gilt: nicht allein die verwendeten Begriffe, auch die Denkfiguren namentlich die Verschränkung von selbstgesetzlicher Zwecklosigkeit und
Zweckmäßigkeit des Schönen - sind durchweg der überlieferten Ästhetik
entlehnt. Darwin spricht nicht in losen Metaphern, er gibt eine durchaus
ernstzunehmende Reinterpretation der überlieferten Ästhetik.
3. Darwins Ornament-Ästhetik
Darwins Rede von Ornamenten, die "carried to a wonderful extreme" sind,
alludiert an die Debatte über maßlose, arabesk-groteske Ornamente, von denen
sich der Klassizismus im Namen des Maßes und auch einer 'Natürlichkeit' des
Geschmacks abzusetzen suchte. Seine Position ist deutlich: auch die vom
Klassizismus inkriminierten Ornamente sind alles andere als 'unnatural'; die
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Auswüchse und Digressionen des Körpers - eine Ästhetik der extravaganten,
der wunderbaren Arabeske - sind vielmehr quer durchs Reich natürlicher
Lebewesen anzutreffen.
Darwins Rede von sexuellen Körper-"Ornamenten" schließt den
evolutionsbiologischen Diskurs treffsicher an eine zentrale Kategorie der
philosophischen Ästhetik an. Ornamente galten spätestens seit Karl Philipp
Moritz und Kant als Inbegriff des zweck- und begriffslosen Schönen.
Arabesken, ornamentale Ranken und Säume aller Art figurieren darin als
Zutaten, als "Parerga". Diese scharfe Differenz von Ornament und
Ornamentiertem - die übrigens Darwins Ornament-Begriff als einen genuin
modernen ausweist - erzielt in der Anwendung auf natürliche Körper eine
gezielte Veräußerlichung, eine Brechung ihrer integralen Ganzheit. Darwin
macht in der Tat und ohne Abstriche die Zumutung, bestimmte Körperteile in
voller Analogie zur Applikation von Ornamenten zu denken. Der Agent dieser
Ornamentierung ist nicht länger ein Schöpfergott, der die Natur nicht nur
weise, sondern auch schön 'verziert' eingerichtet hat. Es sind vielmehr sexuelle
Wahlakte von Seiten des anderen Geschlechts, die über sehr lange Zeiträume
bestimmte "Ornamente" erblich gemacht und verstärkt haben. Darwins ist der
erste und vielleicht einzige Autor in der Geschichte der Ästhetik, der den
schönen Körper - und nicht nur, wie Michail Bachtin, den grotesken Gegenpol
zum schönen Körper - stringent mit den Mitteln der Ornament-, Groteskenund Arabesken-Ästhetik gedacht hat. Diese Perspektive impliziert einen
gründlichen Bruch mit holistischen Gestalttheorien und eine radikale
Partialisierung der ästhetischen Objekte des Begehrens.
Die Poetik der caprice pointiert die Unmotiviertheit, Arbitrarität, Zufälligkeit,
auch die Unsinnigkeit eines in seiner Art gleichwohl aufwendigen und
stringenten Phänomens. Die launischen Präferenzen für exuberanten FederKopfschmuck sind letztlich genau so erratisch wie die launischen Capricen,
denen sich die pinkfarbenen Hinterteile mancher Affen verdanken. Als Tick,
Marotte oder beliebiges Steckenpferd hat dieses Phänomen durchaus etwas
Liebenswertes; das Moment des Unsinnigen und Schrägen, in extremeren
Fällen des ernsthaften Verrückten wird dadurch aber nicht aufgehoben. Alles
dies denkt Darwin am Pfauenrad mit - und letztlich an allen sexualästhetischen
Präferenzen im weiten Reich der Natur. Die Wesen, die diesen strukturell
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kapriziösen Präferenzen folgen, müssen schon einigermaßen durchgeknallt
sein. Anders, so denkt es zumindest Darwin, hätten ganze Spezies nicht aus
den abwegigsten Körperornamenten so großen Ernst gemacht.
In der Literatur erinnert die Darwin'sche capriciousness of taste nicht nur von
fern an die launischen Digressionspoetiken des "Tristram Shandy" und ihre
romantischen Verwandten. Darwin gebraucht für natürliche Körper
buchstäblich dieselben Kategorien, die von der historischen Literarästhetik
adaptiert beziehungsweise neu semantisiert wurden, um die provokativen
Hervorbringungen Lawrence Sternes, Ludwig Tiecks oder E.T.A. Hoffmanns
zu begreifen. Das Erkenntnispotential dieser - wie mir scheint - konsistenten
und gezielten Intervention in den ästhetischen Diskurs scheint bislang weder
von Seiten der Evolutionsbiologie noch der Ästhetik im engeren Sinn
ausgeschöpft worden zu sein. Die kulturellen Semantiken des Textes sind es
gerade, die seinen Reichtum an Nuancen und seine transdisziplinäre Statur
ausmachen.
4. Die Zeit der Mode
Kulturelle Moden denkt Darwin als Verlängerung und Substitut der durch
sexuelle Selektion gebildeten Capricen am natürlichen Körper sexueller
Lebewesen. Mode ist der runaway-Prozess der kulturellen Formung und
Durchsetzung ästhetischer Präferenzen. Mode steigert die Geschwindigkeit
evolutionsbiologischer Differenzgewinne zwischen den Geschlechtern radikal.
Sie verwandelt die arbiträre Emergenz, Verbreitung und Stabilisierung
gewünschter Merkmale aus dem Takt der Jahrtausende und Jahrhunderte in
Phänomene von immer kürzerer Dauer, verfügt über weitaus gesteigerte
Freiheitsgrade gegenüber der Physis und kann ständig mit kapriziösen
Umkehrungen überraschen. Das Darwin'sche Prinzip der Pfauen-haften
Capricen der (sexuellen) Natur kann nunmehr jederzeit und überall begegnen.
Zahlreiche Dokumente bezeugen, dass die überraschende Parallele von
Kleidermode und biologischer Evolution der physischen Erscheinung zu
Darwins Zeit einen starken Evidenzcharakter hatte. Darwins Verwandter
George H. Darwin veröffentlichte 1872 einen Aufsatz über "Development in
dress", der mit folgendem Satz beginnt: "The development in dress presents a
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strong analogy to that of organisms, as explained by the modern theories of
evolution." Der Aufsatz unterscheidet Phänomene der Mode-Evolution, die
nach dem Muster der "natürlichen Selektion" primär als Adaption an neue
pragmatische Gegebenheiten der Umwelt beschreibbar sind, von solchen, in
denen eine Analogie zum Modell der "sexuellen Selektion" gegeben ist:
"Besides the general adaptation of dress [...], there is another influence which
has perhaps a still more important bearing on the development of dress, and
that is fashion. The love of novelty, and the extraordinary tendency which men
have to exaggerate any peculiarity, for the time being considered a mark of
good station in life, or handsome in itself, give rise I suppose to fashion." Das
ausführliche Kapitel über "Badges and costumes" in Herbert Spencers Buch
"Ceremonial institutions" setzt diese evolutionäre Betrachtung der
Kleidungsmode auf konsequente und originelle Weise fort. Darwins Theorie
des "taste for the beautiful" schließt also einerseits an eine philosophische
Tradition an, die ihrerseits eine starke biologische Dimension enthält;
andererseits ist sie durch einen komplementären Transfer geprägt, dem gerade
das überaus kulturelle Phänomen der Kleidungsmoden als ein besonders
plausibles Analogon biologischer Evolutionsprozesse erschien.
Nach Walter Benjamin ist das 19. Jahrhundert "das erste Jahrhundert der
Mode". Die massenhafte Produktion von Artikeln, die allein immer
flüchtigeren Moden dienen, ist das Kernargument dieser Diagnose. Darwins
Theorie der Schönheit ist insofern eminent zeitgenössisch, sie ist sowohl eine
Theorie der Mode als auch eine Theorie à la mode, nach der Mode nämlich der
überlieferten Ästhetik. Schreibt die Ornament- und Capricen-Semantik der
Darwin'schen Ästhetik Nuancen ein, die auf die Ästhetik des späteren 18.
Jahrhunderts ebenso wie die romantischen Capriccios des frühen 19.
Jahrhunderts zurückgehen, so zeigt sich Darwin als Mode-Theoretiker ganz
auf der Höhe seiner Zeit. Ohne zu zögern benutzt er den allerneuesten Schrei
der Kultur zur Diagnose uralter evolutionärer Prozesse.
Fast ergibt sich so eine weitere, eine formale und schreibstrategische Parallele
zu Benjamin: als radikale Überblendung natürlicher Körper mit neuen und
neuesten kulturellen Ästhetiken ergibt Darwins Denken so etwas wie
"dialektische Bilder". Diese Bilder stammen aus genau der Zeit, der Benjamins
Urgeschichte des 19. Jahrhunderts gilt. Und sie haben ein ähnliches Ziel: eben
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eine Einsicht in diejenige Mode zu gewinnen, aus der wie kommen und die wir
sind.
5. Die Menschenmode der nackten Haut
Darwins Reflexionen über die ästhetische Evolution des menschlichen Körpers
stehen weitgehend quer zu den Paradigmen der heutigen
Attraktivitätsforschung. Mehr noch: sie werden in dieser Forschung gar nicht
erwähnt, obwohl andererseits deren theoretische Grundannahmen weithin auf
Darwins generellem Konzept der sexual choice beruhen. Darwin spricht nicht
von waist-to-hip-ratio, von Kindchenschema, body mass-Index und all den
anderen Folterinstrumenten des heutigen Schönheitskults. Ihn interessiert am
menschlichen Körper nur ein Ornament, das er allerdings für zentral hält.
Genau dieses Ornament wird meist gar nicht für ein solches gehalten, sondern
eher als Nullstufe der Ornamentierung angesehen. Gemeint ist das Abwählen
der haarigen Hautoberfläche unserer Vorfahren, also das sonderbare
Phänomen der nackten Haut. Sie ist unbestreitbar der augenfälligste
Unterschied in der Gesamterscheinung von Mensch und Affe.
Nacktheit der Haut meint für Darwin nicht die Abwesenheit von Bekleidung
und damit etwa das Zeigen der Geschlechtsteile. Nein: Nacktheit der Haut ist
positiv das erste Ornament des Menschen. Anders als fast alle anderen von
Darwin betrachteten Ornamente ist es ein Ganzkörper-Ornament, kein
addendum hier oder da. Darwins Erzählung von diesem Ornament nimmt ihren
Ausgang von den Affen, bei denen es fehlt, bei denen aber andererseits
irgendein Merkmal gegeben sein muss, von dem die menschliche Caprice der
nackten Haut ihren Ausgang genommen haben könnte. Als den evolutionären
Ansatzpunkt der Entwicklung zur nackten Haut identifiziert Darwin die als
sexuelle Signale wirkenden Haar-freien Partien um die (weibliche)
Genitalregion vieler Affen und im Mandrill-Gesicht. Sexuelle Selektion, die
über sehr lange Zeit der ästhetischen Präferenz für solche enthaarten
Hautpartien gefolgt ist, konnte dann trotz unverkennbarer praktischer
Nachteile - wie dem Verlust eines thermischen und mechanischen
Körperschutzes - das affentypische Attraktivitätsmerkmal immer weiter
verstärken und bis zur fast völligen Enthaarung insbesondere des weiblichen
Körpers führen. Im Resultat entstand so eine fast durchgängig sexualisierte
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Körperoberfläche, die ein Novum in der Naturgeschichte der Körper zu sein
scheint.
Ergänzend zur spektakulären Ausdehnung der hot spots des Affenkörpers
unterliegt die Ästhetik des Menschenkörpers einer direkten Umkehrung der
Merkmals haarlos versus behaart: während bei vielen Affen gerade und nur die
genital-erogenen Zonen enthaart sind, sind am menschlichen Körper
ausgerechnet an diesen Stellen Haare 'gewählt' worden. Des weiteren wird die
relative Enthaarung des menschlichen Körpers kontrastiv durch eine besonders
haar-reiche Kopfhaut verstärkt, die ein ganzes Spektrum einer neuen HaarÄsthetik (Farbe, Glanz, Textur, Duft, Bewegung) an einem ansonsten weithin
enthaarten Körper hervorgebracht hat. Beide Phänomene sind insbesondere als
sekundäre weibliche Geschlechtsmerkmale bestens etabliert. Der Wechsel von
den oft grellen Signalfarben an den enthaarten hot spots der Affen hin zu
einem dezent abgetönten farblichen Kontinuum der menschlichen Haut kann
gleichfalls als direktionaler evolutionärer Bruch mit der ,Affenmode', als
Abkehr von der bunten und höchst indezenten Kolorierung einiger unserer
Vorfahren an ihren wenigen nackten Hautpartien verstanden werden. Vor die
Aufgabe gestellt, durch die Verstärkung einiger ursprünglich minimaler
Abweichungen den Schimpansen-Look in eine neue Körpermode zu
verwandeln, hätte ein Spitzen-Designer schwerlich ein so überzeugendes
Resultat hervorbringen können wie der von Darwin beschriebene Prozeß
sexueller Selektion mittels fortgesetzter ästhetischer Differenzgewinne, die
sich allein auf eine multiple, einerseits kapriziöse und andererseits in sich
konsistente Prozessierung der Differenz behaart versus unbehaart stützen.
Die ästhetische Souveränität gegen andere Rücksichten der "fitness" teilt die
Enthaarung der Haut mit dem exorbitanten Hirschgeweih oder dem exzessiven
Federkleid einiger Vögel. Darwin behauptet nicht, dass die menschliche Haut ob vor oder nach der Enthaarung - nicht auch andere biologische Funktionen
wahrnimmt; seine Spekulation ist daher nicht prinzipiell unvereinbar mit den
alternativen Erklärungsansätzen zur nackten Haut, von denen sich bis heute
keiner definitiv durchgesetzt zu haben scheint. Darwin versucht allein
plausibel zu machen, dass "to a certain extent" - eine denkbar vorsichtige
Formulierung - die extreme Mutation vom fast vollständig behaarten Affen
zum fast vollständig ,nackten' Menschen auch ein ästhetischer runawayhttp://www.literaturkritik.de/public/druckfassung_rez.php?rez_id=12714 (9 von 13)10.02.2009 11:53:14
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Prozess ist, der sexuellen Zwecken dient. Das Nacktwerden des Affen
gehorcht insofern etwa der gleichen Inflation eines unterscheidenden
Merkmals, nach der die Mode kurzer Röcke kraft ihrer eigenen Dynamik bald
zur völligen Entblößung der Beine neigt.
Tatsächlich definiert sich menschliche Schönheit in der Mehrzahl ihrer
Parameter durch Verstärkung der Differenzen zum Affen. Rein Ornamentgestützte Differenzgewinne dieser Art sind gerade unter nahestehenden
Verwandten vielfach beobachtet worden: "in many taxa of arthopods and
vertebrates closely related species differ most in secondary sexual
characters" (James L. und Carol G. Gould: Partnerwahl im Tierreich, 1990).
Darwins Beobachtung: "to our taste, many monkeys are far from beautiful"
entspricht damit einer generellen Regel modischer Distanzierung unter eng
verwandten Arten. Im evolutionären Maßstab begünstigt dieses Phänomen die
Vermeidung hybrider Paarungen und damit die Artenisolation; aus sexueller
Selektion hervorgegangene Aussehensunterschiede sind damit besonders
relevant für die Ausdifferenzierung ehemals gleicher Lebewesen in
unterschiedliche Spezies.
Viele Insektenarten sind überhaupt nur durch ihre sexuellen Ornamente
(einschließlich skurriler Penismoden), etliche Vogelarten nur durch die sexuell
bevorzugte Farbgebung zu unterscheiden. Oder anders: modisch-ästhetische
Unterscheidungen, gerade unter eng verwandten Wese, machen viele Spezies
erst buchstäblich zu dem, was sie sind. Die Evolutionstheorie vermag daher zu
erklären, warum etwa Burke feststellen konnte: "There are few animals which
seem to have less beauty in the eyes of all mankind [than monkeys]." Oder
warum in Goethes "Wahlverwandtschaften" Affen die nur scheinbar paradoxe
Doppelattribution als "menschenähnlich" und gleichzeitig ästhetisch
"abscheulich" erfahren. Es geht dabei um die ästhetische Verwerfung einer
eigenen ehemaligen Körpermode, die nunmehr als absolut ,uncool'
wahrgenommen wird - genau so wie Benjamin die Textilmode der eigenen
Eltern als "das gründlichste Antiaphrodisiacum" der jeweiligen
Nachfolgegeneration bestimmt hat.
Darwins Blick für Biologie gewordene ästhetische Präferenzen bestimmt die
Haut als das Gegenteil einer ,nackten Tatsache': als ein hochgradig
http://www.literaturkritik.de/public/druckfassung_rez.php?rez_id=12714 (10 von 13)10.02.2009 11:53:14
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unwahrscheinliches Unterscheidungsmerkmal, das von den Menschen
buchstäblich ,gewählt' wurde und das als umfassende Nacktheit am ganzen
Körper bei anderen Primaten, ja beinahe in der gesamten Tierwelt unbekannt
ist. Die klassische Ästhetik hatte daher vollkommen recht, die Nacktheit des
Körpers als unverzichtbares Datum der griechischen Plastik zu verteidigen.
Auf diese unerhörte, extrem unwahrscheinliche Oberfläche mit ihren
einzigartigen haptischen Qualitäten und visuellen Linienverläufen zu
verzichten, wäre etwa dasselbe, wie den Pfau ohne sein kardinales Ornament
darzustellen.
Die nackte Haut ist mithin nicht allein eine Nullstufe, sondern eine über lange
Generationen ausgewählte Bekleidung des menschlichen Körpers. Darin ist sie
den elaboriertesten Ornamenten von Fell und Gefieder analog, auch wenn sie ,
rhetorisch', mit Quintilian zu reden, über detractio statt über additio
funktioniert. Doch es kommt noch ein zweites hinzu: gerade weil die nackte
Haut das einzige Ornament ist, das zuallererst durch Abwesenheiten definiert
ist - durch das Fehlen von Federn, Haaren und Fell -, kann sie ihrerseits zum
Schauplatz für supplementäre Ergänzungen und ornamentale Markierungen
aller Art werden. Die nackte Haut ist insofern eine Meisterleistung der
sexuellen Selektion: aus der polarisierenden Verstärkung ästhetischer
Präferenzen hervorgegangen, bietet sie ihrerseits dem Spiel modischer
"variety" und "novelty" eine unvergleichlich flexible und vielfältig
bestimmbare Fläche. Niemand hat den menschlichen Körper so sehr als ein
Organ der Mode gedacht wie Darwin.
Die klassische Ästhetik der Plastik war zu dem gleichen Resultat gelangt. Sie
erklärte es für unverzichtbar, den menschlichen Körper unbekleidet
wiederzugeben, und zwar weniger um der Präsentation der sexuellen
Merkmale willen als deshalb, weil Kurvatur und Oberflächeneigenschaften der
Haut den Menschen auf markante Weise als Menschen bestimmen. Wir sind,
mit Desmond Morris zu reden, the naked ape. Darauf in der Kunst der Plastik
zu verzichten, hieße deshalb nicht weniger als unser erstes Ornament zu
verneinen. Darwins Überlegungen verschaffen der klassischen Verteidigung
der weitgehend unbekleideten Skulptur insofern ein starkes Argument. Der
unbehaarte Mensch, den der klassische Diskurs der Plastik denkt, ist insofern
zugleich der enthaarte Mensch, den Darwins Ästhetik der menschlichen
http://www.literaturkritik.de/public/druckfassung_rez.php?rez_id=12714 (11 von 13)10.02.2009 11:53:14
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Erscheinung in vergleichender und evolutionärer Perspektive denkt.
Der provokante, ganz und gar unklassische Ausgang von Mandrill und
Affenhintern ebenso wie der Vergleich mit Pfauenrad und Hirschgeweih gibt
Darwins neuer Grundlegung der klassischen Statuen-Ästhetik aber zugleich
einen anti-klassischen turn ins Arabeske und Groteske. Vergleichend und
funktional betrachtet wird das sanft geschwungene, nur von sehr geringen
Farbdifferenzen geprägte Kontinuum der menschlichen Haut - das die
klassische Ästhetik als die natürliche und dezente Auszeichnung des
menschlichen Körpers feiert - an sich selbst als eine total verrückte Mode, als
volles Äquivalent, ja sogar totalisierende Überbietung der groteskesten
Ornamente in Tierreich und Kunst lesbar. Anders gesagt: mit Darwin können
wir unversehens im klassischen Ideal des schönen menschlichen Körpers
zugleich eine grelle romantische Groteskarabeske lesen.
Weit entfernt, historische Semantiken der überlieferten Ästhetik nur zu
benutzen, hat Darwins Denken also das Potential, diese Semantiken selbst zu
verändern und neu zu rekonfigurieren. Denkbar ist, dass bestimmte
Darstellungstechniken des Jugendstils, die schöne menschliche Körper und
Motive der arabesken Ornamentik überblenden, Darwins Doppelperspektive
auf den menschlichen Körper historisch fortsetzen. Eine Lektüre Darwins aus
der Perspektive der philosophischen und historischen Ästhetik erschließt damit
Seiten seines Denkens, die in der evolutionsbiologischen ebenso wie der
empirisch-experimentellen Rezeption seiner Theorie der Schönheit gänzlich
fehlen.
Hinweis der Redaktion: Der Beitrag basiert auf einem Vortrag zur
Jahrestagung 2008 des "Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin".
Sie hatte den Titel "Kultur der Evolution. Rethinking evolutionary theory from
the perspective of cultural studies". Wir danken dem Autor und Sigrid Weigel,
der Herausgeberin der 2010 in gedruckter Form erscheinenden
Tagungsdokumentation, für die Genehmigung zur Vorpublikation.
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Stand: 09.02.2009 - 11:16:11
Lesungen: 89
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