Text im pdf Format betrachten und optional herunterladen

Werbung
Edelzwickers Ecke:
2. Eine Benutzeroberfläche für das Mentale
"Neque cogito, neque sum."
Zen-Meister Byung-Chul Han
"Willst du nicht den Erdboden
hinter dir lassen und mit dem
Geiste auf dieses alles blicken?"
Seneca, de brevitate vitae.
Das Mentale ist die subjektiv erlebte Innendimension des Menschen. Versuche, das Wesen
dieses Erlebens objektiv zu beschreiben, standen immer wieder im Brennpunkt des philosophischen Interesses. Das damit aufgeworfene 'Leib-Seele Problem' (auch als 'Körper-Geist
Interaktionsproblem' bekannt) berührte das tradierte Selbstverständnis der Menschen. Was,
also, ist das Mentale, wenn es von außen betrachtet wird?
Zunächst eine Einschränkung: Bisher ist es nicht gelungen, der Natur diese Antwort abzulauschen. Es liegt wohl an uns, die Grenzziehung vorzunehmen. Bevor wir eine solche Entscheidung treffen, sollten wir uns einige wichtige Fakten ins Gedächtnis zurückrufen.
1. Konkretum
Das menschliche Gehirn ist ein sehr komplexes Organ, aber doch ein Organ. Wie sein Träger,
ein Mensch, steht es in dem Zusammenhang der biologischen Evolution. Es enthält Zellen,
kann reifen und altern und ganz allgemein gesehen unterliegt es den Naturgesetzen. Man sagt,
"das Gehirn nimmt Teil an der geschlossenen Kausalität des Universums". Das heißt, die Regel "keine physikalische Wirkung ohne physikalische Ursache" gilt auch hier. Wie andere
Objekte des klassisch-physikalischen Universums ist das Gehirn oder Neuronensystem ontologisch ein Konkretum, d.h. es ist immer räumlich und zeitlich einzuordnen [siehe 1, 2].
2. Kommunikation
Die langen Fortsätze (Neuriten, Axone) der Nervenzellen sind für Kommunikation geschaffen. Im Gehirn sind ungezählte km von Neuritenkabel verlegt, in einem mm3 Cortex allein 4
km. Und die sind nicht zur Zierde da, sie leiten die Nervenimpulse über Distanzen von Millimetern bis Metern, mit Raten bis zu 1000 pro Sekunde, mit Geschwindigkeiten bis zu 100
Metern pro Sekunde, jeder Impuls ein Argument für die kommunikative und computatorische
Leistung des Neuronensystems. Die 'weiße Substanz' des menschlichen Gehirns enthält an die
135000 km 'verlegtes Kabel' [3]. Lange Axone sind vor allem in den Kommissuren zu finden,
in Kabelsträngen, die Teile der Großhirnrinde miteinander verbinden. In Kabelsträngen, somit, die benötigt werden, damit die verschiedenen Module der Hirnrinde miteinander kommunizieren können.
3. Inhalte
Die neuronalen Kommunikationsvorgänge transportieren Information und haben somit, wie
Kommunikation generell, bestimmte intrinsische Inhalte. In einfachen Fällen enthält schon
die Spikefolge (Impulsrate) auf einer einzelnen Nervenfaser solche Inhalte. Die Spikefolge
2
könnte z.B. den Inhalt "Ah, Zehe am Stuhlbein gestoßen" tragen. Die Übertragung geschieht
mit dem konkreten Objekt 'Spikefolge auf dem Axon'. Die Bedeutung der Spikefolge muss
dem Empfänger des Signals, einem neuronalen Modul, natürlich bekannt sein. Dabei spielt
das Ortsprinzip (labeled line) eine wichtige Rolle: Information auf Axonen, die vom Zeh
kommen, werden auf den Zeh bezogen. Der Grund ist aber, dass diese Axone oder Bahnen in
dem Zehbereich des sensorischen Cortex enden und alles, was dort eintrifft, wird auf den Zeh
bezogen! Mehrere Prinzipien der neuronalen Codierung sind bekannt [4] und dass überhaupt
Codierung stattfindet, ist unstrittig (S.330ff in [5]). Was codiert wird, ist Information und Information bedeutet Inhalt [6, 7]. Wie Jerry Fodor sagen würde: "...there is no alternative" [8].
Wenn man verfolgt, wie die Sinnesinformation durch neuronale Instanzen weitergereicht
wird, findet man ein Hierarchie von Codierungen. Diese Hierarchie setzt sich vermutlich fort
bis zu den Phänomenen, die wir Gedanken und die wir Sprache nennen. Eben weil effiziente
Kommunikation mit Hilfe eines Codes erfolgt, sah Fodor keine Alternative für eine Gedankensprache (language of thought, LOT) [9]. Vor ihm haben sich Philosophen wie Frege, Russel und Wittgenstein mit dem Verhältnis von Gedanken und Sprache auseinandergesetzt. In
der Tat, eine mentale Syntax darf man wohl vermuten, im Geistigen geht es nicht chaotisch zu
(jedenfalls nicht immer). Ob sich aber die Gedankensprache nach der Muttersprache richtet,
wie Fodor vermutet? Oder nicht vielmehr die gesprochen Sprache nach der Gedankensprache? Mentalesisch wird die Gedankensprache auch genannt, der Dialekt des Geistes. Aber
was, genau, bedeutet 'des Geistes'?
4. Bewusstsein
Das Geistige, das wir ja subjektiv erleben, steht in einer direkten Abhängigkeit von der Tätigkeit unseres Gehirns. Man sagt: es superveniert über das Gehirn. Diese Abhängigkeit ist wohl
so beschaffen, dass das Neuronensystem Bewusstsein hervorruft (auf eine Weise, die noch
niemand versteht). Und alles das, was uns bewusst wird, das nennen wir das Geistige oder
Mentale. Damit hätten wir im Groben die Entscheidung getroffen, was wir 'das Mentale' nennen wollen. Aber wir können weiter gehen.
5. Transparenz
Es ist doch merkwürdig, dass wir Menschen von der Tätigkeit unseres Gehirns subjektiv fast
gar nichts wissen. Dieses für unser geistiges Leben und unsere menschliche Identität wichtigste Organ ist gewissermaßen transparent, es bleibt für uns unsichtbar. Von den mehr als 1010
Neuronen mit mehr als 1012 Synapsen [10] wissen wir subjektiv nichts, obwohl sie die Grundlage unseres geistigen Lebens sind. Den Grund für die Transparenz möchte ich in Form einer
Hypothese angeben. Es ist aber wenig Spekulation dabei, die Argumentation hat hoffentlich
etwas zwangsläufiges.
6. Hypothese-1
Bewusstsein heißt, dass einige besondere Inhalte neuronaler Kommunikationsvorgänge gewissermaßen gesammelt und betrachtet werden. Und die betrachteten Inhalte, der semantische
Aspekt der neuronalen Information, das ist das Mentale. Es umfasst emotionale und kognitive
Inhalte. Diese werden in einem 'Abstraktionsvorgang' von ihrem neuronalen Informationsträger abgelesen (nicht abgetrennt). Nur der Inhalt wird bewusst, die Technikalitäten des Trägers, der Kommunikation entgehen uns (Transparenz). Da wir nun recht komplexe Inhalte
'sehen' können, wird es der Inhalt mehrerer gleichzeitig ablaufender Kommunikationsprozesse
3
sein, der betrachtet wird. Dadurch erhält das Bewusstsein eine synthetische, integrierende
Funktion.
Was uns bewusst wird, sind Inhalte, die von neuronalen
Kommunikationsvorgängen abgelesen werden. Solche
Inhalte nennen wir 'das Mentale'.
Das Mentale nur deskriptiv, eine integrierende Inhaltsbewusstwerdung und sonst nichts? Ein
Kino? Nun, ohne einen Betrachter scheint ein Kino herzlich überflüssig. Wer kommt als Betrachter in Frage? Es könnte ein Teil unseres Neuronensystems sein, der die durch das Bewusstwerden gebündelte Information aufnimmt, dadurch die Rolle des Selbst spielt.
Dieses betrachtende Selbst müsste nicht einmal an einem Ort des Gehirns lokalisiert sein,
sondern es könnte die verteilten neuronalen Phänomene, die gerade bewusst werden, funktionell zusammenbinden. So konzipiert in dem 'Multiple Drafts'-Modell, das Daniel Dennett
1991 vorstellte und das ausdrücklich die Projektion an einen gesonderten Ort vermeidet [11].
Ob das Konzept zutrifft, wird sich zeigen, hier muss man die Resultate der empirischen Forschung zur Entstehung von Bewusstsein abwarte. Die philosophische Spekulation, jedenfalls,
hat die Frage des Selbst als Betrachter seit Descartes bearbeitet, ohne bis heute ein verbindliches Resultat vorlegen zu können.
Es versteht sich, dass dem Neuronensystem die abgelesenen Inhalte zur Verfügung bleiben,
sie sind ja in den Kommunikationsprozessen inhärent. Motorische Programme und neuronale
Kontroll-Leistungen wie Metakognition können von ihnen Gebrauch machen. Auch die so
entstehenden Inhalte etwa von kognitiven Kontrollvorgängen können dann wieder bewusst
werden.
7. Alltagspsychologie, Dualismus
Die Illusion des Mentalen als 'einer Welt für sich' ist eine Folge der Transparenz. Es gilt, diese
Illusion zu durchschauen. Wir sind nicht das Mentale, sondern wir sind vielmehr das, was
dem Mentalen als Konkretum zugrunde liegt.
8. Mentale Verursachung
gibt es nicht, denn das Mentale ist Inhalt, deshalb ist es als ein Abstraktum einzuordnen. Es ist
ja auch das Produkt eines Abstraktionsvorganges. Als Abstraktum, aber, kann das Mentale im
Konkreten nichts verursachen. Verursachung und Handlung finden vielmehr in der geschlossenen Kausalität des (konkreten) Neuronensystems statt. Auch die Handlungsabsichten und vorgänge werden uns bewusst und wegen der Transparenz haben wir dann das sichere Gefühl,
unser Geist hätte die Handlung verursacht. Das ist jedoch nicht der Fall. 'Wir' haben zwar verursacht, aber nicht auf der mentalen Ebene, sondern auf der neuronalen Ebene. Und auch das
Denken, auch Fodors LOT müsste sich dann nach den Regeln der neuronalen Welt ausrichten.
Mental würde nur ihr semantischer Aspekt verfügbar sein.
4
9. Benutzeroberfläche
Die Grenze zwischen dem Neuronensystem und den bewussten Inhalten ist nicht topologisch
zu verstehen, sondern ontologisch. Sie markiert eine Benutzeroberfläche, die uns das sehen
lässt, was wir sehen müssen. Andere Inhalte erspart sie uns, wenn wir uns nicht besonders
darum bemühen. Erkenntnis bedeutet, über den Rand dieser Oberfläche hinauszublicken.
Wenn wir diesen Blick wagen, dann finden wir den 'unsichtbaren Rest', uns selbst. Denn eigentlich (in der Realität des Konkreten) gibt es keine Trennung von Träger und Inhalt.
10. Fazit
Formal sind wir ein Konkretum, ein Körper in seinem evolutionären Zusammenhang, mit einem Neuronensystem mit seinem intrinsischen Kommunikationsinhalt. Mit Inhalten, Konzepten in seinem biologischen und seinem kulturellen Zusammenhang. Kein reines Geistwesen,
also, sondern ein ganzer Mensch.
Bibliographie:
1.
Koch und Hepp argumentierten 2006, dass quantenmechanische Effekte beim gegenwärtigen Erkenntnisstand nicht benötigt werden, um Hirnleistungen zu erklären.
2.
Koch, C. and K. Hepp, Quantum mechanics in the brain. Nature, 2006. 440: p. 611-612.
3.
Braitenberg, V. and A. Schüz, Cortex: Statistics and Geometry of Neuronal Connectivity. 2. ed. 1998,
Berlin: Springer-Verlag.
4.
Martin, J.H., Coding and Processing of Sensory Information, in Priciples of Neural Science, E.R. Kandel, J.H. Schwartz, and T.M. Jessel, Editors. 1991, Elsevier: New York. p. 329-352.
5.
Koch, C., Biophysics of Computation: Information processing in single neurons. 1998: Oxford University Press. 552.
6.
Lyre, H., Informationstheorie. Eine philosophisch-naturwissenschaftliche Einführung. 2002, Stuttgart:
UTB. 280.
7.
Morris, C.W., Foundations of the theory of signs, in International Encyclopedia of Unied Science, O.
Neurath, Editor. 1938, University of Chicago Press, Chicago, MI, USA.
8.
Fodor, J.A., Special Sciences, or The Disunity of Science as a Working Hypothesis, in Readings in Philosophy of Psychology, N. Block, Editor. 1980, Harvard: Cambridge, MA.
9.
Fodor, J.A., The Language of Thought. 1975, Cambridge, MA: Harvard University Press. 214.
10.
Shepherd, G.M., ed. The Synaptic Organization of the Brain. 4 ed. 1998, Oxford University Press: New
York. 638.
11.
Dennett, D.C., Consciousness explained. 1991, Boston, MA: Little Brown.
Dieses Dokument drucken
08.04.06
copyright invoco-verlag 2006
www.bernd-lindemann.de
Herunterladen