ERFÜLLTE SEXUALITÄT MIT MS Eine erfüllte und harmonische Sexualität gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Gerade auch für MS-Betroffene ist eine offene, verständnisvolle Kommunikation in diesem Bereich wichtig, da sie mit speziellen körperlichen und psychischen Herausforderungen konfrontiert sind. Der Vorgang von der sexuellen Erregung bis zum Orgasmus ist durch eine Vielzahl von körperlichen Reaktionen und deren zugrundeliegenden Nervenverschaltungen gekennzeichnet. Diese haben ihren Ursprung im Gehirn. Damit wird deutlich, dass Sexualität im Grunde genommen «im Kopf» stattfindet. Die Tatsache, dass das Gehirn an den Sexualvorgängen beteiligt ist, kann bei einer neurologischen Erkrankung wie der MS dazu führen, dass der Vorgang in seinen komplexen Abläufen an verschiedenen Schaltstellen gestört wird. Die sexuelle Reaktion kann in einzelne Phasen unterteilt werden, innerhalb derer sich verschiedene körperliche Prozesse abspielen. In der Erregungsphase werden von den Sinnesorganen sexuelle Reize an das Gehirn geleitet. Es kommt zu einer allgemeinen Erregung, die mit bestimmten körperlichen Reaktionen (Anstieg der Atemfrequenz, Veränderung der Herzrate, vermehrte Durchblutung der Genitalregion usw.) einhergeht. In der sich anschliessenden Plateauphase wird der gesamte Körper von einem lustbetonten Wohlgefühl erfasst (sex flush). Die Genitalregion ist besonders gut durchblutet, es kommt zu willkürlichen und unwillkürlichen Muskelanspannungen, der Körper wird allmählich auf den Orgasmus vorbereitet. Schliesslich kommt es in der Orgasmusphase zum sexuellen Höhepunkt mit Samenerguss (Ejakulation). Bei der Frau ist diese Phase durch rhythmische Anspannungen des Beckenbodens und der Scheidenmuskulatur gekennzeichnet. Den Abschluss der sexuellen Reaktion bildet die Rückbildungsphase, bei der sich die körper12 | Nr. 2 | Juni 2012 lichen Reaktionen allmählich wieder auf das Ursprungsniveau normalisieren. In allen der oben beschriebenen Phasen spielt neben dem körperlichen Aspekt aber auch die psychologische Komponente eine wichtige Rolle, zumal die Sexualität vom Kopf aus gesteuert wird. Lustvolle Vorstellungen, ungestörtes Lustempfinden, liebevolle Zuwendung und Zärtlichkeit vermitteln ein Gefühl der erfüllten Sexualität und damit der Geborgenheit. MS und Sexualität Die oben genannten Phasen können aus verschiedenen Gründen beeinträchtigt sein, wobei viele Sexualstörungen im Kopf entstehen und sich aus psychologischen Problemen ergeben. Dies ist bei Menschen mit MS nicht anders als bei gesunden Menschen. Die Beeinträchtigungen, die tatsächlich im Zusammenhang mit der MS stehen können, lassen sich in primäre, sekundäre und tertiäre sexuelle Funktionsstörungen unterscheiden. Als primäre sexuelle Funktionsstörungen werden Störungen verstanden, die durch einen Verlust an sexueller Energie (Libidoverlust) gekennzeichnet sind. Hierzu gehören MS-bedingte Missempfindungen im Genitalbereich oder eine eingeschränkte Orgasmusfähigkeit aufgrund einer durch die MS verursachten Reizleitungsstörung. Bei Männern äussern sich primäre sexuelle Funktionsstörungen beispielsweise durch Schwierigkeiten, eine Erektion zu erreichen oder aufrechtzuerhalten oder aber durch eine Abnahme der Intensität oder Häufigkeit des Samenergusses. Bei Frauen kann es dagegen zu einer verringerten Gleitfä- LE R BEP NOM RTAG IT M E S higkeit der Vagina oder zu einem Verlust der Muskelspannung der Scheide kommen. Unter die sekundären sexuellen Funktionsstörungen fallen Symptome, die sich nicht direkt auf die Nervenbahnen des Genitalsystems beziehen, aber eine deutliche, wenn auch indirekte Auswirkung auf die Sexualfunktionen haben. Hierzu gehören Blasen- und Darmprobleme, Muskelschwäche, Spastizität und Tremor, aber auch eine für MS typische, abnorme Ermüdbarkeit (Fatigue). Um herauszufinden, inwieweit sexuelle Schwierigkeiten bei MSBetroffenen auf primären oder sekundären Störungen beruhen, sind eine Aussprache mit dem Arzt und gegebenenfalls eine körperliche Untersuchung unabdingbar. Gegen die Störungen auf all den genannten Ebenen gibt es eine Vielzahl von Hilfsmitteln, Medikamenten und Techniken, die im Einzelfall eine deutliche Linderung bewirken können. Tertiäre Sexualprobleme beziehen sich auf körperliche und emotionale Änderungen, die mit einem veränderten Selbstwertund Körpergefühl der MS-Betroffenen einhergehen. Tatsächlich kann die blosse Sorge oder Angst vor einer bestehenden oder möglichen Behinderung das Selbstbild eines Menschen nachteilig beeinflussen und sich negativ auf das Sexualleben auswirken. Manch einer empfindet vielleicht eine starke Ermüdbarkeit, fühlt sich zudem unattraktiv, sexuell nicht mehr begehrenswert und hat dadurch die Sorge, dem Partner sexuell nicht zu genügen. Die Schwierigkeit, über Sex zu sprechen Schwierigkeiten im Sexualleben können sich auch bei gesunden Menschen einstellen. Psychosoziale Belastungen wie Stress am Arbeitsplatz, familiäre Probleme oder zwischenmenschliche Schwierigkeiten sind häufig Ursachen für ein nachlassendes Interesse an Sex. Problematisch wird dies bei Partnerschaften mit einem MS-Betroffenen dadurch, dass sich diese allgemeinen Probleme zusammen mit den MS-bedingten Schwierigkeiten zu einer «unheiligen Allianz» vereinigen. So können allgemeine psychosoziale Belastungen die MS-bedingten Schwierigkeiten zusätzlich verstärken. Umgekehrt können auch die MS-spezifischen Schwierigkeiten allgemeine Probleme verursachen. In beiden Fällen können Sexualprobleme als das Ergebnis eines Ungleichgewichts zwischen seelischer Ausgeglichenheit und körperlicher Funktionstüchtigkeit interpretiert werden. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Eine MS-bedingte Lähmungserscheinung kann zu einer veränderten Körperhaltung führen. Diese kann wiederum das Körperempfinden verändern. Wir nehmen unser Erscheinungsbild insgesamt anders wahr, unser Spiegelbild entspricht nicht mehr demjenigen unserer Idealvorstellung. Wir sehen uns also im wahrsten Sinne des WorFORTE MEIENBERGS MEINUNG Der Trickdieb Letzthin bin ich wieder mal einkaufen gefahren. Ich hatte eben gerade vor dem Zentrum parkiert, meinen Rollstuhl mit dem praktischen System aus meinem Auto geladen und mich in den Rollstuhl gesetzt, als ein netter Herr auf mich zukam und in gebrochenem Deutsch fragte, ob ich Kleingeld habe – er müsse dringend telefonieren. Hilfsbereit wie ich bin, klaubte ich mein Portemonnaie hervor und suchte das «Münz» heraus. Was mich sehr störte, waren seine hektischen Finger, die genau auf die Münzen zeigten, die er brauchte. Unwillig klaubte ich ein paar hervor und klappte es wieder zu. Dann sagte ich ihm, das Geld sei geschenkt und rollte ins Geschäft. Und als ich dann an der Kasse war und meine Einkäufe bezahlen wollte, musste ich feststellen, dass mir der nette Mann meine 200 Franken in Noten geklaut hatte. Das sagte ich der Kassiererin, worauf sofort die Polizei gerufen wurde. Diese bestätigte mir dann auch, dass im Moment verschiedene solcher Trickdiebe unterwegs seien. Rund zwei Wochen später musste ich dann auf die Hauptwache in Zürich, wo mir über 170 Tatverdächtige auf Fotos gezeigt wurden, die ich natürlich nicht mit grosser Sicherheit identifizieren konnte. Bei allem Ärger, der mich der Dieb gekostet hat, komme ich nicht um eine stille Bewunderung über seine Geschicklichkeit herum. Auch wenn ich mir dabei wie ein Volltrottel vorgekommen bin. Nr. 2 | Juni 2012 | 13 LE R BEP NOM RTAG IT M E S tes mit einem veränderten Selbstbild konfrontiert. Hierdurch drängen sich Gedanken auf wie: «Ich habe mich zum Nachteil verändert», «So, wie ich gehe, wirke ich krank und unselbständig» oder einfach: «Ich bin nicht mehr attraktiv.» Tatsächlich hat Attraktivität nach unserem allgemeinen Verständnis auch etwas mit physischer Unversehrtheit und Unabhängigkeit zu tun. Werden diese als bedroht wahrgenommen, so ändert sich das Selbstbild, und unser Selbstbewusstsein leidet. Dies kann sich langfristig auf das Rollenverhalten innerhalb einer Partnerschaft auswirken. Wenn durch die MS eine unterstützungs- oder pflegebedingte Abhängigkeit vom Partner entsteht, kommen zusätzliche Rollen und Rollenerwartungen auf die Partner zu, die einem unbeschwerten Sexualleben im Wege stehen. Darüber hinaus kann die sexuelle Genussfähigkeit durch die Tatsache gemindert werden, dass die körperliche Pflege des MS-Betroffenen durch den wohlmeinenden und unterstützungsbereiten gesunden Partner ausgeführt wird. Wenn der gesunde Partner die körperliche Pflege des Betroffenen übernimmt, wird es ihm schwerfallen, die Rolle des Versorgers zeitweilig zu verlassen, um den Partner als Objekt des sexuellen Begehrens zu sehen. Zur Vermeidung dieses Rollenkonfliktes sollten in einer Partnerschaft, wo Sexualität und körperliche Nähe ein wichtiges Thema sind, bestimmte Pflege- und Hygienemassnahmen (z.B. Katheterisieren oder Intimpflege) idealerweise nicht vom Partner übernommen werden. Die Reaktion des Partners Probleme bei der Sexualität müssen jedoch nicht notwendigerweise vom MS-Betroffenen ausgehen. Auch beim Partner mögen sich Unsicherheiten einstellen. Die Angst, den anderen sexuell zu überfordern, ihm zu viel Energie abzuverlangen, oder aber auch eine gut gemeinte Rücksichtnahme können dazu führen, VERANSTALTUNGEN Weekend für 18- bis 30-Jährige Bei einer MS-Diagnose in jungen Jahren stellen sich viele Fragen zum Beziehungs- und Liebesleben. Dieses Wochenende bietet Raum, um sich mit solchen Fragen in einem kleinen Kreis auseinanderzusetzen. 19.–21. Oktober 2012, Richterswil Zeit für Zweisamkeit Dieses Wochenende lädt Sie dazu ein, sich als Paar in geleiteten Gesprächen mit dem Thema der Kommunikation auseinanderzusetzen und verschiedene Gesprächstechniken zu üben. 20.–21. Oktober 2012, Interlaken Weitere Informationen auf www.multiplesklerose.ch FORTE dass der gesunde Partner seine eigenen sexuellen Wünsche unterdrückt, unsicher wird und sich schliesslich zurückzieht. Unmut bis hin zur Entfremdung in der Partnerschaft können die Folge sein. Kommunikation ist unerlässlich Durch nicht ausgesprochene Sorgen, Vorstellungen und Bedürfnisse kann es zu Missverständnissen in der Partnerschaft kommen. Diese Missverständnisse können sich im Laufe der Zeit verstärken und die Kommunikation innerhalb einer Beziehung deutlich beeinträchtigen. Ist es so weit gekommen, kann es sinnvoll sein, eine Ärztin oder einen Psychotherapeuten hinzu- TIPPS – LET’S TALK ABOUT SEX ■ Notieren Sie Ihre sexuellen Wünsche und Gedanken. Dies kann Ihnen helfen, sich zunächst über Ihre eigenen Empfindungen und Befürchtungen im Klaren zu werden, um diese dann gegenüber Ihrem Partner besser äussern zu können: Welche körperlichen Beschwerden behindern mich am meisten beim Sex? Welche Gefühle und Assoziationen habe ich, wenn ich an die MS und mein Sexualleben denke? Welche Erwartungen habe ich an meinen Partner? ■ Lassen Sie sich bei Ihren Gedanken zur Sexualität nicht von vermeintlichen «Normen» leiten: Es gibt keine Normen über Häufigkeit, Intensität und Qualität des Sexuallebens. ■ Achten Sie darauf, dass Sie beim Sortieren Ihrer Gedanken nicht in eine pure «Mängelliste» verfallen. Heben Sie auch die angenehmen Situationen und Gefühle in Ihrem Sexualleben hervor: Was tut mir besonders gut? Was würde ich mir in Zukunft wünschen? Wobei fühle ich mich am wohlsten? ■ Wählen Sie den richtigen Zeitpunkt, die passende Atmosphäre und den richtigen Ort für ein solches Gespräch. Nach einem entspannten Abendessen in intimer Atmosphäre lässt sich Vertrautheit schaffen, um auch heikle Themen anzugehen. ■ Stehen Sie zu Ihren Gefühlen und reden Sie darüber, ohne jedoch den anderen für seine vermeintliche Haltung zu kritisieren. Achten Sie auf das Miteinander und geben Sie ihrem Partner die Möglichkeit, die Sachlage aus seiner Sicht zu beschreiben. ■ Werden Sie konkret. Schildern Sie Ihrem Partner möglichst anschaulich, was Sie sich wünschen oder welche Situationen Ihnen angenehm sind. ■ Scheuen Sie sich nicht, professionelle Hilfe (Arzt, Therapeutin) in Anspruch zu nehmen. Für viele MSbedingte Sexualprobleme gibt es Hilfsmittel, Techniken und Medikamente. Nr. 2 | Juni 2012 | 15 LE B E N M IT M S zuziehen, damit diese unbefangen die Angelegenheit entzerren oder zumindest das Gespräch hierüber in Gang setzen können. Oftmals bilden unangemessene Erwartungen und Schamgefühle eine nur schwer zu überwindende Hürde in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit diesem Thema. Über Sexualität zu sprechen, ist kein leichtes Unterfangen. Wenn dieser Lebensbereich auch noch mit Problemen behaftet ist, dann erscheint das Gespräch hierüber umso schwieriger. Sexualität in der Partnerschaft ist intimste Kommunikation in einem geschützten Raum, den wir gemeinsam mit unserem Partner entstehen lassen. Wenn es mit dieser Kommunikation nicht mehr klappt, ist es unerlässlich, darüber zu sprechen und vor allem das Warum zu ergründen. Kurzum, es ist besonders wichtig, offen und ehrlich miteinander zu sprechen. Für manch einen von uns gilt es, beim offenen Gespräch über Sexualität vermeintliche Tabus zu brechen oder sich über moralische Grenzen hinwegzusetzen. Text: Prof. Dr. Pasquale Calabrese, Berater für Psychotherapie, Neuropsychologie und Verhaltensneurologe bei der Schweiz. MS-Gesellschaft FORSCHUNGSTEAMS AUSGEZEICHNET Mit dem «Biogen Idec Switzerland Research Award for Multiple Sclerosis of the Swiss MS Society» wurden zwei Schweizer Forschungsarbeiten ausgezeichnet. Die aktuellen Preisträger sind Dr. Laura Codarri und Dr. Gabor Gyulveszi, PhD, Zürich, sowie Dr. med. Matthias Mehling, Basel, mit ihren jeweiligen Teams. Zum vierten Mal Der mit einem Preisgeld von je 25’000 Franken dotierte «Biogen Idec Switzerland Research Award for Multiple Sclerosis of the Swiss MS Society» wurde zum vierten Mal verliehen. Er hat sich damit regelrecht zu einer Tradition in der Schweizer Neurologie-Landschaft entwickelt. Das Jurymitglied Prof. Dr. med. Ludwig Kappos mit den Preisträgern Dr. Laura Codarri, Dr. Gabor Gyulveszi, PhD, Dr. med. Matthias Mehling und Dr. med. Martin Traber von Biogen Idec Switzerland AG (v.l.n.r.) Mobilität ist Lebensqualität Alles aus einer Hand ō 2UWKRSÃGLHWHFKQLN ō 5HKDELOLWDWLRQVWHFKQLN ō 5ROOVWXKOYHUNDXIXQG6HUYLFH ō )DKU]HXJXPEDX ō IQNRQWLQHQ]DUWLNHO :LUEHUDWHQ6LHJHUQH Orthotec AG | Postfach | CH-6207 Nottwil | T +41 41 939 56 06 | F +41 41 939 56 40 [email protected] | www.orthotec.ch 16 | Nr. 2 | Juni 2012