Manuskript 2007 Städte schützen Klima

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Viel mehr als durch kleinliche Dekrete kann Europa durch den Verzicht
auf die Schaffung „gleicher Lebensverhältnisse“ zur Erhaltung
der Erdatmosphäre beitragen
Städte schützen das Klima
Von Gerd Held
D
ie europäische Politik vollzieht eine
erstaunliche Wendung ins Große.
Rund um den EU-Klimagipfel war vom
„Vorstoß in neue Dimensionen“ die Rede,
der französische Präsident sprach gleich
von einer „dreifachen Revolution“. Große
Worte. Aber hatten dieselben Leute, die da
erklärten, Geschichte schreiben zu werden,
nicht gerade erst gesagt, dass bei der Reform unserer Sozialsysteme nur ganz kleine Schritte möglich seien? Tatsächlich
stehen – in Deutschland wie in Frankreich
– im Gesundheitswesen, in der Rentenversicherung, auf dem Arbeitsmarkt und nicht
zuletzt bei der Staatsverschuldung die wesentlichen Strukturreformen noch aus.
Weiterhin regiert hier das Gesetz des Unmerklichen und Finanzlücken sollen durch
eine Erwärmung der Konjunktur gedeckt
werden. Die Größe eines Politikthemas ist
keine Garantie für große Politik. Die These, dass der Klimawandel „vom Menschen
verursacht“ sei, ist dabei weniger radikal,
als sie erscheint. Denn sie legt den Schluss
nahe, dass die Menschen das, was sie getan
haben, auch ebenso leicht aus eigenem
Willen unterlassen könnten. Nicht zufällig
wird die These von der „Ursache Mensch“
sofort in alle möglichen technischen Ratschläge, Verbote und Versprechen übersetzt. Motoren, Heizkessel und Glühbirnen
beherrschen die Diskussion. Wenn das
Klima als machbar vorgestellt wird, regiert
ein leichtsinniger Machbarkeitswahn.
Die humanen Verstrickungen sind jedoch
größer. Es geht nicht nur um eine Konsumgesellschaft, die immer Wahlmöglichkeiten hat, sondern um eine Weltgesellschaft der Menschenwürde. Der zusätzliche Emissionsschub in die Erdatmosphäre
ist damit verbunden, dass zusätzliche Milliarden Menschen einen halbwegs regelmäßigen Arbeitsplatz, eine Kleinstwohnung mit Licht, Wasser, Abfallbeseitigung
und eine warme Mahlzeit pro Tag bekommen, dass sie Familien gründen können
und eine elementare Versorgung mit Bildung und Medizin haben. Menschenwürde
hat eine sehr materielle Dimension.
Europa müsste nur das eigene 19. Jahrhundert betrachten, um sich zu erinnern,
dass allgemeine Menschenrechte nicht
emissionsfrei zu haben sind. Sie ragen gewissermaßen in die Erdatmosphäre hinein.
Wer aber könnte den Anspruch erheben,
über die weltweite Zuteilung solcher Rechte zu entscheiden? Kein Mensch hat diese
große Hand, auch kein Weltklimarat kann
sich dazu ermächtigen. So müssen wir uns
auf einer ganz prinzipiellen ebene – in
Respekt vor der Milliardengattung Mensch
– wohl damit abfinden, dass ein gewisser
Grad an Klimawandel auf uns zukommt
wie der oft zitierte Meteorit aus dem All.
D
ie Einflussmöglichkeit des Politischen
liegt eine ganze Maßstabsebene tiefer.
Aber sie ist dennoch bedeutend. Man soll
hier zunächst an die großen kulturlandschaftlichen Konstruktionsarbeiten denken:
an die Terrassierung von Bergen, an die
Trockenlegung der Fiebersümpfe, an die
Bewässerungsnetze und den Deichbau.
Diese großen Werke haben immer einen
doppelten Charakter. Sie entlasten die
Umwelt und sie schützen vor ihr. Sie erschließen neue Lebensmöglichkeiten, ohne
die Umwelt im gleichen Maß zu plündern,
und sie wehren Gefahren aus der Umwelt
ab, ohne diese Gefahren ganz zu beheben.
Sie bewegen sich auf einem mittleren Weg
zwischen Umweltveränderung und Umweltanpassung.
Das gilt noch stärker für beiden größten
erdformenden Werke der Menschen: den
Städtebau und das Verkehrswesen. Man
stelle sich nur einen Moment lang vor, die
Menschheit würde nur einzelne Häuser und
individuelle Wege kennen – sie würde keine drei Tage überleben. Nur die großen
Städte und Verkehrsachsen bieten mit ihren Skaleneffekten die Möglichkeit,
Mensch und Umwelt zugleich zu schützen.
Sie bieten auch jetzt den größten Hebel der
Emissionsmäßigung. Was nutzt ein NullEnergie-Haus, wenn es flächenfressend in
der Landschaft steht und neue Wegeaufwände nach sich zieht?
Bei genauerer Betrachtung entlastet unser
Siedlungssystem die Erde durch Systemeffekte der Ungleichheit: Es bildet eine Hierarchie großer und kleiner Städte und eine
Unterscheidung zwischen Aktiv- und Passivräumen. Die Umweltbilanz der größeren
europäischen Länder sähe fundamental
schlechter aus, wenn hier nicht im Laufe
der Jahrhunderte auch ein Leerziehen größerer Räume erfolgt wäre. Die Ersparung
von wegen bewirkt viel mehr als eine
Tempovorschrift auf diesen Wegen. Die
neuere Politik aber scheint die großen Hebel der Siedlungsordnung, die viele kleinliche Verhaltensvorschriften ersparen, gering zu schätzen – sie scheint sie sogar mit
aller Kraft konterkarieren zu wollen. Sie
gibt Unsummen für eine sowieso nur fiktive „Gleichheit der Lebensbedingungen“
aus. Sie verteilt höherrangige Bildungs-,
Gesundheits- und Kultureinrichtungen in
niederrangige Orte - mit horrenden Folgekosten für das hundert- und tausendfache
Nebeneinander gleicher Anlagen in einem
Land. Es ist die vielgepriesene „multipolare“ europäische Projektkultur, die unsere
Autobahnen, ICEs und Flughäfen füllt –
und besonders die regionalen Anlagen aufbläht. Immer noch ist ein großer Teil des
EU-Budgets für das Ziel eines engmaschigen räumlichen Ausgleichs bestimmt. Die
zusätzlichen Umweltkosten dieses Versuchs, Europa auf regionaler Ebene auszu-
gleichen und so gewissermaßen „an den
Nationen vorbei“ zu bauen, hat noch niemand seriös kalkuliert. Tatsache ist, dass
hier ein immenser Naturumbau – ein „Verflachen“ der europäischen Welt – im Gang
ist. Dessen Umweltkosten sind höher als
die Fortschritte, die man durch kleine Veränderungen bei Gerät und Verhalten erzielen kann.
U
nd noch ein zweiter großer Hebel
wartet darauf, eingesetzt zu werden:
Die Sanierung der Sozialsysteme, deren
Finanzierungsnöte ja immer wieder zum
Anheizen der Konjunktur (und damit zu
zusätzlichen Umweltbelastungen) treiben.
Dass der Cashflow von Steuern und Sozialabgaben etwas mit der Umwelt zu tun
hat, wird freilich durch die gegenwärtige
Form der Emissionsbuchführung verschleiert. Emissionen werden nur dem zugerechnet, der sie unmittelbar physisch
generiert – nicht dem, der seine Existenz
indirekt aus den Erträgen dieser Aktivitäten speist. Eine Bank, eine Verwaltung,
eine Universität oder ein Altersheim wirkt
immer unschuldiger als ein Industriebetrieb. Das feine Düsseldorf steht neben den
Duisburger Schornsteinen immer gut da.
Auch der „postmaterialistische“ Student
ignoriert gerne, welche Stoffbewegungen
an den Steuergeldern hängen, die seinen
Studienplatz finanzieren. Das gilt heute
auch im internationalen Maßstab. Wenn
Deutschland industrielle Produktionsstätten ins Ausland verlagert und nur die Entwicklung, Endmontage und Vermarktung
im Land lässt, sieht das in der Emissionsbuchführung gut aus. Das deutsche Bruttosozialprodukt „entmaterialisiert“ sich,
heißt es. Aber nur auf Grund einer Rechenmethode, die den Herstellungsteil in
der Wertschöpfungskette mit seinen größeren Umweltlasten, dem ausgelagerten Zulieferer anrechnet. Die übertragenen Geldwerte werden auf diese Weise physisch
reingewaschen. Es ist kein Geheimnis, dass
die oft gelobten deutschen Emissionsverringerungen der letzten Jahre zum überwiegenden Teil solchen Verlagerungen zu
verdanken sind. Auch Europa insgesamt
rechnet sich so gegenüber den Schwellenländern ein gutes Gewissen.
Es geht um mehr als um Unehrlichkeit.
Denn es sind gerade die weitgefächerten
und umlagefinanzierten Sozialsysteme des
alternden Europa, die am Tropf der internationalen Arbeitsteilung hängen. Der neue
weltweite Schub von Emissionen geht vor
allem auf die Aktivität der Schwellenländer zurück. Aber die deutschen Sozialleistungen sind Monat für Monat mit dieser
Aktivität verbunden. Je mehr die sozialen
Ansprüche wachsen und je weniger sie
durch eigene Rücklagen gedeckt sind, umso kurzatmiger sind wir auf die Transfusionen aus der globalen Wertschöpfung angewiesen – aus sozialen Gründen also.
Hier ist ein Teufelskreis installiert, dessen
Sprengkraft eine neue Dimension hat. Es
ist nicht ausgemacht, ob die „Drogenabhängig“ der USA vom PKW-Sprit nicht
leichter zu entschärfen ist als die soziale
Transferabhängigkeit Europas.
D
amit aber führt die Klimapolitik zurück auf die alten Baustellen unseres
Landes. Ohne einschneidende Sozialreformen und ohne eine Korrektur der
Raumordnungspolitik haben wir die Hände
zum Klimaschutz – soweit dieser überhaupt in unseren Händen liegt – nicht frei.
Vielleicht braucht man also gleich nach
Ausrufung der großen Klimapolitik ein
Moratorium und eine Art Doppelbeschluss:
Erst wenn Sozialreform und Raumordnung
ein Stück weiter ist, können wir richtig
anfangen.
(Manuskript vom 25.3.2007, erschienen als
Essay in der Tageszeitung „Die Welt“ am
31.3.2007)
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