Viel mehr als durch kleinliche Dekrete kann Europa durch den Verzicht auf die Schaffung „gleicher Lebensverhältnisse“ zur Erhaltung der Erdatmosphäre beitragen Städte schützen das Klima Von Gerd Held D ie europäische Politik vollzieht eine erstaunliche Wendung ins Große. Rund um den EU-Klimagipfel war vom „Vorstoß in neue Dimensionen“ die Rede, der französische Präsident sprach gleich von einer „dreifachen Revolution“. Große Worte. Aber hatten dieselben Leute, die da erklärten, Geschichte schreiben zu werden, nicht gerade erst gesagt, dass bei der Reform unserer Sozialsysteme nur ganz kleine Schritte möglich seien? Tatsächlich stehen – in Deutschland wie in Frankreich – im Gesundheitswesen, in der Rentenversicherung, auf dem Arbeitsmarkt und nicht zuletzt bei der Staatsverschuldung die wesentlichen Strukturreformen noch aus. Weiterhin regiert hier das Gesetz des Unmerklichen und Finanzlücken sollen durch eine Erwärmung der Konjunktur gedeckt werden. Die Größe eines Politikthemas ist keine Garantie für große Politik. Die These, dass der Klimawandel „vom Menschen verursacht“ sei, ist dabei weniger radikal, als sie erscheint. Denn sie legt den Schluss nahe, dass die Menschen das, was sie getan haben, auch ebenso leicht aus eigenem Willen unterlassen könnten. Nicht zufällig wird die These von der „Ursache Mensch“ sofort in alle möglichen technischen Ratschläge, Verbote und Versprechen übersetzt. Motoren, Heizkessel und Glühbirnen beherrschen die Diskussion. Wenn das Klima als machbar vorgestellt wird, regiert ein leichtsinniger Machbarkeitswahn. Die humanen Verstrickungen sind jedoch größer. Es geht nicht nur um eine Konsumgesellschaft, die immer Wahlmöglichkeiten hat, sondern um eine Weltgesellschaft der Menschenwürde. Der zusätzliche Emissionsschub in die Erdatmosphäre ist damit verbunden, dass zusätzliche Milliarden Menschen einen halbwegs regelmäßigen Arbeitsplatz, eine Kleinstwohnung mit Licht, Wasser, Abfallbeseitigung und eine warme Mahlzeit pro Tag bekommen, dass sie Familien gründen können und eine elementare Versorgung mit Bildung und Medizin haben. Menschenwürde hat eine sehr materielle Dimension. Europa müsste nur das eigene 19. Jahrhundert betrachten, um sich zu erinnern, dass allgemeine Menschenrechte nicht emissionsfrei zu haben sind. Sie ragen gewissermaßen in die Erdatmosphäre hinein. Wer aber könnte den Anspruch erheben, über die weltweite Zuteilung solcher Rechte zu entscheiden? Kein Mensch hat diese große Hand, auch kein Weltklimarat kann sich dazu ermächtigen. So müssen wir uns auf einer ganz prinzipiellen ebene – in Respekt vor der Milliardengattung Mensch – wohl damit abfinden, dass ein gewisser Grad an Klimawandel auf uns zukommt wie der oft zitierte Meteorit aus dem All. D ie Einflussmöglichkeit des Politischen liegt eine ganze Maßstabsebene tiefer. Aber sie ist dennoch bedeutend. Man soll hier zunächst an die großen kulturlandschaftlichen Konstruktionsarbeiten denken: an die Terrassierung von Bergen, an die Trockenlegung der Fiebersümpfe, an die Bewässerungsnetze und den Deichbau. Diese großen Werke haben immer einen doppelten Charakter. Sie entlasten die Umwelt und sie schützen vor ihr. Sie erschließen neue Lebensmöglichkeiten, ohne die Umwelt im gleichen Maß zu plündern, und sie wehren Gefahren aus der Umwelt ab, ohne diese Gefahren ganz zu beheben. Sie bewegen sich auf einem mittleren Weg zwischen Umweltveränderung und Umweltanpassung. Das gilt noch stärker für beiden größten erdformenden Werke der Menschen: den Städtebau und das Verkehrswesen. Man stelle sich nur einen Moment lang vor, die Menschheit würde nur einzelne Häuser und individuelle Wege kennen – sie würde keine drei Tage überleben. Nur die großen Städte und Verkehrsachsen bieten mit ihren Skaleneffekten die Möglichkeit, Mensch und Umwelt zugleich zu schützen. Sie bieten auch jetzt den größten Hebel der Emissionsmäßigung. Was nutzt ein NullEnergie-Haus, wenn es flächenfressend in der Landschaft steht und neue Wegeaufwände nach sich zieht? Bei genauerer Betrachtung entlastet unser Siedlungssystem die Erde durch Systemeffekte der Ungleichheit: Es bildet eine Hierarchie großer und kleiner Städte und eine Unterscheidung zwischen Aktiv- und Passivräumen. Die Umweltbilanz der größeren europäischen Länder sähe fundamental schlechter aus, wenn hier nicht im Laufe der Jahrhunderte auch ein Leerziehen größerer Räume erfolgt wäre. Die Ersparung von wegen bewirkt viel mehr als eine Tempovorschrift auf diesen Wegen. Die neuere Politik aber scheint die großen Hebel der Siedlungsordnung, die viele kleinliche Verhaltensvorschriften ersparen, gering zu schätzen – sie scheint sie sogar mit aller Kraft konterkarieren zu wollen. Sie gibt Unsummen für eine sowieso nur fiktive „Gleichheit der Lebensbedingungen“ aus. Sie verteilt höherrangige Bildungs-, Gesundheits- und Kultureinrichtungen in niederrangige Orte - mit horrenden Folgekosten für das hundert- und tausendfache Nebeneinander gleicher Anlagen in einem Land. Es ist die vielgepriesene „multipolare“ europäische Projektkultur, die unsere Autobahnen, ICEs und Flughäfen füllt – und besonders die regionalen Anlagen aufbläht. Immer noch ist ein großer Teil des EU-Budgets für das Ziel eines engmaschigen räumlichen Ausgleichs bestimmt. Die zusätzlichen Umweltkosten dieses Versuchs, Europa auf regionaler Ebene auszu- gleichen und so gewissermaßen „an den Nationen vorbei“ zu bauen, hat noch niemand seriös kalkuliert. Tatsache ist, dass hier ein immenser Naturumbau – ein „Verflachen“ der europäischen Welt – im Gang ist. Dessen Umweltkosten sind höher als die Fortschritte, die man durch kleine Veränderungen bei Gerät und Verhalten erzielen kann. U nd noch ein zweiter großer Hebel wartet darauf, eingesetzt zu werden: Die Sanierung der Sozialsysteme, deren Finanzierungsnöte ja immer wieder zum Anheizen der Konjunktur (und damit zu zusätzlichen Umweltbelastungen) treiben. Dass der Cashflow von Steuern und Sozialabgaben etwas mit der Umwelt zu tun hat, wird freilich durch die gegenwärtige Form der Emissionsbuchführung verschleiert. Emissionen werden nur dem zugerechnet, der sie unmittelbar physisch generiert – nicht dem, der seine Existenz indirekt aus den Erträgen dieser Aktivitäten speist. Eine Bank, eine Verwaltung, eine Universität oder ein Altersheim wirkt immer unschuldiger als ein Industriebetrieb. Das feine Düsseldorf steht neben den Duisburger Schornsteinen immer gut da. Auch der „postmaterialistische“ Student ignoriert gerne, welche Stoffbewegungen an den Steuergeldern hängen, die seinen Studienplatz finanzieren. Das gilt heute auch im internationalen Maßstab. Wenn Deutschland industrielle Produktionsstätten ins Ausland verlagert und nur die Entwicklung, Endmontage und Vermarktung im Land lässt, sieht das in der Emissionsbuchführung gut aus. Das deutsche Bruttosozialprodukt „entmaterialisiert“ sich, heißt es. Aber nur auf Grund einer Rechenmethode, die den Herstellungsteil in der Wertschöpfungskette mit seinen größeren Umweltlasten, dem ausgelagerten Zulieferer anrechnet. Die übertragenen Geldwerte werden auf diese Weise physisch reingewaschen. Es ist kein Geheimnis, dass die oft gelobten deutschen Emissionsverringerungen der letzten Jahre zum überwiegenden Teil solchen Verlagerungen zu verdanken sind. Auch Europa insgesamt rechnet sich so gegenüber den Schwellenländern ein gutes Gewissen. Es geht um mehr als um Unehrlichkeit. Denn es sind gerade die weitgefächerten und umlagefinanzierten Sozialsysteme des alternden Europa, die am Tropf der internationalen Arbeitsteilung hängen. Der neue weltweite Schub von Emissionen geht vor allem auf die Aktivität der Schwellenländer zurück. Aber die deutschen Sozialleistungen sind Monat für Monat mit dieser Aktivität verbunden. Je mehr die sozialen Ansprüche wachsen und je weniger sie durch eigene Rücklagen gedeckt sind, umso kurzatmiger sind wir auf die Transfusionen aus der globalen Wertschöpfung angewiesen – aus sozialen Gründen also. Hier ist ein Teufelskreis installiert, dessen Sprengkraft eine neue Dimension hat. Es ist nicht ausgemacht, ob die „Drogenabhängig“ der USA vom PKW-Sprit nicht leichter zu entschärfen ist als die soziale Transferabhängigkeit Europas. D amit aber führt die Klimapolitik zurück auf die alten Baustellen unseres Landes. Ohne einschneidende Sozialreformen und ohne eine Korrektur der Raumordnungspolitik haben wir die Hände zum Klimaschutz – soweit dieser überhaupt in unseren Händen liegt – nicht frei. Vielleicht braucht man also gleich nach Ausrufung der großen Klimapolitik ein Moratorium und eine Art Doppelbeschluss: Erst wenn Sozialreform und Raumordnung ein Stück weiter ist, können wir richtig anfangen. (Manuskript vom 25.3.2007, erschienen als Essay in der Tageszeitung „Die Welt“ am 31.3.2007)