Angleichung der Sozialsysteme in der EU – eine unlösbare Aufgabe?

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Verein Sicherung des Friedens e.V.
Hanns-Seidel-Stiftung
München, 8. April 2013
Vortragsreihe 2013: „Mehr Globalisierung – quo vadis Nationalstaat?“
Referent: Prof. Dr. Wolfgang Bonß
„Angleichung der Sozialsysteme in der EU – eine unlösbare Aufgabe?“
Den zweiten Vortrag der Reihe 2013 „Mehr Globalisierung – quo vadis Nationalstaat?“ hielt am
8. April 2013 Herr Prof. Dr. Wolfgang Bonß, Jg. 1952, Universität der Bundeswehr München,
Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften, Institut für Soziologie und Volkswirtschaftslehre.
Prof. Bonß gliedert seinen Vortrag wie folgt:
1) Was sind „Sozialsysteme“?
2) Traditionen und Ausgestaltung der Sozialsysteme in der EU
3) Zur Effizienz der unterschiedlichen Sozialsysteme
4) Zur Entwicklung der Harmonisierung der Sozialsysteme in der EU
5) Harmonisierung vs. Koordinierung der Sozialsysteme
1) Was sind „Sozialsysteme“?
Das Sozialsystem einer Volkswirtschaft bezeichnet die über Steuern und Sozialabgaben
finanzierten Absicherungen für die Bevölkerung. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es
unterschiedliche Einschätzungen der Sozialsysteme in der ökonomischen Theorie, deren
wesentliche Hauptrichtungen sind zu einen die Neoklassik (Sozialsysteme hier mit möglichst
geringer Ausprägung, langfristig sogar überflüssig), zum anderen der Keynesianismus (Ausbau
der Sozialsysteme ist erforderlich, um Ökonomie voranzutreiben).
Die Elemente sozialer Sicherungssysteme sind
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Gesundheitssicherung
Alterssicherung
Sicherung bei Arbeitslosigkeit
Sicherung bei Arbeitsunfall und Berufskrankheit
Übernahme bzw. Dämpfung von Familienlasten (z.B. Kindergeld)
Sicherung eines sozio-kulturellen Existenzminimums
Die ersten vier Handlungsfelder: Krankenversicherung, Unfallversicherung, Rentenversicherung,
und Arbeitslosenversicherung stellen die Kernelemente dar.
Die tatsächliche Organisationsvielfalt in der EU ist groß. Die Sozialquote (d.h. welcher Anteil am
Bruttoinlandsprodukt für soziale Zwecke verwendet wird) und Umverteilungseffekte (also das
Ergebnis finanz- oder sozialpolitischer Maßnahmen und Entwicklungen, die sich auf die
Verfügbarkeit von Einkommen oder Kapital für verschiedene Bevölkerungsgruppen bzw. auf die
Einkommens- oder Vermögensverteilung auswirken), stellen in der vergleichenden Analyse der
sozialen Sicherungssysteme in der EU ergänzende und weiter differenzierende Merkmale dar.
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In Deutschland, so Prof. Bonß, würden ohne Umverteilungseffekte 41 Prozent der Haushalte von
Armut gefährdet sein, durch Umverteilung wird der Anteil auf 15 Prozent gesenkt.
Zur Korrelation zwischen Sozialquote und BSP erläutert er, dass empirische Befunde belegen,
dass bei Ansteigen der Sozialquote auch das BSP steigt. Dies würde somit die Theorie Keynes`
stützen.
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2) Traditionen und Ausgestaltung der Sozialsysteme in der EU
Es existieren im wesentlichen zwei Traditionslinien europäischer Sozialpolitik.
Das „Bismarck-System“ (1883):
1. Abgesichert sind Arbeitnehmer bzw. Erwerbstätige.
2. Primär beitragsfinanziert, gestaffelt nach Einkommen, Verhältnis zwischen ArbeitgeberArbeitnehmeranteil ca. 50 zu 50.
3. Hilfeorientierung: Subsidiaritätsprinzip dominant, d.h. Aufgaben, Handlungen und
Problemlösungen sollten so weit wie möglich selbstbestimmt und eigenverantwortlich
unternommen werden, also wenn möglich vom Einzelnen, vom Privaten, von der Familie von der
kleinsten Gruppe oder der untersten Ebene einer Organisationsform. Nur wenn dies nicht möglich
ist oder mit erheblichen Hürden und Problemen verbunden ist, sollen sukzessive größere
Gruppen, öffentliche Kollektive oder höhere Ebenen einer Organisationsform die Aufgaben und
Handlungen unterstützen und übernehmen.
Das „Beveridge-System“ (1942):
1. Abgesichert ist die gesamte Bevölkerung.
2. Primär aus dem Staatsbudget finanziert.
3. Hilfeorientierung: Marktprinzip dominant; staatlicher Ausgleich ergänzend
Hinsichtlich der Ausgestaltung der Sozialsysteme in der EU ist festzustellen, dass die
Europäische Kommission die (alten) EU-Mitgliedsländer in vier Gruppen kategorisiert, die
vergleichbare Strukturen, dabei jedoch unterschiedliche Versorgungsniveaus aufweisen:
1. Die skandinavischen Länder mit einem Beveridge-System allgemeiner Versorgung plus
zusätzlicher, beitragsfinanzierter Versorgung der Erwerbstätigen
2. Die angelsächsischen Länder (UK, Ireland) mit einem Beveridge-System allgemeiner, aber
durch hohe Bedürftigkeitsgrenzen reduzierter Versorgung plus zusätzlicher, beitrags- oder
selbstfinanzierter Versorgung der Erwerbstätigen
3. Die kontinentalen Länder mit einem Bismarck-System der Einkommens-abhängigen Sicherung
plus hochentwickelter Grundsicherung des sozio-kulturellen Minimums (Deutschland,
Frankreich, Österreich, Benelux)
4. Die Mittelmeerländer (Italien, Portugal, Spanien, Griechenland) mit einer ausgeprägten
Mischung aus Bismarck'scher Sicherung der Altersversorgung, Einkommenssicherung und
zunehmender Gesundheitsvorsorge nach dem Beveridge-Typ
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3) Zur Effizienz der unterschiedlichen Sozialsysteme
4) Zur Entwicklung der Harmonisierung der Sozialsysteme in der EU
Grundsätzlich gilt: Sozialsysteme sind Angelegenheit der Nationalstaaten
Vom EG-Vertrag 1957 über zum Maastricht-Vertrag hin zu den Leitlinien von Nizza und
Lissabon 2002 sind erste Versuche zur Harmonisierung und der Definition der Harmionisierung
als Auftrag der EU erkennbar.
Zwischen Angleichung der Arbeitsmärkte und Angleichung der Krankenversicherung: Weite und
enge Konzeptionen der „Harmonisierung“
Die „Freigabe“ des Arbeitsmarkts für EU-Bürger hat vielfältige Folgen für die sozialen
Sicherungssysteme. Beispiel: Ein Arbeitnehmer arbeitet jeweils für einen längeren Zeitraum
sowohl in Frankreich als auch in Deutschland und erwirbt dadurch Anspruch auf zwei (anteilige)
Renten. Oder: Wie gestaltet sich die Krankenversicherung und die Rentenversicherung eines
ursprünglich nach dem Beveridge-System versicherten Briten, der in Deutschland arbeitet?
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Ein weiteres Ergebnis der Verhandlungen von Nizza und Lissabon ist aus einer „normativen“
Perspektive
der
Wunsch
nach
einem
„Europäischen
Sozialmodell“,
das
Sozialversicherungsinstitutionen und Einkommenstransfersysteme (Wohngeld, Kindergeld)
umfasst.
Empirisch betrachtet, ist kaum eine Angleichung erfolgt, vielmehr, so Prof. Bonß, „ [wächst] die
Krise des `Europäischen Sozialmodells´ [..] mit der Krise der Ökonomie.“
Befürworter und Gegner einer Harmonisierung
(Schildberg 2010)
Tab. C
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5) Harmonisierung vs. Koordinierung der Sozialsysteme
Der Begriff „Harmonisierung“ deckt ein weites Feld von Gestaltungsmöglichkeiten ab, die von
der Vorstellung einer „Vereinheitlichung“, sprich identischer Sozialsysteme, bis zu einer
lediglichen „Koordinierung“ reichen.
Koordinierungsmaßnahmen
finden
sich
heute
bspw.
bei
der
Gemeinsamen
Sozialberichtserstattung und Arbeitsmarktberichterstattung. Jedoch, so der Referent, sind selbst
Kenngrößen wie die Arbeitslosenquote nicht vergleichbar. Es gibt z.B. Länder, in denen bereits
ab einer Erwerbstätigkeit von zwei Stunden täglich die Person nicht mehr als arbeitslos bzw.
arbeitssuchend erfasst wird. Ein anderes Beispiel ist die unterschiedliche Lebensarbeitszeit –
beginnt diese bereits ab dem 14. Lebensjahr oder erst ab 16?
Ein möglicher Ansatz zur Angleichung ist der Weg der „offenen Koordinierung“. Dieser stellte
den Versuch der „Vereinheitlichung des Uneinheitlichen“ dar. Bsp.: Als Pflichtversicherter einer
Gesetzlichen Krankenversicherung hat man die Möglichkeit, ärztlichen Leistungen im
europäischen Ausland in Anspruch zu nehmen.
„Die `Vereinheitlichung` der Sozialsysteme“, so Prof. Bonß, „wird begrenzt durch nationale
Traditionen und die unterschiedlichen Ökonomien, eine Einigung auf ein System ist undenkbar.“
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