Predigt vom 01.06.2014 - Kirchgemeinde Villamont (langue

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Ansprache zum Thema « Hoffnungsstreifen » in drei Teilen
« Du bist der Hoffnungsstreifen, …der sie im Alltag unterstützt » (Claudia)
Eine Mutter sitzt an einem Tisch. Sie hat ihren Sohn auf dem Schoss, aber
schaut ihn nicht an. Stattdessen schaut der Sohn die Mutter an : ängstlich und
unsicher. Normalerweise sehen Mütter, die kleine Buben auf dem Schoss tragen,
anders aus. Das erwarten wir zumindest. Und wenn Mütter schon nicht glücklich
lächel, dann schimpfen sie wenigstens oder wischen mit einem Kopfschütteln die
Schokoladespuren vom Kindergesicht. Diese Mutter jedoch folgt nicht dem
gängigen Script von Mutterschaft.
Diese Mutter erinnert mich an Hagar. Hagar ist die Sklavin der biblischen
Erzmutter Sara. Weil Sara nicht schwanger wird, lässt sie ihre Sklavin Hagar
von Abraham schwängern, und diese bringt Ismael zur Welt. Hagar ist eine eher
unbekannte Figur der Genesis-Geschichte und schon allein in diesem Punkt ähnelt
sie der Mutter auf dem Bild. Als Pfarrerin erzähle ich gerne von Sara, Rebekka,
Rachel und Lea. Die Geschichte von Hagar jedoch ist schwer zu erzählen.
Ich frage mich : Wie offen sind unsere Kirchen für Mütter, die ein ähnlich
schweres Los tragen wie Hagar ? Mit welchen Vorurteilen muss diese Mutter
rechnen, falls sie sich an die Kirche wenden möchte ? Eine Mutter muss glücklich
aussehen ? Eine Mutter kümmert sich Vollzeit um die Kinder und ist damit
ausgefüllt ? Auch wenn wir bei Familiengottesdiensten oder beim Mittagstisch
jede und jeden willkommen heissen wollen, fragt es sich doch, ob diese Mutter
den Weg über die Kirchen-Schwelle auf sich nehmen kann und will.
Falls sich diese Mutter auf den Weg macht – wie können wir ihr ein
Hoffnungsstreifen sein ?
Hagar, die Sklavin Saras, ist nicht sehr gesprächig. Wir wissen nicht, was in ihr
vorgeht. Doch es gibt einen Moment in der Hagar-Geschichte, da spricht sie.
Ismael ist noch nicht geboren. In schwangerem Zustand flieht Hagar in die
Wüste und bekommt dort von Gott ein Zeichen der Hoffnung. Ein Bote Gottes
verspricht Hagar, dass ihr Sohn einmal frei sein wird, und sichert ihr zu : Gott
hat auf deine Not gehört. Interessanterweise reagiert Hagar nicht auf die
Verheissung für ihren Sohn. Sie reagiert auf den Satz : « Gott hat auf deine
Not gehört ». Auf diesen Satz hin öffnet Hagar ihren Mund und gibt uns Einblick
in das, was in ihr vorgeht. Hagar spricht Gott direkt an und gibt Gott einen
Namen : « Du bist ein Gott des Sehens » sagt Hagar. Hagar spürt : Gott schaut
auf sie. Gott hört auf ihre Not.
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Wenn sich eine Mutter – oder auch ein Vater – in einer schlimmen Situation
wiederfindet, dann macht es einen gewaltigen Unterschied, ob sie sich von Gott
und den Menschen verlassen fühlt oder nicht. Wenn wir jemanden begleiten, der
oder die sich wie Hagar in der Wüste wiederfindet, dann kommt es weniger
darauf an, den richtigen Ratschlag zu geben, sonder die Not des oder der
anderen zu sehen und darauf zu hören. Denn Gott hört auf die Not durch unsere
Ohren. Gott sieht die Not durch unsere Augen. Die Ratlosigkeit teilen und nicht
wegreden, ohne Wertungen und Besserwisserei, das ist schon sehr viel. Es kann
dazu führen, dass eine, die stumm war, plötzlich den Mut auftut und redet und
dabei Hoffnung schöpft.
Lied 169 (deutsch), 2x « Christus, dein Licht »
Du bist der Hoffnungsstreifen, der ihn von seiner Angst befreit
(Eveline und Erich)
Du (in Gedanken) :
Der sieht ja gar nicht gut aus...Sitzt da allein auf der Bank. Mitten am Tag. Muss
ja ziemlich fertig sein, wie der dreinschaut. Passt gar nicht zu seinen
Markenklamotten…gut gestylt der junge Mann…aber ganz schlecht drauf.
Er (auch in Gedanken) :
Diese miesen Typen. Sie müssen in Zukunft auf meine Dienste verzichten, haben
sie gesagt. Natürlich würden sie mir Zeit geben, um mich neu zu
orientieren…Drei Monate, um selber zu kündigen. Ansonsten sähen sie sich
gezwungen…Wie sag ich das meiner Frau ? Es ging doch immer nur aufwärts im
Job. Bis heute Morgen. Und jetzt ? Job weg. Arbeitslos. Einfach fertig.
Du :
Irgendwie sieht der aus, als ob er jemanden zum Reden bräuchte. Kenn ich
schon, dieses Gefühl, dass ich jemanden ansprechen sollte. Frag mich aber
immer, wie das gehen soll. Darum lass ich es bleiben. Konsequent…Ich bring das
einfach nicht fertig…Ich meine, was, wenn ich mich täusche und er einfach seine
Ruhe haben will ?
Er :
Es zerreisst mich ! Ich könnte schreien ! Wie gerne würde ich jetzt reden.
Einfach alles loswerden…Diese arroganten Typen…oh, mein Gott, wie habe ich
mich in ihnen getäuscht…Warum haben die mich so lausig kaltgestellt ? Von
wegen Umstrukturierung…Hab ich etwa nicht meine Leistung gebracht ? Was ist
mit all den durchgearbeiteten Wochenenden ? Was ist mit all den
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Nachtschichten ? Wisst ihr arroganten Säcke eigentlich, wie oft ich meine
Familie wegen euch habe warten lassen ?
Du :
Was aber, wenn er wirklich Probleme hat ? Ich meine, was kann ich schon
verlieren, wenn ich ihn frage, ob alles in Ordnung ist ? Ist ja nicht unanständig,
oder ? Nur ungewöhnlich. Ich meine, von einem wildfremden Menschen einfach
angequatscht zu werden…Und überhaupt, was geht der mich an ?
Er :
Meine Güte, was soll ich jetzt machen ? Wen soll ich anrufen ? James ? – Nein,
auf seine « Kopfhoch, Alter »-Sprüche kann ich verzichten ? Marcel ? Oh ja,
Marcel ! Er wird mich zurückrufen. Bestimmt. Später. Vielleicht auch viel später.
Du :
Soll ich jetzt tatsächlich aufstehen und einfach weggehen ? So, wie ich es immer
mache ? Ich meine, so ein Lifestyle-Typ kann doch gar keine wirklichen Probleme
haben. Und wenn doch, dann soll er einen der sechshundert Kontakte in seinem
Smartphone wählen…Aber andererseits verfolgt mich dann wieder dieses
mühsame Gefühl, dass ich einen Fehler gemacht, eine Chance verpasst habe…
Du :
« Entschuldigen Sie, aber ich habe das Gefühl, es geht Ihnen nicht gut… »
Er :
« Nein, es geht mir nicht gut, ganz und gar nicht. Hab gerade meinen Job
verloren… »
Lied 169 (deutsch), 2x « Christus, dein Licht »
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Du bist der Hoffnungsstreifen, …. der ihr Vertrauen weckt.
(Claudia)
Auf dem Bild : eine dunkelhäutige Frau mit Kind auf dem Arm, im Hintergrund
eine leere Schaukel. Ich denke : Eine Migrantin aus Afrika. Vermutlich spricht
sie kein Deutsch und lebt isoliert. Sie ist aus ihrem Heimatland geflüchtet und
traumatisiert. Sie hat keine Ausbildung und schlechte Chancen auf dem
Arbeitsmarkt. Der Vater ihres Kindes hat sie verlassen oder unterdrückt sie
zuhause. Sie lebt in Armut und Hoffnungslosigkeit.
Ein Bild, viele Bilder – viele Bildnisse. Max Frisch sagt es so : « Du sollst dir kein
Bildnis machen, heisst es von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten : Gott
als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist. Es ist eine
Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlass
wieder begehen – Ausgenommen, wenn wir leben ».
Du sollst dir kein Bildnis machen. Das gilt auch für die dunkelhäutige Frau auf
dem Bild. Vielleicht ist sie in den Ferien mit dem Töchterchen, auf Besuch bei
ihrer Schwester, die schon lange in der Schweiz lebt. Oder sie studiert an der
EPFL und passt auf die Tochter ihrer Nachbarin auf, die froh ist um ein paar
kinderlose Stunden.
Vielleicht ist der älter Mann hier gar nicht allein. Vielleicht hat er gerade sein
Bett frisch bezogen und macht eine Verschnaufpause. Seine Frau ist in der
Küche am Werk. Es riecht fein durchs sonntäglich aufgeräumte Haus. Der Mann
wird sich gleich vor den Fernseher setzen und die Sternstunde Religion
anschauen.
Die sogenannte Flüchtlingsfrau schaut zu, wie ihr Schweizer Mann ein Feuer
anzündet, Cervelats einschneidet und diese übers Feuer hält.
Der gut aussehende und ebenso gut angezogene Banker ist in Wirklichkeit ein
Arzt, der gerade seinen jährlichen Sozialeinsatz in einer Augenklinik in Indien in
Gedanken vorbereitet. Denn morgen geht der Flug, er freut sich darauf, gelebte
Diakonie.
Es sind die begleitenden Sätze, die uns die Fotos auf eine gewisse Art und
Weise interpretieren lassen. Im Alltag können
unsere Vorurteile, unser Erfahrungswissen, unsere Brillen dazu beitragen, dass
wir eine Situation nicht so verstehen, wie sie eigentlich ist.
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Das Wort « Diakonie » kommt aus dem Griechischen und heisst « Dienst ». Mit
praktischer, ausgeübter Nächstenliebe könnte man den Begriff auch
umschreiben.
Diakonie ist tätige Nächstenliebe. Wer aber ist mein Nächster, meine Nächste ?
Die Bilder der Diakoniekampagne wollen uns die Augen öffnen dafür. Ebenso die
Geschichte, die Jesu dazu erzählte. In seinem Gleichnis vom barmherzigen
Samaritaner ist der Fremde weder der Räuber, der den arglosen Reisenden
zusammenschlägt, noch das hilfsbedürftige Opfer, das selber nicht mehr auf die
Beine kommt. Der Fremde ist derjenige, der dem unter die Räuber Gefallenen
zum Nächsten wird, indem er ihm hilft.
Die Geschichte vom barmherzigen Samaritaner lässt mich in der unbekannten
Frau auf dem Bild meine Nächste erkennen – und nicht einfach eine
Hilfsbedürftige : Sie kann mir zur Nächsten werden genauso wie ich ihr.
Wir könnten uns eine Kirche wünschen, die sich nicht als diakonischen
Dienstleistungsbetrieb an den sozial Schwachen versteht, sondern als
diakonische Gemeinschaft, die die unterschiedlichsten Menschen umfasst. Auch
die Frau auf dem Bild : « Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave
noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus
Jesus », wie es im Galaterbrief heisst.
Bin ich der Hoffnungsstreifen, der ihr Vertrauen weckt ? Ist sie der
Hoffnungsstreifen, der mein Vertrauen weckt und mich von den Bildern in
meinem Kopf befreit ?
Damit jeder Mensch sagen kann:
Ich war ohne Hoffnung, und ihr wurdet mein Hoffnungsstreifen.
Ich war in Trauer, und ihr wurdet mir zum Trost.
Ich war überbelastet, und ihr habt mich im Alltag unterstützt.
Ich war unansehlich – in meinen Augen oder in den Augen der anderen -, und ihr
habt mich anders gesehen.
Ich war fremd, und ihr habt mein Vertrauen geweckt.
Ich war auf meine Angst fixiert, und ihr habt mich von meiner Angst befreit.
Amen
Lied 169 (deutsch), 2x « Christus, dein Licht »
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