Ansprache zum Thema « Hoffnungsstreifen » in drei Teilen « Du bist der Hoffnungsstreifen, …der sie im Alltag unterstützt » (Claudia) Eine Mutter sitzt an einem Tisch. Sie hat ihren Sohn auf dem Schoss, aber schaut ihn nicht an. Stattdessen schaut der Sohn die Mutter an : ängstlich und unsicher. Normalerweise sehen Mütter, die kleine Buben auf dem Schoss tragen, anders aus. Das erwarten wir zumindest. Und wenn Mütter schon nicht glücklich lächel, dann schimpfen sie wenigstens oder wischen mit einem Kopfschütteln die Schokoladespuren vom Kindergesicht. Diese Mutter jedoch folgt nicht dem gängigen Script von Mutterschaft. Diese Mutter erinnert mich an Hagar. Hagar ist die Sklavin der biblischen Erzmutter Sara. Weil Sara nicht schwanger wird, lässt sie ihre Sklavin Hagar von Abraham schwängern, und diese bringt Ismael zur Welt. Hagar ist eine eher unbekannte Figur der Genesis-Geschichte und schon allein in diesem Punkt ähnelt sie der Mutter auf dem Bild. Als Pfarrerin erzähle ich gerne von Sara, Rebekka, Rachel und Lea. Die Geschichte von Hagar jedoch ist schwer zu erzählen. Ich frage mich : Wie offen sind unsere Kirchen für Mütter, die ein ähnlich schweres Los tragen wie Hagar ? Mit welchen Vorurteilen muss diese Mutter rechnen, falls sie sich an die Kirche wenden möchte ? Eine Mutter muss glücklich aussehen ? Eine Mutter kümmert sich Vollzeit um die Kinder und ist damit ausgefüllt ? Auch wenn wir bei Familiengottesdiensten oder beim Mittagstisch jede und jeden willkommen heissen wollen, fragt es sich doch, ob diese Mutter den Weg über die Kirchen-Schwelle auf sich nehmen kann und will. Falls sich diese Mutter auf den Weg macht – wie können wir ihr ein Hoffnungsstreifen sein ? Hagar, die Sklavin Saras, ist nicht sehr gesprächig. Wir wissen nicht, was in ihr vorgeht. Doch es gibt einen Moment in der Hagar-Geschichte, da spricht sie. Ismael ist noch nicht geboren. In schwangerem Zustand flieht Hagar in die Wüste und bekommt dort von Gott ein Zeichen der Hoffnung. Ein Bote Gottes verspricht Hagar, dass ihr Sohn einmal frei sein wird, und sichert ihr zu : Gott hat auf deine Not gehört. Interessanterweise reagiert Hagar nicht auf die Verheissung für ihren Sohn. Sie reagiert auf den Satz : « Gott hat auf deine Not gehört ». Auf diesen Satz hin öffnet Hagar ihren Mund und gibt uns Einblick in das, was in ihr vorgeht. Hagar spricht Gott direkt an und gibt Gott einen Namen : « Du bist ein Gott des Sehens » sagt Hagar. Hagar spürt : Gott schaut auf sie. Gott hört auf ihre Not. 1 Wenn sich eine Mutter – oder auch ein Vater – in einer schlimmen Situation wiederfindet, dann macht es einen gewaltigen Unterschied, ob sie sich von Gott und den Menschen verlassen fühlt oder nicht. Wenn wir jemanden begleiten, der oder die sich wie Hagar in der Wüste wiederfindet, dann kommt es weniger darauf an, den richtigen Ratschlag zu geben, sonder die Not des oder der anderen zu sehen und darauf zu hören. Denn Gott hört auf die Not durch unsere Ohren. Gott sieht die Not durch unsere Augen. Die Ratlosigkeit teilen und nicht wegreden, ohne Wertungen und Besserwisserei, das ist schon sehr viel. Es kann dazu führen, dass eine, die stumm war, plötzlich den Mut auftut und redet und dabei Hoffnung schöpft. Lied 169 (deutsch), 2x « Christus, dein Licht » Du bist der Hoffnungsstreifen, der ihn von seiner Angst befreit (Eveline und Erich) Du (in Gedanken) : Der sieht ja gar nicht gut aus...Sitzt da allein auf der Bank. Mitten am Tag. Muss ja ziemlich fertig sein, wie der dreinschaut. Passt gar nicht zu seinen Markenklamotten…gut gestylt der junge Mann…aber ganz schlecht drauf. Er (auch in Gedanken) : Diese miesen Typen. Sie müssen in Zukunft auf meine Dienste verzichten, haben sie gesagt. Natürlich würden sie mir Zeit geben, um mich neu zu orientieren…Drei Monate, um selber zu kündigen. Ansonsten sähen sie sich gezwungen…Wie sag ich das meiner Frau ? Es ging doch immer nur aufwärts im Job. Bis heute Morgen. Und jetzt ? Job weg. Arbeitslos. Einfach fertig. Du : Irgendwie sieht der aus, als ob er jemanden zum Reden bräuchte. Kenn ich schon, dieses Gefühl, dass ich jemanden ansprechen sollte. Frag mich aber immer, wie das gehen soll. Darum lass ich es bleiben. Konsequent…Ich bring das einfach nicht fertig…Ich meine, was, wenn ich mich täusche und er einfach seine Ruhe haben will ? Er : Es zerreisst mich ! Ich könnte schreien ! Wie gerne würde ich jetzt reden. Einfach alles loswerden…Diese arroganten Typen…oh, mein Gott, wie habe ich mich in ihnen getäuscht…Warum haben die mich so lausig kaltgestellt ? Von wegen Umstrukturierung…Hab ich etwa nicht meine Leistung gebracht ? Was ist mit all den durchgearbeiteten Wochenenden ? Was ist mit all den 2 Nachtschichten ? Wisst ihr arroganten Säcke eigentlich, wie oft ich meine Familie wegen euch habe warten lassen ? Du : Was aber, wenn er wirklich Probleme hat ? Ich meine, was kann ich schon verlieren, wenn ich ihn frage, ob alles in Ordnung ist ? Ist ja nicht unanständig, oder ? Nur ungewöhnlich. Ich meine, von einem wildfremden Menschen einfach angequatscht zu werden…Und überhaupt, was geht der mich an ? Er : Meine Güte, was soll ich jetzt machen ? Wen soll ich anrufen ? James ? – Nein, auf seine « Kopfhoch, Alter »-Sprüche kann ich verzichten ? Marcel ? Oh ja, Marcel ! Er wird mich zurückrufen. Bestimmt. Später. Vielleicht auch viel später. Du : Soll ich jetzt tatsächlich aufstehen und einfach weggehen ? So, wie ich es immer mache ? Ich meine, so ein Lifestyle-Typ kann doch gar keine wirklichen Probleme haben. Und wenn doch, dann soll er einen der sechshundert Kontakte in seinem Smartphone wählen…Aber andererseits verfolgt mich dann wieder dieses mühsame Gefühl, dass ich einen Fehler gemacht, eine Chance verpasst habe… Du : « Entschuldigen Sie, aber ich habe das Gefühl, es geht Ihnen nicht gut… » Er : « Nein, es geht mir nicht gut, ganz und gar nicht. Hab gerade meinen Job verloren… » Lied 169 (deutsch), 2x « Christus, dein Licht » 3 Du bist der Hoffnungsstreifen, …. der ihr Vertrauen weckt. (Claudia) Auf dem Bild : eine dunkelhäutige Frau mit Kind auf dem Arm, im Hintergrund eine leere Schaukel. Ich denke : Eine Migrantin aus Afrika. Vermutlich spricht sie kein Deutsch und lebt isoliert. Sie ist aus ihrem Heimatland geflüchtet und traumatisiert. Sie hat keine Ausbildung und schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Der Vater ihres Kindes hat sie verlassen oder unterdrückt sie zuhause. Sie lebt in Armut und Hoffnungslosigkeit. Ein Bild, viele Bilder – viele Bildnisse. Max Frisch sagt es so : « Du sollst dir kein Bildnis machen, heisst es von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten : Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlass wieder begehen – Ausgenommen, wenn wir leben ». Du sollst dir kein Bildnis machen. Das gilt auch für die dunkelhäutige Frau auf dem Bild. Vielleicht ist sie in den Ferien mit dem Töchterchen, auf Besuch bei ihrer Schwester, die schon lange in der Schweiz lebt. Oder sie studiert an der EPFL und passt auf die Tochter ihrer Nachbarin auf, die froh ist um ein paar kinderlose Stunden. Vielleicht ist der älter Mann hier gar nicht allein. Vielleicht hat er gerade sein Bett frisch bezogen und macht eine Verschnaufpause. Seine Frau ist in der Küche am Werk. Es riecht fein durchs sonntäglich aufgeräumte Haus. Der Mann wird sich gleich vor den Fernseher setzen und die Sternstunde Religion anschauen. Die sogenannte Flüchtlingsfrau schaut zu, wie ihr Schweizer Mann ein Feuer anzündet, Cervelats einschneidet und diese übers Feuer hält. Der gut aussehende und ebenso gut angezogene Banker ist in Wirklichkeit ein Arzt, der gerade seinen jährlichen Sozialeinsatz in einer Augenklinik in Indien in Gedanken vorbereitet. Denn morgen geht der Flug, er freut sich darauf, gelebte Diakonie. Es sind die begleitenden Sätze, die uns die Fotos auf eine gewisse Art und Weise interpretieren lassen. Im Alltag können unsere Vorurteile, unser Erfahrungswissen, unsere Brillen dazu beitragen, dass wir eine Situation nicht so verstehen, wie sie eigentlich ist. 4 Das Wort « Diakonie » kommt aus dem Griechischen und heisst « Dienst ». Mit praktischer, ausgeübter Nächstenliebe könnte man den Begriff auch umschreiben. Diakonie ist tätige Nächstenliebe. Wer aber ist mein Nächster, meine Nächste ? Die Bilder der Diakoniekampagne wollen uns die Augen öffnen dafür. Ebenso die Geschichte, die Jesu dazu erzählte. In seinem Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner ist der Fremde weder der Räuber, der den arglosen Reisenden zusammenschlägt, noch das hilfsbedürftige Opfer, das selber nicht mehr auf die Beine kommt. Der Fremde ist derjenige, der dem unter die Räuber Gefallenen zum Nächsten wird, indem er ihm hilft. Die Geschichte vom barmherzigen Samaritaner lässt mich in der unbekannten Frau auf dem Bild meine Nächste erkennen – und nicht einfach eine Hilfsbedürftige : Sie kann mir zur Nächsten werden genauso wie ich ihr. Wir könnten uns eine Kirche wünschen, die sich nicht als diakonischen Dienstleistungsbetrieb an den sozial Schwachen versteht, sondern als diakonische Gemeinschaft, die die unterschiedlichsten Menschen umfasst. Auch die Frau auf dem Bild : « Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus », wie es im Galaterbrief heisst. Bin ich der Hoffnungsstreifen, der ihr Vertrauen weckt ? Ist sie der Hoffnungsstreifen, der mein Vertrauen weckt und mich von den Bildern in meinem Kopf befreit ? Damit jeder Mensch sagen kann: Ich war ohne Hoffnung, und ihr wurdet mein Hoffnungsstreifen. Ich war in Trauer, und ihr wurdet mir zum Trost. Ich war überbelastet, und ihr habt mich im Alltag unterstützt. Ich war unansehlich – in meinen Augen oder in den Augen der anderen -, und ihr habt mich anders gesehen. Ich war fremd, und ihr habt mein Vertrauen geweckt. Ich war auf meine Angst fixiert, und ihr habt mich von meiner Angst befreit. Amen Lied 169 (deutsch), 2x « Christus, dein Licht » 5