Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften

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Eve-Marie Engels / Oliver Betz
Heinz-R. Köhler / Thomas Potthast
(Hrsg.)
Charles Darwin
und seine Bedeutung
für die Wissenschaften
Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften
Eve-Marie Engels / Oliver Betz
Heinz-R. Köhler / Thomas Potthast
(Hrsg.)
Charles Darwin
und seine Bedeutung
für die Wissenschaften
Umschlag: Charles Robert Darwin, nach einem Ölgemälde von Tibor Pogonyi, München 2010,
mit herzlichem Dank an den Künstler für die Erlaubnis zur Reproduktion. Im Vordergrund:
Von Darwin während seiner Weltreise beschriebener und nach ihm benannter Fink, aus:
The zoology of the voyage of H.M.S. Beagle: under the command of Captain FitzRoy, R.N.,
during the years 1832 to 1836 ... / edited and superintended by Charles Darwin.
Volume 3, Plate 34: Tanagra darwini. Call number DSM Q591.9/D. Courtesy of the State
Library of New South Wales, Australia. Im Hintergrund: Ausschnitt einer Skizze aus einem von
Darwins Notizbüchern, angefertigt im Sommer 1837. Wikimedia Commons.
Erstellung der Bildcollage: Maddalena Angela Di Lellis, Universität Tübingen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Herausgeber und Verlag bedanken sich bei der Vereinigung der Freunde der Universität
Tübingen (Universitätsbund) e.V. für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung dieses
Bandes.
© 2011 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
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Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier.
Internet: www.attempto-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren
Printed in Germany
ISBN 978-3-89308-415-9
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Vorwort ..................................................................................................................... 7
EVE-MARIE ENGELS, OLIVER BETZ, HEINZ-R. KÖHLER,
THOMAS POTTHAST
Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften – Eine
Einführung ................................................................................................................ 9
THOMAS JUNKER
Auf den Schultern von Riesen: Darwins Evolutionstheorie ............................ 27
WOLFGANG MAIER
Darwins Weltreise mit der HMS ‚Beagle‘ (1831–1836) – Historische
Geologie und die Entstehung der modernen Evolutionstheorie ..................... 43
RALF J. SOMMER
Zur wissenschaftlichen Vielfalt der modernen Evolutionsbiologie ................ 77
OLIVER BETZ
Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der
Biodiversität – Darwins Theorie aus heutiger evolutionsbiologischer
Sicht ......................................................................................................................... 89
THOMAS POTTHAST
Darwin, Ökologie, Naturschutz – Historische, wissenschaftstheoretische und ethische Dimensionen ...................................................................... 121
EVE-MARIE ENGELS
Der Mensch, das moralfähige Tier – Zur Anthropologie und Ethik von
Charles Darwin .................................................................................................... 145
DIRK BACKENKÖHLER
Auf Spuren zur Abstammung der Menschen – Eine kleine Reise in die
Geschichte der Anthropologie zu Brennpunkten anthropologischer
Debatten vor und kurz nach der Publikation von Darwins Evolutionstheorie .................................................................................................................... 181
6
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MIRIAM NOËL HAIDLE
Darwin, Lucy und das Missing Link – Evolutionäre Anthropologie
im 21. Jahrhundert ............................................................................................... 203
NICOLE BECKER
Evolutionäres Denken im Kontext erziehungswissenschaftlicher
Diskussionen ........................................................................................................ 225
PETER MEYER
Darwin und die Gesellschaftstheorie ................................................................ 243
GÜNTER ALTNER
Charles Darwin und die Dynamik der Schöpfung .......................................... 257
Die Autorinnen und Autoren ............................................................................ 273
Personenregister .................................................................................................. 279
Sachregister ........................................................................................................... 283
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Das vorliegende Buch basiert auf einer Ringvorlesung über „Charles Darwin
und seine Wirkung in Wissenschaft und Gesellschaft“, die anlässlich des
Charles Darwin-Jubiläumsjahres 2009 im Wintersemester 2008/2009 an der
Eberhard Karls Universität Tübingen im Rahmen des Studium Generale stattfand. Die Vorlesungsreihe wurde von Mitgliedern des interfakultären Lehrund Forschungsverbundes Evolution and Ecology Forum Tübingen (EvE), des
Lehrstuhls für Ethik in den Biowissenschaften der Fakultät für Biologie und
des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der
Universität Tübingen organisiert und veranstaltet. Am 12. Februar 2009 jährte sich der Geburtstag von Charles Darwin zum 200. Mal, und sein epochales
Werk On the Origin of Species erschien vor 150 Jahren am 24. November
1859. Dieses Jubiläum wurde von den Veranstaltern zum Anlass genommen,
Darwins Werk und Wirkung von ausgewiesenen Expertinnen und Experten
aus dem Blickwinkel verschiedener Disziplinen beleuchten zu lassen.
Ziel der Vorlesungsreihe war es, ein möglichst facettenreiches und authentisches Bild von Darwin selbst, seiner Theorie und ihrer Rezeption in verschiedenen Kontexten zu vermitteln. Darwins Name ist zwar in aller Munde,
doch ranken sich um seine Person und Theorie nach wie vor zahlreiche Missverständnisse. Gleichzeitig besteht in der Bevölkerung ein großes Interesse an
sachkundiger Aufklärung über und fundierter Auseinandersetzung mit Themen im Umkreis von Darwins Theorie. Hierzu gehören auch ihre weltanschauliche Bedeutung und ihre Relevanz für kultur- und gesellschaftstheoretische sowie ethische Fragen. Unsere Vorlesungsreihe stieß daher auf große
Resonanz.
Dieses große allgemeine Interesse und der ausdrückliche Wunsch von Besucherinnen und Besuchern, die Beiträge der Ringvorlesung noch einmal
nachlesen zu können, haben die Veranstalter dazu veranlasst, sie in Buchform
vorzulegen. An dieser Stelle danken wir allen Autorinnen und Autoren herzlich für ihre Mitwirkung an der Vorlesungsreihe und an diesem Sammelband.
Wir danken auch dem Verlagshaus Narr Francke Attempto, insbesondere
Frau Mareike Reichelt, Frau Amelie Sareika und Frau Celestina Filbrandt vom
Lektorat, für ihre engagierte Betreuung dieses Projekts. Den studentischen
MitarbeiterInnen des Lehrstuhls für Ethik in den Biowissenschaften, Frau
Katharina Meyer-Borchert, Herrn Michael Botsch und Frau Johanna Edel
danken wir für ihre vielfältige Hilfe. Hierzu gehören die Unterstützung beim
Korrekturlesen, Literaturrecherchen, die teilweise selbständige Erstellung und
Systematisierung des Sach- und Personenregisters, zahlreiche redaktionelle
Arbeiten und nicht zuletzt die Formatierung aller Texte und die Erstellung
der Druckvorlage für den Verlag. Frau Maddalena Angela Di Lellis danken
wir für die Zusammenstellung der Bildcollage auf dem Umschlag.
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Der Druck des vorliegenden Buches wurde durch einen finanziellen Zuschuss der Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen (Universitätsbund) e.V. gefördert. Wir danken dem Universitätsbund herzlich für seine
Unterstützung.
Tübingen, im März 2011
Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler und Thomas Potthast
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Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler, Thomas Potthast
Mit seinen Werken Die Entstehung der Arten (1859) und Die Abstammung
des Menschen (1871) legte Charles Darwin (1809–1882) den Grundstein für
eine naturwissenschaftliche Evolutionstheorie, die den Menschen in den Gesamtzusammenhang des Lebendigen miteinschließt.1 Schon bald nach dem
Erscheinen von Darwins Werk Die Entstehung der Arten erkannten seine
Zeitgenossen die revolutionäre Bedeutung dieses neuen Ansatzes und verglichen Darwin mit den großen Denkern der Astronomie und Physik, insbesondere mit Kopernikus (1473–1543), Galilei (1564–1642) und Newton (1643–
1727). Gleichzeitig waren viele davon überzeugt, dass sich die Bedeutung von
Darwins Theorie nicht nur auf die Biologie erstreckt, sondern auch auf die
Geistes- und Humanwissenschaften sowie auf unser Natur- und Menschenbild generell.
Wir haben das Darwin-Jubiläum im Jahre 2009 zum Anlass genommen,
diesem Einfluss in verschiedenen Wissenschaften und Disziplinen nachzugehen. Hierzu gehören einerseits die Biologie mit der Entstehung einzelner
neuer Disziplinen wie der evolutionären Entwicklungsbiologie, der Populationsgenetik und der Ökologie sowie andererseits die Evolutionäre Anthropologie, die Erziehungswissenschaften und die Gesellschaftstheorie. Wie sich
zeigt, nimmt die Wirkung von Darwins Theorie in diesen verschiedenen Wissenschaftszweigen ausgesprochen unterschiedliche Züge an. Dies liegt zum
einen an Merkmalen der Theorie selbst, zum anderen an den Bedingungen der
Rezipienten. Zu den Merkmalen der Darwin’schen Theorie gehören ihre
Neuheit, Komplexität, die von Darwin verwendeten Metaphern, die „Unvollständigkeit“ der Theorie in dem Sinne, dass zu Darwins Zeit viele theoretische
und praktische Erkenntnisse, von denen wir heute wissen, nicht verfügbar
waren.
Darwins Origin war zudem ja auch kein Lehrbuch der Evolutionsbiologie,
sondern „one long argument“, wie er selbst schreibt, also eine lange Argumentations- oder Beweiskette zur Fundierung seiner komplexen Theorie.
Diese besteht aus (mindestens) vier Einzeltheorien bzw. Theoremen, die jeweils unterschiedlich rezipiert und nicht alle in gleicher Weise akzeptiert
wurden. Diese sind (1) das Deszendenztheorem, d.h. die Annahme einer gemeinsamen Abstammung der Organismen (einschließlich des Menschen), (2)
1
Für detaillierte Literaturhinweise sei auf die Einzelbeiträge verwiesen.
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der Gradualismus, (3) die Theorie der natürlichen Auslese und (4) die der
Vervielfältigung der Arten (Divergenzprinzip, Speziation). Seitens der Rezipienten sind die verschiedenen Kontexte (disziplinär, philosophisch, religiös,
kulturell, politisch usw.) sowie die persönlichen Voraussetzungen maßgeblich
für die jeweils spezifische Aufnahme von Darwins Theorie. Dementsprechend
können die Wirkungen dieser Theorie und damit ihre Bedeutung für die einzelnen Wissenschaften sehr unterschiedlich sein. Hinzu kommen länderspezifische Besonderheiten der Rezeption sowie Einflüsse auf die Rezeption, die
durch die jeweiligen Übersetzungen bedingt sind.2
Darwins Theorie bewirkte jedoch nicht nur eine Revolution in einzelnen
Wissenschaften, sondern auch in den philosophischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Biologie und anderer Disziplinen. Denn
mit der Annahme, dass sich die Zweckmäßigkeit in der lebendigen Natur
sowie ihre Phänomene rein wissenschaftlich mittels Naturgesetzen erklären
ließe, wurde die Biologie nicht nur auf eine naturwissenschaftliche Grundlage
gestellt, sondern ihre zahlreichen zerstreuten Phänomene ließen sich auch aus
der Perspektive dieser Theorie einheitlich deuten. So sieht Hermann von
Helmholtz die Relevanz dieses „wesentlich neuen schöpferischen Gedankens“
nicht zuletzt darin, die Ergebnisse verschiedener Einzeldisziplinen, die bislang
als „Anhäufung räthselhafter Wunderlichkeiten“ schienen, in einen systematischen Zusammenhang bringen zu können.3 Darwins zündende Idee gab den
Anstoß zur Initiierung zahlreicher neuer Forschungsprogramme – ein Prozess, der bis heute anhält. Allerdings erweist sich diese Entwicklung durchaus
als spannungsreich, wovon die Diskussionen um die Frage der Vereinbarkeit
von Evolution und Schöpfungsgeschichte nur ein besonders augenfälliges
Beispiel ist.
In den Beiträgen des vorliegenden Buches steht Darwins Einfluss auf verschiedene Wissenschaften bzw. Kontexte im Mittelpunkt. Diese sind die Entwicklungsbiologie, die Populationsgenetik, die Ökologie, die Anthropologie
vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, die Erziehungswissenschaften und die Gesellschaftstheorie. Schließlich wird auch nach der Beziehung zwischen Darwins naturwissenschaftlicher Evolutionstheorie und der Schöpfungstheologie
gefragt.
2
3
Engels, E.-M. u. Glick, Th.F. (Hg.) 2008: The Reception of Charles Darwin in
Europe. 2 Bde. Continuum, London, New York.
Helmholtz, H. von 1968: Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft.
In: Ders., Das Denken in der Naturwissenschaft (1869). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 31–61.
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Mit dem ersten Beitrag „Auf den Schultern von Riesen: Darwins Evolutionstheorie“ führt Thomas Junker in die Vorgeschichte von Darwins Theorie ein.
Darwin gab mit seinem berühmten Buch On the Origin of Species, in dem er
seine „theory of descent with modification through natural selection“ vorstellte, den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der neuen Wissenschaft der
Evolution. Junker sieht Darwins Besonderheit darin, dass es hier erstmals
gelang, in überzeugender Weise darzustellen, wie/inwiefern Existenz, Eigenschaften und Zweckmäßigkeit der Organismen auf natürliche Weise erklärbar
sind. Darwin gab eine überzeugende Antwort auf das schon Aristoteles (384–
322 v. Chr.) faszinierende Rätsel der Zweckmäßigkeit der Organismen und
ihrer Körperteile. Allerdings machte Darwin nicht als Erster diesen Versuch.
Wie kommt es, dass er im Unterschied zu Lamarck (1744–1829) einen so
großen Erfolg hatte? Was machte sein Erklärungsmodell so wirkmächtig? Der
Autor gibt einen Überblick über einige naturalistische Vorläufer Darwins, den
er weniger als erschöpfende Aufzählung denn als Anregung versteht. Schon in
der Naturphilosophie der Antike gab es Versuche, die Entstehung der Organismen auf natürliche Weise zu erklären, beispielsweise Lukrez (gest. 55 v.
Chr.), dessen Ideen das Denken bis ins 18. Jahrhundert hinein beeinflussten,
wie das Beispiel des französischen Philosophen der Aufklärung, Denis
Diderot (1713–1784), zeigt. Der Grund für die sehr späte Durchsetzung des
evolutionären Naturalismus ist nach Junker zum einen die Überschätzung der
direkten Beobachtung. Evolutionäre Veränderungen folgen Prozessen, die
sich im Allgemeinen sehr langsam vollziehen und in ihrem Zeitverlauf nicht
nur Individuen in ihrer Lebensdauer, sondern in den überwiegenden Fällen
auch Generationen von Wissenschaftlern übersteigen. Hinzu kommt, dass
man seinerzeit ein zu kurzes Alter der Erde annahm. Darüber hinaus wurde
die Idee der Evolution so spät akzeptiert, weil man andere Erklärungen auch
aus weltanschaulichen Gründen für plausibler hielt. Die Idee der natürlichen
Selektion bildete einen Gegenpol zu weitgehend anerkannten und dominanten religiösen Schöpfungsideen. Es sei Darwin gelungen, wie der Botaniker
Carl Wilhelm von Nägeli (1817–1891) konstatierte, „an die Stelle der übernatürlichen Einwirkungen eine natürliche Entwickelung, an die Stelle des Wunders den Causalnexus zu setzen“. Junker sieht Darwins wichtigste Leistung in
den ersten Jahrzehnten nach dem Erscheinen von Origin in der Durchsetzung
des Naturalismus in der Biologie. Die Frage stellt sich, wieso sich nicht Lamarcks Lehre, die bereits ebenfalls von der Annahme der Evolution ausging,
durchsetzte. Obwohl Darwin hinsichtlich der Vererbung lamarckistisch argumentierte, entwickelte er einen neuen Mechanismus zur Erklärung der
Zweckmäßigkeit des Aufbaus von Organismen. Nicht die Erklärung der Entstehung, sondern die der Erhaltung und der Anhäufung zweckmäßiger Variationen ist das Besondere an Darwins Erklärung. Dadurch gelang es zugleich,
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auch die Systematik von Carl von Linné (1707–1778) naturalistisch zu fundieren. Darwins Theorie hatte also letztlich eine größere Erklärungskraft als
alternative Theorien.
Das zentrale Ereignis in Charles Darwins Biographie ist zweifelsohne seine
mehrere Jahre dauernde Reise mit der Beagle. Mit ihr befasst sich Wolfgang
Maier in seinem Beitrag „Darwins Weltreise mit der HMS ‚Beagle‘ (1831–
1836) – Historische Geologie und die Entstehung der modernen Evolutionstheorie“. Gerade einmal 22 Jahre alt und seinen Bachelor of Arts in der Tasche, hatte Darwin die Gelegenheit, mit diesem Vermessungsschiff unter Leitung des ebenfalls noch jungen, fast gleichaltrigen Kapitäns Robert FitzRoy
(1805–1865) eine Reise um die Welt zu unternehmen. Diese Reise fand von
1831 bis 1836 statt. Den Zweck der Reise hat Darwin in seinem Buch Reise
eines Naturforschers um die Welt wie folgt beschrieben: „Der Zweck der Expedition war die Aufnahme von Patagonien und dem Feuerland, welche unter
Kapitän King in den Jahren 1826–1830 begonnen worden war, zu vollenden,
die Küste von Chile, Peru und einigen Südsee-Inseln aufzunehmen und eine
Kette von chronometrischen Maßbestimmungen rund um die Erde auszuführen“4. Es handelte sich somit primär um eine Vermessungsreise zur Kartierung unbekannter Abschnitte, vor allem der südamerikanischen Küstenlinie
zur Verbesserung der Handelsbeziehungen mit Süd-Amerika. Darwin selbst
bezeichnete diese Reise als das wichtigste Ereignis seines Lebens, und sein
weiterer Berufsweg als Naturforscher und sein Werk wären ohne diese Reise
nicht denkbar gewesen.
Fachlich war Darwin während seiner Reise weitgehend auf sich allein gestellt. Er besaß zwar Literatur und wies eine scharfe Beobachtungsgabe – gepaart mit Fachinteresse und Phantasie – auf, hatte aber keinen Fachkollegen
an Bord. In Süd-Amerika hatte Darwin interessante Fossilien gesammelt,
wofür ihn Exkursionen bis auf 3.000 m Höhe über dem Meer führten. Er sah
Muschelbänke, die weit über dem Meer lagen und ihm zu denken gaben. Am
15.9.1835 landete die Crew der Beagle auf Galapagos, einer Reihe geologisch
junger (unter fünf Millionen Jahre alter) Inseln mit einer merkwürdigen Faunenzusammensetzung, die sie wie eine Kolonie Süd-Amerikas erscheinen
ließen. Jede dieser Inseln wies einen besonderen Typ von Spottdrosseln auf.
Schwieriger zu interpretieren waren die dort lebenden „Finken“, welche später von dem Ornithologen John Gould (1804–1881) als Artenschwarm einer
neu aufzustellenden Gattung Geospiza identifiziert wurden, die sich unter
anderem deutlich in ihren Schnabelformen unterschieden. Darwin sammelte,
präparierte und konservierte auf seiner Reise insgesamt mehr als 5.000 Objekte. Nach seiner Rückkehr nach England musste dieses Material von Spezialis4
Darwin, Ch. 2006: Gesammelte Werke. Nach Übersetzungen aus dem Englischen
von J. Victor Carus. Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Melzer
Verlag GmbH, Neu Isenburg 2006 für Zweitausendeins, Frankfurt a.M, 17.
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ten bearbeitet werden. Die sich daraus entwickelnden Kooperationen waren
für die Entwicklung seiner Theorie von eminenter Bedeutung, die bald prominente Unterstützer in dem Geologen Charles Lyell (1797–1875), dem Botaniker Joseph Dalton Hooker (1817–1911) und dem Zoologen Thomas Henry Huxley (1825–1895) fand.
Maier stellt in seinem Beitrag auch den ideengeschichtlichen und persönlichen Hintergrund heraus, vor dem Charles Darwin seine Theorie entwickelt
hat. Dabei wird deutlich, dass die intensiven geologischen Studien, die Darwin auf der Grundlage von Charles Lyells Principles of Geology (Bände 1–3:
1830–1833) während seiner Reise (und im Anschluss daran) betrieb, sein
Bewusstsein für die unermesslich langen Zeiträume geschärft haben, die das
Panorama für die von ihm postulierten Evolutionsmechanismen bilden. Erst
vor diesem „tiefenzeitlichen“5 Hintergrund erhalten die von Darwin formulierten Deszendenz- und Selektionstheoreme ein Fundament, das sie wissenschaftlich plausibel und allgemein nachvollziehbar macht. So forderte Darwin
im Gegensatz zu vielen seiner wissenschaftlichen Zeitgenossen für die postkambrische Zeit ein Alter von über 60 Millionen Jahren und vertrat damit
bereits die Denkweise eines modernen Historismus, dem ein dynamisches
Bild einer sich ständig im Wandel begriffenen Erde (Geologie und Biologie)
zugrunde liegt. Nicht zuletzt war es die direkte Auseinandersetzung Darwins
mit seinen Lehrern und Mentoren, die sein Denken beeinflusst haben. Teilweise handelte es sich dabei bereits um Anhänger des Evolutionsgedankens
Jean-Baptiste de Lamarcks (1744–1829), wie der Meereszoologe und Evolutionsbiologe Robert Grant (1793–1874), teilweise um Kreationisten, die von
der Unwandelbarkeit der von Gott geschaffenen Arten überzeugt waren. Zu
Letzteren gehören der Botaniker und Geistliche John Stevens Henslow (1796–
1861), der Geologe und ebenfalls Geistliche Adam Sedgwick (1785–1873)
sowie der Wissenschaftsphilosoph, Mathematiker und Historiker William
Whewell (1794–1866). Sedgwick und Whewell wurden später scharfe Kritiker
von Darwin.
In seinem Beitrag „Zur wissenschaftlichen Vielfalt der modernen Evolutionsbiologie“ stellt Ralf J. Sommer einige wichtige Forschungsansätze vor, die aus
den verschiedenen Einzeltheorien bzw. Theoremen der komplexen Gesamttheorie Darwins entstanden sind. Darwins vier Haupttheorien sind, wie
oben bereits erwähnt, die Theorie der gemeinsamen Abstammung aller Organismen, der Gradualismus, die Selektionstheorie und die Theorie der Speziation. Diese vier Theorien werden in der aktuellen Evolutionsforschung von
verschiedenen Disziplinen mit jeweils unterschiedlichen Forschungsansätzen
untersucht. Sommer stellt vier dieser Forschungsgebiete vor: die evolutionäre
Entwicklungsbiologie, die Populationsgenetik, die evolutionäre Ökologie und
5
Falls nicht anders angegeben, sind die Zitate jeweils den Texten der Einzelbeiträge
entnommen.
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die molekulare Phylogenie. Eine zentrale Botschaft dieses Artikels ist die Forderung, die Evolutionstheorie nicht auf die Theorie der natürlichen Selektion
zu reduzieren. Vielmehr seien die verschiedenen Forschungsansätze miteinander zu integrieren.
Mit der Theorie der gemeinsamen Abstammung, welche von einer historischen Verwandtschaft der Organismen ganz verschiedener Gruppen ausgeht,
verbindet sich die Frage, wie aus der Einheit Vielheit entstehen kann, d.h.,
„wie über evolutionäre Zeiträume hinweg Unterschiede in morphologischen
Strukturen entstehen“, aber zugleich auch, wie der verwandtschaftliche Zusammenhang zwischen den Lebewesen unterschiedlicher Gruppen nachweisbar und erklärbar ist. Zur Bearbeitung dieser Forschungsfrage bedarf es einer
Disziplin, welche die morphologischen Strukturen von Pflanzen, Pilzen und
Tieren vergleichend untersucht. Dies ist die vergleichende Entwicklungsbiologie. Hier sind in den letzten drei Jahrzehnten vor allem durch den systematischen Einsatz genetischer Methoden große Durchbrüche erzielt worden. Modellorganismen sind u.a. zwei wirbellose Tiere, die Fruchtfliege Drosophila
melanogaster und der Fadenwurm Caenorhabditis elegans. An diesen Tieren
lässt sich die Funktionsweise von Entwicklungskontrollgenen sehr gut erforschen. Diese Gene, welche die Frühentwicklung von Drosophila steuern, sind
im Tierreich hoch konserviert, d.h. sie kommen in ganz unterschiedlichen
Tiergruppen vor, bei Drosophila, einfachen Nesseltieren über Fadenwürmer
und Insekten bis hin zu den Säugetieren. Aber auch Vorgänge der pflanzlichen Entwicklung werden durch die Entwicklungsbiologie aufgeklärt. Dies ist
eine wichtige und interessante Erkenntnis, die aber umso mehr die Frage
aufwirft, wieso Organismen so unterschiedlich sind und auch bereits innerhalb einzelner Populationen individuelle Charakteristika aufweisen, wenn sie
weitgehend über die gleichen Gene verfügen, die ihre Entwicklung steuern.
Zur Bearbeitung letzteren Aspektes bedarf es der Populationsgenetik und
ihrer Erklärungsmodelle (positive Selektion, negative Selektion, neutrale Theorie der molekularen Evolution). Die Populationsgenetik, welche aus der
Theorie der natürlichen Selektion entstanden ist, untersucht die innerartliche
natürliche Variabilität. Die Kombination der Forschungsansätze von Entwicklungsbiologie und Populationsgenetik ist nach Sommer jedoch ein Desiderat
für künftige Forschungen.
Als weitere wichtige Disziplinen führt Sommer die evolutionäre Ökologie
und die molekulare Phylogenie an. Diese unterstützen Darwins Theorie der
Speziation. Während die evolutionäre Ökologie die Bedeutung von Umweltbedingungen für die Ausbildung bestimmter Strukturen von Organismen
und damit deren phänotypische Plastizität untersucht, besteht die Aufgabe der
molekularen Phylogenie in der molekularen Rekonstruktion der Stammesgeschichte. Innerhalb der Erforschung der stammesgeschichtlichen Verwandtschaftsverhältnisse von Organismen gab es nach Sommer zwei tief greifende
Revolutionen, die morphologische und die molekulare Phylogenie. Die erste ist
mit der Arbeit des Morphologen Willi Hennig (1913–1976) zur phylogeneti-
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schen Systematik verbunden, die zweite beinhaltet die Verwendung molekularer Sequenzdaten des Erbguts in der phylogenetischen Forschung. Von den
vier oben genannten Theorien Darwins hat der Gradualismus nach Sommer
bisher nicht zu einem eigenständigen Forschungsfeld geführt. Vielmehr ist er
immer wieder kritisiert worden, vor allem von Paläontologen, wie z.B. von
Niles Eldredge und Stephen Jay Gould mit ihrer Theorie des punctuated
equilibrium. Der Gradualismus sei durch ein Evolutionsmodell zu ersetzen,
nach dem kurze Perioden intensiven Wandels mit langen Phasen abwechseln,
in denen kaum Veränderungen stattfinden. Die unterschiedlichen Einschätzungen der Evolutionsgeschwindigkeit, die Gradualisten und Punktualisten
voneinander unterscheiden, lassen sich möglicherweise auf ein unterschiedliches, durch die jeweilige Disziplin bedingtes Zeitverständnis zurückführen6.
Darwins Gesamttheorie wird dadurch nicht in Frage gestellt.
Sommer plädiert dafür, die evolutionsbiologische Ausbildung an Schulen
und Universitäten viel breiter zu fassen und sich um eine Integration der
verschiedenen Forschungsfelder zu bemühen.
In seinem Beitrag „Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene
Krise der Biodiversität – Darwins Theorie aus heutiger evolutionsbiologischer
Sicht“ verfolgt Oliver Betz zwei Zielsetzungen, erstens die Beurteilung der
gegenwärtigen Biodiversitätskrise, die einen anthropogen verursachten Artenverlust darstellt, vor dem Hintergrund erdgeschichtlicher Aussterbeprozesse und zweitens eine differenzierte Darstellung der Entstehung neuer
Arten mit Hilfe wissenschaftlicher Erklärungskonzepte, die seit Charles Darwins epochalem Werk On the Origin of Species erarbeitet wurden. Insbesondere der erste Teil beinhaltet wichtige empirische Informationen, die für eine
ökologisch orientierte Ethik in mehrfacher Hinsicht relevant sind.
Betz stellt zunächst kurz die 1992 in Rio de Janeiro verabschiedete Biodiversitätskonvention und ihre Zielsetzungen vor, die unter anderem in der
Verpflichtung der Vertragspartner bestehen, die Biodiversität auf unserem
Planeten zu erhalten, einen nachhaltigen Umgang mit ihr zu pflegen und
Erträge aus genetischen Ressourcen der Erde in fairer Weise zu teilen. Dabei
wird zwischen der Diversität innerhalb der Arten (genetische Diversität), der
Diversität der Arten (Zahl der Arten in einem Ökosystem) und der Diversität
zwischen Ökosystemen (Vielfalt der ökologischen Systeme auf dem Festland
und im Wasser) unterschieden. Der vom Menschen verursachte Biodiversitätsverlust betrifft alle drei Ebenen. Die Dramatik dieses anthropogenen Verlusts lässt sich nicht mit dem Argument herunterspielen, dass im Laufe der
Erdgeschichte stets Arten ausgestorben sind, die Anzahl neuer Arten jedoch
stetig gewachsen ist, wie Darwin es bereits beschrieben hat. Nach Betz sprechen biologische Erkenntnisse dagegen, die derzeitige Aussterberate von
6
Stebbins, L.G. u. Ayala, F. J. 1985: Die Evolution des Darwinismus. Spektrum der
Wissenschaft 9, 58–71.
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7.000 Arten pro Jahr übersteige bei weitem die Entstehungsrate. Eine Besonderheit dieses Phänomens liegt darin, dass heute im Unterschied zum früheren Artensterben eine einzige Art die Ursache „einer neuen Massenextinktion“ ist, an deren Anfang wir stehen. Betz ermahnt zu bedenken, dass „jede
Art qualitativ einmalig und nach ihrem Aussterben unwiederbringlich samt
ihrem ihr eigenen Genpool verschwunden ist.“ Betz weist auch darauf hin,
dass sich Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität nicht nur ethisch und
ästhetisch, sondern sogar monetär begründen lassen.
Im zweiten Teil seines Beitrags gibt Betz einen Einblick in die Differenziertheit des Artbegriffs bzw. der Artbegriffe, und er stellt fünf verschiedene
Artkonzepte vor: das biologische, das morphologische oder typologische, das
evolutionäre, das ökologische und das genetische Artkonzept. Daneben gibt
es noch ein umfassendes Konzept, das organismische oder integrative Artkonzept (nach Wolfgang Maier), das weitere Kriterien berücksichtigt. Nach
der Vorstellung und Erläuterung dieser Artkonzepte gibt Betz einen informativen Einblick in die Mechanismen der Entstehung von Arten (allopatrische
und sympatrische Speziation). Die Entstehung neuer Arten setzt eine reproduktive Isolation voraus, deren Mechanismen ebenfalls vorgestellt werden.
Betz zeigt in seinem instruktiven Überblick, dass die Entstehung neuer Arten
ein komplexes Phänomen ist und es verschiedene Mechanismen der Artbildung gibt. Der jeweils zur Anwendung kommende konkrete Mechanismus
hängt „stark von den physiologischen, ökologischen und genetischen Eigenschaften der einzelnen Tier- und Pflanzengruppe sowie den jeweiligen Umweltbedingungen“ ab. Abschließend weist Betz darauf hin, dass nach aktuellen Hochrechnungen geologische Zeiträume für die Kompensation des sich
gegenwärtig vollziehenden, anthropogen bedingten massiven Artenrückgangs
veranschlagt werden müssen. Der Beitrag schließt mit einem Appell an das
Verantwortungsbewusstsein des Menschen.
Der Beitrag „Darwin, Ökologie, Naturschutz – Historische, wissenschaftstheoretische und ethische Dimensionen“ von Thomas Potthast erschließt die
Wirkung Darwins auf die naturwissenschaftliche Ökologie einerseits und die
„politische Ökologie“ des Umwelt- und Naturschutzes andererseits. In Darwins Hauptwerk Origin of Species spielen ökologische Überlegungen eine
zentrale Rolle: die Interaktion zwischen verschiedenen Arten ist ein Kernbestandteil der Selektionstheorie, und Darwin formuliert zugleich komplexere
Beispiele der gegenseitigen Beeinflussung, die nicht allein in Form von Konkurrenz stattfindet. Noch stärker ‚ökologisch‘ sind Darwins Werk über die
Bedeutung der Regenwürmer für die Bodenbildung und seine Theorie der
Korallenriffbildung. Doch die Ökologie als eigenständige Disziplin ist erst
nach Darwin auf komplexe Weise entstanden. Konzeptionell hatte Ernst Haeckel (1834–1919) Ökologie als Teildisziplin der Biologie 1866 als eine Art
Umweltphysiologie und zugleich als Haushaltslehre der Natur formuliert. Ein
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praktiziertes Forschungsprogramm entstand erst Ende des 19. Jahrhunderts
in der Botanik, nicht nur, aber eben auch auf Darwins Theorien aufbauend.
Die Rezeption der Evolutionstheorie verlief in der Ökologie des 20. Jahrhunderts durchaus wechselhaft. Insbesondere in der Ökosystemforschung
herrschten zum Teil physikalisch-thermodynamische Theorien vor, die den
individuellen Organismus und den Formenwandel – also den Kern der Darwin’schen Konzeptionen – kaum beachteten. Auf der anderen Seite entstand
als Gegenbewegung eine „Darwinian Ecology“ bzw. „Evolutionary Ecology“,
die sich explizit auf jene fokussierten. Die Verbindung beider Richtungen
erscheint immer noch als Desiderat, also die evolutionäre Dimension der
Dynamik raumzeitlich größerer ökologischer Einheiten: Ökosysteme, Landschaften, Biome. Auch die Verbindung von Stoff- und Energieflüssen mit der
Biodiversitätsforschung ist noch nicht konzeptionell und praktisch vollzogen.
In ethischer Perspektive stellten sich bereits vor Darwin unterschiedliche
Fragen des richtigen Umgangs mit der belebten Natur und der Landschaft,
die er vor allem mit Blick auf die nachhaltige Funktion der Landwirtschaft
klugheitsethisch behandelte. Der Kieler Zoologe und spätere Berliner Naturkundemuseumsdirektor Karl August Möbius (1825–1908) stellt einen besonders interessanten Fall der Darwin-Rezeption für die Ökologie und den Umweltschutz dar: Im Zusammenhang mit der Frage der Überfischung der
Austern entwickelt er das Konzept der „Lebensgemeinde“ (später: Lebensgemeinschaft) auf Basis der ökologisch interpretierten Selektionstheorie Darwins.
Russische bzw. sowjetische Biologen forderten bereits Anfang des
20. Jahrhunderts zum Zwecke wissenschaftlicher Forschung einen großflächigen Schutz von Evolutionsprozessen, die von Menschen unbeeinflusst bleiben. Potthast erläutert dabei, dass dieses Schutzmotiv nicht unproblematisch
ist, denn Evolution findet ja immer statt und es ist schwierig, einen Schutz
„natürlicher“ Prozesse zu begründen, es sei denn, sie würden immer seltener
– und dies ist ja der Fall. Neben vielen wichtigen klugheitsethischen, also
instrumentellen Gründen zur Erhaltung der Vielfalt und Variationsfähigkeit
natürlicher und von Menschen seit Langem im lokalen Kontext gezüchteter
Tier- und Pflanzenformen stellt sich die Frage nach den nicht nutzungsbezogenen Werten der biologischen Vielfalt und ihrer Prozesse. Angesichts der
evolutionären Verbundenheit des Menschen mit allem Lebendigen plädiert
Potthast abschließend dafür, die Anerkennung eines über menschliche Interessen hinausgehenden Eigenwertes der Biodiversität zumindest für moralisch plausibel zu erachten, ohne sich dabei die Begründungslast eines (absoluten) moralischen Selbstwertes im strengen Sinne auferlegen zu müssen.
18
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Mit ihrem Beitrag „Der Mensch, das moralfähige Tier – Zur Anthropologie
und Ethik von Charles Darwin“ wendet sich Eve-Marie Engels dem zweiten
Schwerpunkt des Sammelbandes zu, Darwins Evolutionärer Anthropologie.
Engels verfolgt das Ziel, einige tief verwurzelte Missverständnisse und Vorurteile über Darwins Menschenbild und sein Verständnis von Kultur und Ethik
auszuräumen. Mit der nicht von Darwin stammenden Wortschöpfung „Sozialdarwinismus“ verbindet sich im Allgemeinen die Vorstellung, dass Darwin
der Begründer und Verfechter von Ideen einer rücksichtslosen, auf dem vermeintlichen Recht des Stärkeren basierenden Soziallehre und Ethik sei. Darwin war jedoch ein sehr differenzierter Denker, ein Verfechter von Ideen der
Aufklärung und Humanität und ein Brückenbauer zwischen den biologischen
und geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen.
Nach einer Skizze von Darwins Theorie, wie er sie in seinem Werk On the
Origin of Species entwickelt, stellt Engels Darwins Evolutionäre Anthropologie
vor, die Gegenstand seines Werkes Descent of Man (2. Aufl. 1874) ist. Bereits
am Ende von Origin of Species hatte Darwin einen kurzen Hinweis darauf
gegeben, dass durch seine Theorie auch auf die Entstehung des Menschen
und seine Geschichte Licht fallen werde. Dieser Aspekt wird nun ausführlich
in Descent of Man behandelt. Hier betrachtet Darwin den Menschen in seinen
körperlichen und geistigen Aspekten aus einer evolutionstheoretischen Perspektive und wird damit zum Begründer einer Evolutionären Anthropologie.
Der Mensch hat sich allmählich, in einem langen, graduell verlaufenden Evolutionsprozess, aus nichtmenschlichen Vorfahren entwickelt. Dennoch ist ein
wichtiges Thema dieses Werkes ein Spezifikum des Menschen, seine Moralfähigkeit, der „moralische Sinn“ des Menschen. Darwin möchte in seinem
Werk aus dem Blickwinkel seiner Theorie die Frage nach dem Ursprung des
moralischen Sinns oder Gewissens („moral sense or conscience“) beantworten,
denn niemand habe sich dieser bedeutenden Frage bisher „ausschließlich aus
der Perspektive der Naturgeschichte“ angenähert. Engels kommt in ihrer
detaillierten Textanalyse von Darwins Werk zu interessanten Einblicken in
Darwins Menschenbild und sein Verständnis von Moral und Ethik. Darwins
moralische und ethische Vorstellungen sind ungeachtet seines revolutionären
Ansatzes tief in Traditionen der philosophischen Ethik und Tugendlehre
verwurzelt. Darwin verweist auf die Grenzen der natürlichen Selektion in der
Anwendung auf den Menschen. Durch seine Moralfähigkeit und die gelebte
Moral ist der Mensch in der Lage, die natürliche Selektion ein Stück weit außer Kraft zu setzen, wie sich dies auch in seinem Sozialverhalten gegenüber
Kranken und Schwachen zeigt. Darwin spricht sich für die Kultivierung sozialer Tugenden und die Ausweitung des moral sense, des Wohlwollens (sympathy), auf alle Menschen ungeachtet ihrer Rasse und Nation sowie auf die emp-
ŚĂƌůĞƐĂƌǁŝŶƵŶĚƐĞŝŶĞĞĚĞƵƚƵŶŐĨƺƌĚŝĞtŝƐƐĞŶƐĐŚĂĨƚĞŶ
19
findungsfähigen Tiere aus. Der Erziehung des Menschen, auch der Religion,
misst er bei der Herausbildung und Kultivierung solcher Tugenden eine große Bedeutung bei. Darwins Ansatz kann daher auch für die Tierethik genutzt
werden. Engels kommt zu dem Ergebnis, dass Moral für Darwin ein kulturgeschichtliches Phänomen mit naturgeschichtlichen Wurzeln ist. Darwin vertritt damit ein anderes Menschenbild als radikale Vertreter der heutigen Soziobiologie. Allerdings weist Engels auch auf ein bisher ungelöstes Problem bei
Darwin hin. Einerseits vertritt Darwin einen Gradualismus und geht von
einer graduellen Evolution der menschlichen Spezies von nichtmenschlichen,
affenähnlichen Vorfahren und damit auch von einem nur graduellen Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Tieren aus. Andererseits reserviert er die Moralfähigkeit im genuinen Sinne für den Menschen. Darwin hat
nicht definiert, was er unter einer „difference of degree“ im Unterschied zur
„difference of kind“ versteht, d.h. er hat keine Kriterien für diese Unterscheidung genannt. Engels hält den Gradualismus bei Darwin daher für „überarbeitungsbedürftig“.
In den folgenden beiden Beiträgen steht die Bedeutung von Darwins Theorie
für die Anthropologie im Mittelpunkt. Dirk Backenköhler untersucht den
Einfluss von Darwins Theorie auf die Anthropologie des 19. Jahrhunderts,
während Miriam Noël Haidle die Bedeutung Darwins für die Anthropologie
des 20. und 21. Jahrhunderts darstellt.
In seinem Beitrag „Auf Spuren zur Abstammung des Menschen“ unternimmt Dirk Backenköhler „eine kleine Reise in die Geschichte der Anthropologie zu Brennpunkten anthropologischer Debatten vor und kurz nach der
Publikation von Darwins Evolutionstheorie“. Lange vor dem Erscheinen von
Darwins eigener Anwendung seiner Theorie auf den Menschen in Descent of
Man (1871) löste sein Werk Origin of Species Debatten über die Abstammung
des Menschen von nichtmenschlichen, affenähnlichen Vorfahren aus. Vielen
von Darwins Zeitgenossen war sofort klar, welchen Sprengstoff sein Werk
beinhaltete. Besonders deutlich wurde dies 1863, als gleich mehrere Monografien und Schriften angesehener Wissenschaftler zur Abstammung des Menschen erschienen (Huxley, Vogt und andere) und Ernst Haeckel (1834–1919)
sein flammendes Plädoyer für Darwins Theorie vor der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Stettin hielt, in welchem er zugleich
weltanschauliche Konsequenzen aus Darwins Theorie zog. Obwohl der
Mensch seit der Entstehung von Darwins Theorie in den 1830er Jahren als
Anwendungsgegenstand mit eingeschlossen war und er viele Notizen angefertigt hatte, zögerte er nach der Publikation von Origin of Species aus Angst vor
kritischen Reaktionen zwölf Jahre lang mit der Veröffentlichung seines Buches über die Abstammung des Menschen. Die Arbeiten von Huxley, Vogt,
Haeckel und anderen beeinflussten und ermutigten ihn zur Ausarbeitung und
Publikation von Descent of Man.
20
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Backenköhler unternimmt zunächst mehrere gedankliche Reisen, die auch
Zeitreisen in die Vergangenheit vor Darwin sind, um die Hintergründe aufzuzeigen, vor denen die anthropologischen Diskussionen im Umfeld von
Darwins Theorie geführt wurden. Diese Reisen führen nach Göttingen ins 18.
Jh. zu dem Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840), der
die Unterschiede zwischen menschlichen Ethnien als körperliche und kulturelle Varietäten auf einer Entwicklungsstufe betrachtete und nicht, wie einige seiner Zeitgenossen, als hierarchische Differenzen. Zur Beleuchtung der
Materiallage geht es nach Wien, wo die präparierte Haut eines afrikanischen
Gorillas besichtigt werden konnte, nach Dresden, wo zwei mikrozephale mexikanische Kinder als „letzte Aztekenpriester“ präsentiert wurden und seinerzeit „hierarchische diskriminierende Einstellungen“ verbreitet waren, sowie
zum Neandertal bei Düsseldorf. Mit der Identifikation des Neandertalers als
Überrest einer sehr alten Menschenform verlängerten sich die Menschheitsgeschichte und damit der Zeitrahmen der Entstehung des Menschen, was
für die anschließenden Überlegungen zur Evolution des Menschen eine wesentliche Voraussetzung war. Backenköhler zeigt anhand der 1863 erschienenen Schriften von Huxley, Vogt, Lyell und Haeckel über den Menschen, wie
Darwins Origin of Species in der Anthropologie rezipiert wurde. Im Unterschied zu Huxley, Vogt und Haeckel war Darwins Mentor und Freund
Charles Lyell von der Idee der Abstammung des Menschen von affenähnlichen Vorfahren nicht überzeugt, leistete aber der Durchsetzung der Evolutionstheorie und ihrer Anwendung auf den Menschen dennoch einen erheblichen Dienst, da er der Vorstellung vom hohen Alter der menschlichen Spezies
zum Durchbruch verhalf. Abschließend führt die gedankliche Reise Backenköhlers in das Anatomische Institut der Universität Tübingen, wo der Leichnam einer Frau des südafrikanischen San-Volkes liegt, über deren Organe
drei Dissertationen und eine größere Arbeit des Lehrstuhlinhabers angefertigt
wurden, die insgesamt einen „spannenden Einblick in Stimmungen und Lage
der Anthropologie kurz nach der Veröffentlichung von Darwins Evolutionstheorie geben.“ Ein wichtiges Ergebnis von Backenköhlers Abhandlung ist die
Feststellung, dass nicht die Evolutionstheorie selbst der Grund für diskriminierende Hierarchisierungen von Menschen war, sondern die Anschauungen
der jeweiligen Forscher. Insgesamt kommt Backenköhler zu dem Ergebnis,
dass es vielen Anthropologen im 19. Jahrhundert „zunächst nicht gelang, das
Potential, das die Evolutionstheorie bot, voll zu nutzen.“ Besonders althergebrachte rassistische Traditionen und Vorurteile standen den Forschern häufig
im Wege. Auch Darwins Werk Descent of Man änderte daran zunächst nichts.
Das Werk wurde selbst von Fachleuten zunächst nur verhalten aufgenommen.
Miriam Noël Haidle zeigt in ihrem Beitrag „Darwin, Lucy und das Missing
Link – Evolutionäre Anthropologie im 21. Jahrhundert“ die beeindruckende
Aktualität von Darwins Evolutionärer Anthropologie, indem sie aus seinem
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21
Werk Descent of Man einzelne Äußerungen herausgreift und Darwins Einschätzung mit dem heutigen Forschungsstand vergleicht. So nahm Darwin
an, dass die Wiege der Menschheit in Afrika7 sei, während Haeckel sie in Asien vermutete. Die Entwicklung des aufrechten Ganges ist ein zentrales Thema, das nach der Entdeckung von „Lucy“, dem Skelett eines weiblichen Australopithecus afarensis, im Jahr 1974 besondere Aktualität erlangte. Anhand
der zunehmenden Zahl an fossilen Belegen lässt sich die biologische Evolution der Homininen, der Menschenartigen, immer besser rekonstruieren.
Haidle beschreibt die anatomische, kognitive und sprachliche Entwicklung
zum Jetztmenschen auf der Grundlage aktueller Forschungen, auch solcher
zur Gehirnentwicklung. Auch in der biologischen Anthropologie erweisen
sich die Fortschritte der Genetik mit ihrer Möglichkeit der Sequenzierung des
menschlichen Genoms und der vergleichenden Analyse des Genoms von
Jetztmensch und Neandertaler von unschätzbarem Wert. Durch die Genetik
lassen sich Fragen wie die der Hautfarbe des Neandertalers beantworten, die
bisher als unlösbar galten. Haidle befasst sich in ihrem Beitrag auch mit der
kognitiven Entwicklung des Menschen, für deren Untersuchung sich der
Umgang mit Werkzeug besonders eignet, weil dies ein Beispiel ist, dessen
Entwicklung sich im Laufe der menschlichen Evolution bis zu den nichtmenschlichen Lebewesen zurückverfolgen lässt. Schon Darwin führte in
Descent of Man Werkzeuggebrauch bei Tieren an, während sich heute bei
Tieren auch die Werkzeugherstellung nachweisen lässt. Tiere können ihr kognitives Potential beeindruckend unter Beweis stellen, wenn es auf die Erfindung passender Lösungen zur Bewältigung neuer Problemstellungen ankommt. Die Autorin kommt daher zu dem Schluss, dass die Übergänge des
Werkzeugverhaltens bei heute lebenden Tieren zum Werkzeugverhalten des
modernen Menschen im Laufe der Evolution fließend sind. Nach unserem
bisherigen Wissen gibt es nach Haidle jedoch einen Unterschied zwischen
menschlicher und tierischer Werkzeugherstellung hinsichtlich der ProblemLösung-Distanz, d.h. der Distanz zwischen der Wahrnehmung eines Problems und den verschiedenen Schritten oder Umwegen zu seiner Lösung.
Hierzu gehört vor allem der Gebrauch von Werkzeugen zur Herstellung neuer Werkzeuge, die Konstruktion von Werkzeugen, die mehrere Funktionen
erfüllen können und bei Bedarf flexibel einsetzbar sind und die Kombination
verschiedener Materialien bei der Herstellung von Werkzeugen.
Haidle widmet auch der Kultur einen Abschnitt. Unter „Kultur“ versteht
sie die nichtgenetische, soziale Übertragung von Informationen. Auch diese
Fähigkeit ist nicht auf den Menschen beschränkt. Trotz all dieser hoffnungsvollen Funde und Ergebnisse bleiben jedoch auch nach 150 Jahren Forschung
noch viele Fragen offen. Zwischen dokumentierten Entwicklungsstadien gibt
es noch große Lücken, was aber die Anwendbarkeit der Evolutionstheorie auf
den Menschen keineswegs widerlegt. Wir sind heute in einer unvergleichbar
7
Siehe hierzu Fußnote 1 in Haidles Beitrag.
22
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besseren Situation als Darwin zu seiner Zeit. Dennoch sind „archäologische
und paläoanthropologische Quellen […] erhaltungs- und entdeckungsbedingt
lückenhaft“.
In den beiden folgenden Beiträgen steht Darwins Bedeutung für die Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften im Mittelpunkt.
Nicole Becker untersucht in ihrem Beitrag „Evolutionäres Denken im
Kontext erziehungswissenschaftlicher Diskussionen“. Obwohl die Biowissenschaften in der aktuellen Erziehungswissenschaft eine größere Rolle als in den
1970er und 1980er Jahren spielen, bezeichnet der Begriff „Evolutionäre Pädagogik“ nach Nicole Becker keineswegs einen konsolidierten Theorietyp, sondern eher eine Randerscheinung. Die Autorin konzentriert sich auf zwei
Hauptvarianten der Rezeption evolutionären Denkens in den Erziehungswissenschaften: Der erste Rezeptionsansatz, „Verhalten evolutionsgeschichtlich
gedeutet“, stützt sich vorzugsweise auf Annahmen aus der Soziobiologie und
der Evolutionären Psychologie. Becker skizziert ihn am Beispiel der evolutionsbiologischen Deutung des menschlichen Lernens und stützt sich dabei auf
Überlegungen des Soziobiologen Eckhard Voland, mit dessen Position sie
sich kritisch auseinandersetzt. Danach ist die Lernfähigkeit genetisch fixiert,
so dass der Mensch zwar nicht anders könne als lernen, doch nur im Rahmen
hochspezialisierter kognitiver Programme des Gehirns, „darwinischer Algorithmen“, die die Inhalte des Lernens begrenzten. Was wir lernen können,
ergebe sich aus den Bedingungen unserer Entwicklungsgeschichte und sei an
die Probleme angepasst, mit denen unsere Vorfahren konfrontiert waren. Für
Becker ergibt sich daraus in zahlreichen Kontexten eine Reihe von Problemen
für die praktische Pädagogik. Sie betreffen alle Situationen, in denen der Nahbereich der Kleingruppenmoral überschritten werden muss, angefangen von
der Idee und Durchsetzung allgemeiner Menschenrechte bis hin zur Bildung
für eine nachhaltige Entwicklung. Hinzuzufügen ist, dass diese „darwinischen
Algorithmen“ nicht auf Darwin selbst zurückgehen, wie im Beitrag von EveMarie Engels deutlich wird. Darwin ging davon aus, dass der Mensch im Laufe der Kulturgeschichte dazu befähigt würde, sein Wohlwollen zunehmend
auszuweiten und alle Menschen ungeachtet ihrer Nation oder Rasse und
schließlich auch die Tiere in dessen Kreis einzuschließen. In ihrer kritischen
Zwischenbilanz weist Becker einige definitorische, methodische und inhaltliche Schwächen des soziobiologischen Ansatzes nach.
Die zweite Rezeptionsstrategie betrachtet „Pädagogik als Evolution“. Hier
stehen pädagogische Praxen und Institutionen im Mittelpunkt, und es wird
zum Beispiel gefragt, „warum so etwas wie eine Schule entstanden“ ist und
weshalb „sie sich beinahe flächendeckend mit ähnlichen Merkmalen durchsetzen“ konnte. Welche Funktion erfüllt Erziehung in unserer Gesellschaft?
Nicole Becker führt als Vertreter Alfred Treml an. Nach Treml geht es hierbei
darum, „die zunächst in der Biologie gewonnenen Erkenntnisse einer (biologischen) Evolution von ihren biologischen Spezifika zu befreien, die allgemei-
ŚĂƌůĞƐĂƌǁŝŶƵŶĚƐĞŝŶĞĞĚĞƵƚƵŶŐĨƺƌĚŝĞtŝƐƐĞŶƐĐŚĂĨƚĞŶ
23
nen formalen Strukturen von evolutionären Prozessen herauszuarbeiten und
damit auf die Ebene einer Allgemeinen Evolutionstheorie zu bringen.“ Anders
als im ersten Ansatz ist Lernen hier „eine Form flexibler Anpassung lebender
Systeme an ihre (wechselnden) Umweltbedingungen durch Veränderung
ihrer Möglichkeiten, sich zu verhalten“ (Treml). Auch an diesen Ansatz richtet Nicole Becker kritische Fragen und schlägt daher vor, das kritische Potential evolutionärer Erklärungsansätze zu nutzen und „evolutionäres Denken als
Reflexionsangebot“ zu betrachten.
Peter Meyer weist in seinem Beitrag „Darwin und die Gesellschaftstheorie“
auf eine große Bandbreite sehr unterschiedlicher, teilweise entgegengesetzter
Weisen der Rezeption Darwins in der Gesellschaftstheorie hin. Die Entwicklung von Darwins Evolutionstheorie und die der modernen Gesellschaftstheorie vollzogen sich nach Meyer fast zeitgleich im Kontext der europäischen Aufklärung. Herbert Spencer (1820–1903), der zu den Klassikern
der Soziologie gehört, suchte schon zu Lebzeiten Darwins nach der Verbindung der menschlichen Stammesgeschichte mit der Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Allerdings entwickelte Spencer sein Evolutionskonzept
unabhängig von Darwin und vertrat auch ein anderes Konzept als dieser. Im
Unterschied zu Darwin bediente sich Spencer eines teleologischen Denkmodells, wobei er sich an der zielstrebigen Entwicklung des Embryos orientierte.
Auch ging er im Unterschied zu Darwin von einem universell wirksamen
Fortschrittsgesetz aus, das in der Evolution und allen Bereichen der Menschheitsgeschichte zur Anwendung käme. Jedoch scheint sich gegen Ende des 19.
Jahrhunderts in der Soziologie Darwins Naturalismus durchgesetzt zu haben.
Zu Recht hebt Meyer hervor, dass der Sozialdarwinismus fälschlicherweise
Darwin zur Last gelegt wird, während tatsächlich Spencer, Ludwig Gumplowicz (1838–1909) und William G. Sumner (1840–1910) seine wichtigsten
Protagonisten gewesen seien. Darwin verwendete den Begriff „struggle for life“
lediglich in einem weiten und metaphorischen Sinn. In einem kontrastierenden Vergleich stellt Meyer die Positionen von Spencer und Peter Kropotkin
(1842–1921), der die Kooperation und wechselseitige Hilfe der Lebewesen
untereinander als wichtigsten Faktor der Evolution betrachtete und sich dabei
auf Darwin stützte, einander gegenüber. Meyer erwähnt auch den Ansatz der
Verwandtenselektion (kin selection) von William Hamilton (1936–2000), mit
dem die Vorstellungen des traditionellen Darwinismus erweitert wurden.
Abschließend kommt Meyer zu dem Ergebnis, dass Entwicklungen des Darwinismus geeignet sind, der Gesellschaftstheorie neue Impulse zu vermitteln.
In dem abschließenden Beitrag von Günter Altner „Charles Darwin und die
Dynamik der Schöpfung“ steht das Verhältnis von Evolutionstheorie und
Schöpfungstheologie im Mittelpunkt. Dieses ist selbst heute noch Gegenstand
von Streitfragen. Obwohl die Evolutionstheorie „zur Fundmentaltheorie der
modernen Biologie geworden ist“, zweifeln immerhin noch nicht unwesentli-
24
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che Teile der Bevölkerung in Deutschland und anderswo an Darwins Theorie.
Ein Grund für diese unvereinbaren Standpunkte ist nach Günter Altner „eine
permanente Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass wissenschaftliche Empirie
und Glaubenserfahrungen methodisch auf ganz verschiedenen Ebenen angesiedelt sind.“ Naturwissenschaft betreibe eine rein weltimmanente Faktorenanalyse im Sinne einer Aufdeckung von Ursache-Wirkungszusammenhängen, in der die Frage nach Gott prinzipiell ausgeschlossen sei. Die religiöse
Sichtweise resultiere demgegenüber aus einer „Existenzerfahrung in der Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes“ – eine methodische Trennung, die zu
Darwins Zeiten noch keine Selbstverständlichkeit war. Als eine der großen
Leistungen Darwins stellt Altner heraus, dass Darwin trotz seines physikotheologischen Hintergrundes „die empirische Ursachenanalyse in die
Biologie einführte“. Dies gelang ihm zudem auch noch „auf dem schwierigsten Feld der belebten Natur: der allgemeinen Abstammungsgeschichte“.
Wenn die Befürworter der Design-Theorie den göttlichen Designer gegen
Darwins Selektionstheorie ins Spiel bringen, pfuschen sie dieser nach Altner
„unsachlich ins Handwerk“. Dasselbe gilt für die Gegenseite, wenn versucht
wird, die Existenz Gottes mittels naturwissenschaftlicher Argumente zu widerlegen. Sinnvoll erscheint jedoch die Frage, ob es irgendwo einen Berührungspunkt zwischen Naturwissenschaft und Religion gebe. Dies umfasst
sowohl die akademische Theologie als auch den Glauben insgesamt, was aber
nicht in eins gesetzt werden darf. Naturwissenschaft und Religion richten sich
auf den gleichen Wirklichkeitszusammenhang, nämlich auf „die Existenz des
Menschen in einer werdenden Welt, die einerseits als Evolution und andererseits als Heilsgeschehen (Schöpfung und Erlösung) verstanden wird“.
Diese Frage hat Darwin auch selbst bewegt, da er ursprünglich strenggläubig und von der Richtigkeit der Physikotheologie überzeugt war, einer Lehre,
wonach aus der zweckmäßigen Struktur der Organismen, ihrem Design, auf
einen göttlichen Schöpfer, einen intelligenten Designer geschlossen werden
könne. Günter Altner schildert den Erkenntnisweg Darwins vom Gläubigen
zum Agnostiker, für den die Gottesfrage ein ungelöstes Rätsel bleibt, von der
physikotheologischen Weltsicht in eine offene Evolutionsperspektive. Darwin
sei ein „Denker in ‚offenen Systemen‘“ gewesen.
Damit ist nach Altner das Konzept der Selbstorganisation vereinbar, das in
den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführt wurde: „Die Gesetze der
Evolution sind mit sich selbst unterwegs, sie öffnen sich zu neuen Leistungen,
wie man an der aufsteigenden Evolutionsreihe sehen kann.“ Es sei nicht unangemessen, von einer „immanenten Transzendenz“ zu sprechen. Doch gebe
es auch in diesem Modell keine biologischen Beweise für einen göttlichen
Designer. Dennoch sei es „gewiss nicht verkehrt, sich in dieser Matrix unter
dem Vorzeichen des Glaubens das verborgene Handeln Gottes mit seiner
Schöpfung vorzustellen.“ Nach Altner ist dies jedoch nicht im Sinne des „Lücken- und Designarguments“ misszuverstehen, wie dies so oft geschieht. Inwiefern – so sei hier ergänzt – andererseits jedoch tatsächlich von einem
ŚĂƌůĞƐĂƌǁŝŶƵŶĚƐĞŝŶĞĞĚĞƵƚƵŶŐĨƺƌĚŝĞtŝƐƐĞŶƐĐŚĂĨƚĞŶ
25
„Aufstieg“ gesprochen werden kann, bleibt durchaus strittig, weil es jenseits
dessen liegt, worüber naturwissenschaftlich ebenso wie theologisch Einigkeit
bestehen dürfte.
Darwin hat mit seinen Arbeiten das wissenschaftliche Verständnis der Lebensprozesse und der Lebensformen ebenso wie die menschliche Selbstverortung darin maßgeblich beeinflusst. Die Auswirkungen lassen sich nicht auf
einen simplen Nenner bringen, sondern laden vielmehr zu einer detaillierten
Beschäftigung mit den jeweiligen Fachdisziplinen und Themenfeldern ein. In
diesem Sinne ist die Vielfalt der Wirkungen Darwins eine Anregung zum
Weiterdenken über die natürlichen Grundlagen der Evolution und der Geschichte sowie der Verständigung darüber, was dies für heutige und zukünftige Menschen bedeutet.
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Thomas Junker
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Das Darwin-Jahr 2009 hat noch einmal eindrucksvoll bestätigt: Charles Darwin ist die
unangefochtene Identifikationsfigur der Evolutionsbiologie, ja oft kann man den
Eindruck gewinnen, er sei ihr einziger erwähnenswerter Repräsentant. Dies ist nicht
nur eine höchst einseitige Betrachtungsweise, sondern auch unfair den vielen anderen
Forschern gegenüber, die Darwins Werk erst möglich machten, die es korrigierten
und weiterentwickelten. Schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schien es immer unbegreiflicher, dass die so einleuchtende Vorstellung der Evolution erst mit
Darwin ihren Anfang genommen haben sollte. Man suchte nach Vorläufern und fand
eine Reihe von Autoren, die sich mehr oder weniger explizit mit dem Gedanken der
Evolution auseinandergesetzt hatten. Damit hatte man aber nur eines von mehreren
Konzepten erfasst, auf denen die moderne Evolutionstheorie beruht. Darwins Bedeutung und die allgemeine Reichweite der Darwin’schen Revolution lassen sich nur
verstehen, wenn man die Idee der Evolution als zentralen Knotenpunkt eines ausgedehnten theoretischen Geflechts auffasst. Entsprechend kann man den historischen
Vorläufern Darwins nur gerecht werden, wenn man diese breitere konzeptuelle
Grundlage der modernen Evolutionstheorie einbezieht. Was dies bedeutet, soll beispielhaft anhand von sechs Themen diskutiert werden: Naturalismus, Zweckmäßigkeit der biologischen Merkmale, System der Natur, gemeinsame Abstammung, Design
ohne Designer und Emanzipation der Wissenschaft von ideologischer Bevormundung. Dabei wird sich zeigen, dass gerade auch Autoren, die der Evolutionsidee
gleichgültig oder ablehnend gegenüberstanden, unverzichtbare Beiträge zu ihrer
Durchsetzung geleistet haben.
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Es ist ein ungewöhnliches und interessantes Phänomen, dass die moderne
Evolutionstheorie noch heute nach ihrem Begründer – Charles Darwin –
benannt wird. Normalerweise werden wissenschaftliche Theorien, im Gegensatz etwa zu politischen oder religiösen Weltanschauungen, nicht nach Personen benannt. Und so plädieren viele Biologen dafür, den Begriff ‚Darwinismus‘ zu vermeiden. Entsprechende Vorstöße gab es schon mehrfach, so in
den 1950er Jahren, als die vermeintlich neutrale und bis heute gebräuchliche
Bezeichnung ‚Synthetische Evolutionstheorie‘ geprägt wurde. Allen Neubenennungen waren indes nur Teilerfolge beschieden, und so erfreut sich die
28
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Bezeichnung ‚Darwinismus‘ weiterhin großer Beliebtheit. Woher kommt
diese Identifikation der Evolutionsbiologie mit Darwin, obwohl er ja nicht der
einzige wichtige Theoretiker war und obwohl viele seiner Ideen der kritischen
Überprüfung nicht standgehalten haben?
Der unmittelbarste Grund ist, dass Darwins berühmtes Buch über die Entstehung der Arten (On the Origin of Species by Means of Natural Selection,
1859) den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der neuen Wissenschaft
der Evolution gab. Erstmals gelang es hier überzeugend nachzuweisen, dass es
möglich ist, die Existenz, die Eigenschaften und die Zweckmäßigkeit der Organismen auf natürliche Weise zu erklären. Damit wurden einige der auffälligsten und zugleich rätselhaftesten Phänomene der Natur, die sich der biologischen Forschung über Jahrhunderte hinweg hartnäckig entzogen hatten,
wissenschaftlich verstehbar. Heute ist die Evolution eine Tatsache – so wie es
eine Tatsache ist, dass sich die Erde um die Sonne dreht oder dass die ägyptischen Pyramiden vor mehr als 4.000 Jahren erbaut wurden. Seit Mitte des
20. Jahrhunderts ist auch Darwins Evolutionsmechanismus aus Variation und
Selektion, seine berühmte Theorie der natürlichen Auslese, in ihrer modernisierten Form konkurrenzlos. Dies macht Origin of Species zu einem der wichtigsten Werke der Menschheitsgeschichte und Darwin zu einem der bedeutendsten Biologen aller Zeiten (Junker 1998; 2004; Engels 2007).
Im Rückblick hat Thomas Henry Huxley (1825–1895) seiner Verwunderung darüber Ausdruck verliehen, dass er wie die Mehrzahl der zeitgenössischen Biologen nicht an diese Möglichkeit gedacht hatte: „My reflection,
when I first [1858] made myself master of the central idea of the ‚Origin‘, was,
‚How extremely stupid not to have thought of that!‘“ (Huxley 1887, 197).
Darwin selbst war in der ersten Auflage von Origin of Species nicht auf mögliche Vorläufer eingegangen. In der dritten Auflage vom April 1861 stellte er
dann eine kurze „historische Skizze“ an den Anfang, betonte aber zugleich,
dass die meisten Naturforscher noch immer von der Konstanz der Arten
überzeugt seien:
„I will here attempt to give a brief, but imperfect sketch of the progress of
opinion on the Origin of Species. The great majority of naturalists believe that
species are immutable productions, and have been separately created. This
view has been ably maintained by many authors. Some few naturalists, on the
other hand, believe that species undergo modification, and that the existing
forms of life have descended by true generation from pre-existing forms.“
(Darwin [1861] 1959, 59; zuvor war die historische Skizze bereits in der ersten
deutschen Ausgabe erschienen, vgl. Darwin 1860)
Auf wenigen Seiten nannte Darwin hier 35 Autoren, beginnend mit Aristoteles reicht das Spektrum über Georges Buffon (1707–1788), Jean-Baptiste de
Lamarck (1744–1829), Erasmus Darwin (1731–1802) und Johann Wolfgang
von Goethe (1749–1832), bis zu seinen Zeitgenossen Richard Owen (1804–
1892), Karl Ernst von Baer (1792–1876) und T.H. Huxley.
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29
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die Idee der Evolution zur
selbstverständlichen Überzeugung breiter Teile der gebildeten Bevölkerung
wurde, schien es immer unbegreiflicher, dass diese so einleuchtende und vom
Kausalitätsprinzip geradezu geforderte Vorstellung erst mit Darwins Origin of
Species ihren Beginn gehabt haben sollte. Man suchte nach Vorläufern und
fand neben Lamarck, dessen Werk nie ganz vergessen worden war, eine Reihe
von Autoren, die sich mehr oder weniger explizit mit dem Gedanken der
Evolution auseinandergesetzt hatten (vgl. hierzu beispielsweise Osborn 1894;
Rádl 1909–13; Zimmermann 1953; Glass et al. 1959; Mayr 1982; Bowler 1984;
Lefèvre 2009; Wuketits 1988; Junker 1989; Junker u. Hoßfeld 2009).
Es stellte sich aber auch heraus, dass echte Evolutionsvorstellungen erst
bemerkenswert spät in der Geschichte entstanden sind. Im Gegensatz zu anderen unser Weltbild prägenden Ideen wie dem heliozentrischen System
(Aristarch von Samos) oder dem Atomismus (Demokrit) gab es weder in der
Antike noch in der frühen Neuzeit (vor ca. 1750) Ansätze zu einer echten
Evolutionstheorie. Wenn man bedenkt, wie unbefangen und radikal manche
Denker der Antike und der Aufklärung an anderen Punkten vorgingen, so ist
dies sicher eine erstaunliche und erklärungsbedürftige Tatsache.
Darwins Theorie war aber nicht der erste Versuch, die Entstehung der biologischen Arten zu erklären, und sie war nicht die erste natürliche Erklärung.
Bereits fünfzig Jahre zuvor, im Geburtsjahr Darwins, hatte der französische
Naturforscher Lamarck eine Evolutionstheorie im Sinne einer allmählichen
und unbegrenzten Umgestaltung von Arten vorgelegt (Philosophie Zoologique, 1809). Lamarck hatte auch bereits einen Mechanismus für die Entstehung zweckmäßiger Eigenschaften der Organismen. Er vermutete, dass es zu
Anpassungen kommt, wenn Veränderungen der Umwelt neue Bedürfnisse bei
den Tieren erwecken und neue Tätigkeiten notwendig machen. Dies wiederum soll die Entstehung neuer Organe anregen oder vorhandene Organe
umgestalten. Bei Pflanzen soll es nach Abweichungen in der Ernährung, beim
Licht, der Wärme oder Feuchtigkeit direkt zu evolutionärem Wandel kommen. Lamarck zufolge entstehen zweckmäßige Eigenschaften also, weil Organismen anatomisch und physiologisch sinnvoll auf ihre Umwelt reagieren
können, sich an diese ‚anpassen‘ und die so entstandenen Anpassungen dann
erblich werden (Vererbung erworbener Eigenschaften) (zu Lamarcks Evolutionstheorie vgl. Mayr 1972; Burkhardt 1977; Lefèvre 2009).
Warum aber spielt Darwin diese enorme Rolle in der Wissenschaft und in
den weltanschaulichen Debatten unserer Zeit, während Lamarck kaum mehr
beachtet wird? Wie Ernst Mayr immer wieder betonte, bestand Darwins ‚lange Beweisführung‘ (Darwin 1859, 459) aus einem Bündel verschiedener Konzepte. Als die Wichtigsten nannte er: Die Evolution als solche, die gemeinsame Abstammung der Organismen (einschließlich der Menschen), den
Gradualismus, die Vervielfältigung der Arten und die natürliche Auslese
(Mayr 1985, 757). Ich denke, dass Mayr mit dieser Aufzählung recht hat,
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