laden - Wissenschaft und Aberglauben

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;-) Werner und die Drachen
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
EVOLUTION 6.3.2001
Version 6.3
Charles Darwin, “Entstehung der Arten” – “One long argument”
(91p22)
Zucht
(91p47)
Züchtung
Arten (91p79)
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Darwin unterstreicht die Komplexität des Themas, das in einem Buche nicht
schlüssig darzulegen sei: “Niemand kann mehr als ich selbst die Notwendigkeit
fühlen, später alle Tatsachen, auf welche meine Schlussfolgerungen sich stützen,
mit ihren Einzelheiten bekannt zu machen, und ich hoffe dies in einem künftigen
Werke zu tun, denn ich weiß wohl, dass kaum ein Punkt in diesem Buch zur Sprache kommt, zu welchem man nicht Tatsachen aufführen könnte, die oft zu gerade
entgegengesetzten Folgerungen zu führen scheinen. Ein richtiges Ergebnis lässt
sich aber nur dadurch erlangen, dass man alle Tatsachen und Gründe, welche für
undwelchegegenjedeeinzelneFragesprechen,zusammenstelltundsorgfältiggegeneinander abwägt, und dies kann unmöglich hier geschehen.”
Zuchtwahl erzeuge durch viele kleine Abänderungen am Ende große UnterschiedeundletztlichganzunterschiedlicheRassen.DieZüchterlachenDarwinaus,der
behauptet, diese gingen auf ein und dieselbe Art zurück, denn sie meinen, es habe
schon jeher alle Ur-Varianten dieser Art gegeben. Darwin erklärt sich dies so: “In
Folge langjähriger Studien haben diese Leute eine große Empfindlichkeit für die
Unterschiede zwischen den verschiedenen Rassen erhalten; und obgleich sie sehr
wohl wissen, dass jede Rasse etwas variiert, da sie eben durch die Zuchtwahl solchergeringerAbänderungenihrePreisegewinnen,sogehensiedochnichtvonallgemeinerenSchlüssenausundrechnennichtdengesamtenBetragzusammen,der
sich [!?] durch Häufung kleiner Abänderungen während vieler aufeinanderfolgenden Generationen ergeben muss.”
= heteronome Evolution. Wir haben heute keine Problem, Darwin gegen die ihn auslachenden Züchter Recht zu geben. In den meisten Fällen sind sehr unterschiedlich
aussehende Haustierrassen durch graduelle Umwandlungen aus ein und derselben
Wildform hervorgegangen. Hier gibt es also zweifelsohne einen stetigen “Gradualismus”. In der schützenden Obhut des Züchters, der sich in bestimmte, ihm behagende
Merkmale verliebt hat, können auch mediokre Zwischenstufen erhaltenwerden,diein
freier Wildbahn, also durch natürliche Zuchtwahl, nicht am Leben geblieben werden.
So kann auch eine unter angepasste Varietät erhalten werden; und der an gesunden
Tieren interessierte Züchter wird unter diesen unterangepassten wieder die jeweils
Tüchtigstenauswählen:ergeleitetdieRasseüberHindernisseimEntwicklungsgebirge,
die sie von alleine nicht unbedingt überwunden hätte.
“Es können denn also Varietäten und Arten nicht unterschieden werden außer:
erstens durch Entdeckung von verbindenden Mittelgliedern und zweitens durch
ein gewisses unbestimmtes Maß an Verschiedenheit zwischen ihnen; denn zwei
Formen werden, wenn sie nur sehr wenig voneinander abweichen, allgemein nur
alsVarietätenangesehen,wennsieauchdurchMittelgliedernichtverbundenwerden können. Ihr Betrag von Verschiedenheit aber, welcher zur Erhebung zweier
Formen zum Artenrang für nötig gehalten wird, kann nicht bestimmt werden. In
Gattungen, welche mehr als die mittlere Artenzahl in einer Gegend haben, zeigen
die Arten auch mehr als die Mittelzahl von Varietäten. In großen Gattungen sind
die Arten gerne nahe, aber in ungleichem Grade miteinander verwandt, und bilden kleine, um gewisse andere Arten sich ordnende Gruppen. Mit anderen sehr
naheverwandteArtensindallemAnscheinnachvonbeschränkterVerbreitung.In
allen diesen verschiedenen Beziehungen zeigen die Arten großer Gattungen eine
große Analogie mit Varietäten; und man kann diese Analogien ganz gut verstehen, wenn Arten einst nur Varietäten gewesen und aus diesen hervorgegangen
sind; wogegen diese Analogien vollständig unerklärlich sein würden, wenn jede
Spezies unabhängig erschaffen worden wäre.
Wir haben nun auch gesehen, dass es die am besten gedeihenden oder herrschenden Spezies der größeren Gattungen in jeder Klasse sind, welche, im Durchschnitt
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(91p89)
(91p88-93)
(91p93)
(91p110)
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genommen, die größte Zahl von Varietäten liefern; und Varietäten haben ... Neigung, in neue und bestimmte Arten verwandelt zu werden. Dadurch neigen auch
die großen Gattungen zur Vergrößerung; und in der ganzen Natur streben die Lebensformen, welche jetzt herrschend sind, durch Hinterlassung vieler abgeänderter und herrschender Abkömmlinge noch immer herrschender zu werden.”
Die“NotwendigkeiteinesgroßenBestandeseinerArtfürihreErhaltungerklärt...
einige eigentümliche Fälle in der Natur, wie z.B., dass sehrseltenePflanzenzuweilen auf den wenigen Flecken, die vorkommen, außerordentlich zahlreich vorkommen, und dass manche gesellige Pflanzen selbst auf der äußersten Grenze ihres
Verbreitungsbezirkes gesellig, d.h. in sehr großer Anzahl beisammen gefunden
werden. In solchen Fällen kann man nämlich glauben, eine Pflanzenart vermöge
nurdazubestehen,wodieLebensbedingungensogünstigsind,dassihrervielebeisammen leben und so die Art vor äußerster Zerstörung bewahren können.”
Darwin schildert die Komplexität der Beziehungen zwischen den verschiedenen
Lebewesen, gibt zahlreiche Beispiele; Ansätze zu einer “Pflanzensoziologie” bzw.
Ökologie. Den Begriff “Kampf ums Dasein” relativiert er: er meine damit nicht
nur den Kampf verschiedener Lebewesen und Arten direkt miteinander, sondern
auch mit ihren Umständen, mit der Natur, oder mit den Wesen, von denen sie in
irgendeiner Weise abhängig sind. In gewisser Weise subsummiert er sogar Kooperation unter Kampf.
“Jedermannhatgehört,dass,wenninAmerikaeinWaldniedergehauenwird,eine
ganz verschiedene Pflanzenwelt zum Vorschein kommt. Und doch ist beobachtet
worden, dass die alten Indianerruinen im Süden der Vereinigten Staaten, wo der
frühere Baumbestand abgetrieben worden sein musste, jetzt wieder eben dieselbe
bunte Mannigfaltigkeit und dasselbe Artenverhältnis wie die umgebenden unberührten Wälder darbieten. Welch ein Kampf muss hier jahrhundertelang zwischen den verschiedenen Baumarten stattgefunden haben, deren jede ihre Samen
jährlich zu Tausenden abwirft! Was für ein Krieg zwischen Insekt und Insekt, zwischen Insekten Schnecken und anderen Tieren, mit Vögeln und Raubtieren, welche alle sich zu vermehren strebten, alle sich voneinander oder von den Bäumen
undihrenSamenundSämlingenodervonjenenanderenPflanzennährten,welche
anfänglich den Boden überzogen und hierdurch das Aufkommen der Bäume gehindert hatten. Wirft man eine Handvoll Federn in die Luft, so müssen alle nach
bestimmten Gesetzen zu Boden fallen; aber wie einfach ist das Problem, wohin
einejedefallenwird,imVergleichzuderWirkungundRückwirkungderzahllosen
Pflanzen und Tiere, welche im Lauf von Jahrhunderten das Zahlenverhältnis und
dieArtenderBäumebestimmthaben,welchejetztaufdenaltenindianischenRuinen wachsen.”
“Ehe ich aber einen schönen und wertvollen Artikel in der North British Review,
1867, gelesen hatte, versäumte ich doch, dem Umstande Gewicht beizulegen, wie
selten einzelne Abänderungen, mögen sie unbedeutend oder scharf markiert sein,
sich erhalten können. Der Verfasser nimmt den Fall eines Tierpaares an, welches
während seiner Lebenszeit zweihundert Nachkommen erzeugt, von denen aber
aus verschiedenen zerstörenden Ursachen im Mittel nur zwei überleben und ihre
Art fortpflanzen. Für die meisten höheren Tiere ist dies eine extreme Schätzung,
aber durchaus nicht so für viele der niederen Organismen. Der Verfasser zeigt
dann, dass, wenn ein einzelnes in irgendeiner Weise variierendes Individuum geboren würde, und es doppelt so viel Aussicht hätte fortzuleben wie die anderen Individuen, die Wahrscheinlichkeit sehr gegen sein Fortleben sein würde. Angenommen, es bliebe leben und pflanzte sich fort, und die Hälfte seiner Jungenerbte
die günstige Abänderung, sowürdedasJungedoch,wiederVerfasserweiterzeigt,
nur unbedeutend mehr Aussicht haben, leben zu bleiben und zu zeugen, und diese
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AussichtwürdeindenfolgendenGenerationenimmerweiterabnehmen.Ichglaube, man kann die Richtigkeit dieser Bemerkungen nicht bestreiten.”
Im Gegenargument behauptet Darwin, dass die Umstände die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Variationen, und anscheinend auch ganz bestimmter Variationen, erhöhen; das läuft wohl auf die genetische Drift hinaus und bedeutet
eine starke Option für den Gradualismus.
“Man darf indessen nicht übersehen, dass gewisse, im Ganzen stark ausgeprägte
(91p111)
Abänderungen, welche niemand für bloße individuelle Verschiedenheiten erklären dürfte, häufig in Folge des Umstandes wiederkehren, dass eine ähnliche
Organisation ähnliche Einflüsse erfährt. Von dieser Tatsache könnten von unseren domestizierten Formen zahlreiche Beispiele angeführt werden. Wenn in solchenFälleneinvariierendesIndividuumseineNachkommenseinenneuerlangten
Charakterüberlieferte,sowürdees,solangediebestehendenBedingungendieselben blieben, ohne Zweifel eine noch stärkere Neigung überliefern, in derselben
Weise zu variieren. Es lässt sich auch kaum daran zweifeln, dass die Neigung, in
einer und derselben Art und Weise zu variieren, häufig so stark gewesen ist, dass
alle Individuen derselben Spezies ohne Hilfe irgendeiner Art von Zuchtwahl ähnlichmodifiziertwordensind.Eskönnteaberauchnurderdritte,vierteoderzehnte
TeilderIndividuenindieserWeiseaffiziertwordensein,undsolcherFällekönnen
mehrere angeführt werden... Wenn nun in derartigen Fällen die Abänderung von
einer vorteilhaften Natur wäre, so würde die ursprüngliche Form bald in Folge des
Überlebens des Passendsten durch die modifizierte verdrängt werden.”
p114-115
)
Zum Problem der Koevolution: Die Röhren der Blumenkronen des roten Klee
(91
seien so lang, dass die Honigbienen nicht hineinlangen und Nektar daraus saugen
könnten.DerroteKleeseidarumganzaufdieHummelnangewiesen.“GanzeFelder roten Klees bieten daher der Korbbiene vergebens einen Überfluss von köstlichem Nektar dar”, den sie doch im übrigen außerordentlich liebe. p115 “In einer
Gegend, wo diese Kleeart reichlich vorkommt, kann es daher für die Honigbiene
von großem Vorteil sein, einen ein wenig längeren oder verschieden gebauten
Rüssel zu besitzen. Da auf der anderen Seite die Fruchtbarkeit dieses Klees absolut davon abhängt, dass Bienen die Blüten besuchen, so würde, wenn die Hummeln in einer Gegend selten werden sollten, eine kürzere oder tiefer geteilte BlumenkronevongrößtemNutzenfürdenrotenKleewerden,damitdieHonigbienen
in den Stand gesetzt würden, an ihren Blüten zu saugen. Auf diese Weise begreife
ich, wie eine Blüte und eine Biene nach und nach, sei es gleichzeitig oder eins nach
dem anderen, abgeändert und auf die vollkommenste Weise aneinander angepasst werden können, und zwar durch fortwährende Erhaltung von Individuen mit
beiderseits nur ein wenig einander günstigeren abweichenden Struktur.”
Darwins expliziter Gradualismus:
(91p115)
“Die natürliche Zuchtwahl wirkt nur durch Erhaltung und Häufung kleiner vererbter Modifikationen, deren jede dem erhaltenen Wesen von Vorteil ist.”
(91p127)
“Ich glaube aber, dass natürliche Zuchtwahl im Hervorbringen von Veränderungenmeistsehrlangsam,nurinlangenZwischenräumenundnuraufsehrwenigBewohner einer Gegend zugleich wirkt.”
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Darwins berühmtes Schema (91p134)
(91p134-135)
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“Gesetzt, es bezeichnen die Buchstaben a bis L die Arten einer in ihrem Vaterlande großen Gattung. Es wird angenommen, dass diese Arten einander in ungleichen Graden ähnlich sind, wie es eben in der Natur so allgemein der Fall zu sein
pflegt, und was im Schema durch verschiedene Entfernung jener Buchstaben voneinander ausgedrückt werden soll... Es sei nun a eine gemeine, weit verbreitet und
abänderndeArteinerin p135 ihremVaterlandegroßenGattung.DerkleineFächer
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(91p135-136)
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divergierende Punktlinien von ungleicher Länge, welche von a ausgehen, möge
ihre variierende Nachkommenschaft darstellen... Nur jene Abänderungen, welche in irgendeiner Beziehung nützlich sind, werden erhalten oder zur natürlichen
Zuchtwahl verwendet werden. Und hier tritt die Bedeutung des Prinzips hervor,
dassdieDivergenzdesCharaktersdarbietet;denndiesewirdallgemeinzudenverschiedensten und am weitesten auseinander gehenden Abänderungen führen
(welche durch die äußeren punktierten Linien dargestellt sind), wie sie durch natürliche Zuchtwahl erhalten und gehäuft werden. Wenn nun in unserem Schema
eine der punktierten Linien eine der waagerechten Linien erreicht und dort mit
einem kleinen nummerierten Buchstaben bezeichnet erscheint, so wird angenommen, dass darin eine Summe von Abänderungen gehäuft sei, genügend zur Bildung einer ziemlich gut ausgeprägten Varietät, wie sie der Aufnahme in ein systematisches Werk wert geachtet werden würde.
Die Zwischenräume zwischen je zwei waagerechten Linien des Schemas mögen
die tausend oder noch mehr Generationen entsprechen. Nach tausend Generationen hätte die Art a zwei ziemlich gut ausgeprägte Varietäten a1 und m1 hervorgebracht. Diese zwei Varietäten werden im Allgemeinen beständig denselben Bedingungen ausgesetzt sein, welche ihre Stammeltern zur Abänderung veranlassten, und das Streben nach Abänderung ist an sich erblich. Sie werden daher nach
weiterer Abänderung und gewöhnlich nahe zu derselben Art und Richtung streben wie ihre Stammeltern. Überdies werden diese zwei Varietäten als nur erst wenig modifizierte Formen diejenigen Vorzüge wieder zu erben geneigt sein, welche
ihre gemeinsamen Eltern a das numerische Übergewicht über die meisten anderen Bewohner derselben Gegend verschafft hatten. Sie werden gleicherweise an
denjenigen allgemeineren Vorteilen teilnehmen, welche die Gattung, wozu ihre
Stammeltern gehörten, zu einer großen Gattung ihres Vaterlandes erhoben; und
wirwissen,dassalledieseUmständezurHervorbringungneuerVarietätengünstig
sind.
Wenn denn nun diese zwei Varietäten ebenfalls veränderlich sind, so werden die
divergentesten unter ihren Abänderungen gewöhnlich während der der nächsten
tausend Generationen fortbestehen. p136 Nach dieser Zeit, ist in unserem Schema
angenommen, habe Varietät a1 die Varietät a2 hervorgebracht, die nach dem Differenzierungsprinzip weiter als a1 von A verschieden ist. Varietät m1 hat der AnnahmenachzweiandereVarietäten m2 und s2 ergeben,welcheuntersichundnoch
beträchtlicher von ihrer gemeinsamen Stammform A abweichen. So können wir
den Vorgang eine beliebig lange Zeit von Stufe zu Stufe fortführen; einige der Varietäten werden von je tausend zu tausend Generationen bald nur eine einzige
Abänderung,aberineinemimmerweiterundweitermodifiziertenZustande,bald
auch zwei oder drei derselben hervorbringen, während andere gar keine neuen
Formen darbieten. Auf diese Weise werden gewöhnlich die Varietäten oder abgeänderten Nachkommen einer gemeinsamen Stammform A im Ganzen immer
zahlreicher werden und immer weiter im Charakter auseinanderlaufen. In dem
Schema ist der Vorgang bis zur zehntausendsten Generation und in einer gedrängteren und vereinfachten Weise bis zur vierzehntausendsten Generation dargestellt
Entwicklungsstillstände (Stasen)
(91p136-137)
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Doch muss ich hier bemerken, dass ich nicht der Meinung bin, dass der Prozess jemals so regelmäßig und beständig vor sich gehe, wie er im Schema dargestellt ist,
obwohl er auch da schon etwas unregelmäßig erscheint. Es ist viel wahrscheinlicher,dasseinejedeFormlangeZeithindurchunverändertbleibt,unddannwieder
einer Modifizierung unterliegt... In unserem Schema ist die Sukzessionslinie in regelmäßigen Zwischenräumen durch kleine nummerierte Buchstaben unterbro-
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(91p137-p138)
(91p138-139)
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chen zur Bezeichnung der nacheinander auftretenden Formen, welche genügend
verschieden geworden sind, um als Varietäten angeführt zu werden. Aber diese
Unterbrechungen sind nur imaginär und hätten anderwärts eingeschoben werden
können nach für die Häufung eines ansehnlichen Betrags divergenter Abänderung hinlänglich langen Zwischenräumen. p137 ... Die abgeänderten Nachkommen
der späteren und weiter verbesserten Zweige der Deszendenzlinie werden wahrscheinlich oft die Stelle der früheren und minder vervollkommneten einnehmen
und sie verdrängen; und dies ist im Schema dadurch ausgedrückt, dass einige der
unteren Zweige nicht bis zu den nächsthöheren Horizontallinien hinaufreichen.
In einigen Fällen wird ohne Zweifel der Prozess der Abänderung auf eine einzige
Linie der Deszendenz beschränkt bleiben und die Zahl der modifizierten Nachkommen nicht vermehrt werden, wenn auch das Maß divergenter Modifikation in
den aufeinanderfolgenden Generationen zugenommen hat. Dieser Fall würde in
den Schema dargestellt werden, wenn alle von A ausgehenden Linien, ausgenommen die von a1 bis a10, beseitigt würden...
Es wird nun der Fall gesetzt, dass die Art A nach zehntausend Generationen drei
Formen a10, f10 und n10 hervorgebracht habe, welche in Folge der Divergenz ihrer
Charaktere während der aufeinanderfolgenden Generationen weit, aber vielleicht in ungleichem Grad unter sich und von ihren Stammeltern verschieden geworden sind. Nehmen wir nur einen äußerst kleinen Betrag von Veränderung zwischen je zwei Horizontalen unseres Schemas an, so könnten unsere drei Formen
doch immer nur wohlausgeprägte Varietäten sein. Wir haben aber nur nötig, uns
die Abstufungen in diesem Prozesse der Modifikation etwas zahlreicher oder dem
Grade nach bedeutender zu denken, um diese drei Formen in zweifelhafte oder
endlich gute Arten zu verwandeln. Alsdann drückt das Schema die Stufen aus, auf
welchen die kleinen, nur Varietäten charakterisierenden Verschiedenheiten in
größere, schon artenunterscheidende Verschiedenheiten übergehen. Denkt man
sich denselben Prozess durch eine noch größere Anzahl von Generationen fortgesetzt, p138 (wie es oben im Schema geschehen), so erhalten wir acht von A abstammende Arten mit a14 bis m14 bezeichnet. So werden, wie ich glaube, Arten vervielfältigt und Gattungen gebildet.
In einer großen Gattung dürfte wahrscheinlich mehr als eine Art variieren. Im
Schema habe ich angenommen, dass eine zweite Art I in analogen Abstufungen
nach zehntausend Generationen entweder zwei wohlausgezeichnete Varietäten
(w10 und z10), oder zwei Arten hervorgebracht habe, je nachdem man sich den Betrag der Veränderung, welcher zwischen zwei waagerechten Linien liegt, kleiner
odergrößerdenkt.NachvierzehntausendGenerationenwerdennachunsererAnnahme sechs neue, durch die Buchstaben n14 bis z14 bezeichnete Arten entstanden
sein...
Inzwischen dürfte während des auf unserem Schema dargestelltenUmänderungsprozesses noch ein anderes unserer Prinzipien, das des Aussterbens, eine wichtige
Rolle gespielt haben. Da in jeder vollständig bevölkerten Gegend natürliche
Zuchtwahl notwendig dadurch wirkt, dass die gewählte Form dem Kampfe ums
DaseinirgendeinenVorteilvordenübrigenFormenvoraushat,sowirdindenverbesserten Abkömmlingen einer Art ein beständiges Streben vorhanden sein, auf
jeder ferneren Generationsstufe ihre Vorgänge und ihren Urstamm zu ersetzen
und zum Aussterben zu bringen; denn man muss sich erinnern, dass die Konkurrenz gewöhnlich am heftigsten in solchen Formen ist, welche einander in Organisation, Konstitution und Lebensweise am nächsten stehen. Daher werden alle
Zwischenformen zwischen den früheren und späteren – das ist zwischen den weniger und mehr verbesserten Zuständen einer und derselben Art – sowie die ursprüngliche Stammart selbst gewöhnlich zum Erlöschen geneigt sein. Ebenso wird
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es sich p139 wahrscheinlich mit vielen ganzen Seitenlinien verhalten, welche durch
spätere und vollkommenere Linien besiegt werden...
Nimmt man daher bei unserem Schema an, dass es ein großes Maß von Abänderungen darstelle, so werden die Arten A und alle früheren Abänderungen derselben erloschen und durch acht neue Arten a14 bis m14 ersetzt sein, und die Art I wird
durch sechs neue Arten n14 bis z14 ersetzt sein. Wir können aber noch weiter gehen.” Zusammengefasst: Die Arten A und I werden schon ursprünglich als dominant gedacht; dann ist sehr plausibel, dass ihre verbesserten Nachkommen die
meisten der anderen Großbuchstaben verdrängt haben. “Es scheint mir daher
äußerst wahrscheinlich, dass sie nicht allein ihre Eltern A und I ersetzt und vertilgt
haben werden, sondern auch einige andere diesen zunächst verwandte ursprüngliche Spezies. Es werden daher nur sehr wenige der sehr ursprünglichen Arten
Nachkommen bis in die vierzehntausendste Generation hinterlassen haben. Wir
können annehmen, dass nur eine, F, von den zwei mit den anderen ursprünglichen
neunamwenigstenverwandtenArten(E und F)Nachkommenbiszudieserspäten
Generation erhalten hat.
Der neuen, von den elf ursprünglichen Arten unseres Schemas abgeleiteten Spezies sind nun fünfzehn. Dem divergenten Streben der natürlichen Zuchtwahl
gemäß wird der äußerste Betrag von Charakterverschiedenheit zwischen den Arten a14 und z14 viel größer, als der zwischen den unter sich verschiedensten der elf
ursprünglichen Arten sein.”
Komplex=labil. Höhere Organisation ist kein direkter Vorteil.
(91p146)
“Ich glaube demnach, dass das Vorkommen zahlreicher niedrig organisierter Formen über die ganze Erdoberfläche Folge von verschiedenen Ursachen ist. In einigenFällenmagesanAbänderungenderindividuellenVerschiedenheitenvonvorteilhafter Art gefehlt haben, mit deren Hilfe die natürliche Zuchtwahl zu wirken,
und mit welche sie zu häufen vermocht hätte. Wahrscheinlich in keinem Falle ist
die Zeit ausreichend gewesen, um den höchsten möglichen Grad der Entwicklung
zu erreichen. In einigen wenigen Fällen ist wohl auch das eingetreten, was wir
einen Rückschritt der Organisation nennen müssen, aber die Hauptursache liegt
in der Tatsache, dass unter sehr einfachen Lebensbedingungen eine hohe Organisation ohne Nutzen, möglicherweise sogar von wirklichem Nachteil sein würde,
weil sie zarter, empfindlicher, und leichter zu stören und zu beschädigen ist.”
Stammbaum
Für Darwin ist der Stammbaum hauptsächlich eher poetische Metapher, und er
(91p152-153)
hütet sich, einen solchen konkret zu konstruieren, wie es Haeckel tat. “Die Verwandtschaften aller Wesen einer Klasse zueinander sind manchmal in Form eines
großen Baumes dargestellt worden. Ich glaube, dieses Bild entspricht sehr der
Wahrheit. Die grünen und knospenden Zweige stellen die jetzigen Arten, und die
in vorangehenden Jahren entstandenen die lange Aufeinanderfolge erloschener
Arten vor. In jeder Wachstumsperiode haben alle wachsenden Zweige nach allen
Seiten hinaus zu treiben und die umgebenden Zweige und Äste zu überwachsen
undzuunterdrückengestrebt,ganzso,wieArtenundArtengruppenandereArten
in dem großen Kampfe ums Dasein überwältigt haben. Die großen, in Zweige geteilten und in immer kleinere und kleinere Verzweigungen abgeteilten Äste sind
zurZeit,woderStammnochjungwar,selbstknospendeZweigegewesen;unddiese Verbindung der früheren mit den jetzigen Knospen durch sich verästelnde
Zweige mag ganz wohl die Klassifikation aller erloschenen und lebenden Arten in
anderen Gruppen subordinierte Gruppen darstellen. Von den vielen Zweigen,
welche munter gediehen, als der Baum noch ein bloßer Busch war, leben nur noch
zwei oder drei, die jetzt als mächtige Äste alle anderen Verzweigungen abgeben;
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und so haben von den Arten, welche in längst vergangenen geologischen Zeiten
lebten, p153 nur sehr wenige noch lebende und abgeänderte Nachkommen. Von
der ersten Entwicklung eines Baumes an ist mancher Ast und mancher Zweig verdorrt und verschwunden, und diese verlorenen Äste von verschiedener Größe
mögen jene ganzen Ordnungen, Familien und Gattungen vorstellen, welche uns
nur im fossilen Zustande bekannt, keine lebenden Vertreter mehr haben. Wie wir
hierund da einen vereinzelten dünnenZweigauseinerGabelteilungtiefuntenam
Stamm vorkommen sehen, welche durch irgendeinen Zufall begünstigt an seiner
Spitze noch fortlebt, so sehen wir zuweilen ein Tier ..., welches durch seine VerwandtschaftengewissermaßenzweigroßeZweigederbelebtenWelt,zwischendenen es in der Mitte steht, miteinander verbindet und vor einer verderblichen Konkurrenz offenbar dadurch gerettet worden ist, dass es irgendeine geschützte Station bewohnte. Wie Knospen durch Wachstum neue Knospen hervorbringen und
wie auch diese wieder, wenn sie kräftig sind, sich nach allen Seiten ausbreiten und
vieleschwächereZweigeüberwachsen,soistes,wieichglaube,durchZeugungmit
dem großen Baume des Lebens ergangen, der mit seinen toten und abgebrochenen Ästen die Erdrunde erfüllt und mit seinen herrlichen und sich noch immer
weiter teilenden Verzweigungen ihre Oberfläche bekleidet.”
Variabilität (Kap.12, Gesetze der Abänderung)
Darwin sieht Variabilität als Funktion der Lebensbedingungen: “Ich habe bisher
(91p153-154)
von den Abänderungen ... zuweilen so gesprochen, als ob dieselben vom Zufall abhängig wären. Dies ist natürlich p154 eine ganz inkorrekte Ausdrucksweise; sie
dient aber dazu, unsere gänzliche Unwissenheit über die Ursache jeder besonderen Abweichung zu beurkunden... Die Tatsache des viel häufigeren Vorkommens
sowohl von Abänderungen als von Monstrositäten bei den der Domestikation unterworfenen als bei den im Naturzustand lebenden Organismen und die größere
Veränderlichkeit der Arten mit weiten Verbreitungsgebieten als der mit beschränkter Verbreitung leiten mich zu der Folgerung, dass Variabilität in direkter
Beziehung zu den Lebensbedingungen steht, welchen jede Art mehrere Generationen lang ausgesetzt gewesen ist. Ich habe im ersten Kapitel zu zeigen versucht,
dass veränderte Bedingungen auf zweierlei Weise wirken: direkt auf die ganze Organisation oder nur auf gewisse Teile, und indirekt auf das Reproduktivsystem. In
allendiesenFällensindzweiFaktorentätig:dieNaturdesOrganismus,welcheder
weitauswichtigstevonbeidenist,unddieNaturderBedingungen:diedirekteWirkung veränderter Bedingungen führt zu bestimmten oder unbestimmten Resultaten. Im letzten Falle scheint die Organisation plastisch geworden zu sein, und wir
finden eine große, fluktuierende Variabilität. Im ersteren Falle ist die Natur des
Organismus derartig, dass sie leicht nachgibt, wenn sie gewissen Bedingungen unterworfen wird, und alle oder nahe zu alle Individuen werden in derselben Weise
modifiziert.
p154
Inwieweit Verschiedenheiten der äußeren Bedingungen wie Klima, Nahrung usw.
(91 )
in einer bestimmten Weise eingewirkt haben, ist sehr schwer zu entscheiden. Wir
haben Grund zu glauben, dass im Laufe der Zeit die Wirkungen größer gewesen
sind, als es durch irgendwelche klare Belege als wirklich geschehen nachgewiesen
werden kann.”
(91p154-155)
Darwin betont, dass er zumindest zwei Gründe für Veränderungen sieht: die natürliche Zuchtwahl, die allein man heute anerkennt, aber auch der Einfluss
äußerer Lebensbedingungen auf die Variabilität, mög.licherweise sogar Variabilität in eine bestimmte Richtung. p155 “Wenn eine Abänderung für ein Wesen von
dem geringsten Nutzen ist, so vermögen wir nicht zu sagen, wieviel davon von der
häufenden Tätigkeit der natürlichen Zuchtwahl, und wieviel von dem bestimmten
Einfluss äußerer Lebensbedingungen herzuleiten ist. So ist es den Pelzhändlern
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wohl bekannt, dass Tiere einer Art umso dichtere und bessere Pelze besitzen, je
weiter nach Norden sie gelebt haben. Aber wer vermöchte zu sagen, wieviel von
diesem Unterschied davon herrührt, dass die am wärmsten gekleideten Individuen viele Generationen hindurch begünstigt und erhalten worden sind, und wieviele von dem direkten Einflusse des strengen Klimas; denn es scheint wohl, als ob
dasKlimaeinigeunmittelbareWirkungaufdieBeschaffenheitdesHaaresunserer
Haustiere ausübe.”
DerdirekteEinflussderLebensbedingungenscheintDarwinnichtkoscher,under
legt “weniger Gewicht auf den direkten und bestimmten Einfluss der Lebensbedingungen ... als auf eine Neigung zum Abändern, welche von Ursachen abhängt,
über die wir vollständig unwissend sind.”
“Wirkungen des vermehrten Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Teile unter der Leitung der
natürlichen Zuchtwahl”
(91p156)
Darwinlässt“lamarckistische”Effektedurchausoffen,meintaber,nvielenFällen
reiche allein die natürliche Zuchtwahl.
“Die im ersten Kapitel angeführten Tatsachen lassen wenig Zweifel daran übrig,
(91p156-157)
dass bei unseren Haustieren der Gebrauch gewisse Teile gestärkt und vergrößert,
und der Nichtgebrauch sie verkleinert hat, und dass solche Abänderungen erblich
sind. In der freien Natur hat man keinen Maßstab zur Vergleichung der Wirkungen lang fortgesetzten Gebrauches oder Nichtgebrauches, weil wir die elterlichen
Formen nicht kennen; doch tragen manche Tiere Bildungen an sich, die sich am
besten als Folge des Nichtgebrauches erklären lassen. Wie Prof. R. Owen bemerkt
hat, gibt es keine größere Anomalie in der Natur, als dass ein Vogel nicht fliegen
könne, und doch sind mehrere Vögel in dieser Lage. Die südamerikanische Dickkopfente kann nur über der Oberfläche des Wassers hinflattern... Da die großen
am Boden weidenden Vögel selten zu anderen Zwecken fliegen, als um einer Gefahr zu entgehen, so ist es wahrscheinlich, dass die fast ungeflügelte Beschaffenheit verschiedener Vogelarten, welche einige ozeanische Inseln jetzt bewohnen
oder früher bewohnt haben, wo sie keine Verfolgungen von Raubtieren zu
gewärtigen hatten, vom Nichtgebrauche ihrer Flügel herrührt. Der Strauß bewohnt zwar Kontinente und ist von Gefahren bedroht, denen er nicht durch Flug
entgehen kann, aber er kann sich selbst durch Stoßen mit den Füßen gegen seine
Feinde so gut verteidigen, wie einige der kleineren Vierfüßer. Man kann sich vorstellen, dass der Urerzeuger p157 der Gattung der Strauße eine Lebensweise etwa
wiedieTrappegehabthabe,unddasserindemMaße,wieerineinerlangenGenerationsreihe immer größer und schwerer geworden ist, seine Beine immer mehr
und seine Flügel immer weniger gebraucht habe, bis er endlich ganz unfähig geworden sei zu fliegen.”
Folgt ein Käfer als Beispiel, dann: “Die Beweise für die Erblichkeit zufälliger Verstümmelungen sind für jetzt nicht entscheidend; aber der von Brown Séquard beobachtete merkwürdige Fall von der Vererbung der an einem Meerschweinchen
durch Beschädigung des Rückenmarks verursachten Epilepsie auf dessen Nachkommen sollte uns vorsichtig machen, wenn wir die Neigung dazu leugnen wollten.” Darwin ist also durchaus misstrauisch gegenüber dem Lamarckismus, möchte ihn aber nicht ganz ausschließen. “In einigen Fällen können wir leicht dem
Nichtgebrauche gewisse Abänderungen der Organisation zuschreiben, welche jedoch gänzlich oder hauptsächlich von natürlicher Zuchtwahl herrühren.”
“Die Augen der Maulwürfe und einiger wühlender Nager sind an Größe ver(91p158)
kümmert und in manchen Fällen ganz von Haut und Pelz bedeckt. Dieser Zustand
der Augen rührt wahrscheinlich von fortwährendem Nichtgebrauche her, dessen
Wirkung aber vielleicht durch natürliche Zuchtwahl unterstützt worden ist.” Folgen noch mehr Beispiele dieser Art.
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EVOLUTION 6.3.2001
Akklimatisierung:
(91p162)
(91p163)
(91p164)
(91p178-179)
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“Das gewöhnlich vorhandene und außerordentliche Vermögen unserer Haustiere, nicht bloß die verschiedensten Klimate auszuhalten, sondern in diesen (und
dies ist ein viel gewichtigeres Zeugnis) vollkommen fruchtbar zu sein, [kann] als
Argument dafür dienen, dass auch eine verhältnismäßig große Anzahl anderer
Tiere, die sich jetzt noch im Naturzustande befinden, leicht dazu gebracht werden
könnte, sehr verschiedene Klimate zu ertragen.”
“Wieviel von der Akklimatisierung der Arten an ein besonderes Klima bloß Gewohnheitssache sei und wieviel von der natürlichen Zuchtwahl von Varietäten mit
verschiedenen angeborenen Körperkonstitutionen abhänge, oder wieweit beide
Ursachen zusammenwirken, ist eine dunkle Frage. Dass Gewohnheit oder Lebensweise einigen Einfluss habe, muss ich sowohl nach der Analogie als nach den
immer wiederkehrenden Warnungen wohl glauben, welche in allen landwirtschaftlichen Werken, selbst in alten chinesischen Enzyklopädien, enthalten sind,
recht vorsichtig bei Versetzung von Tieren aus einer Gegend in die andere zu
sein.”
Darwin zitiert dann auch viele Beispiele für Pflanzen und Tiere, die sich nicht akklimatisieren und schließt: “Im Ganzen kann man, glaube ich, schließen, dass
Gewöhnung oder Gebrauch und Nichtgebrauch in manchen Fällen einen
beträchtlichen Einfluss auf die Abänderung der Konstitution und des Baues ausgeübt haben, dass jedoch diese Wirkungen oft in ansehnlichem Grade mit der
natürlichen Zuchtwahl angeborener Varietäten kombiniert, zuweilen von ihr
überboten worden ist.”
“Verschiedene Arten zeigen analoge Abänderungen, so dass eine Varietät einer
Spezies oft einen einer verwandten Spezies eigenen Charakter annimmt, oder zu
von einigen zu den Merkmalen einer früheren Stammart zurückkehrt... Die allerverschiedensten Taubenrassen bieten in weit voneinander entfernt gelegenen
LändernUntervarietätenmitumgewendetenFedernamKopfeundmitFedernan
den Füßen dar, mit Merkmalen, welche die ursprüngliche Felstaube nicht besitzt.
Dies sind also analoge Abänderungen in zwei oder mehreren verschiedenen Rassen. Die häufige Anwesenheit von 14 oder selbst 16 Schwanzfedern im Kröpfer
kann man also als eine die normale Bildung einer anderen Abart, der Pfauentaube, vertretende Abweichung betrachten. Ich setze voraus, dass niemand daran
zweifeln wird, dass alle solchen analogen Abänderungen davon herrühren, dass
die verschiedenen Taubenrassen die gleiche p179 Konstitution und daher die gleicheNeigung,unterdenselbenunbekanntenEinflüssenzuvariieren,voneinemgemeinsamen Erzeuger geerbt haben.”
Zusammenfassung “Gesetze der Abänderung”:
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“Wir sind in tiefer Unwissenheit über die Gesetze, wonach Abänderungen erfolgen. Nicht in einem von hundert Fällen dürfen wir behaupten, den Grund zu kennen, warum dieser oder jener Teil variiert hat. Doch wo immer wir die Mittel haben, eine Vergleichung anzustellen, da scheinen bei Erzeugung der geringeren
Abweichungen zwischen Varietäten derselben Art wie in Hervorbringung der
größerenUnterschiedezwischenArtenderselbenGattungdienämlichenGesetze
gewirktzuhaben.VeränderteBedingungenrufenmeistfluktuierendeVariabilität
hervor; zuweilen aber verursachen sie direkte und bestimmte Wirkungen; und
diese können im Laufe der Zeit scharf ausgesprochen werden. Doch haben wir
hierfür keine genügenden Beweise. Wesentliche Wirkungen dürften Angewöhnung an eine bestimmte Lebensweise auf das Hervorrufen von Eigentümlichkeiten der Konstitution, Gebrauch der Organe auf ihre Verstärkung, Nichtgebrauch auf ihre Schwächung und Verkleinerung zu haben. Homologe Teile sind
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geneigt,ingleicherWeiseabzuändern,undstreben,untersichzuverwachsen.Modifikationen in den harten und in den äußeren Teilen berühren zuweilen weichere
und innere Organe. Wenn sich ein Teil stark entwickelt, strebt er, vielleicht anderen benachbarten Teilen Nahrung zu entziehen, und jeder Teil des organischen
Baues, welches ohne Nachteil für das Individuum erspart werden kann, wird erspart.”
(91p188)
“Haben Arten nahe zu die nämliche Konstitution von einem gemeinsamen Erzeuger geerbt, und sind sie ähnlichen Einflüssen ausgesetzt, so werden sie natürlich
auch geneigt sein, analoge Abänderungen darzubieten...
Was aber auch Ursache des ersten kleinen Unterschiedes zwischen Eltern und
Nachkommen sein mag, und eine Ursache muss für einen jeden da sein, so haben
wir zu der Annahme Ursache, dass es doch nur die stete Häufung der für das Individuum nützlichen Verschiedenheiten ist, welche alle jene bedeutungsvolleren
Abänderungen der Struktur einer jeden Art in Bezug zu deren Lebensweise hervorgebracht hat.”
6. Kapitel “Schwierigkeiten der Theorie”
“Schon lange bevor der Leser zu diesem Teile unseres Buches gelangt ist, wird sich
(91p188)
ihmeineMengevonSchwierigkeitendargebotenhaben.Einigederselbensindvon
solchem Gewichte, dass ich bis auf den heutigen Tag nicht an sie denken kann,
ohne in gewissem Maße schwankend zu werden, aber nach meinem besten Wissen
sind die meisten von ihnen nur scheinbare; und diejenigen, welche wirklich bestehen, dürften meiner Theorie nicht verderblich werden.” Darwin macht vier Problem-Rubriken auf:“
1.
Wenn Arten aus anderen Arten durch unmerkbar kleine Abstufungen entstanden
sind, warum sehen wir nicht überall unzählige Übergangsformen? Warum bietet
nicht die ganze Natur ein Gewirr von Formen dar, statt dass die Arten, wie sie sich
uns zeigen, wohl begrenzt sind?
2.
Ist es möglich, dass ein Tier, z.B. mit der Konstitution und Lebensweise einer Fledermaus durch Umbildungen irgendeines anderen Tieres mit ganz verschiedener
Lebensweise und verschiedenem Bauentstanden ist? Ist es glaublich, dass
natürliche Zuchtwahl einerseits ein Organ von so unbedeutender Wichtigkeit wie
z.B. den Schwanz einer Giraffe, welcher als Fliegenwedel dient, und andererseits
ein Organ von so wundervoller Struktur wie das Auge hervorbringen kann?
3.
Können Instinkte durch natürliche Zuchtwahl erlangt und abgeändert werden?
Was sollen wir z.B. zu einem so wunderbaren Instinkte sagen, wie der ist, welcher
die Bienen veranlasst, Zellen zu bauen und durch welchen die Entdeckungen der
gelehrtesten Mathematiker praktisch antizipiert worden sind?
4.
Wie ist es zu begreifen, dass Spezies bei der Kreuzung miteinander unfruchtbar
sind oder unfruchtbare Nachkommen geben, während, wenn Varietäten miteinander gekreuzt werden, deren Fruchtbarkeit ungeschwächt bleibt?”
zu 1 Im scharfen Verdrängungswettbewerb setze sich nur eine Modalform durch, so
dass zumindest die aktuellen Äste im Entwicklungsbaum eine endliche Dicke besitzen. Das erscheint uns heute nicht als Problem; ein Problem ist allerdings die
Kontinuität in der Zeit, sprich: Sind das die Äste eines Stammbaumes? Wie ist es
mit den Verzweigungspunkten? p190 “Da nun aber doch dieser Theorie zufolge
zahllose Übergangsformen existiert haben müssen, warum finden wir sie nicht in
unendlicher Menge in den Schichten der Erdrinde eingebettet? Es wird angemessener sein, diese Frage in dem Kapitel von der Unvollständigkeit der geologischen
Urkunden zu erörtern. Hier will ich nur anführen, dass ich die Antwort hauptsächlich darin zu finden glaube, dass jene Urkunden unvergleichbar weniger vollständig sind, als man gewöhnlich annimmt. Die Erdrinde ist ein ungeheures Mu-
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seum, dessen naturgeschichtliche Sammlungen aber nur unvollständig und in einzelnen Zeitabschnitten eingebracht worden sind, die unendlich weit auseinanderliegen.”
KopfzerbrechenmachenDarwinauchdurchkonvergenteEvolutionhervorgegangene, funktional genau analoge Lebensformen in verschiedenen Verbreitungsgebieten, wo zwar in der Mitte der jeweiligen Verbreitungsgebiete sich nur je eine
Form durchgesetzt habe, aber doch an den Grenzen der GebieteZwischenformen
zu erwarten seien. Diese träfe man aber in Wirklichkeit nicht an; wenn man vom
Zentrum des Verbreitungsgebietes von A ins Zentrum des Verbreitungsgebietes
von B reise, nehme lediglich der Anteil der Art A ab und der Art B zu. Darwin weist
auf die Möglichkeit hin, dass heute zusammenhängende Gebiete nicht notwendig
immer zusammenhängend waren.
“Doch will ich von diesem Mittel, der Schwierigkeit zu entgehen, absehen; denn
ich glaube, dass vollkommen unterschiedene Arten auf ganz zusammenhängenden Gebieten entstanden sind.” Darwins Hauptargument ist interessant. Er verweistauftopologischeBedingungen:danachkonkurrierenZwischenvarietätenim
Übergangsgebiet grundsätzlich mit zwei zahlenmäßig dominanten (da von der
Zentren her migrativ stabilisierten) Arten. Darüber hinaus sei zu erwarten, dass
die Randbezirke von Verbreitungsgebiete mit hoher Wahrscheinlichkeit auch adaptive Grenzbezirke der jeweiligen Arten seien: die auf die Fläche abgebildete
Entwicklungsgebirge für die Arten bilde sozusagen Mulden mit Talriedeln
schlechterer relativer Adaptierung im Grenzgebiet und Minima in ihren Zentren.
So ist eine geografische Trennung durch abstraktere (möglicherweise dynamische) Eigenschaften gegeben, nicht nur rein von der Geografie bedingt, sondern
von der gesamten koevolutiven Umgebung. Im Grenzgebiet ist die ökologische
Nische für alle Varianten insgesamt kleiner, und damit sind alle Varianten zur
Kurzlebigkeit verdammt, deren Reihen nicht aus den Verbreitungszentren durch
Zuwanderung immer wieder neu aufgefüllt werden.
Kontrastverstärkung Das Argument einer allgemeinen Kontrastverstärkung ist überraschend modern und
aus der Synergetik vertraut. Im Falle mehrer konkurrierender Moden setzen sich unter
gewissen, ziemlich allgemeinen Bedingungen immer nur jeweils eine durch; Übergänge
an den Rändern werden niedergeknüppelt. Wenn wir also einen synchronen Schnitt
durchdenArtenentwicklungmachen,könnenwirfastüberalldieBildungscharfergeografischer Modalklassen erwarten – wie es ja dem in der Natur vorgefundenen Bilde
entspricht.
Bei diachronen Schnitten und in den Verzweigungsgebieten sind Kontinuitäten zu erwarten, die allerdings rein statistisch benachteiligt sind. Darwins Hoffnung, das empirische Problem, das sich vor allem im Zusammenhang mit dem folgenden Punkt 2
stellt – sei letztlich nur ein solches der Überlieferung, war also damals wohl begründet,
nur wurde sie mit wachsender globaler Kenntnis der paläontologischen Urkunden zunehmend enttäuscht. Trotz dieser an sich richtigen Argumente bleibt eine Erklärungslücke, die erst seit J. Goulds Zeiten nicht mehr einfach verdrängt, sondern als Hauptbaustelle der Evolutionstheorie erkannt wurde (Punktualismus; Theorie der unterbrochenen Gleichgewichte).
zu 2 Hier überzeugt Darwins Argumentation weniger. Sie steht und fällt mit einem eng begrenzten Zusammenhang nicht-letaler Gebiete im genetischen Raum. Darwin erkennt
die scharfe Bedingung: er sagt “vorteilhaft”. Sein Gradualismus erlaubt nur kleine Änderungen; breitere letale oder nur unvorteilhafte Bergwände im Entwicklungsgebirge
können also nur mit mit “Saltationen” viel zu niedriger Wahrscheinlichkeit übersprungen werden. Hier ist das Argument, dass man in Einzelfällen Verbindungswege findet,
nicht ausschlaggebend. Sicher gibt es fallweise genetische Driften durch Täler im Ent-
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[!1]
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wicklungsgebirge – wo es Täler gibt[!1]. In fraktale Risse sickern Populationen nur mit
Wahrscheinlichkeit Null, “beinahe nie”.
Es gibt zweifellos Tausende solcher Täler! Und “natürlich” sieht die empirische biologische Forschung nur diese Täler, solange sie diesen speziellen darwinistischen Standpunkt einnimmt. Und wer seine Studenten durch einige hundert davon geschleppt hat,
hat sie (wie vorher sich selber) “natürlich überzeugt”, diese spezielle darwinistische
Spekulation sei “durch eine überwältigende Materialfülle empirisch abgesichert”, und
die verbleibenden paar Quadrilliarden von Entwicklungsgängen könne man sich jetzt
doch wirklich sparen, und die Nicht-Biologen hätten sowieso keine Ahnung. Das sieht
auch der Blödeste ein und entspannt sich, weil der bequeme darwinsche Universalschlüssel tatsächlich immer passt. Ich habe jetzt schon viele tausend Tage lang nachweislich ununterbrochen gelebt, ich muss unsterblich sein. Das ist das Problem mit der
Theoriefeindlichkeit der Biologen. Weil viele nicht verstehen, was Theorie überhaupt
ist, meinen sie, sie könnten Theorie oder Ideologie ganz vermeiden, indem sie sich auf
die Praxis (Fakten, Fakten, Fakten) zurückziehen.Chemisch reines Muster ideologisch selbstbeschränkten Unverstands: H.K. Erben (139)
Darwin bringt die seitdem bekannte Rhetorik ins Spiel:
“Die Annahme, dass sogar das Auge mit allen seinen unnachahmlichen Vorrichtungen ... nur durch natürliche Zuchtwahl zu dem geworden sei, was es ist, scheint
– ich will es offen gestehen – in höchstem möglichen Grade absurd zu sein. Als es
zumerstenMalausgesprochenwurde,dassdieSonnestillesteheunddieErdesich
um ihre Achse drehe, erklärte der gemeine Menschenverstand diese Lehre für
falsch. Aber das alte Sprichwort vox populi vox dei hat, wie jeder Forscher weiß, in
derWissenschaft keine Geltung. Die Vernunft sagt mir, dass, wenn zahlreiche Abstufungen [!1] von einem unvollkommenen und einfachen bis zu einem vollkommenen und zusammengesetzten Auge, die alle nützlich für ihren Besitzer sind,
nachgewiesen werden können,[!2]was sicher der Fall ist.[!3] Wenn ferner das
Auge auch nur im geringsten Grade variiert und seine Abänderungen erblich sind,
wasgleichfallssicherderFallist,undeinesolcheAbänderungeinesOrganesje [!4]
nützlich für ein Tier sind, dessen äußere Lebensbedingungen sich ändern, dann
dürfte die Schwierigkeit der Annahme, dass ein vollkommenes und zusammengesetztesAugedurchnatürlicheZuchtwahlgebildetwerdenkönne,wieunübersteiglich sie auch für unsere Einbildungskraft sein mag, doch die Theorie nicht völlig
umstürzen.”
Rhetorik
(91p202-203)
[!1]
[!2]
[!3]
Oh je
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[!4]
“in monoton steigender Nützlichkeit”: eine zusätzliche, hier unterschlagene Randbedingung. Was Darwin hier als rhetorisch hilfreichen Lösungsgeist beschwört, ist in
Wirklichkeit ein wissenschaftlicher Problemdämon unüberwindlichen Umfangs.
Denn durch die rhetorische Aufzählung springt die damit geforderte, extrem unwahrscheinliche topologische Eigenschaft des genetischen Raums ja nicht in die Existenz!
Der rhetorische Trick besteht darin, dass er ins Pflichtenheft schmuggelt, was ins Lastenheft gehört. Lies folgenden “Wenns” als “Aber”!
Das ist eben die Krux. Hier begeht Darwin eine petitio principii: das Postulat als Fakt.
Es ist sicher nicht der Fall, aber gut versteckt hinter dem Sachverhalt, das es der Fall
sein könnte und dennoch empirisch nicht nachweisbar.
Die Krux steckt in der Partikel ‘je’. Wir brauchen ein unabsehbar lange Folge winziger
Abänderungen, jede günstiger als die vorige; eine lange, aufsteigende Rampe von
Nicht-Auge zum Auge . Einmal treppab, und das Argument wackelt; zwei oder dreimal, und es bricht.
Heute noch gängige (100) darwinistische Rhetorik: Aufbau und Niederriss eines Pappkameraden, nämlich unseres Fantasiemangels. Der Pappkamerad ist leicht zu erledigen: was unsere Fantasie strapaziert, muss ja nicht unbedingt falsch sein. Oft führt
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Fantasiemangel dazu,Argumentezuübersehen,unddasistironischerweisegeradedas
Problem vieler Darwinisten: Sie haben keine Vorstellung von den Ausmaßen des
genetischen Raumes und der zugehörigen Wahrscheinlichkeitsräume. Sie ahnen
nicht, wie schnell sich die uns nur dreidimensional intuierbare topologische Verbundenheit durch einen monoton steigenden Korridor sich in Räumen (extremstens)
hoher Dimensionalität pulverisiert.
Darwin zeigt wohl ein gewisses Gespür für die topologischen Probleme, ein unangenehmes Gefühl im Urin sozusagen, aber er kehrt die Beweislast listig um:
“Ließe sich irgendein zusammengesetztes Organ nachweisen, dessen Vollendung
nicht möglicherweise durch zahlreiche kleine, aufeinanderfolgende [an relativer
Fitness zunehmende!] Modifikationen hätte erfolgen können, so müsste meine
Theorieunbedingtzusammenbrechen.IchvermagjedochkeinensolchenFallaufzufinden.”
(91p206)
Wenn nicht wesentliche neue Ideen ins Spiel kommen, müssen wir davon ausgehen,
dass jeder Fall so liegt. Der folgenden Mahnung bedarf es nicht; umgekehrt wirds ein
Schuh:
“Wir sollten äußerst vorsichtig sein mit der Behauptung, ein Organ habe nicht
durch stufenweise Veränderungen irgendeiner Art gebildet werden können.”
(91p207)
[!1]
Damit haben es sich die Darwinisten aller Zeiten bequem gemacht. Sie werden dadurch praktisch unwiderlegbar!
Die Vorsicht sei auf Seiten der Gradualisten! Er passt nicht, ihr großer, alles und nichts
erklärender Universalschlüssel, der beliebig große Veränderungen durch kumulative
Selektion erschließt, indem er sie auflöst in beliebig viele kleine Änderungen – auch
wenn jede dieser Änderungen an sich plausibel ist. Wir brauchen nämlich in jedem
Einzelfall einen besonderen Spezialschlüssel mit Quadrilliarden von Zacken, deren jeder zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein muss! Immer wieder tun die Darwinisten so,
als seien die kleinen Änderungen voneinander statistisch unabhängig, wo in Wirklichkeit eine totale und rekursive Abhängigkeit zum jeweiligen (“oh je!”) Vorgänger und
Nachfolger besteht. Wahrscheinlich gibt es fraktale, hyperfeine Korridore durchs fantastilliardendimensionale Entwicklungsgebirge, aber es ist statistisch unmöglich, dass
sie in wenigen Milliarden Jahren auf wenigen Milliarden Planeten je gefunden werden;
es sei denn, die Evolution wüsste, wo sie hinwollte, und müsste nicht völlig blind herumtasten.
Entweder ist das Leben ein aller Wahrscheinlichkeit und Wissenschaftlichkeit spottendes Wunder, so unwahrscheinlich, absurd und erklärungsdefizitär [!1] wie die Theorie
der spontanen Schöpfung eines kompletten Anfangs-Sets vollendeter Arten, oder der
Dämon Finalismus erhebt sein grinsendes Haupt in beträchtliche Höhe, wenn man
nichtseineZufluchtwiederzumliebenGottalsnichtsundalleserklärendenUniversalschlüssel nehmen will.
Erklärungsdefizit = Gegenteil des Erklärungsüberschusses, den man von wissenschaftlichen Theorien erwartet. Man steckt sozusagen mehr Annahmen hinein, als
Schlussfolgerungen herauskommen.
Darwin scheitert hier – im Unterschied zu den Epigonen durchaus ehrenhaft – an den
Strapazen der Fantasie. Ebenfalls hat er im Unterschied zu den Epigonen aber erhebliche, immer wieder laut geäußerte Skrupel!
Heute sind wir durchaus nicht nur auf Fantasie angewiesen, sondern wir verfügen über
bessere mathematische Werkzeuge, und, wo die noch nicht hingreifen oder noch umstritten sind, Computersimulationen (mit aller Vorsicht zu genießen wegen hoher Artefakt-Gefahr). Außerdem haben wir die Molekularbiologie, die Informationstheorie
und Ansätze zu einer Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme (Schlagworte: “Synergetik” und “Komplexitätstheorie”).
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Darwins Auffassungen sind verständlich und nachvollziehbar. Logisch gesehen sind
sie (bis auf die manchmal etwas versteckten und rhetorisch entschärften Prämissen)
durchaus vertretbar, und vom damaligen Stand aus weder zu widerlegen noch zu beweisen, und er hielt sie für die einzig möglichen mangels denkbarer Alternativen – es sei
denn eben die den Darwinismus ex negativo definierende göttliche Einzelschöpfung.
Den Beweis der natürlichen Entwicklung allen Lebens aus einem gemeinsamen Ursprung war Darwins (und der ursprünglichen Darwinisten) Hauptinteresse. In der Details widerspricht er sich des öfteren und präsentiert oft ganze Bündel von Theorien unterschiedlichen Gewichts. Hauptfeind war die tief wurzelnde These von der Notwendigkeit metaphysischer Intervention; und die Macht dieses Hauptfeindes bedingt
zwangsläufig gewisse Verzerrungen in seinem “langen Argument” (Darwin über die
“Entstehung”). Schön nachzulesen bei Mayr (347)
Darwins Epigonen können dies nicht mehr für sich in Anspruch nehmen. Hier kann
undsollte man die ideologische Verblendung nicht entschuldigen. Aber nach und nach
kommen sie ja raus aus ihrem biologischen Faktenbunker, bzw. lassen sich erst gar
nicht mehr darin einsperren.
Das lustige Sexleben der Orchideen
Bei der Orchidee Coryanthes “ist das Labellum oder die Unterlippe zu einem
(91p217)
großen eimerartigen Gefäß ausgehöhlt, in welches fortwährend aus zwei über ihm
stehenden, absondernden Hörnern Tropfen fast reinen Wassers herabfallen. Ist
der Eimer halb voll, so fließt das Wasser durch einen Abguss an der einen Seite ab.
Der Basalteil des Labellum krümmt sich über den Eimer und ist selbst kammerartig ausgehöhlt, mit zwei seitlichen Eingängen. Innerhalb dieser Kammern finden
sicheinigemerkwürdigefleischigeLeisten... [DerEntdecker] Crügersahaber,wie
MengenvonHummelndieriesigenBlütendieserOrchideeamfrühenMorgenbesuchten..., um die fleischigen Leisten in der Kammer oberhalb des Eimers abzunagen. Dabei stießen sie einander häufig in den Eimer. Dadurch wurden ihre Flügel
nass, so dass sie nicht fliegen konnten, sondern durch den vom Ausguss gebildeten
Gang kriechen mussten. Crüger hat eine förmliche Prozession von Hummeln aus
ihrem unfreiwilligen Bade kriechen sehen. Der Gang ist eng und von Säulchen bedeckt, so dass eine Hummel, wenn sie sich durchzwängt, erst ihren Rücken am klebrigenStigmaunddannandenKlebnasenderPollenmassenreibt.DiePollenmassen werden dadurch an den Rücken der ersten Hummel angeklebt, welche zufällig
durch den Gang einer kürzlich entfalteten Blüte kriecht und werden fortgetragen... FliegtdiesoausgestatteteHummelnacheineranderenBlüte...undwirdvon
ihren Genossen in den Eimer gestoßen, so kommt notwendig, wenn sie nun durch
den Gang kriecht, zuerst die Pollenmasse mit dem klebrigen Stigma in Kontakt,
und die Blüte wird befruchtet. Und jetzt erst sehen wir den vollen Nutzen aller
Teile der Blüte, der wasserabsondernden Hörner, des halb mit Wasser er- füllten
Eimers ein, welcher die Hummeln am Fortfliegen hindert und dadurch zwingt,
durch den Ausguss zu kriechen und sich an den passend gestellten klebrigen Pollenmassen und der klebrigen Narbe zu reiben.”
Oh Wunder der Sexualität! Das wollten wir in “Liebe Sünde” sehen!
(91p219)
(91p219-220)
“Warum sollte die Natur nicht plötzlich von der einen Einrichtung zur anderen
springen? Nach der Theorie der natürlichen Zuchtwahl können wir deutlich einsehen, warum sie dies nicht getan hat; denn die natürliche Zuchtwahl wirkt nur
dadurch, dass sie sich kleine, regelmäßige Abänderungen zunutze macht. Sie kann
nie einen großen und plötzlichen Sprung machen, sondern muss mit kurzen und
sicheren, [!] aber langsamen Schritten vorschreiten.”
“DerSchwanzderGiraffesiehtwieeinkünstlichgemachterFliegenwedelaus,und
es scheint anfangs unglaublich zu sein, p220 dass derselbe seinem gegenwärtigen
Zwecke durch kleine aufeinanderfolgende Modifikationen, von denen eine jede
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(91p222)
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einer so unbedeutenden Bestimmung, nämlich Fliegen zu verscheuchen, immer
besser und besser angepasst war, hergerichtet worden sein solle... ...
Organe von jetzt unwesentlicher Bedeutung sind wahrscheinlich in manchen
Fällen frühen Vorfahren von hohem Werte gewesen, und nach früherer, langsamer Vervollkommnung in ungefähr demselben Zustand auf deren Nachkommen
vererbtworden,obwohlihrjetzigerNutzennurnochsehrunbedeutendist...Wenn
man beobachtet, was für ein wichtiges Organ der Ortsbewegung der Schwanz für
die meisten Wassertiere ist, so lässt sich seine allgemeine Anwesenheit und VerwendungzumancherleiZweckenbeisovielenLandtieren,welchedurchihreLungen oder modifizierten Schwimmblasen ihre Abstammung von Wassertieren verraten, vielleicht daraus erklären. Nachdem einmal ein wohlentwickelter Schwanz
bei einem Wassertiere gebildet worden war, kann derselbe später zu den mannigfaltigsten Zwecken umgearbeitet worden sein: zu einem Fliegenwedel, zu einem
Greifwerkzeug oder zu einem Mittel schneller Wendung im Laufe, wie es beim
Hunde der Fall ist.”
“Wir wissen gan zu gar nichts über die Ursachen, welche unbedeutende Abänderungen oder individuelle Verschiedenheiten veranlassen.”
Darwin nennt spätere Umwidmungen, Mehrfachbestimmungen z.B. im Rahmen
der geschlechtlichen Zuchtwahl, sowie das Trittbrettfahren weniger wichtiger
Merkmale bei wichtigen auf Grund von “Korrelation”.
Lamarckistische Argumentation zur Widerlegung des Plattfisch-Einwandes
(91p256-259)
Ev-16
“Die Pleuronektiden oder Plattfische sind merkwürdig wegen ihrer unsymmetrischen Körper. Sie liegen in der Ruhe auf einer Seite... Die Augen bieten die merkwürdigsteEigentümlichkeitdar,dennbeidebefindensichaufderoberenSeitedes
Kopfes. Während der frühen Jugend indessen stehen sie einander gegenüber, und
der ganze Körper ist in dieser Zeit noch symmetrisch... Bald aber beginnt das der
unteren Seite angehörende Auge langsam um den Kopf herum auf die obere Seite
zu gleiten... Es ist nun ganz offenbar, dass, wenn das untere Auge nicht in dieser
Artherumwanderte,esvondeminseinergewöhnlichenStellungaufdereinenSeiteliegendenFischegarnichtbenutztwerdenkönnte.AuchwürdedasuntereAuge
sehr leicht von dem sandigen Boden durch Reiben verletzt werden...
Mr. Mevart hat diesen Fall aufgenommen und bemerkt, dass eine plötzliche spontane Umwandlung der Stellung der Augen kaum denkbar ist, worin ich vollständig
mit ihm übereinstimme. Er fügt dann hinzu: ‘Wenn das Hinüberwandern stufenweise erfolgte, dann ist es durchaus nicht klar, wie ein solches Wandern des einen
Auges um einen äußerst geringen Bruchteil der ganzen Entfernung bis zur anderenSeitedesKopfesfürdasIndividuumwohltätigseinkonnte.Esscheintselbst,
als müsse eine derartige beginnende Umwandlung eher schädlich gewesen sein.’
Er hätte aber eine Antwort auf diesen Einwand in den ausgezeichneten ... Beobachtungen von Malm finden können. Die Pleuronektiden ... können, solange sie
sehr jung und noch symmetrisch sind, wo ihre Augen noch auf den gegenüberliegenden Seiten des Kopfes stehen, eine senkrechte Stellung nicht lange beibehalten, und zwar infolge der exzessiven Höhm ihres Körpers, der geringen Größe ihrer paarigen Flossen und wegen des Umstandes, dass ihnen eine Schwimmblase
fehlt. Sie werden daher sehr bald müde und fallen auf die eine Seite zu Boden.
Während sie so ruhig daliegen, drehen sie häufig ... das untere Auge aufwärts, um
über sich zu sehen, und sie tun dies so kräftig, dass das Auge scharf gegen den
oberen Augenhöhlenrand gedrückt wird. Die Stirn zwischen den Augen wird infolgedessen, wie deutlich gesehen werden konnte, zeitweise der Breite nach
zusammengezogen...
Wir müssen uns daran erinnern, dass der Schädel in diesem frühen Alter knorplig
und biegsam ist, so dass er der Muskelanstrengung leicht nachgibt...
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
EVOLUTION 6.3.2001
(91p258)
Version 6.3
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Malm führt an, dass die eben ausgeschlüpften Jungen von Barschen, Lachsen und
anderen symmetrischen Fischen die Gewohnheit haben, gelegentlich am Boden
auf der einen Seite auszuruhen. Auch hat er beobachtet, dass sie dann häufig ihre
unteren Augen anstrengen, um nach oben zu sehen, und hierdurch werden ihre
Schädel leicht gekrümmt. Diese Fische sind indessen bald im Stande, sich in einer
senkrechten Stellung zu erhalten; es wird daher keine dauernde Wirkung hervorgebracht. Die Pleuronektiden dagegen liegen, je älter sie werden, infolge der zunehmendenPlattheitihrerKörperdestogewöhnlicheraufdereinenSeite,unddadurch wird eine dauernde Wirkung auf die Form des Kopfes und auf die Stellung
der Augen hervorgebracht. Nach Analogie zu schließen wird ohne Zweifel die
Neigung zur Verdrehung durch das Prinzip der Vererbung vergrößert werden...
Wirsehen hieraus, dass die ersten Stufen des Hinüberwanderns des Auges von der
einen Seite des Kopfes zur andern, von denen Mr.Mevartmeint,dasssieschädlich
sein dürften, der ohne Zweifel für das Individuum wie für die Spezies wohltätigen
Angewöhnung zugeschrieben werden können, zu versuchen, mit beiden Augen
nach oben zu sehen, während der Fisch mit der einen Seite am Boden liegt.”
Darwin sieht eine Wechselwirkung zwischen der Vererbung erworbener Eigenschaften
und der natürlichen Zuchtwahl. Die Problematik schädlicher Zwischenstufen kann er
lösen, indem er als Führer durchs unstetige Labyrinth des genetischen Raumes die
Rückkopplung des von stetigen Randbedingungen regierte Milieus während der Ontogenese zuordnet: dadurch werden nur solche Zwischenschritte ausgefiltert, die eine tatsächliche Verbesserung erzielen, die dann wegen der Stetigkeit der Wechselwirkung
zwischen Phänotyp und Milie und tatsächlich “beliebig klein” sein können. Verfolgt
mandieBewegungimgenetischenRaum(zufälligeRekombinationen/Mutationender
Gene der Plattfischpopulation), erscheinen die Änderungen dann nicht mehr zufällig,
sondern effektiv gerichtet (durch die Information aus der realen Ontongenese des
Fisches). Nach dem zentralen Dogma der Genetik kann diese Information aber nicht
ausgewertet werden, und die Bewegung im genetischen Raum ist stochastisch. Darwins
Argument wird damit natürlich hinfällig!
(91p259)
“Wir müssen, wir ich schon vorhin betont habe, im Auge behalten, dass die
vererbten Wirkungen des vermehrten Gebrauchs der Teile und vielleicht auch
ihres Nichtgebrauchs durch die natürliche Zuchtwahl verstärkt werden. Denn alle
spontanen Erbänderungen in der passenden Richtung werden hierdurch erhalten
werden, wie es auch diejenigen Individuen werden, welche im höchsten Grade die
Wirkung des vermehrten und wohltätigen Gebrauchs irgendeines Teiles erben. zu
entscheiden, wieviel in jedem einzelnen und besonderen Falle den Wirkungen des
Gebrauchs und wieviel der natürlichen Zuchtwahl zugeschrieben werden muss,
scheint unmöglich zu sein.”
Sogar im Falle des berühmten Halses der Giraffe gesteht Darwin eine lamarckistische
Komponentezu, und er braucht sie auch für sein “Argument”, denn es garantiert durch
die Einbettung der Selektion in das stetige Milieus die korrekte Ausrichtung der Selektion. Die Schründen und Abgründe des genetischen Raumes werden umgangen, weil
die Erbänderungen das Entwicklungsgebirge unmittelbar, d.h. während der Epigenese, abtasten, und damit nicht mehr so “blind” erfolgen, wie der moderne Darwinismus
dies verlangt.
(91p273)
“Was die Giraffe betrifft, so wird die beständige Erhaltung derjenigen Individuen
eines ausgestorbenen hoch hinaufreichenden Wiederkäuers, welches die längsten
Hälse, Beine usw. besaßen, und die Pflanzen um ein Weniges über die durchschnittliche mittlere Höhe hinaus abweiden konnten, ebenso wie die beständige
Zerstörung jener, welche nicht so hoch weiden konnten, hingereicht haben, dieses
merkwürdige Säugetier hervorzubringen. Aber der fortgesetzte Gebrauch aller
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EVOLUTION 6.3.2001
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dieser Teile zusammen mit der Vererbung wird ihre Koordination in einer bedeutungsvollen Weise unterstützt haben.”
Gute Gründe für den Gradualismus:
(91p277)
Abrupte Änderungen würden “durch zufällige Zerstörungsursachen und durch
später eintretende Kreuzungen verloren” gehen, “und man weiß, dass im Zustande der Domestikation der Fall ist, wenn abrupte Änderungen dieser Art nicht
durch die Sorgfalt des Menschen speziell erhalten und separiert werden... Diese
Schwierigkeit wird nach der Theorie der stufenweisen Entwicklung vermieden
durch die Erhaltung einer großen Zahl von Individuen, welche mehr oder weniger
in irgendeiner günstigen Richtung variieren, und durch die Zerstörung einer großen Zahl, welche in der entgegengesetzen Art variieren.”
Warum ist Darwin des Gradualismus sicher?
(91p277–278)
“Dass viele Spezies in einer äußerst allmählich abgestuften Weise entwickelt wordensind,darüberkannkaumeinZweifelbestehen.DieSpeziesundselbstdieGattungenvielergroßernatürlicherFamiliensindsonahemiteinanderverwandt,dass
es bei nicht wenigen von ihnen schwierig ist, sie zu unterscheiden. Auf jedem Kontinente begegnen wir, wenn wir von Norden nach Süden, von Niederungen zu
Bergländern usw. fortschreiten, einer großen p278 Menge naher Verwandter oder
repräsentativer Spezies, wie wir solche gleicherweise auf gewissen verschiedenen
Kontinenten finden, von denen wir Grund zur Annahme haben, dass sie früher in
Zusammenhang standen... Man werfe einen Blick auf die vielen, rund um einen
Kontinent liegenden äußeren Inseln und sehe, wie viele ihrer Bewohner nur bis
zum Range zweifelhafter Arten erhoben werden können. So ist es auch, wenn wir
einen Blick auf vergangene Zeiten werfen und die Spezies, welche eben verschwunden sind, mit den jetzt in demselben Gebiete lebenden vergleichen; oder
wenn wir die in den verschiedenen Gliedern einer und derselben geologischen
Formation eingeschlossenen fossilen Arten miteinander vergleichen. Es zeigt sich
inderTatoffenbar,dassgroßeMengenvonSpeziesinderengstenWeisemitanderen noch existierenden oder vor kurzem existiert habenden verwandt sind; und
man wird wohl kaum behaupten, dass derartige Spezies in einer abrupten und
plötzlichen Art und Weise entwickelt worden sind. Man darf auch nicht vergessen,
dass, wenn man auf spezielle Teile verwandter Arten anstatt auf verschiedene Arten achtet, zahlreiche und wunderbar feine Abstufungen verfolgt werden können,
welche sehr verschiedene Strukturverhältnisse untereinander verbinden.
p278–279
)
Viele große Gruppen von Tatsachen sind nur von dem Grundsatze aus ver(91
ständlich, dass die Spezies durch sehr kleine, stufenweise Schritte sich entwickelt
haben. So z.B. die Tatsache, dass die von größeren Gattungen umfassten Spezies
näher miteinander verwandt sind und eine größere Anzahl von Varietäten darbieten, als die Arten in kleinen Gattungen. Die ersteren ordnen sich auch in kleine
Gruppen wie Varietäten um Spezies, und sie bieten auch andere Analogien mit
Varietäten dar, wie im zweiten Kapitel gezeigt wurde. Nach demselben Prinzip
können wir auch verstehen, woher es kommt, dass spezifische Charaktere variablersindalsGattungscharaktere,undwarumdieTeile,welcheineineraußerordentlichen Weise oder in einem außerordentlichen Grade entwickelt sind, variabler sind, als andere Teile der nämlichen Spezies... Obgleich sehr viele Spezies
beinahe sicher durch Abstufungen hervorgebracht worden sind nicht größer als
die,welchefeineVarietätentrennen,sodürftedochbehauptetwerden,dasseinige
p279 auf eine verschiedene und abrupte Art und Weise entwickelt worden sind.
Eine solche Annahme darf indessen nicht ohne Anführung gewichtiger Zeugnisse
gemacht werden. Die vagen und in einiger Beziehung falschen Analogien ..., welchezugunstendieserAnsichtvorgebrachtwordensind,wiedieplötzlicheKristalli-
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sation unorganischer Substanzen oder das Fallen eines facettierten Sphäroids von
einer Facette auf die andere verdienen kaum eine Betrachtung. Indessen eine
KlassevonTatsachen,nämlichdasplötzlicheErscheinenneuerundverschiedener
Lebensformen in unseren geologischen Formationen unterstützt auf den ersten
Blick den Glauben an plötzliche Entwicklung. Aber der Wert dieses Beweises
hängt gänzlich von der Vollkommenheit der geologischen Berichte in Bezug auf
Perioden ab, welche in der Geschichte der Welt weit zurückliegen. Ist dieser Bericht so fragmentarisch, wie viele Geologen nachdrücklich behaupten, dann liegt
darin nichts Besonderes, dass neue Formen wie plötzlich entwickelt erscheinen.”
Darwin lässt dem “Saltationismus” also ein Schlupfloch, bürdet ihm aber die Beweislast auf. Die von ihm eingangs zitierten nahen Verwandtschaften sprechen wohl für die
später angenommene “genetische Drift” ganzer Populationen über große geologische
Epochen hinweg; aber gerade sie werden von den Punktualisten als Argument gebraucht, nämlich in der Interpretation als relative Konstanz der Arten und nicht
maßgeblich für die eigentliche Speziation, sondern mehr ein Herumfeilen und Neuanpassen der Evolution an vorhandenen Arten. Auch das anschließende Argument der
taxanomischen Selbstähnlichkeit im Graphen der Verwandtschaftsbeziehungen geht
in diese Richtung.
Lamarckismus spielt nach Darwin beim Instinkt eine Nebenrolle
“Wennwirnunannehmen,undeslässtsichnachweisen,dassdieszuweileneintritt,
(91p282)
dass eine durch Gewohnheit angenommene Handlungsweise auch auf die Nachkommen vererbt wird, dann würde die Ähnlichkeit zwischen dem, das ursprünglichGewohnheit,unddem,wasursprünglichInstinktwar,sogroßsein,dass
beide nicht mehr unterscheidbar wären. Wenn Mozart, statt in einem Alter von
dreiJahrendasPianofortenachwunderbarwenigÜbungzuspielen,ohneallevorgehende Übung eine Melodie gespielt hätte, so könnte man in Wahrheit sagen, er
habe dies instinktiv getan. Es würde aber ein bedenklicher Irrtum sein, anzunehmen, dass die Mehrzahl der Instinkte durch Gewohnheit während einer Generation erworben und dann schon auf die nachfolgende Generation vererbt worden
seien. Es lässt sich genau nachweisen, dass die wunderbarsten Instinkte, die wir
kennen, wie die der Korbbienen und vieler Ameisen, unmöglich durch die Gewohnheit erworben sein können.”
p282-238
)
“Wie Abänderungen im Körperbau durch p238 Gebrauch und Gewohnheit veran(91
lasst und verstärkt, dagegen durch Nichtgebrauch verringert oder ganz eingebüßt
werden können, so ist es zweifelsohne auch mit den Instinkten der Fall gewesen.
Ich glaube aber, dass die Wirkungen der Gewohnheit in vielen Fällen von ganz untergeordneter Bedeutung sind gegenüber den Wirkungen natürlicher Zuchtwahl
auf so genannte spontane Abänderungen des Instinktes.”
“Unvollständigkeit der geologischen Urkunden”
(91p357)
“Woher kommt es dann, p358 dass nicht jede geologische Formation und jede Gesteinsschicht voll von solchen Zwischenformen ist? Die Geologie enthüllt uns
sicherlich keine solche fein abgestufte Organismenreihe, und dies ist vielleicht die
gewichtigste handgreiflichste Einrede, die man meiner Theorie entgegenhalten
kann. Die Erklärung liegt aber, wie ich glaube, in der äußersten Unvollständigkeit
der geologischen Urkunden.”
Dies versucht Darwin i.ff. zu untermauern. Einmal seien viele Sedimente von den
Erosionskräften bereits wieder zerlegt worden, und dann sei über weite Zeitstrecken hinweg und für große Anteile der Erdoberfläche überhaupt keine Sedimentierung erfolgt [etwas im Gegensatz zu Lyells Uniformitarismus]. Wir hätten somit
nur eine stroboskopartige und lokale Aufzeichnung der Erdgeschichte. Dann verweist er weiter auf unsere mangelnde Kenntnis der geologischen Formationen.
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(91p371)
< Palmström>
(91p380)
(91p380)
(91p385)
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Doch neben diesem Problemen en gros gibt es auch welche en détail:
“ÜberdieAbwesenheitzahlreicherZwischenvarietäteninalleneinzelnen Formationen”: “Nach diesen verschiedenen Betrachtungen ist nicht zu bezweifeln, dass
diegeologischen Urkunden im Ganzen genommenaußerordentlichunvollständig
sind.WennwiraberdannunsereAufmerksamkeitaufirgendeineeinzelne Formation beschränken, so ist es doch viel schwerer zu begreifen, warum wir daher nicht
eng aneinandergereihte Abstufungen zwischen denjenigen verwandten Arten finden, welche am Anfang und am Ende ihrer Bildung gelebt haben.”
Darwingibtzu,dasserdieLückenhaftigkeitdergeologischenUrkundennichtempirisch begründen kann, sondern aus dem Gradualismus herleitet: → (485p456)
“Jedoch gestehe ich ein, dass ich nie geglaubt hätte, welch dürftige Nachricht von
der Veränderung der einstigen Lebensformen uns auch der beste geologische
Durchschnitt gewährte, hätte nicht die Abwesenheit jener zahllosen Übergangsformen zwischen den am Anfang und am Ende einer jeden Formation lebenden
Arten meine Theorie nicht so sehr ins Wanken gebracht.”
“Das plötzliche Auftreten ganzer Gruppen neuer Arten in gewissen Formationen
ist von mehreren Paläontologen, wie z.B. von Agassiz, Pictet und Sedgwick, als bedenklichster Einwand gegen den Glauben an eine allmähliche Umgestaltung der
Arten hervorgehoben worden. Wären wirklich zahlreiche Arten von einerlei Gattung oder Familie auf einmal plötzlich ins Leben getreten, so müsste diese Tatsache freilich meiner Theorie einer Deszendenz mit langsamer Abänderung durch
natürliche Zuchtwahl verderblich werden.”
“Aberwir überschätzen fortwährend die Vollständigkeit der geologischen Berichte und schließen fälschlich, dass, weil gewisse Gattungen oder Familien noch nicht
unterhalb einer gewissen geologischen Schicht gefunden worden sind, sie auch
noch nicht vor dieser Formation existiert haben. In allen Fällen verdienen positive
paläontologische Beweise ein unbedingtes Vertrauen, während solche von negativer Art, wie die Erfahrung so oft ergibt, wertlos sind. Wir vergessen fortwährend,
wie groß die Welt der kleinen Fläche gegenüber ist, über die sich unsere genauere
Untersuchung geologischer Formationen erstreckt hat. Wir vergessen, dass Artengruppen andererseits schon lange vertreten gewesen und sich langsam vervielfältigt haben können, bevor sie in die alten Archipele Europas und der VereinigtenStaateneingedrungensind.WirbringendieenormeLängederZeiträume
nicht genug in Anschlag, welche wahrscheinlich zwischen der Ablagerung unsere
unmittelbar aufeinandergelagerten Formationen verflossen und vermutlich in
vielen Fällen länger, als diejenigen gewesen sind, die zur Ablagerung einer jeden
Formation erforderlich waren. Diese Zwischenräume werden lang genug für die
Vervielfältigung der Arten von irgendeiner Stammform aus gewesen sein, so dass
dann solche Gruppen von Arten in der jedes Mal nachfolgenden Formation so erscheinen konnten, als ob sie erst plötzlich erschaffen worden seien.”
Eine weiter Schwierigkeit sei “das plötzliche Auftreten von Arten aus mehreren
der Hauptabteilungen des Tierreichs in den untersten fossilführenden Gesteinen.
Die meisten der Gründe, welche mich zur Überzeugung geführt haben, dass alle
lebenden Arten einer Gruppe von einem gemeinsamen Urerzeuger herrühren,
gelte mit gleicher Stärke auch für die bekannt gewordenen ältesten fossilen Arten.
So lässt sich z.B. nicht daran zweifeln, dass alle kambrischen und silurischen Trilobiten von irgendeinem Kruster abstammen, welcher lange vor der kambrischen
Zeit gelebt haben muss und wahrscheinlich von allen jetzt bekannten Krustern
verschieden war. Einige der ältesten Tiere sind nicht sehr von noch jetzt lebenden
Arten verschieden, wie lingula nautilus u.a., und man kann nach meiner Theorie
nichtannehmen, dass diese altenArtendieErzeugerallerderspätererschienenen
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Arten derselben Ordnungen gewesen sind, wozu sie gehören; denn sie stellen in
keiner Weise Mittelformen zwischen denselben dar.
Wenn also meine Theorie richtig ist, so müssten unbestreitbar schon vor Ablagerung der ältesten kambrischen Schichten ebenso lange oder wahrscheinlich noch
längere Zeiträume verflossen sein, wie der ganze Zeitraum von der kambrischen
Zeit bis auf den heutigen Tag; und es müsste die Erdoberfläche während dieser
unendlichen Zeiträume von lebenden Geschöpfen dicht bewohnt gewesen sein.”
Die kambrische Explosion ist auch heute noch ein Problem; nicht wegen der von den
Physikern damals grausam gekürzten Zeiträume, sondern weil es real existierende, mit
hinreichend zahlreichen Funden abgestützte und damit insgesamt wohlbekannte
kambrische und präkambrische Formationen gibt, die keinerlei Vorformen enthalten.(433) Gerade daher weiß man, dass die Evolution sehr weite Strecken im morphischen Raum in sehr kurzen Zeiten zurückgelegt hat. Die armen viktorianischen Darwinisten mussten sich mit Lord Kelvin herumschlagen, der noch nichts wusste von Radioaktivität der Gesteine und Fusionsprozessen in der Sonne, und mit dem sie sich um
100 Jahrmillionen streiten mussten, wo wir locker Jahrmilliarden spendieren. Dass
letztlich Darwin in der Abschätzung dieser Zeiträume so glänzend recht bekam, war
wohl einer der starken Triebkräfte zur Annahme des Darwinismus in der “modernen
Synthese”. Das Ansehen der Paläontologie litt noch langedarunter,dassesdiesesKonsenskonzertweiterdurchargeDissonanzenverhunzte,warumdieseWissenschaftauch
nicht die erste Geige spielen durfte im Darwin-Konzert.
(91p386)
(91p387)
(91p388)
(91p389-390)
Darwin ist jedenfalls ehrlich: “Was nun die Frage betrifft, warum wir aus den vermutlich frühesten Perioden vor dem kambrischen System keine an Fossilien reichen Ablagerungen mehr finden, so kann ich darauf keine genügende Antwort geben...Wirdürfennichtvergessen,dassnureingeringerTeilunsererErdoberfläche
mit einiger Genauigkeit erforscht ist.”
Darwin erwähnt, dass man mittlerweile das Eozoon gefunden habe, aus dessen
Anwesenheit man immerhin schließen kann, dass in den präkambrischen Schichten doch Einiges an biologischer Aktivität vorhanden war. Darwin gibt dennoch
zu:“TrotzdiesermannigfachenTatsachenbleibtdochdieSchwierigkeit,irgendeinen guten Grund für den Mangel ungeheurer, an Fossilien reicher Schichtenlager
unter dem kambrischen System anzugeben, sehr groß. Es scheint nicht wahrscheinlich zu sein, dass diese ältesten Schichten durch Entblößungen gan zu gar
weggewaschen, oder dass ihre Fossile durch Metamorphosismus gan zu gar unkenntlich gemacht worden seien, denn sonst müssten wir auch nur noch ganz kleineÜberrestedernächstjüngerenFormationenentdeckendürfen,unddiesemüssten sich fast immer in einem teilweise metamorphischen Zustande befinden. Aber
die Beschreibungen, welche wir jetzt von den silurischen Ablagerungen in den unermesslichen Ländergebieten in Russland und Nordamerika besitzen, sprechen
nicht zugunsten der Meinung, dass, je älter eine Formation ist, sie desto mehr
durch Entblößung und Metamorphismus gelitten haben müsse.
DieseTatsachemussfürerstunerklärtbleibenundwirdmitRechtalseinewesentliche Einrede gegen die hier entwickelten Ansichten hervorgehoben werden. Ich
will jedoch folgende Hypothese aufstellen, um zu zeigen, dass doch vielleicht später eine Erklärung möglich ist.”
“In einer unermesslich früheren Zeit der kambrischen Periode können Kontinente da existiert haben, wo sich jetzt die Weltmeere ausbreiten, und können offene Weltmeere da gewesen sein, wo jetzt die Kontinente emporragen.”
“Die mancherlei hier erörterten Schwierigkeiten, welche namentlich daraus entspringen, dass wir in der Reihe der aufeinanderfolgenden geologischen Formationen zwar manche Mittelformen zwischen früher da gewesenen und jetzt vorhandenenArten,nichtaberdieunzähligennurleichtabgestuftenZwischenglieder
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zwischen allen sukzessiven Arten finden – dass ganze Gruppen verwandter Arten
in unseren europäischen Formationen oft plötzlich zum Vorschein kommen –
dass, soviel bis jetzt bekannt, ältere fossilführende Formationen noch unter den
kambrischen Schichten gänzlich fehlen – alle diese Schwierigkeiten sind zweifelsohne von größten Gewichte. Wir ersehen dies am Deutlichsten aus der Tatsache,
dass die ausgezeichnetsten Paläontologen, wie Cuvier, Agassiz, Barrande, Pictet,
Falconer, Edward Forbes u.a. sowie all unsere größten Geologen Lyell, Murchison, Sedgwick etc. die Unveränderlichkeit der Arten einstimmig und oft mit großer Heftigkeit verteidigt haben. Jetzt unterstützt aber Sir Charles Lyell mit seiner
großen Autorität die entgegengesetzte Ansicht, und die meisten anderen Geologen und Paläontologen sind in ihrem Vertrauen sehr wankend geworden. Alle,
welche die geologischen Urkunden für einigermaßen vollständig halten, werden
zweifelsohne meine ganze Theorie auf einmal verwerfen. Ich für meinen Teil betrachte, um Lyells bildlichen Ausdruck durchzuführen, die geologischen Urkunden p390 als eine Geschichte der Erde, unvollständig geführt und in wechselnden
Dialekten geschrieben, von welcher Geschichte aber nur der letzte, bloß auf zwei
oder drei Länder sich beziehende Band bis auf uns gekommen ist. Und auch von
diesem Bande ist nur hie und da ein kurzes Kapitel erhalten, und von jeder Seite
sind nur da und dort einige Zeilen übrig. Jedes Wort der langsam wechselnden
Sprache dieser Beschreibung, mehr oder weniger verschieden in den aufeinanderfolgenden Abschnitten, wird den Lebensformen entsprechen, welche in den aufeinanderfolgenden Formationen begraben liegen, und welche uns fälschlicherweise als plötzlich aufgetreten erscheinen. Nach dieser Ansicht werden die oben
erwähnten Schwierigkeiten zum großen Teile vermindert, oder sie verschwinden
selbst.”
Fischregen (91p475) “So werden nicht selten Fische von Wirbelwinden durch die Luft entführt, wonach
sie als Fischregen wieder zur Erde gelangen.”
“Allgemeine Wiederholung” Kapitel 15 <Darwins Lücke>
(91p537–538)
“Nach ... der Annahme des Aussterbens einer unendlichen Menge vermittelnder
Glieder zwischen den erloschenen und lebenden Bewohnern der Erde und ebenso
zwischen den in einer jeden der aufeinander folgenden Perioden existierenden
und den noch älteren Arten fragt es sich, warum nicht jede geologische Formation
mit Resten p538 solcher Verbindungsglieder erfüllt ist? Und warum nicht jede
Sammlung fossiler Reste einen klaren Beweis von solcher Abstufung und Umänderung der Lebensformen darbietet. Obwohl die geologischen Untersuchungen
uns unzweifelhaft die frühere Existenz vieler Mittelglieder zur nähern Verkettung
zahlreicher Lebensformen miteinander dargetan haben, so liefern sie uns doch
nicht die unendlich zahlreichen feineren Abstufungen zwischen den früheren und
jetzigen Arten, welche meine Theorie erfordert, und dies ist der am meisten in die
Augen springende von den vielen gegen meine Theorie vorgebrachten Einwände.
Und wie kommt es ferner, dass ganze Gruppen verwandter Arten in dem einen
oder dem andern geologischen Schichtensysteme oft so plötzlich erscheinen, obschon dies häufig nur scheinbar der Fall ist? Obgleich wir jetzt wissen, dass organischerLebenaufderErdeineinerunberechenbarweitzurückliegendenZeit,lange
vor Ablagerung der tiefsten Schichten des kambrischen Systems, erschienen ist,
warum finden wir nicht große Schichtenlager unter diesem System erfüllt mit den
Überbleibseln der Vorfahren der kambrischen Fossilien? Denn nach meiner
Theorie müssen solche Schichtungssysteme in diesen frühen und gänzlich unbekannten Epochen der Erdgeschichte irgendwo abgelagert worden sein.
IchkannaufdieseFragenundEinwändenurmitderAnnahmeantworten,dassdie
geologische Urkunde bei weitem unvollständiger ist, als die meisten Geologen
glauben.”
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(91p540)
(91p540-541)
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(91p554-555)
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Darwin greift noch einmal die Unvollständigkeit der paläontologischen Überlieferung so oft auf, dass es schon liturgischen Charakter annimmt; es muss ihn schon
sehr beschäftigt haben:
“Dass die geologische Urkunde lückenhaft ist, gibt jedermann zu. Dass sie es aber
in dem für meine Theorie verlangten Grade ist, werden nur wenige zugestehen.
Wenn wir hinreichend lange Zeiträume überblicken, erklärt uns die Geologie
deutlich, dass die Arten sich sämtlich verändert haben; und sie haben in der Weise
abgeändert, wie es meine Theorie erheischt, nämlich langsam und stufenweise.
Wirerkennendiesdeutlichdaraus,dassdiefossilenResteorganischerFormenzunächst aufeinanderfolgender Formationen unabänderlich einander weit näher
verwandt sind, als die fossilen Arten aus Formationen, die durch weite Zeiträume
voneinander getrennt sind.
Dies ist die Summe der verschiedensten hauptsächlichsten Einwürfe und Schwierigkeiten, die man mit Recht gegen meine Theorie vorbringen kann, und ich habe
die Antworten und Erläuterungen, welche, soviel ich sehen kann, darauf zu geben
sind, nun in Kürze wiederholt. Ich habe diese Schwierigkeiten viele Jahre lang
selbst zu sehr empfunden, als dass ich an ihrem Gewichte zweifeln sollte; aber es
verdient noch insbesondere hervorgehoben zu werden, dass die wichtigeren Einwände sich auf Fragen beziehen, über die wir eingestandenermaßen in Unwissenheit sind; und wir wissen nicht einmal, wie unwissend wir sind. Wir kennen nicht
alle die möglichen Übergangsabstufungen zwischen den einfachsten und den vollkommensten Organen. Wir können nicht behaupten, alle die mannigfaltigen Verbreitungsmittel der Organismen während des Verlaufs p541 so zahlloser Jahrtausende zu kennen oder angeben zu können, wie unvollständig die geologische Urkunde ist.”
Wissenschaftstheoretische Anmerkungen
<Darwins Klage>
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Darwin war kein Darwinist, und vor allem nicht dogmatisch. Er scheut sich insbesondere nicht, auf die in der Alltagswelt bewährten Erkenntnismethoden zurückzugreifen. →Ziman (575p8) →WT-37
“Ich habe jetzt die hauptsächlichsten Tatsachen und Betrachtungen wiederholt,
welche mich zur festen Überzeugung geführt haben, dass die Arten während einer
langen Deszendenzreihe modifiziert worden sind. Die ist hauptsächlich durch die
natürliche Zuchtwahl zahlreicher, nacheinander auftretender, unbedeutender
günstiger Abänderungen bewirkt worden, in bedeutungsvoller Weise unterstützt
p555 durch die vererbten Wirkungen des Gebrauchs und Nichtgebrauchs von Teilen und, in einer vergleichsweise bedeutungslosen Art, nämlich in Bezug auf Adaptivbildungen, gleichviel ob jetzige oder frühere, durch die direkte Wirkung
äußerer Bedingungen, und das unserer Unwissenheit als spontan erscheinende
Auftreten von Abänderungen. Es scheint so, als hätte ich früher die Häufigkeit
und den Wert dieser letzten Abänderungsformen unterschätzt, als solcher, die zu
bleibender Modifikationen der Struktur unabhängig von natürlicher Zuchtwahl
führen. Da aber meine Folgerungen neuerdings vielfach falsch dargestellt worden
sind und behauptet worden ist, ich schreibe die Modifikation der Spezies ausschließlich der natürlichen Zuchtwahl zu, so sei mir die Bemerkung gestattet, dass
ich in der ersten Ausgabe dieses Werkes wie später die folgenden Worte an einer
hervorragenden Stelle, nämlich am Schlusse der Einleitung, aussprach: ‘Ich bin
überzeugt, dass natürliche Zuchtwahl das hauptsächlichste, wenn auch nicht das
einzige Mittel zur Abänderung der Lebensformen gewesen ist.’ Dies hat nichts genützt. Die Kraft beständiger falscher Darstellung ist zäh. Die Geschichte der Wissenschaft lehrt aber, dass diese Kraft glücklicherweise nicht lange anhält.
Man kann wohl kaum annehmen, dass eine falsche Theorie die mancherlei großen
Gruppen der oben aufgezählten Tatsachen in so zufriedenstellender Weise er-
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(91p555-556)
<Welt am Draht>
<Arme Geologie>
(91p563)
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klären würde, wie meine Theorie der natürlichen Zuchtwahl es tut. Es ist neuerdings entgegnet worden, dass dies eine unsichere Weise zu folgern sei. Es ist aber
dieselbe Methode, welche man bei Beurteilung der gewöhnlichen Ergebnisse im
Leben anwendet, und welche häufig von den größten Naturforschern angewendet
worden ist. Auf solchen Wegen ist man zur Undulationstheorie des Lichts gelangt,
und die Annahme der Drehung der Erde um ihre eigene Achse war bis vor kurzem
kaum durch irgendeinen direkten Beweis unterstützt. Es ist keine triftige Einrede,
dass die Wissenschaft bis jetzt noch kein Licht über das viel höhere Problem vom
Wesen oder dem Ursprung des Lebens verbreite. Wer vermöchte zu erklären, was
das Wesen der Attraktion oder Gravitation sei? Obwohl Leibniz einst Newton anklagte, dass er verborgene Qualitäten und Wunder in die Philosophie eingeführt
habe, so werden doch die aus diesem unbekannten Elemente der Attraktion abgeleiteten Resultate ohne Einrede angenommen.
Ich sehe keinen triftigen Grund, warum die in diesem Bande aufgestellten Ansichten gegen irgendjemandes religiöse Gefühle verstoßen sollten. Es dürfte wohl beruhigen, da es zeigt, wie vorübergehend derartige Eindrücke sind, p556 wenn wir
daran erinnern, dass die größte Entdeckung, welche der Mensch jemals gemacht,
nämlichdas Gesetz der Attraktion oder Gravitation, von Leibniz auch angegriffen
worden ist, weil es die natürliche Religion untergrabe und die offenbarte verleugne. Ein berühmter Schriftsteller und Geistlicher hat mir geschrieben, er habe allmählich einsehen gelernt, dass es eine ebenso erhabene Vorstellung von der Gottheit sei, zu glauben, dass sie nur einige wenige, der Selbstentwicklung in andere
und notwendige fähige Urtypen geschaffen habe, wie dass sie immer wieder neue
Schöpfungsakte nötig gehabt habe, um die Lücken auszufüllen, welche durch die
Wirkung ihrer eigenen Gesetze entstanden seien.”
Hm. Die demiurgische Metapher der Software-Entwicklung drängt sich hier auf. Ein
sehr schönes dämonisches Weltmodell, wirklich! Auch in der wilden Welt der Software
möchte man nicht immer alles neu erschaffen, “das Rad immer wieder neu erfinden”,
und händeringend sucht man nach “fortgeschrittenen Technologien” zur “Wiederverwendung von Software”. Dabei setzt man sehr in der so genannten “objektorientierten
Programmiermethode” auf das Konzept der “Vererbung”. Im Hinterkopf haben die
Hoch-Informatiker durchaus die Vision von der Software, die sich von alleine, ohne
diese überaus lästigen ständigen demiurgischen Eingriffe, “entwickelt”.
Darwinsaus seinerTheoriededuzierte MängeldergeologischenUrkunde (91p380)
→Ev-20 führt zu jahrzehntelanger Abwertung der Geologie und eröffnete einen
“Teufelskreis der Zirkelschlüsse” (485p126)
“Die edle Wissenschaft der Geologie verliert etwas von ihrem Glanze durch die
außerordentliche Unvollständigkeit ihrer Urkunden. Man kann die Erdrinde mit
den in ihr enthaltenen organischen Resten nicht als ein wohlgefülltes Museum,
sondernnuralszufälligeunddannundwanneinmalbedachtearmeSammlung ansehen.”
Mayr: Und Darwin hat doch recht.
Charles Darwin, seine Lehre und die moderne Evolutionstheorie (347)
Darwin als vielseitiger Pionier der Biologie:
(347p16-17)

Ev-24
“Man würde sich ebenso an Darwin als einen herausragenden Wissenschaftler erinnern, wenn er nie ein Wort über Evolution geschrieben hätte. Der Evolutionswissenschaftler J.B.S. Haldane wagte sogar die Behauptung, Darwins grundlegender Beitrag zur Biologie sei nicht seine Evolutionstheorie gewesen, sondern seine
zahlreichenBücherzurexperimentellenBotanik,dieergegenEndeseinesLebens
veröffentlichte. Nichtbiologen wissen so gut wie nichts von dieser Leistung. Das
gleiche gilt für seine herausragenden Arbeiten zur Adaption von Blumen, zur
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(347p17)
(347p18)
Die Entstehung
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Tierpsychologie wieauchfürseinesachkundigeArbeitüberRankenfüßerundseine einfallsreiche Arbeit über Regenwürmer. Auf allen diesen Gebieten war Darwin ein Pionier. Freilich vergingen in einigen Bereichen mehr als 50 Jahre, ehe andere auf den von ihm geschaffenen Grundlagen aufbauten. Trotzdem steht heute
fest, dass er wichtige Probleme mit außergewöhnlicher Originalität anging und
solchermaßen zum Begründer einiger inzwischen allseits anerkannter Spezialgebiete wurde. Darwin war der erste, der eine wohlbegründete Theorie der Klassifizierung ausarbeitete, an die sich nach wie vor die meisten Taxanomen halten. Sein
Ansatz in der Biogeografie weist dem Verhalten und der Ökologie von Organismen eine entscheidende p17 Bedeutung als Faktoren der Verbreitung zu. Das
kommt der modernen Biogeografie näher als die rein deskriptiv-geografische Betrachtungsweise, die über ein halbes Jahrhundert nach Darwins Tod in der Biogeografie herrschte.”
“Charles Darwin wurde am 12. Februar 1809 ... als zweiter Sohn von Dr. Robert
Darwin, einem außerordentlichem Arzt, geboren. Sein Großvater war Erasmus
Darwin, der Verfasser der Zoonomia, eines Werks, dass das Interesse seines Enkels an der Evolution vorwegnahm, da es versuchte, organisches Leben nach Evolutionsprinzipien zu erklären.”
“Als feststand, dass [Charles Darwin] nicht Arzt werden wollte, schickte ihn sein
Vater Anfang 1828 nach Cambridge zum Theologiestudium. Dies schien eine vernünftige Entscheidung, denn in England waren damals praktisch alle Naturwissenschaftler ordinierte Pfarrer... Darwins Briefe und biografische Aufzeichnungen vermitteln den Eindruck, er habe in Cambridge mehr Zeit darauf verwandt,
Käfer zu sammeln, mit seinen Professoren über Botanik und Geologie zu diskutieren und mit gleichgesinnten Freunden auf die Jagd und zum Reiten zu gehen,
als auf das eigentliche Studium. Trotzdem bestand er seine Prüfungen, und als er
1831 seinen bachelor of arts machte, hatte er auf der Liste der Absolventen die
zehnte Stelle inne. Was wichtiger war: nach Beendigung seines Studiums in Cambridge war Darwin ein ausgebildeter junger Naturforscher.”
1858 erhielt Darwin einen Brief von Alfred Russell Wallace mit einem Manuskript, “dass Wallace Darwin zu lesen, und, falls er es für geeignet hielt, einer Zeitschrift einzureichen bat. Als Darwin das Manuskript las, war er wie vom Donner
gerührt; Wallace war im wesentlichen zu derselben Theorie einer Evolution aus
einem gemeinsamen Ursprung durch natürliche Auslese gelangt wie er. Am 1. Juli
1858 legten Darwins Freunde Charles Lyell und der Botaniker Joseph Hooker
Wallaces Manuskriptzusammenmit p22 AuszügenausDarwinsManuskriptenund
Briefen auf einer Sitzung der Londoner Linnaeus-Wissenschaft vor. Das Ergebnis
war, Darwins und Wallaces Erkenntnisse wurden gleichzeitig veröffentlicht. Darwin gab nun umgehend den Plan auf, sein umfassendes Werk über Arten fertigzustellen, und schrieb stattdessen einen, wie er es nannten, Abriss, sein berühmtes
Buch On the origin of the species, das am 24. November 1859 erschien.”
Ideologische Tragweite der Entstehung:
(347p22)
“Die Wirkung der Entstehung war ungeheuer. Ganz zu recht hat man es als Buch
bezeichnet, das ‘die Welt erschütterte’. Im ersten Jahr nach Erscheinen wurden
3800, zu Darwins Lebzeiten mehr als 27000 Exemplare allein in England verkauft.
Zudem gab es einige amerikanische Auflagen, sowie unzählige Übersetzungen.
Dennoch ist erst in unserer Zeit den Historikern klar geworden, welch grundlegenden Einfluss dieses Werk ausübte. Jegliche gegenwärtige Diskussion über die
Zukunft des Menschen, die Bevölkerungsexplosion, den Existenzkampf, über den
(347p21-22)
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(347p23)
(347p24)
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Sinn und Zweck des Menschen und des Universums und über die Stellung des
Menschen in der Natur reicht zu Darwin zurück.
In den restliche 23 Jahren seines Lebens befasste sich Darwin stetig mit solchen
Aspekten der Evolution, die er in der Entstehung nicht angemessen hatte abhandeln können. In seinem zweibändigen Werk Revaluation of animals and plans under domestication (1868) setzte er sich mutig mit dem Problem auseinander, wie es
zu genetischer Variation kommt. In The descent of man and selection in relation to
sex (1871) behandelte er die Entwicklung des Menschen und stellte seine Theorie
sexueller Auslese vor.”
Darwin “schrieb nicht für die breite Öffentlichkeit, und es erstaunte ihn immer,
wenn die eine oder andere seiner Arbeiten in der Öffentlichkeit großen Anklang
fand.[?s.u.]
Dennoch kämpfte Darwin um die Anerkennung seiner Ansichten unter den Wissenschaftlern. Unterstützt wurde er dabei von einer kleinen Gruppe treuer Freunde, unter ihnen Lyell, Hooker und der Morphologe T.H. Huxley, oft als ‘Darwins
Bulldogge’ bezeichnet, da er es war, der in öffentlichen Debatten am häufigsten
dieTheorienseinesFreundesverteidigte.DieglühendstenAnhängerDarwinswaren die Naturforscher. zu ihnen gehörten der Mitentdecker der Evolution durch
natürliche Auslese, A.R. Wallace, der Entomologe Henry Walter Bates und der
Naturkundler Fritz Müller.
Eine loyale Schar von Verteidigern zu haben, war sehr wichtig, denn Darwin war
ungewöhnlich heftigen Angriffen ausgesetzt. 1860 schrieb Louis Agassiz, Zoologe
an der Harvard University, Darwins Theorie sei ein ‘wissenschaftlicher Missgriff,
unlauter hinsichtlich der Fakten, unwissenschaftlich in den Methoden und schädlich in der Tendenz.’ Führende Philosophen, Theologen, Literaten und wissenschaftliche Zelebritäten äußerten sich in Zeitschriften ausführlich zur Entstehung.
Bei weitem die meisten Besprechungen waren negativ, wenn nicht sogar ausgesprochen feindselig. Merkwürdigerweise setzte sich diese negative Reaktion nach
Darwins Tod im Jahre 1882 fort und hat sich in gewissen Kreisen bis heute gehalten.”
Darwins materialistische Bekehrung
Aufder Beagle, berichtetDarwininseinerAutobiografie,“warichziemlichstreng(347p28)
(347p29)
gläubig, und ich erinnere mich, dass ich von einigen Offizieren herzlich ausgelacht
wurde, als ich bei irgendeiner Frage der Moral die Bibel als unwiderlegbare Autorität zitierte” und: “Damals zweifelte ich nicht im Geringsten an der strikten und
buchstäblichen Wahrheit eines jeden Wortes in der Bibel.” Mayr: “Er stellte weder die Möglichkeit des Wundergeschehens in Frage noch andere übernatürliche
Phänomene... Und doch steht eindeutig fest: Viele Erfahrungen, die er in den fünf
Jahren seiner Reise machte, weckten in ihm erste Zweifel an seinen Glaubensvorstellungen. Wie konnte ein weiser und gütiger Schöpfer die unsägliche Grausamkeit und das Leid der Sklaverei zulassen, wie konnte er Erdbeben und Vulkanausbrüchezulassen,beidenenTausendeoderZehntausendeunschuldigerMenschen
ums Leben kamen? Doch Darwin war zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, als
dass derlei beunruhigende Gedanken ihn wirklich belastet hätten.”
“Es war ... nicht in erster Linie die intellektuelle Umgebung, die zum Wandel in
[Darwins] Glaubensvorstellungen führte. Entscheidend waren seine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Nahe zu alles, was er bei seinen naturhistorischen Untersuchungen entdeckte, stand mehr oder weniger im Gegensatz zum christlichen
Dogma. Jede Art wies zahlreiche Anpassungen auf, von arteigenen Gesängen und
Verhaltensweisen beim Werben bis hin zu jeder arttypischer Nahrung und arttypischen Feinden. Nach der damals in England allgemein anerkannten Philosophie, der Naturtheologie, hatte sich Gott alle diese zahllosen Details ausgedacht
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und kümmerte sich darum. Sie konnten unmöglich Naturgesetzen unterliegen,
das sie viel zu spezialisiert waren. Die unbelebte Welt, in der es keine Anpassung
gab, konnte bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Aber die Besonderheiten und Anpassungen der organischen Welt hätten erfordert, dass sich Gott
höchstpersönlich bei Tausenden, oder wie wir mittlerweile wissen, Millionen Arten um jedes Detail kümmerte. Eine solche Erklärung der ungeheuren Vielfalt
und Anpassungen, die er beobachtete, konnte Darwin nicht akzeptieren, und er
neigte immer mehr der Annahme natürlicher Mechanismen zu.
Auch zu dem Glauben der Naturtheologen an eine vollkommene Welt standen
Darwins Beobachtungen im Widerspruch. Stattdessen findet der Naturforscher
zahlreiche Unvollkommenheiten. Wie hätten alle Arten früherer Epochen aussterbenkönnen,wennsievollkommengewesenwären?Hullbemerkterichtig,‘der
Gott,den...einerealistischeEinschätzungderorganischenWeltvoraussetzte,war
launenhaft, grausam, willkürlich, verschwenderisch, sorglos und scherte sich nicht
im Geringsten um das Wohlergehen seiner Geschöpfe.’ Überlegungen wie diese
bewogen Darwin allmählich zu dem Entschluss, die Erklärung der Welt ohne Gott
oder andere übernatürliche Kräfte zu versuchen.”
Darwins religiöse Auffassungen schillern. Die Wissenschaftshistoriker sind sich
nicht einig, wann Darwin genau zum Agnostiker und Materialisten wurde. Jedenfalls seiseineFrauimSpielunddasvorgestelltePublikum:“Esistziemlicheindeutig, dass Darwin vor Ende Juli 1838 etliche durch und durch ‘materialistische’
(=agnostische)GedankeninseinemNotizbuchfestgehaltenhatte.Aber [abEnde
Juli] begann er, um [seine spätere Frau] Emma zu werben. Emma war eine strenggläubige Christin und Darwin war sich, wie oft betont worden ist, bewusst, dass
eineEheausgeschlossenwäre,wennerbeiderÄußerungseinerreligiösenZweifel
nicht Vorsicht walten ließ. Mehr noch, ’Emma wurde’, wie Cohn richtig bemerkte,
’Darwins Modell eines konventionellen viktorianischen Lesers’. Sie übte eindeutig Einfluss auf ‘die Anlage der Texte Darwins aus. In meinem Augen ist dies
etwas ganz Wesentliches. Man darf nicht ein Wort des vieldeutigen Redens über
Gott in der Entstehung unbesehen hinnehmen’ (Cohn).”
NB Dies steht in gewissem Widerspruch zu Mayrs obiger Behauptung, Darwin habe sich
nicht ans breite Publikum gewandt. Seine Frau war ja keine Fachwissenschaftlerin,
sondern, wie Cohn sagt, eben eine ‘konventionelle Leserin’. Also hat Darwin doch
wohl auch an eine größere Leserschaft gedacht – und es war wohl alles andere als Zufall, dass er diese auch erreichte. Außerhalb der scientific community erhob sich die
größte (natürlich nicht ungeteilte!) Zustimmung; bis auf seine engen Freunde und Mitstreiter warengeradedieFachkollegenwenigerbegeistert.DarwinhatsichvielleichtallzusehraufdieideologischeImmunisierungseinerThesenkonzentriert(mitseinerFrau
als ’Modellleserin’)
(347p31)
(347p34)
“Wohlgemerkt: es hat den Anschein, als habe Darwin selbst immer noch geschwankt: ‘Atheismus zog ihn an und erschreckte ihn gleichzeitig’. Er war sich des
großen Unbekannten bewusst, und es wäre ihm ein Trost gewesen, wenn er an ein
höchstes Wesen hätte glauben können. Aber alle Phänomene der Natur, auf die er
traf, standen in Einklang mit einer direkten wissenschaftlichen Erklärung, die sich
nicht auf übernatürliche Kräfte berief.”
DarwinseiinzweiStufenvonderKonstanzderArtenabgerückt.SeineersteTheorie sei gewesen, “dass eine existierende Art durch einen plötzlichen Sprung oder
eine ’Saltation’ eine neue Art hervorbringen konnte. Eine solche Entstehung
neuer Arten war schon früher von den Griechen bis hin zu Robinet und Maupertuis mehrfach behauptet worden. Das plötzliche Entstehen der Arten ist jedoch
keine Evolution. Entscheidendes Kriterium für eine evolutionäre Umwandlung
ist stufenweise, ’graduelle’, Änderung.
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Den Begriff der Gradualität, den zweiten Schritt in Darwins Gesinnungswandel,
entwickelte er offenbar auf Grund eines Hinweises des Ornithologen John Gould.
Gould bereitete den Bericht über Darwins Vogelsammlung vor und fand dabei:
auf den drei verschiedenen Galapagos-Inseln gab es drei verschiedene, endemischeArtenvonSpottdrosseln.DarwinhattesielediglichfürAbartengehalten.Die
Spottdrossel-Episode war für Darwin aus zwei Gründen von besonderer Bedeutung: die auf den Galapagos heimischen Arten waren einer Spottdrosselart auf
dem südamerikanischen Festland p35 ziemlich ähnlich und stammten eindeutig
von ihr ab. Die Vögel auf den Galapagos waren also nicht das Ergebnis einer einzigen Saltation,... sondern hatten sich auf drei verschiedenen Inseln allmählich zu
drei getrennten, aber ähnlichen Arten entwickelt.”
“Wer an eine sprunghafte Evolution glaubte, für den bedeutete Artbildung die
plötzliche Umwandlung einer Art in eine andere. Wer an transformationelle Evolution glaubte, für den bedeutete Artbildung die allmähliche Veränderung einer
Art in eine andere innerhalb einer Stammeslinie. Keine dieser beiden Theorien
konnte jedoch die Entstehung der ungeheuren organischen Vielfalt erklären.”
Geografische oder allopatrische Artbildung:
(347p36)
“Neue Arten können durch die allmähliche genetische Umwandlung geografisch
isolierter Populationen entstehen. Im Laufe der Zeit werden solche isolierten Populationen zu geografischen Rassen oder Unterarten; und Darwin erkannte, sie
können zu neuen Arten werden, sofern sie lange genug isoliert bleiben.” Weitere
Pioniere dieser Artbildungstheorie: Leopold von Buch (Kanarische Inseln); Moritz Wagner (Nordafrika); A.R. Wallace (Amazonien und malaiischer Archipel).
“Jeder von ihnen entdeckte zahlreiche Populationen, die man als Übergangsstadien in der Artbildung betrachten konnte.”
Grundproblem der Vielfalt: Wie und warum vervielfachen sich Arten?
(347p37)
[?]
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(347p40-41)
(347p42)
Darwin “war sich in den Jahrzehnten nach der Veröffentlichung der Entstehung
keineswegs sicher, wie Arten sich vervielfachen, und für den Rest seines Lebens
schlug er sich mit Problemen der Entstehung von Vielfalt herum. Dennoch war
seine Erkenntnis, dass jede Evolutionstheorie die Vervielfachung von Arten irgendwie erklären muss, seit 1837 ein Eckpfeiler [?] in Darwins evolutionärem Gedankengebäude.”
etwas merkwürdig: ein Problem als “Eckpfeiler”.
“DieTheorieeinergemeinsamenAbstammungist,einmalformuliert,einfachund
einleuchtend, und es ist kaum zu glauben, dass Darwin der erste war, der sie sich
konsequent zu eigen machte. Ihre Bedeutung liegt nicht allein an ihrem so großen
Erklärungswert, sondern auch darin, dass sie eine Einheit der belebten Welt
herstellt, die es bis dahin nicht gab... Der endgültige Beweis dafür gelang natürlich
erst in unseren Tagen, als die Molekularbiologen zeigten, dass sogar Bakterien
den gleichen genetischen Code wie Tiere und Pflanzen haben.
Keine andere Theorie Darwins wurde mit solcher Begeisterung übernommen wie
die der gemeinsamen Abstammung... Die gesamte linnäische Hierarchie erschien
plötzlich als ganz logisch... Praktisch alle Beweise für Evolution, die Darwin in der
Entstehung anführte, sind genau genommen p41 Beweise für eine gemeinsame Abstammung.InderZeitnachder Entstehung wurdeeszumvorrangigenForschungsprogramm, die Abstammungslinie isolierter oder abweichender Typen zu rekonstruieren, und fast bis zum heutigen Tag ist es weitestgehend das Forschungsprogramm der vergleichenden Anatomen und Paläontologen geblieben.”
“Die biochemische und chromosomale Ähnlichkeit zwischen dem Menschen und
dem afrikanischen Menschenaffen ist so groß, dass man sich wundern muss, wa-
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[?]
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Nominalistisch
Evolutionär
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rum sie hinsichtlich Morphologie und Entwicklung des Gehirns doch relativ verschieden sind.”
“Darwins Evolutionstheorie als solche ..., seine Theorie der gemeinsamen Abstammung und seine Theorie, dass Arten sich vervielfachen, triumphierten innerhalb bemerkenswert kurzer Zeit. Der Sieg dieser drei Theorien ist die erste darwinsche Revolution. 15 Jahre nach Veröffentlichung der Entstehung gab es kaum
mehr einen ernst zu nehmenden Biologen, der sich nicht zum Evolutionisten gewandelt hatte...
Obwohl eine Theorie der Vervielfachung der Arten mittlerweile ganz selbstverständlich als wesentlicher Bestandteil der Evolutionstheorie gilt, ist weiterhin umstritten, wie es zu dieser Vervielfachung kommt.”
“Darwin war sich der Tatsache voll und ganz bewusst, dass der Wandel von einer
Art in eine andere eines der grundlegenden [?] Probleme der Evolution ist.”
Ich kann mir nicht helfen – da muss ich immer an die “grundlegenden Unkenntnisse”
meines Religonslehrers Werner Arnoldis denken.
“Angesichts der zentralen Stellung des Problems von Art und Artbildung in Darwins Lebenswerk würde man in der Entstehung eigentlich eine befriedigende und
in der Tat vorbildliche Abhandlung dieses Themas erwarten. Danach sucht man
seltsamerweisevergebens. In Wirklichkeit schien Darwin umso unsicherer zu werden, je länger er sich mit diesen Begriffen auseinandersetzte. Am Ende war die
Entstehung eineausgezeichneteAbhandlungüberdieTheorieeinergemeinsamen
Abstammung und ein großartiges Plädoyer für die Wirksamkeit der natürlichen
Auslese; doch blieben sowohl das Wesen der Art als auch die Art und Weise der
Artentstehung vage und widersprüchlich.”
“Nach seinem entscheidendem Gespräch mit John Gould über die GalapagosSpottdrosselnimJahre1837kämpfteDarwinweiterhinmitdemProblem,wieeine
Art zu definieren sei. Darin taten es ihm nahe zu alle anderen Naturforscher der
nachfolgenden 150 Jahren gleich.”
Konkurrierende Artbegriffe:
Typologisch
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Unterscheidung an Hand konstanter charakteristische Merkmale. Drei große
Schwächen, derentwegen man in neuerer Zeit davon abrückt: (1) verführt dazu,
selbst verschiedene Varianten innerhalb einer Population als Art zu betrachten.
(2) kann die häufig vorkommenden Zwillingsspezies nicht unterscheiden, also Arten, dievomAussehenhernichtzuunterscheidensind,sichaberinderNaturnicht
kreuzen. (3) zwingt dazu, lokale Populationen, die sich durch ein charakteristischesMerkmalvonanderenPopulationeneinerArtunterscheiden,alsvollwertige
Art anzuerkennen.
Arten sind durch das subjektive Vorgehen des Klassifizierenden bestimmt. “Es
gibt eine schlagende Widerlegung der nominalistischen Behauptung: primitive
Eingeborene aus Neuguinea in ihrer Steinzeitkultur betrachten genau die gleichen Wesenheiten in der Natur als Arten wie die westlichen Taxanomen. Wären
Arten etwas rein Willkürliches, dann wäre es absolut unwahrscheinlich, dass Vertreter zweier drastisch verschiedener Kulturen identische Artabgrenzungen trafen.”
Berücksichtigung der zeitlichen Dimension. Der Paläontologe Simpson definiert:
“Eine evolutionäre Art ist eine Stammeslinie, eine Populationenfolge Vorfahren
– Nachkommen, die sich getrennt von anderen und entsprechend ihrer eigenen
einheitlichen evolutionären Rolle und ihren Tendenzen entwickelt.” (347p46)
“Hauptanliegen der evolutionären Artdefinition war es, eine klare Abgrenzung
einer Art in der Zeit zu ermöglichen; aber diese Hoffnung erwies sich in allen
Fällen einer graduellen Artumwandlung als trügerisch.
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Biologisch
Mayrs Definition: “Arten sind Gruppen von sich miteinander fortpflanzenden natürlichen Populationen, die von anderen derartigen Gruppen reproduktiv isoliert
sind.”
Darwin ging ursprünglich vom biologischen Artbegriff aus. “Dann allerdings ge(347p49)
riet er etwas durcheinander, vor allem, nachdem er versucht hatte, seine in der
Zoologie erworbenen Erkenntnisse auf die Pflanzen anzuwenden... Der Artbegriff, zu dem Darwin schließlich gelangte, wird in der Entstehung ganz klar beschrieben.Von den biologischen Kriterien in den Notizbüchern ist nichts übrig geblieben, und seine Charakterisierung der Art ist jetzt eine Mischung aus der typologischen und der nominalistischen Artendefinition geworden.”
Der biologische Artbegriff sei mittlerweile weitgehend angenommen, aber auch
(347p50)
der typologische und der evolutionäre habe in einigen Bereichen der biologischen
Forschung noch eine gewisse Berechtigung.
“Moderne Biologen sind fast einstimmig der Auffassung, dass es in der organi(347p51)
schen Natur echte Diskontinuitäten gibt, die natürliche Wesenheiten, welche als
Arten bezeichnet werden, voneinander abgrenzt. Daher ist die Art ein Grundbegriff fast aller biologischen Disziplinen... Jeder Biologe arbeitet mit Arten, ob er
sich nun dessen bewusst ist oder nicht.”
“Bedenktman,wieunsicherDarwinsichhinsichtlichdesWesensderArtwar,soist
(347p52)
sein Schwanken in der Vorstellung über die Art und Weise, wie Arten entstehen,
nicht weiter verwunderlich. Darwin glaubte ja ursprünglich an Lyells plötzliche,
sprunghafte Einführung neuer Arten. Erst John Goulds Nachweis im März 1837,
jedederdreiPopulationenvonSpottdrosselnaufdenGalapagos-Inselnstelleeine
gesonderte Art dar, lenkte Darwins Nachdenken über die Entstehung von Vielfalt
in völlig neue Bahnen. Ganz offensichtlich stammten die verschiedenen Spottdrosseln auf den drei Galapagos-Inseln alle von Kolonisten der südamerikanischen Festlandart ab. Allerdings hatten sich die drei Populationen auf jede der
drei Inseln in geringfügig verschiedener Weise weiterentwickelt. Dies brachte
Darwin zu der Theorie einer Artentstehung durch die allmähliche Modifizierung
von Populationen, die geografisch von ihrer Elternart getrennt sind; und diese
Theorie der Artbildung behielt Darwin bis in die frühen Fünfzigerjahre des 19.
Jahrhunderts bei. Es war keine neue Theorie; denn eine ähnliche hatte zuvor von
Buch (1825) zur Diskussion gestellt. Später kamen auch Wagner (1841) und Wallace (1855) ganz unabhängig zu dem gleichen Schluss. Damals sah Darwin die Isolation auf Inseln als den hauptsächlichen Mechanismus für die Entstehung neuer
Arten an. Die Entstehung von Arten auf Kontinenten scheint ihm aber Schwierigkeiten bereitet zu haben.”
p53
Darwin entwickelt das Modell der sympatrischen Artbildung durch Merkmaldi(347 )
vergenz: Die neue Art spezialisiert sich ökologisch auf dem Territorium der Elternart. Durch Überwechseln in eine neue Nische stünde sie nicht mehr so sehr in
Wettstreit mit der Elternart. Die natürliche Auslese vergrößere dann die Merkmalsdivergenz. “Dieses Postulat einer sympatrischen Artbildung verwickelte Darwin in eine erbitterte Kontroverse mit dem Forschungsreisenden und Naturkundler Moritz Wagner. Dieser behauptete, geografische Isolierung sei eine unerlässliche Voraussetzung der Artentstehung.”
Darwin setzte sich damals durch, aber seine Ansichten gehen ein wenig durchein(347p54)
ander. “Er verwarf wiederum sein Denken in Populationen und zog ein typologisches Denken vor... Heute wissen wir viel mehr über Artbildung und sehen Wagners Argumentation in Großen und Ganzen als stichhaltiger an als die Darwins.”
“Überblickt man Darwins Schriften zu den Themen Art und Artentstehung in
(347p54-55)
Ganzen, so bleibt der Eindruck: was Arten sind und wie sie entstehen, darüber war
Darwin ziemlich unsicher. Nicht selten widersprach er sich selbst. Freilich beruht
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diese Verlegenheit auf seiner Unkenntnis über die Entstehung genetischer Variationen. Was wir heute – 153 Jahre später – zu p55 diesen Themen wissen und sagen
können, gründet sich auf unser Verständnis, soweit es eben reicht, der Genetik.
AuchwennesDarwinnichtgelungenist,endgültigundeindeutigzuerkennen,war
Arten sind und wie sie entstehen, so bleibt ihm doch das Verdienst; er hat die Probleme erkannt und mit aller Klarheit [?] verschiedene alternative Möglichkeiten
einer Lösung formuliert.
Darwins fünf wichtigste Evolutionstheorien
(347p57-58)
“SowohlinwissenschaftlichenalsauchinallgemeinverständlichenBüchernfindet
man häufig Hinweise auf ‘Darwins Evolutionstheorie’, als handele es sich dabei
um ein einheitliches Ganzes. In Wirklichkeit umfasst Darwins Theorie der Evolution ein ganzes Bündel von Theorien, und es ist unmöglich, sich konstruktiv mit
DarwinsevolutionäremDenkenauseinanderzusetzen,wennmandessenverschiedene Komponenten nicht unterscheidet... Was Darwin 1859 in seiner Entstehung
vorlegte, war eine zusammengesetzte Theorie, deren fünf Untertheorien in den
folgenden 80 Jahren ein jeweils sehr unterschiedliches Schicksal bestimmt war...
Organische Evolution besteht ... aus zwei dem Wesen nach voneinander unabhängigenVorgängen:Erstensausden p58 VeränderungeninderZeit,undzweitens
aus dem Entstehen von Verschiedenheiten im ökologischen und geografischen
Raum. Diese beiden Prozesse machen zumindest im Ansatz zwei völlig eigenständige und sehr verschiedene Theorien erforderlich.”
(347p58)
AndemDurcheinanderseigroßteilsDarwinselberschuld,weilerimmervon‘meiner Theorie’ spreche. “Der Einfachheit halber habe ich sein evolutionäres Paradigma in fünf Theorien untergliedert; aber man könnte genauso gut eine andere
Unterteilung vornehmen. Die ausgewählten Theorien umfassen bei weitem nicht
alle evolutionären Theorien Darwins; andere waren beispielsweise die sexuelle
Auslese, die Pangenese, die Auswirkung von Gebrauch und Nichtgebrauch sowie
Merkmaldivergenz. Wenn sich jedoch spätere Evolutionisten auf Darwins Theorie bezogen, dann hatten sie ausnahmslos eine Verquickung der folgenden fünf
Theorien im Sinn:”
1. Evolution als solche: ... die Welt ... verändert sich ... stetig, und Organismen unterliegen einer Veränderung in der Zeit.
2. gemeinsame Abstammung: ... jede Organismengruppe [hat einen] gemeinsamen
Vorfahren... alle Organismengruppen einschließlich der Tiere, Pflanzen und MikroorganismengehenaufeineneinzigenUrsprungdesLebensaufderErdezurück.
3. VervielfachungvonArten:... [Artenvervielfachensich],indemsiesichinTochterspezies aufspalten oder indem sie ’sprossen’, d.h geografisch isolierte Gründerpopulationen hervorbringen, die sich zu neuen Arten entwickeln.
4. Gradualismus: ... allmähliche graduelle Veränderung von Populationen, ... nicht ...
plötzliche saltatorische Produktion neuer Individuen, die dann eine neue Art darstellen.
5. natürliche Auslese: ... evolutionärer Wandel durch überreiche Produktion genetischer Variation in jeder Generation. Die relativ wenigen Individuen, die, auf
Grund einer besonders gut angepassten Kombination von vererbbaren Merkmalen überleben, bringen die nachfolgende Generation hervor.
Theorie-bundle? Für Darwin selber bildeten diese Theorien offenbar eine Einheit, und jemand
könnte in der Tat behaupten, alle fünf Theorien seien ein vom logischen her unaufschnürbares Paket, und Darwin habe sie ganz zu recht als solches behandelt.
Diese Behauptung lässt sich aber leicht widerlegen; denn die meisten Evolutionstheoretiker unmittelbar nach 1859, d.h. jene Wissenschaftler, die der ersten The-
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<Darwins Kern>
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orie zugestimmt hatten, lehnen ... eine oder mehrere der anderen vier Theorien
Darwins ab. Die fünf Theorien bilden also kein unteilbares Ganzes.”
Im Sinne von Lakatos (297p3f) können wir diese fünf Theorien als den “harten
Kern” der Darwinismus ansehen. →WK-2
Ideologische Fronten um den Darwinismus: <Essenzialismus> als Akzeptanzhindernis
(347p63)
“Der herrschende Zeitgeist lief Darwins Denken extrem zuwider und verhinderte
mehr als 100 Jahre lang, dass einige seiner neuen Vorstellungen allgemein akzeptiertwurden.InderTatwerden–daszeigeninneuererZeitveröffentlichteBücher
und Abhandlungen – viele darwinsche Ideen noch immer nicht allgemein anerkannt, weil sie gewissen, nach wie vor mächtigen Ideologien widersprechen.”
Ich wäre vorsichtiger: sie wurden im Kampfe der Ideologien in verschiedenen Lagern
instrumentalisiert, und durchaus nicht immer im Sinne Darwins.
(347p63f)
NB
(347p64)
(347p65)
“Schlimmste” Ideologie sei der “Essenzialismus”; die auf Plato zurückgehende
Lehre, nur wohl unterschiedene, ideale Typen existierten wirklich. Taxanomien
und Hierarchien seien objektiv, sogar absolut. Die von uns wahrgenommenen
konkreten Objekte seien nur mehr oder weniger gute Realisationen der “Ideen”.
Stetig abgestufte Variation eines Dinges seien darum ausgeschlossen; real existierende Abstufungen seien lediglich Streuungen um die Essenz einer Idee, unterschiedliche Gütegrade seiner Realisation. zu Darwins Zeit seien gerade die Physiker Essenzialisten in diesem Sinne gewesen.
Der Streit zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen wurde schon im mittelalterlichenUniversalienstreit durchalleRundenausgetragen;MayrsEssenzialismusentspricht in etwa dem Universalienrealismus der Scholastik. Das von ihm ausgemachte
geschlossene und mächtige ideologische Lager eines neuplatonischen “Universalismus” gab esso noch im karolingischen Christentum. (357) Zu Zeiten der Moderne sahen die (Natur-)Philosophen das Verhältnis zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten durch die Bank differenzierter, als Mayr ihnen hier zugesteht. Mayr überzeichnet
den“philosophischenWiderstand”;diestärkerenBataillonewarenaufSeitenderEvolutionisten: man brauchte die Evolutionstheorie.
Ich sehe weniger den abstrakten Glauben an Disjunktheit der Natur und mehr die real
existierenden konkreten Diskontinuitäten als Handikap des Darwinismus, und zwar
bisauf den heutigen Tag. Es sind keine rationalistischen Grenzideen, die Arten voneinander trennen, sondern empirische Klüfte und Schründe im Entwicklungsgebirge!
Tatsächlich treibt der Platonismus im Identitätsdenken weiter ideologische Sumpfblüten, aber ohne großen Einfluss auf die Evolutionstheorie. Nach meinem Gefühl betreibt Mayr mit dem in “Essenzialismus” umetikettierten Universalismus ein wenig
Pappkameradie, um sich von eigenem Bauchschmerz abzulenken. Der “Feind” steht
heute im mathematisch bis an die Zähne bewaffneten Lager und wird von Mayr nirgendwo im ganzen Buch auch nur erwähnt: informationstheoretische, synergetische,
komplexitätstheoretische Problem- und Lösungszonen des Darwinismus z.B.
(207,208,295,296,309, 409,410) Theorie-Feindlichkeit des Biologen?
“Für einen Essenzialisten kann es keine Evolution geben. Es kann lediglich durch
eine Großmutation oder Saltation eine plötzliche Entstehung neuer Essenz geben. Bis in Darwins Zeit waren praktisch alle Philosophen Essenzialisten. Ob sie
nun Realisten oder Idealisten waren, Materialisten oder Nominalisten, sie alle sahen Organismenarten mit den Augen des Essenzialisten.”
“In der Mathematik, Physik und Logik war essenzialistisches Denken äußerst erfolgreich, war sogar absolut notwendig. Die Beobachtung der Natur schien dieBehauptungen der Essenzialisten nachhaltig zu stützen. Wo auch immer man hinblickte, man sah Diskontinuitäten zwischen Arten, zwischen Gattungen, zwischen
Ordnungen und allen höheren Taxa.”
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zialistisches Denken. Diese Ausdrucksweise übersieht dieTatsache, dass jeder
Mensch einzigartig ist. Kein anderes Individuum ist mit ihm identisch.
Darwins Genie bestand darin herauszufinden, dass diese Einzigartigkeit eines jeden Individuums nicht auf die Art ‘Mensch’ beschränkt ist, sondern gleichermaßenfürallesexuellsichfortpflanzendenTier-undPflanzenartengilt.InderTat
wurde die Entdeckung und Bedeutung des Individuums zum Eckstein von Darwins Theorie der natürlichen Auslese. Sie führte schließlich dazu, dass an die StelledesEssenzialismusdasPopulationsdenken trat,dasdieEinzigartigkeitdesIndividuums und die wesentliche Rolle betont, die Individualität in der Evolution
spielt. Darwin fragte nicht mehr: ‘Was ist gut für Art?’ sondern ‘Was ist gut fürdas
Individuum?’ ”
Gut gebrüllt, Löwe. Sicher war die Interpretation Darwins durch Haeckel und dann
wieder Haeckel vergröbernden, keineswegs wissenschaftlich isolierten Rasse- und Nazibiologen idiotisch, aber sie konnte geschehen, herrscht heute noch und verdiente explizitere Behandlung als etwas Sperrfeuer und ein paar beiläufige Klarstellungen. Oder
wird dann das Eisen zu heiß?
“Nach Veröffentlichung der Entstehung wandten sich trotzdem viele Biologen, die
(347p66)
Saltationstheorien
1.
2.
3.
(347p68)

Gerade wo es die Biologie von ihrem Missbrauch im Dritten Reich her noch kräftig im
Salz liegen hat (Stichwort: Sozialdarwinismus), gerade da legt Mayr Sperrfeuer:
“Wer von dem Preußen, dem Juden, dem Intellektuellen spricht, offenbart essen-
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Evolution als solche, Darwins erste Theorie, billigten, eben weil sie Essenzialisten
waren, Saltationstheorien zu, um den Prozess der Evolution zu erklären.
Man kann drei Arten von Saltationstheorien unterscheiden:
ausgestorbene Arten werden durch neugeschaffene, mehr oder weniger auf der
gleichen Ebene stehende, ersetzt. (Lyell 130, 1833)
ausgestorbene Arten werden durch neue Schöpfungen ersetzt, die sich auf einer
höherenEbenederOrganisationbefinden.(Progressionisten,etwaWilliamBuckland, Sedgwick, Hugh Miller, Agassiz)
neue Arten entstehen durch Saltationen bereits existierender (E. Geoffroy, SaintHilaire, Darwin in Patagonien, Galton, Goldschmidt)”
“Meines Wissens war Lamarck der erste Wissenschaftler, der eine in sich
schlüssige Theorie der graduellen Transformation vorlegte.”
Darwins Evolutionsbegriff unterscheide sich grundlegend von der Saltations- wie
auch der Transformationsevolution. “Darwins Konzeption zufolge, die wir als
’Variationsevolution’ bezeichnen können, werden in jeder Generation Varianten
erzeugt, und weil nur eine kleine Anzahl dieser Varianten überlebt, um sich fortzupflanzen, findet Evolution statt. Nur wird nicht nur ein konkretes Objekt umgeformt, wie in der Transformationsevolution, sondern in jeder Generation wird ein
neuer Anfang gemacht. In der Tat ist darwinsche Evolution ein zweistufiges Phänomen, wobei der erste Schritt in einer jeden Generation für die Erzeugung von
Verschiedenheit verantwortlich ist, die dann im zweiten Schritt, der eigentlichen
Selektion, aussortiert wird. genau genommen ist die darwinsche Evolution also
diskontinuierlich, da in jeder Generation ein neuer Anfang gemacht wird, wenn
ein neuer Satz von Individuen hervorgebracht wird. Evolution erscheint dennoch
vollkommen graduell, weil sie sich auf Populationen bezieht undvondersexuellen
Reproduktion der Mitglieder einer Population abhängt.”
Darwin war der Ansicht, “die Veränderungen der Organismen würden unmittelbardurchdieUmweltausgelöstodersiestelltenzumindesteineReaktionaufVeränderungen in der Umwelt dar. Daher äußerte er [in seinen notebooks], ‘die Veränderungen der Arten müssen wegen der Langsamkeit der physikalischen Veränderungen sehr langsam stattfinden.’ Auch Darwins Schlussfolgerung, dass Verän-
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Stasen
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derungen in Gewohnheiten oder Verhaltensweisen Änderungen der Struktur vorangehen können, sprach für den Gradualismus.”
Mayr vermutet empirische Evidenz als Grund für den Übergang Darwins zum
Gradualismus. Er nennt drei Beobachtungen: “Erstens die Geringfügigkeit der
Unterschiede zwischen den Spottdrosselpopulationen auf den drei Galapagos-Inseln und auf dem süd-amerikanischen Festland sowie ein ähnlich geringfügiger
Unterschied zwischen zahlreichen Tiervarietäten und Arten. Zweitens die Untersuchungen an Rankenfüßern, bei denen Darwin sich unablässig beklagte, in welchem Maße Arten und Varietäten allmählich ineinander übergehen. Drittens
Darwins Arbeit mit verschiedenen Rassen von Haustauben. Bei ihnen fand er extrem verschiedene Rassen, die jeder Taxanom, fände er sie in freier Wildbahn,
ohne Zögern verschiedenen Gattungen zugeordnet hätte. Diese Rassen waren
aber das Ergvebnis sorgfältiger, langdauernder, gradueller Auslese...
Schließlich hatte Darwin didaktische Gründe dafür, auf der langsamen Anhäufung sehr kleiner Schritte zu bestehen. Dem Einwand seiner Gegner, man müsse
evolutionärenWandeldurchnatürlicheAuslese‘beobachten’können,hielterentgegen: ‘Da natürliche Zuchtwahl nur durch Häufung kleiner, aufeinander folgender günstiger Abänderungen wirkt, so kann sie keine großen und plötzlichen Umgestaltungen bewirken. Sie kann nur in sehr langsamen und kurzen Schritten vorgehen.’(91)”
Darwins Abneigung gegen die Saltationstheorie verstärkt sich immer mehr, gegen
starkenWiderstand:“NachDarwinsTodwurdedieKonzeptiondesGradualismus
noch unpopulärer als zu seinen Lebzeiten. Diese Entwicklung setzte mit William
Batesons Buch von 1894 ein und erreicht einen Höhepunkt in den Mutationstheorien p71 derMendelisten...SowohlBatesonalsauchdeVriesversäumtenkeineGelegenheit, sich über Darwins Glauben an eine graduelle Evolution lustig zu machen und hielten stattdessen an einer Evolution durch Makromutationen fest.
Selbst während der evolutionären Synthese erfreuten sich saltationistische Theorien noch einiger Beliebtheit. Hauptvertreter einer graduellen Evolution waren
die Naturforscher, die ihr ja auf Schritt und Tritt in Form geografischer Variation
begegneten. Schließlich gelangten die Genetiker nach der Entdeckung ganz kleiner Mutationen zu der gleichen Schlussfolgerung.
Wenn wir Gradualismus als Populationsevolution definieren, und eben dies hatte
Darwin im Grunde genommen im Sinn, können wir sagen, Darwin setzte sich allen
Widerständen zum Trotz letztlich auch mit seiner vierten Evolutionstheorie
durch...
In der Theorie des Gradualismus ist an keiner Stelle die Rede davon, mit welcher
Geschwindigkeit die Veränderung stattfindet [doch, allenthalben: immer schön
langsam, stetig, unmerklich].DarwinwarsichderTatsachebewusst,dassEvolution
gelegentlich sehr schnell fortschreiten kann[??], aber sie kann auch ... Perioden
völligen Stillstandes (Stase) aufweisen... Will man die von N. Eldridge und Stephen J. Gould 1972 aufgestellteTheoriederunterbrochenenGleichgewichte richtigbeurteilen,isteswichtigzuverstehen:GradualitätundEvolutionsratesindvoneinander unabhängig.”
... aber nur frei nach Radio Eriwan: im Prinzip ja, wenn man sich an den Buchstaben
des Gradualismus klammert und seinen Geist vernachlässigt. In der Essenz behielten
die Gegner dieser darwinschen Theorie recht. Sie boten aber Erklärungsmuster, die
Darwin sicher erleichtert aufgegriffen hätte. →(485)
(347p74)
Böse Physiker! “Die probabilistische Natur des Evolutionsprozesses war dem
Denken der Physiker so fremd, dass Herrschel natürliche Auslese als die Theorie
des higgledy-piggledy, des Drunter und Drüber, bezeichnete.”
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Nicht doch!
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Und was ist mit Maxwell, Boltzmann u.v.a. physikalischen Zeitgenossen?
“Darwins ‘Gesetze’waren...nichtGesetzederDeisten,sondernentwederschlichte Tatsachen oder regelhafte Prozesse. Da er sich nicht mehr auf allgemeingültige
Gesetzestützte,waresfürihnkeinProblem,statistischeVerallgemeinerungenanzuerkennen. Dies bedeutete eine völlig Abkehr vom kartesisch-newtonschen Determinismus.”
Die Irrlehre von den <Endzwecken>
Die ganze komplexe Welt auf das beste eingerichtet: “Ein Hauptanliegen der
(347p78)
SchriftenderPhysikotheologenwareszuzeigen,wievollkommenallesinderWelt
entworfen war. Da Gott nichts Unvollkommenes geschaffen haben konnte, wurde
die Welt als die ’Beste aller möglichen Welten’ betrachtet... Bis Evolution anerkannt wurde, gab es keine denkbare Alternative zum Zufall als die ’Notwendigkeit’, d.h. Gottes Plan.”
Deutscher Idealismus
“Zum Denken des 17. und 18. Jahrhunderts passte sehr gut der Glaube an kosmi(347p78-79)
sche Teleologie. Es war eine Epoche des wachsenden Optimismus, der Befreiung
von sozialen und gesetzlichen Lasten. p79 Man war überzeugt, eine bessere Zeit sei
angebrochen, möglicherweise ein ‘tausendjähriges Reich’. Nicht nur Utopisten
und Reformer predigten den Fortschritt, vielmehr er zum Thema ganzer Philosophien, insbesondere der historisch-idealistischen Schulen von Herder und Schelling bis Hegel und Marx. Nirgendwo sonst war die Teleologie so einflussreich wie
in Deutschland. Nahe zu alle deutschen Philosophen – von Leibniz, Hegel und
Kant bis in die Moderne – waren mehr oder weniger Teleologen. Kant, dessen
Denken die deutsche Philosophie das ganze 19. Jahrhundert hindurch beherrschte, war ein Teleologe. Ein strenger Mechanist in Sachen der unbelebten Natur, betrachtete er alle Phänomene der belebten Natur als das Ergebnis teleologischer
Kräfte. Unter Kants Einfluss durchdrang das teleologische Denken die deutsche
Biologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts... Und die nachdarwinistische
teleologische Theorie der Orthogenese hatte nirgends so viele Anhänger wie in
Deutschland.”
Naturverachtung:
(347p80)
“Der allgemeine Optimismus des 18. Jahrhunderts erlitt durch das verheerende
Erdbeben, das am 1. 11. 1755 Lissabon heimsuchte, einen schweren Schock. Es bewog Voltaire, in seinem ‘Candide’ das panglossische Denken von Alexander Pope
und Leibniz zu verspotten. Auch David Hume machte sich über die behauptete
Harmonie der Natur lustig: ‘Seht euch diese lebenden Wesen – die einzigen, die es
wert sind, dass man sie betrachtet – etwas näher an! Wie feindselig und zerstörerischsind sie, wie unzulänglich allesamt, was ihr eigenes Glück betrifft, wieverachtenswert und abstoßend für den Betrachter. Das Ganze steht für nichts weiter als
die Vorstellung von einer blinden Natur.’ In ähnlicher Weise widerlegte Kant die
BehauptungenderNaturtheologie.DieunseligenFolgenderfranzösischenRevolution trugen dazu bei, dass abgründiger Pessimismus um sich griff. Er spiegelte
sich im Denken von Malthus und anderen Demografen wieder. Das BevölkerungswachstumwurdenichtmehralseinedemMenschenvonGotterwieseneSegnung betrachtet. Vielmehr behauptete man, wegen der von der Umwelt gesetzten
Grenzen werde ein solches Wachstum unausweichlich zu Armut, Katastrophen
und Tod führen.
Je weiter die Untersuchungen der Biologen gediehen, auf desto mehr Phänomene
stieß man, die der Großartigkeit des Schöpfungsplans widersprachen.”
p81
“Man fragte: was ist so wundervoll an einem Parasiten, der seine Opfer quält und
(347 )
schließlich ihren Tod herbeiführt? Schlimmer noch: Kann ein Plan perfekt sein,
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(347p81-82)
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wenn er so häufig zum Aussterben führt, wie es durch die Fossiliengeschichte belegt ist?”
“Von der Naturtheologie mit ihrer Betonung eines Plans hatte man sich auf dem
Kontinent um etwa 1800 praktisch abgewandt. In England hingegen war sie nach
wie vor sehr einflussreich, und alle Lehrer und Kollegen Darwins, insbesondere
Sedgwick, Henslow und Lyell, waren überzeugte Naturtheologen. Dies war Darwins begriffliches Bezugssystem, als er sich Gedanken über Anpassung und die
Entstehung der Arten zu machen begann.”
“Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Darwin, als er von der Expeditionsreise
der Beagle zurückkehrte, die Glaubensvorstellungen der Naturtheologen teilte.
23 Jahre p82 später, als er die ‘Entstehung’ veröffentlichte, hatte er sich davon völlig gelöst. In der Literatur existiert jedoch noch keine volle Übereinstimmung darüber, auf Grund welcher Einflüsse und in welcher Periode Darwin seine Deutungen revidierte. Es war eine merkwürdige Zeit, denn die englischen Wissenschaftsphilosophen Herrschel, Whewell und Mill legten Wert auf eine strenge wissenschaftliche Methodologie und glaubten dennoch fest an Endzwecke.”
<Antitheismus> – der seelische Grund zum Anti-Teleologismus WS 24.02.2001
Hier haben sich hin und wieder wissenschaftsfremde Ideologien ausgetobt, sarunterauchfalsches,weilmitblenderischenWünschenbeladenesteleologischesDenken.Umsowichtiger,einentschiedenesPlädoyerfür(richtiges)finalesDenken im
Allgemeinen und in der Biologie im Besonderen zu halten! →Ev-87
AberhierscheintmireinergänzendersozialpsychologischerExkursüberWurzeln
des Anti-Teleologismus (Antifinalismus) angebracht.
DerGefühlsgrundfürdentiefsitzendenantiteleologischenAffekt dürfteeininder
Zeit der Aufklärung aufgekommener Anti-Theismus sein. Das Versagen des
Christentums war den Neuerern offensichtlich; und nun wäre ein aufgeklärter
Gottesglaube, der sich des längst korrupten christlichen Dogmas entledigt, denkbar gewesen. Das hätte dem Christentum und damit den Kirchen wirklich die
Grundlage entzogen!
HierscheinteinseltsamerSchutzmechanismuseingesetztzuhaben,derdasChristentum‘rettete’,undzwardurchAbspaltung–vielleichtganzähnlich,wiemansich
die traumatische Abspaltung beim MP-Syndrom vorstellt. Nach der Abspaltung
konnten die Kirchen die göttliche Konkursmasse ungestört von der Wissenschaft
weiterverwalten;undnachdemsichimausgehenden19.JahrhundertdasGewitter
der Aufklärung endgültig verzogen zu haben schien, versuchten sie sogar wieder
eineScheinbelebungundstopptenjegliche“Modernisierung”.(WobeidieProtestanten schon früh einen wissenschaftlichen Sandkasten für die Intellektuellen bereitstellten.)
Aber auch die durchweg antiklerikalen Aufklärer hingegen waren weiterhin von
christlichen Schmerzmitteln so zugedröhnt, dass sie über Gott nicht klar denken
konnten. Unverrückbares, ‘essenzielles’ Attribut Gottes waren seine überväterlichen Attribute: fürsorglich, gut und gerecht, und all das in grandiose Manier.
Gott konnte nur der liebe Gott sein. Ein Gott, der nicht lieb ist? Dieser Gott ist
kein Gott!
Die zunehmende Einsicht in die grausamen Seiten der Natur war damit allerdings
völligunverträglichunddasalteProblemderTheodizeerückteganznachobenauf
die Tagesordnung. Statt sich ein Vorbild zu nehmen an Hiobs Wahrhaftigkeit,
stellten sie die entrüstete Frage: “Wie kann Gott das zulassen?” Wobei in dieser
scheinheiligen Frage eigentlich schon die Antwort verborgen liegt: Er dürfte es –
als ein ganz Lieber – nicht zulassen. Da es aber geschieht, kann er nicht mehr im
Amt sein. Insofern war das Problem der Theodizee nur ein Schein(heiligen)problem, dem Kant nur noch den Rest geben musste.
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Da man die Idee von Gott aber nicht gänzlich aufzugeben bereit war, entstand die
Idee von seiner Pensionierung. Gott erfand die Naturgesetze, setzte die Welt in
Gang und ging danach in Rente: so lautete schließlich die verwässerte Form des
Deismus. Es hatte seinen positiven Aspekt: der Mensch war mit einem Male für
sich selber verantwortlich; kein grundgütiger Vater wachte mehr über ihm. Und
dem weiterwirkenden Wunsche danach müsse eisern widerstehen; das sei wissenschaftliche Tugend.
Mit dem perfekt vorsorglichen Vater gerieten auch alle Ideen von einer “Absicht”
der Natur in Verschiss, und die ganze Wut und die Enttäuschung, derart von Gott
im Stich gelassen worden zu sein, heftete sich ihnen an. Allein aus der Vergangenheit musste jetzt alles bestimmt sein: die metaphysische Idee des Kausalismus gewann die Oberhand, obwohl an und für sich die Naturgesetze – damals die frisch
entdeckten Gesetze der newtonschen Mechanik – völlig unabhängig von einer
kausalen oder finalen Interpretation gelesen werden konnten. (Das demonstriert
am eindrucksvollsten die Zeitumkehrbarkeit der newtonschen Gleichungen.)
Ein überwältigend starkes Indiz, dass für das kollektive Unbewusste der Gebildeten dieser seelische Konnex und der angeheftete traumatische Komplex in unverminderter Stärke besteht, sind die stereotypen Reaktionen der “neuen Inquisition” (561) auf alle ketzerischen Zweck-Theoretiker: sie machen diesen nämlich
mit stark erhobenem Zeigefinger klar, dass es eben keinen lieben Gott gebe; sie
projizieren in Lehrbuchmanier ihr eigenes Trauma: vom lieben Gott verlassen zu
sein, ohne Trost auf ein “Staubkorn am Rande des Universums” (Monod) geschleudert. Sie unterstellen den Ketzern die eigenen, streng verbotenen Wünsche,
nämlich die Verantwortung für das eigene Leben wieder an eine vaterähnliche Instanz loszuwerden, also infantil zu regredieren. Sie haben den Verlust des lieben
Gottes anscheinend noch lange nicht verwunden. Darum geht einem die Pauschalität der Anwürfe – z.B. bei Franz Wuketits (569) – schon kräftig auf die Nerven,
ungeachtet dessen, dass unwahrhaftiges, auf einen lieben Gott gerichtetes
Wunschdenken hie und da tatsächlich zu wissenschaftsfremden und verantwortungslosen Ideologien geführt hat.
Heute ist der Fall aber noch viel klarer als damals, ein nachhaltiger Rückfall in
christliche Illusionen praktisch unmöglich, denn heute wäre so etwas mehr als nur
unverantwortlich, sondern käme einem Verbrechen gleich. Denn was für den “allgemeinen Optimismus” der frühen Aufklärung das Erdbeben von Lissabon war,
ist für uns der rational durchgeplante, industrielle Massenmord an den Juden: das
endgültige Aus für den lieben Gott, auch für jedes säkular zurechtabstrahierte
Bild davon, wie etwa der grandios gute Jesus der liberalen evangelischen Theologie, ganz gleich, ob historisch oder kerygmatisch, wirklich oder symbolisch auferstanden.
Nachdem wir den lieben Gott, diese listige Erfindung des Christentums, an seinen
Früchtenerkannt, abgehauen und ins Feuer geworfen haben – wozu die all kausalmechanischen, reduktionistischen Methodisten meist nicht dem Mumm aufbringen – können wir wieder zu Gott und zu Zwecken der Natur zurückkehren.
Denn die Pensionierung, Suspendierung oder Tötung Gottes hat auch eine
schlechte Seite: wir haben uns damit formschön aus jeglicher Verantwortung für
Gott gestohlen, und im selben Konnex für all die Dinge, die wir seitdem kausalistisch korrekt dem Zufall zuschreiben dürfen.
Da gibt es nämlich einen heimliche Ausgleich für die alleinige Verantwortung für
daseigeneLeben:diesermoralischsogroßspurigübernommeneVerantwortungsbereich war drastisch geschrumpft; scheinbar war man vom christlichen Trost
emanzipiert, aber den vom Christentum ausgestellten Persilschein “vergaß” man
zurückzugeben.
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Denn, theologisch gesprochen: nicht Gott ist für uns, sondern wir sind für Gott verantwortlich.DieAntikewusstedasnoch,bevordieseseltsame,überheblicheSekte
daherkam und den verwirrten Menschen vorschwätzte, der liebe Gott persönlich
habe ihnen alles abgenommen und sogar einen blutigen Sündenbockzauber inszeniert, nur damit die Menschen die frohe Botschaft auch begreifen. Man müsse nur
zugreifen! Man solle gar nicht länger versuchen, sich für das Heil tätig zu engagieren, das sei zwecklos und könne sowieso nicht gut gehen.
Aber so ist einfach ist es nicht. Computer funktionieren nicht ohne Wartung, und
Götter funktionieren nicht ohne Gottesdienst. Man muss sie pflegen. Nicht-theologisch gesprochen: Man kann und man muss Einfluss nehmen auf die teleologischen Aspekte der Natur; und das kann man nicht (und muss man bequemerweise
auch nicht), wenn man sie glatt leugnet, wie Stephen J. Gould, der spätmoderne
“Hohepriester des Zufalls”. Ganz schön kühn!
Belege für ideologische Rumdruckserei schon in der Frühgeschichte des Darwinismus:
(347p85-86)
NachdemDarwinsichendlichzuderÜberzeugungdurchgerungenhabe,dassman
dieganzeEvolutionauchohneEndzweckeerklärenkann:“Darwins...Korrespondenz mit dem amerikanischen Botaniker Asa Gray ermöglicht uns, seinen Gedankengang noch etwas genauer zu analysieren. Gray, wiewohl ziemlich strenggläubiger Kreationist, räumte die Bedeutung und Steuerungsfähigkeit natürlicher
Auslese ein; allerdings: ‘Natürliche Auslese ist nicht der Wind, der das Schiff
vorwärtstreibt, p86 sondern das Ruder, das durch die Reibung bald nach dieser,
bald nach jener Seite den Kurs bestimmt.’ Veränderungen – in Grays Metapher
derWind–wurdeindenAugenAsaGraysvoneinergöttlichenHandgelenkt [Bild
schief aufgehängt. Der metaphysische Anspruch Grays ist zurückzuweisen, aber viel
spricht für den Wind, und solange wir ihn nicht so gut verstehen wie die Ruder, lassen
wir seine nähere Natur offen, statt Gott zu bemühen.] Darwin wies diese Möglichkeit
mitNachdruckzurück [statt nur Gott zurückzuweisen und den Wind offen zu lassen!]
(347p86)
(347p86-87)
und nahm dies zum Anlass, seine Vorstellungen ziemlich offensichtlich als direkte
Antwort auf Gray in The Variation of Animals and Plants (1868) darzulegen. Gray
jedoch vermochte Darwins Argumentation nicht zu folgen und ging sogar so weit,
Darwin für ‘den großen Dienst, den er der Naturwissenschaft erwiesen hat, indem
er ihr die Teleologie wiedergab’, zu preisen.
UndindenspäterenJahrenwarDarwin–voralleminBriefenanseinezahlreichen
Korrespondenten – gelegentlich ziemlich sorglos in seiner Ausdrucksweise. [Eher
zu ehrlich und sorgenvoll!] So sprach er beispielsweise von ‘der äußersten
Schwierigkeitoderbesser:Unmöglichkeit,sichdiesesungeheureundwundervolle
Universum einschließlich des Menschen mit seiner Fähigkeit, weit zurück und
weit in die Zukunft zu blicken, als Ergebnis eines blinden Zufalls oder einer Notwendigkeit vorzustellen’. Wie konnte er derlei äußern, wenn ihn doch gerade die
Theorie der natürlichen Auslese die Mittel an die Hand gegeben hatte, die Alternative Zufall oder Notwendigkeit zu vermeiden! Bei anderer Gelegenheit äußerte
er: ‘Der Verstand weigert sich, dieses Universum, so wie es ist, als etwas anderes
denn als geplant zu betrachten!’ Es ist daher nicht verwunderlich, dass Darwin von
mehreren Autoren, die das Wirken der natürlichen Auslese nicht verstanden [?],
falsch eingeordnet wurde. Kölliker z.B. beschuldigt Darwin, im wahrsten Sinne
des Wortes ein ‘Teleologe’ zu sein. Und selbst T.H.Huxley ließ sich, als er Darwin
verteidigte, dazuverleiten,zwischen‘derTeleologiePaleysundderTeleologieder
Evolution zu unterscheiden.’
In seiner Ablehnung des Finalismus stand Darwin nicht allein. Ernst Haeckel erklärte [1866] mit allem Nachdruck, dass ‘die Ursachen aller Phänomene der Natur
... rein mechanisch wirkende, nie finale, nie zielgerichtete Ursachen sind.’ p87 Am
entschiedensten wurde Darwin von August Weismann unterstützt. Er trat immer
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wieder für die natürliche Auslese in die Schranken und widerlegte die Theorien
der Gegner Darwins. Die Stimmen Haeckels, Weismanns, F. Müllers und der
Freunde Darwins unter den Naturforschern waren jedoch nichts weiter als Stimmen in der Wüste; denn der Widerstand gegen den mechanistischen Prozess der
natürlichen Auslese war fast allgemein. Aber keiner seiner Gegner verstand die
natürliche Auslese richtig [?], und dieses Nichtverstehen beruhte in hohem Maße
auf der althergebrachten ideologischen Bindung an den Finalismus. Der Widerstand gegen die natürliche Auslese und in Verbindung damit ebenso eine offenm
oder unausgesprochene Unterstützung des Finalismus dauerte bis zur evolutionären Synthese an. So bewies der Genetiker T.H. Morgan noch in seinem letzten
Buch über Evolution 1932 sein Unverständnis der natürlichen Auslese. Schon
1910 hatte er behauptet, der Finalismus habe über die natürliche Auslese Eingang
in die Biologie gefunden, da ‘durch die Auswahl der neuen Veränderungen ...
Zweck als Faktor ins Spiel kommt; denn Auslese hatte ein Ziel im Auge’. Dabei
übersah er völlig die Willkürlichkeit und Zufälligkeit der Variationen und die statistische Natur des Vorgangs der Auslese.”
Zwischenruf: Homiletische Penetranz in biologischen Texten WS 24.02.2001
Glaube ichkaum!Morganhatsichnichtkausalmechanistischkorrektausgedrückt
oder die antifinalistische Fahne nicht geschwenkt. Anders als Mayr verstehe ich
aber, was er meint. Mayrs Einwand geht ins Leere. Zweck und Ziel sind im Spiel,
auch wenn der Vorgang von anderem Blickwinkel als zufällig zu beschreiben ist.
“Willkürlich” dagegen ist die Auswahl sicher nicht (wohl ein lapsus linguae, aber
verräterisch: Mayr wittert Einschmugglung göttlichen Willens.) Mayr hält wohl
die Leut’ für arg blöd!
Der biologisch korrekte AusdruckfürdengemeintenZweckist‘Teleonomie’;und
im Zweifelsfall folge die Beschwörungsformel: ‘Nur als ob! Nur als ob! Auch wenn
es anders aussieht!’
Beschwörungen
Diese notorischen Beschwörungen selbst in elementaren Biologietexten gehen
mir auf den Keks. Sie führen dem Unvoreingenommenen immer wieder vor
Augen, wie viele Evidenzen, auf wie vielen Skalen und in wie viele Betrachtungsrichtungen, in kohärenter Weise quer zur rein mechanistischen Deutung stehen.
Der mechanistische Klimmzug mit Darwins Passepartout ist oft möglich, so
möglich wie Kreisbahnen zur Erklärung der Planetenbewegungen, aber lästigerweise muss der Evolutions-Novize immer neu dazu überredet werden. Wenn ich
allesmechanistischerklärenkann,heißtdasnochlangenicht,dassdieseErklärung
stimmt!
Wenn ich Zweidrittel meines Textes antiteleologische Überzeugungsarbeit leiste:
welcher empirische Erkenntnisgewinn steht dem gegenüber? Welche neuen Tatsachen enthülle ich damit? Was wird nach Inkaufnahme so vieler Komplizierungen einfacher? Die kognitive Bilanz des Materialismus geht nicht auf. Evolutionsbiologische Entdeckungen werden durch teleologisches Denken gefördert – die
mechanistische Umdeutung ist nur Klotz am Bein, ideologische Verbeugung vor
demZwangsmaterialismus,dogmatischeFessel,AusdruckeinesverirrtenWissenschaftsverständnisses – kurz: des Aberglaubens.
Indoktrination
Nach Aussage führender Evolutionstheoretiker gehören schon mehrere Monate
intensiven Studiums dazu, sich von der Evidenz des klassischen Darwinismus zu
überzeugen. So kompliziert sei halt die Materie, und soviel Zeit müsse man schon
investieren, um ihr gerecht zu werden. Sichtlich war hier an Vorlesungen an der
Universität und/oder die Lektüre von Lehrbuchtexten gedacht, nicht an selbständige Literatur- oder gar Feldstudien (da reichen in jeder Disziplin leicht Jahre
nicht hin).
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Fakten, Fakten, Fakten gibts natürlich haufenweise, aber diese sind vollständig
bedeutungslos ohne ordnenden Standpunkt: Schrott. Selbstverständlich ist der
Darwinismus ein guter Standpunkt. Keine empirischen Belege ohne Theorie, die
sie in Beziehung setzt. So gesehen, kann man Bände mit ‘Belegen’ füllen, und Studenten gegenüber, die ihren mit diesem Netz fischenden Lehrern vertrauen, die
Illusion der Vollständigkeit des Darwinismus vermitteln. Nicht gut für die Forschung. Ich bin absolut sicher, wenn man die Novizen ein paar Monate lang einem
Darwino-Skeptiker überließe, hielten die den Darwinismus für genau die löcherige Theorie, die er ist; denn es gibt ebensoviele Unplausibilitäten, Schwierigkeiten,LückenundWidersprüche.Undeigentlichsinddiejaimmerinteressanter!
Leider stemmen sich die Evolutionäre immer noch zu heftig gegen den lieben
Gott. Antitheismus, altes Spiel, könnte man leicht aufgeben, diese einseitige Oppositions-Ideologie! →Ev-36
NB Es gibt Darwinismus-Skeptiker, die mehr als nur die entsprechenden Basisvorlesungen kennen. Zum Skeptiker wird man eben erst, wenn man eigene Studien –
und seien es auch nur solche in der Literatur – treibt; über die antiteleologische
Indoktrination hinaus.
Immunisierung
Natürlich gibt es auch Immunisierung auf Seiten der Gegner Darwins, wie den
Kreationisten. Für die lege ich jetzt aber mal noch ein böses Wort ein. Angriffe auf
Finalitäts-Ideologien sind berechtigt, wo ‘final’ nur noch Codewort ist für ‘prinzipiell transzendent’, wo es auf eine ‘unbekannte Dimension’ verweist, dem Menschen grundsätzlich nicht zugänglich – und so sicher vor Kollision mit Tatsachen:
das zentrale Immunisarium der Theologen. Wir plädieren für eine realistische Finalität, realistisch in folgendem, metaphysisch sparsamen Sinne:
Ist ein Modell sehr evident und ergiebig, kohärent, vieldimensional und stetig in
Realismus
andere erfolgreiche Modelle einzubetten, dannhatesmitWirklichkeitzutun,und
auch der größte Skeptiker wird sich nach vernünftigeren Objekten des Zweifels
umsehen. Wo sich finale Erklärungen lückenlos fügen und mit ebenso gesichertem Wissen vertragen, wie sich das finale Prinzip der kleinsten Wirkung mit KraftDiffenzialgleichungen verträgt, dann hat diese finale Erklärung denselben Wirklichkeitsrang wie jede kausale.
Hybris
Den Rang der Letzterklärung darf der Wissenschaftler für seine Theorien nicht
beantragen; dies wäre das moderne Äquivalent zur Hybris der alten Griechen.
Dass mir also keine Klagen kommen, Prometheus.
Die Biologen kämpfen ständig mit dem Schein, nach der Liturgie: “Es scheint ... es
scheint ; aber ... aber”, dem magischen Subtext zu Mayrs Bericht, der oft zur Textoberfläche penetriert:
(347p87-p88)
“In den Jahren nach 1859 wurden zahlreiche Versuche unternommen, Darwins
Theorie der natürlichen Auslese durch eine überlegene Art und Weise der Anpassung zu ersetzen. Die bekanntesten dieser Theorien bezeichnet man im Allgemeinen als Neolamarckismus (Vererbung erworbener Merkmale), Orthogenese (ein
innewohnendes Vervollkommnungsprinzip) und Saltation. Sie alle enthalten
mehr oder weniger finalistische Komponenten. Aus einer Reihe von Gründen ist
es nicht einfach, diese Theorien zu referieren. Nicht nur sind die Beschreibungen
der postulierten Mechanismen, durch die die Veränderungen p88 bewirkt werden
sollen, meistens recht verschwommen, zumal ein und derselbe Autor zuerst die
eine und dann die andere dieser Theorien oder eine Mischung beider vertrat.”
Endlose Krux:
Dies riecht nach Baustelle und nimmt uns nicht für diese Theorien ein.
Es “hielt sich die Vorstellung von einem universellen Plan organischen Fortschritts, d.h. von einer evolutionären Neuinterpretation der nun auf die Zeit bezogenen scala naturae Eine solche Vorstellung schien auf den ersten Blick durch Beobachtung gestützt zu werden. Wenn Variation, wie Darwin behauptet hatte, ziel-
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los ist, und wenn man bedenkt, dass die Anzahl der Umweltkonstellationen nahe
zu unbegrenzt ist, dann könnte man ein völlig chaotisches Geflecht evolutionärer
Phänomeneerwarten.Wasmanhingegenvorfindet,isteinebegrenzteAnzahlklar
abgegrenzter Stammeslinien und die Möglichkeit, Organismen in fortschreitenden Reihen anzuordnen. Dies wurde nicht nur von Paläontologen beschrieben,
sondern auch von Forschern, die sich mit lebenden Organismen, seien es nun
Schmetterlinge [oder] Vögel, befassten. Veränderung war offensichtlich nicht
ziellos, sondern folgte klar festgelegten Pfaden eines Wandels. Solche evolutionären Tendenzen wurden einer innewohnenden richtungweisenden Kraft, genannt Orthogenese, zugeschrieben. Sie wurde als ‘Vervollkommnungstrieb’ beschrieben.
Die Immanenz dieser Kraft schien durch eine Tatsache bestätigt zu werden: Gewiss war es möglich, geradlinige Reihen für Merkmale aufzustellen, deren Entwicklung vielleicht durch natürliche Auslese vorangetrieben worden war. Z.B. die
ZunahmevonMimikrymusternodereinephyletischeZunahmederKörpergröße.
Aber man konnte solche Reihen auch für unzweckmäßige, anscheinend schädliche Reihen konstruieren. Dieses Argument brachte mit besonderem Nachdruck
Eimer. Die meisten orthogenetischen Thesen wurden in striktem Gegensat zu als
Alternative zu natürlicher Auslese aufgestellt.
Es gab jedoch auch eine Gruppe christlicher Darwinisten, die natürliche Auslese
als ‘Beweis für eine lenkende Kraft und eines übergeordneten Denkens’ ansahen.
FürdieeinenwarVariationalssolchezielgerichtet;siestelltederAuslesedasrichtige Material zur Verfügung; die anderen aber betrachteten den Ausleseprozess
als zielgerichtet. Für sie war natürliche Auslese eindeutig ein teleologischer Prozess.”
Ergänzung zur aktuellen Lage des Anti-Finalismus WS 26.02.2001
Heute haben die Biologen, die vor Komplexitätstheorie (184,309,271) und nichtlinearer Dynamik (88,207,296,410) nicht zurückschrecken, weniger Schwierigkeiten. Im Chaos gibt es Attraktoren,die eine handhabbare finale Beschreibung der
Entwicklung dynamischer System gestatten, die mathematisch prinzipiell durch
kausale Bewegungsgleichungen im Phasenraum dargestellt werden könnten –
aber wirkoich nur ganz prinzipiell, da die Gleichungen oft nicht im Detail bekannt
sind und wenn, dann sind sie meist hoffnungslos analyseresistent.
Psychopathologie Ob wir die Erscheinungen mit Wirkungs- oder Zweckursachen beschreiben, ist so
arbiträr und pragmatisch wie die Definition von vorne und hinten. Die einzige
‘Wirklichketischarakter’, den man ihnen problemlos zuschreiben darf, sind gewisse Gesetzmäßigkeiten der zeitlichen Entwicklung. Von kausalen ‘Angangsursachen’ oder finalen ‘Endzwecken’ reden zu müssen, oder gar das eine gegen das
andere in Stellung zu bringen, ist ein (vermutlich von unerfüllter Spiritualität diktierter)neurotischerZwangundgehörtzurPsychopathologiederWissenschaften.
Da ist das schön anschauliche Entwicklungsgebirge, (‘epigenetische Landschaft’)
eine wesentliche Aspekte erfassende Karikatur des hochdimensionalen Phasenraums biologischer Makro-Systeme. Für das nach Mayr eigentlich zu erwartende
“völlig chaotische Geflecht evolutionärer Phänomene” (347p88) ist die ursprünglich hohe Symmetrie dieses Phasenraums verantwortlich, die aber durch winzige
Fluktuationen gelegentlich ‘gebrochen’ wird. DanngrabensichEntwicklungstäler
ins Entwicklungsgebirge: Bei vollkommener Symmetrie steht der ersten Kugel
jede beliebige Richtung offen; aber bereits die zweite wird mit leicht erhöhter
Wahrscheinlichkeit der von der ersten hinterlassenen Spur folgen, und die Tausendste rollt fast gesetzmäßig das durch die Vorläufer ausgehöhlte Tal hinunter.
Im Rahmen solcher Modellvorstellungen kann man Orthogenese gut beschreiben.DaslästigeSchwenkenderAnti-Endzweck-Fahnewirdüberflüssig,dochstel-
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len sich bei der Komplettierung des mathematischen Modells andere, ebenso ketzerische, und derzeit noch nicht in siebzehn Zeilen karikierbare Fragen, nämlich
nach dem “Gedächtnis der Natur”.(469) Die Informationskapazität der Gene ist
viele Zehnerpotenzen zu klein. Weniger als 200 MByte hat das menschliche Genom →Ge-10; ganz beachtlich für den winzigen Raum, aber dennoch erlaubt diese
Speicherkapazität keine lebensechte VR-Simulation der menschlichen Anatomie; sie reicht kaum für ein zünftiges realistisches Videospiel, geschweige denn,
um z.B. die Verschaltung von mindestens 1013 neuronalen Großhirn-Synapsen
‘anzugebären’.
Immer wieder neu aufkommende Bedenken angesichts überwältigender Evidenz
für evolutionäre Ausrichtung werden durch Sprachregelungen beseitigt; auch ein
Indiz für Mayrs Ansicht, die Durchsetzung des Darwinismus sei vor allem die
Durchsetzung einer Ideologie gewesen (in Mayrs Sicht der richtigen)
Evolutionärer <Fortschritt>
Spekulationen über ein mögliches Maß des evolutionären Fortschritts, also über
eine Richtung der Evolution
“Für einige Darwinisten scheint der Begriff ‘evolutionärer Fortschritt’ heikle Fra(347p89)
gen aufgeworfen zu haben. Wie kann ein strikt opportunistischer Konkurrenzkampf zu Fortschritt führen? Darwin scheint gelegentlich selber solche Zweifel
gehabt zu haben; sie spiegeln sich in einer Randbemerkung in seiner Ausgabe der
vestiges wider: ‘Gebrauche nie die Worte höher oder niedriger!’”
Gerichtete Evolution Ein heikler Punkt! Hier sind die merkwürdigsten Umschreibungen vorgeschrieben, um
einerseits der Evidenz gerecht zu werden andererseits ketzerische Fragen abzuwehren.
Dabei ergeben nicht nur der Augenschein, sondern auch die (schwierige) mathematische Analyse evolutionäre Skalen, die der Evolution klare Richtungen geben. Ob man
nun von ‘niedriger’ zu ‘höher’ fortschreitet, oder in Richtung größere Komplexität bzw.
logischer Tiefe, es ist nicht nur überwältigend evident, sondern auch mit Hilfe diverser
Informations- oder Komplexitätsmaße quantitativ einzukreisen, dass der Mensch
komplexer ist als ein Einzeller. Viele Evolutionstheoretiker steigen hier mächtig in die
Eisen sprachlicher Maßregelung, um diesen empirischen Befund zu verschleiern. Es
geht nicht um Grade der Überlebenstüchtigkeit, sonst gäbs keine Einzeller mehr, sondern um Spezialisierung. Mayr kann sich dem nicht ganz verschließen:
(347p89-90)
(347p90)
“Wer kann im Großen und Ganzen einen Fortschritt leugnen von den Prokaryonten, welche die belebte Welt mehr als drei Milliarden Jahre lang beherrschten, zu
den Eukaryonten mit ihrem gut organisierten Zellkern und ihren Chromosomen
und zytoplasmotischen Organellen, von den p90 einzelligen Eukaryonten zu den
Pflanzen und Tieren mit einer strikten Arbeitsteilung zwischen den hoch spezialisierten Organsystemen, und, innerhalb der Tierwelt, von Kaltblütern, die auf Gedeihund VerderbdemKlimaausgeliefertsind,zudenWarmblütern,fernerinnerhalbderWarmblütervonTypenmitkleinemGehirnundgeringersozialerOrganisation zu denen mit einem großen zentralen Nervensystem, hochentwickelter ElternliebeundderFähigkeit,vonGenerationzuGenerationInformationweiterzugeben?”
“Versuche, den Fortschritt zu definieren, hat es viele gegeben ... Vielfalt ist die
charakteristischste Eigenschaft der Evolution, und das Leben hat sich nicht nur
sehr früh innerhalb der Prokaryonten in Eubakterien und Archäbakterien aufgeteilt, sondern die Eukaryonten brachten nach ihrer Entstehung sehr bald die Einzeller und die Reiche der Pilze, Pflanzen und Tier hervor. Innerhalb eines jeden
dieser Reiche entwickelten sich buchstäblich Tausende verschiedener Stammeslinien,vondenendiemeistennichtimGeringstenzudenMerkmalendesMenschen
hin tendierten. Ebenso wenig kann die Vorherrschaft einer Gruppe auf der Erde
als Kriterium von Fortschritt betrachtet werden. Auf dieser Grundlage käme den
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GefäßpflanzeneinegrößereDominanzalsdemMenschenundsogardenInsekten
zu; und vor nicht einmal 10000 Jahren waren die Vorfahren des Menschen alles
andere als vorherrschend auf der Erde.
Gelegentlich wird strukturelle Komplexität [?] als ein Zeichen von Fortschritt erwähnt, aber Trilobiten und Plakodermen waren in ihrer Struktur offenbar komplexer und möglicherweise spezialisierter als der heutige Mensch. [!1] Huxley betrachtete die Emanzipation von der Umwelt als wichtigen Gradmesser von Fortschrittlichkeit, und nach diesem Kriterium rangiert der Mensch sicherlich höher
als jeder andere Organismus.p91 AberistUnabhängigkeitvonderUmweltwirklich
ein Gradmesser für Fortschrittlichkeit?”
Komplexität ist schon die richtige Idee! Ohne vernünftigen Zweifel ist der Mensch eine
gigantische Größenordnung komplexer als jeder Trilobit. Man muss ein sehr dummes
Komplexitätsmaß zugrundelegen, um zu einer derart verstiegenen, jegliches Augenmaß vermissenden Einschätzung zu kommen! Ein Fall von ‘Zahlenblindheit’. Es ist
nicht trivial, Komplexität zu messen. Meint Mayr die Radiolarien mit ihren unendlich
verschachtelten geometrischen Strukturen? Dann könnte er auch Eiskristalle als komplexe Musterknaben anführen! Wir vermissen hier zumindest Erwähnung der Informations- oder Komplexitätstheorie und ihrer Ansätze zur Definition der Komplexität
einer Struktur. Ein Trilobit ist viel weniger ‘komplex’ als das berühmte Apfelmännchen, dessen Struktur man mit 30 bis 40 Byte beschreiben kann, und dasselbe gilt für
die fraktalen Formen von Trilos und anderen Urviechern. Ein fraktaler Datenkompressor würde deren Komplexität schnell als Redundanz entlarven! Das führt zur Idee
algorithmisches Informationsmaße (296p139f) wie der logischen Tiefe (377p127), die
sich abschätzen lassen durch die Länge des kürzesten Algorithmus, mit dem die Struktur erzeugt werden kann. Eine völlig überzeugendes formales Maß für Komplexität liegt
bisher nicht vor: das ist aber das Problem der Komplexitätstheoretiker, nicht der Evolutionsbiologen.
Ein Biologe sollte ein Gefühl für Komplexität pflegen und wissen, dass ornamentaler
Formenreichtum nicht auf einer Stufe steht mit der immer höher dimensionaleren, irreduziblen Komplexität, wie sie sich das Leben entwickelte! Zur Komplexität des Menschen muss man seine gesamte soziale Organisation rechnen (vgl. obiges Mayr-Zitat)
und natürlich auch seine kulturellen ‘Strukturen’, codiert in Sprache, Musik, Gemälden, Büchern, Architektur, Schauspielen, Filmen mit ihrem überbordendem Informationsgehalt. Da halten die Trilobiten nicht mit! Wenn man ein algorithmisches
Informationsmaß zu Grunde legt, stecken sämtliche Trilobiten der Geschichte in der
Kiste auf meinem Schreibtisch; aber wenn es nur um das Weltwissen und den Wortschatz eines kleinen Kindes geht, ist auch der größte Superrechner ein glatter Versager.
Mayr sieht zwei Kriterien für Fortschrittlichkeit, “die beträchtliche objektive Gültigkeit beanspruchen könnten. Eines davon ist Elternliebe, gefördert durch innere
Befruchtung, die das Potenzial dafür bereitstellt, auf nicht-genetischem Wege Informationen von der einen Generation an die nächste weiterzugeben. Der Besitz
solcher Information ist natürlich im Kampf ums Dasein von außerordentlichem
Wert. Diese Informationsübertragung schafft zugleich einen Selektionsdruck,[1]
zu Gunsten eines verbesserten Speicherungssystems für derlei erinnerte Information, d.h. für ein vergrößertes zentrales Nervensystem. Und selbstverständlich ist
die Kombination von nachgeburtlicher Fürsorge und vergrößerten zentralen Nervensystem die Grundlage jeglicher Kultur, die zusammen mit der Sprache den
Menschen von allen anderen lebenden Organismen trennt. Selbst wenn wir den
Erwerb dieser Fähigkeit als Beweis für evolutionären Fortschritt bezeichneten,
spräche dies durchaus nicht für Endzwecke, da diese Entwicklungen eindeutig
durch natürliche Auslese bewirkt wurden.”
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Der Darwinistenschnack vom Selektionsdruck zeigt, zu welchem Käse die Milch der
frommen kausalen Denkungsart gerinnt. Die Metapher ist ziemlich schief. Sachgerechter ist, von “Sog” zu sprechen, weil sich Randbedingungen der Selektion ändern
undneue Ziele oder Zielkorridore im genetischen Raum definieren. Die Visualisierung
zeigt dann z.B. ein Tal im Fitnessgebirge, das seine Richtung ändert. Liefe nun
während dieser Landschaftsänderung eine Kugel (als Modell einer Population) hindurch, würde kein Mensch sagen, sie werde aus ihrer ursprünglichen Richtung ‘gedrückt’. Im Modell wirkt die Ur-Sache der Änderung nicht ‘hinter’ der Kugel, aus ‘kausaler’ Richtung, sondern ‘vor’ ihr, aus ‘finaler’ Richtung. Die Kugel hat neue Ziele. Die
vielen kleinen kausalen Wechselwirkungen, die sie durch das Tal treiben, heben einander meist auf und sind für die eingeschlagene Richtung unerheblich; letztlich sorgt die
Statistik dafür, dass der Gradient sich durchsetzt.
Chaostheoretisch gesehen entsteht ein neuer Attraktor. Die Myriaden nichtlinearer
Differenzialgleichungen, die ein Ökosystem kausal regieren, bekommen ein neues
Konvergenzgebiet: durchaus ein Ziel, ein Zweck und dergleichen Grausliges. Das stört
keinen großen Geist. Er weiß, dass diese Ziele ständig neu definiert werden. Nichts
zwingt uns anzunehmen, sie seien als ‘Endzwecke’ von Ewigkeit zu Ewigkeit vorgegeben. Für diesen metaphysischen Ballast fühlen wir uns nicht verantwortlich.
‘Letzte Zwecke’ brauchen wir ebensowenig wie ‘letzte Ursachen’, und eine ‘durchgängige Zweckerklärung’ macht uns ebenso skeptisch wie eine ‘durchgängige Kausalerklärung’. Was schert uns uns die Ontologie, uns skrupellose metaphysische Opportunisten? (Einstein)
VonhermeneutischenVerrenkungen(beiWuketits“ZweckeohneAbsicht”,“Teleonomie”) abgesehen, sind die Argumente Mayrs natürlich richtig und interessant; aber ich
wäre vorsichtig, mich hier auf den Menschen zu beschränken. Vieles, was man etwa bei
Schimpansen als angeborenes Verhalten sah, entpuppte sich als kulturelle Tradition.
(110) Damit hat Mayrs Kriterium nicht erst ab dem Menschen Gültigkeit, sondern
bahnt sich bereits vor ihm an. Darüber hinaus halte ich auch die Hinweise für unabweisbar, die darauf deuten, dass zwischen den Genen mit ihrer kleinen Kanalkapazität
und der kulturellen Tradition weitere Informationskanäle liegen, die für den, der sie
nicht bewusst zu entschlüsseln gelernt hat, vielleicht genauso unsinnig und chaotisch
erscheinen, wie die seltsamen Laute, mit denen wir Menschenwesen uns ständig beschallen, oder die komischen Krikelkrakel, diewiraufweißeBlättermalen.DassInformation auch in der dynamischen Wechselwirkung mit dem umgebenden Milie und
ausgelesen und in den Organismus übernommen wird, und dass dies nicht erst beim
Verhalten, sondern schon bei der Epigenese der Organe eine entscheidende Rolle
spielt, beginnen die Evolutionsbiologen seit Nüsslein-Vollhardts Untersuchungen
langsam ernster zu nehmen. Es ist ja auch saukompliziert!
Auch die folgenden Überlegungen akzeptieren wir; aber warum gestattet Mayr weder
sich noch anderen eine finale Sprechweise? Es nerft! Wir sind doch keine kleinen Kinder mehr, die drum gleich auf den lieben Gott kurzschließen!
“Jeglichen evolutionären Fortschritt als das Ergebnis der Konkurrenz zwischen
den Individuen einer Art anzusehen, stellt in der Tat eine Vereinfachung dar, ist
dieser individuellen Auslese doch ein Prozess übergeordnet, der traditionell als
Artselektion bezeichnet wird, obwohl ‘Artersetzung’ oder ‘Aufeinanderfolge von
Arten’ wahrscheinlich bessere Ausdrücke dafür wären. Ein individueller Organismus konkurriert nicht nur mit p92 den Mitgliedern seiner eigenen Art, sondern
kämpft ums Dasein auch gegen Mitglieder anderer Arten. Dieser Prozess ist vermutlich die wichtigste Quelle evolutionären Fortschritts. Jede neu gebildete Art
muss, soll sie evolutionär erfolgreich sein, in irgendeiner Hinsicht einen evolutionären Fortschritt darstellen.”
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(347p92)
“Eine neue Art trägt im Kampf ums Dasein nur dann den Sieg über eine bereits
bestehende davon, wenn sie irgendeine neue, und sei es auch die kleinste evolutionäre Erfindung gemacht hat. Dabei könnte es sich um eine Verbesserung des
Verdauungsapparats oder des Nervensystems, der Lebensweise oder irgendeines
der unzähligen anderen Details handeln, in denen sich die so genannten ‘höheren
Organismen’ von den niedrigeren unterscheiden. Daher lassen sich alle makroevolutionären Entwicklungen, ob es sich nun um Spezialisierungen, Verbesserungen oder andere Neuerungen handelt, voll und ganz mit Darwins Mechanismen
der Variation und Selektion, der Artbildung und des Aussterbens erklären. Kein
einziger Bedarf einer finalistischen treibenden Kraft, welcher Art sie auch sein
mag.”
Kausalzwang
Hier packt mich der Trieb zur Predigt: “Kausalzwang in der Biologie und falsche Romantik” →Ev-90
(347p95)
“Eine letzte heftige Attacke gegen den Finalismus stellte Monods Buch ‘Zufall
und Notwendigkeit’ (1970) dar. (365) Aber Monod begriff nicht den ErklärungswertdernatürlichenAusleseundkamdeshalbzudemSchluss,reinerZufallseifür
die Phänomene der Natur verantwortlich. Auf einen solchen Epikuräismus [???]
trifft man heutzutage jedoch nur noch selten.”
<Teleologie> nach Mayr
(347p95-96)
1.
2.
3.
4.
Die Bezeichnung ‘teleologisch’ sei auf vier völlig unterschiedliche Phänomene angewandt worden. Drei davon seien wissenschaftlich, eines unwissenschaftlich:
Naturgesetzliche Vorgänge: Fallen eines Steins, Abkühlen eines Metallstücks
seien “Beispiele für derartige teleomatische Prozesse, wie man solche von Gesetzen gesteuerte Prozesse nennt.”
“Vorgänge in lebenden Organismen, auch ihr Verhalten, die ihre Zielgerichtetheit dem Wirken eines angeborenen oder erlernten Programms verdanken, werden als teleonomisch bezeichnet. Dazu gehören alle Veränderungen in der ontongenetischenEntwicklung ebenso wie zielgerichtete Verhaltensweisen. Derlei Prozesse können streng wissenschaftlich erklärt werden, da der Endpunkt oder das
Ziel bereits im Programm enthalten ist” [und man sich immer ein Programm mit
diesem Ziel ausdenken kann: den rettenden algorithmus ex machina!]
Ebenfalls als teleologisch bezeichnet: Angepasste Systeme, etwa das Blut pumpende Herz oder die entschlackenden Nieren, die auf ein Ziel hinzuarbeiten
scheinen. “Ein Organismus verfügt über Hunderte, wenn nicht sogar Tausende
solcher angepasster Systeme... Sie alle wurden im Verlauf der Evolution p96 seiner
Vorfahren erworben und durch natürliche Auslese fortwährend besser angepasst.
Diese Systeme haben die Fähigkeit, sich teleonomisch zu verhalten, suchen aber,
da sie stationär sind, nicht selber ein Ziel.”
“SeitdenGriechenwarderGlaubeweitverbreitet,allesinderNaturundalleinihr
ablaufenden Prozesse hätten einen Zweck, ein vorbestimmtes Ziel, und dieseProzesse würden die Welt zu immer größerer Vollkommenheit führen. Viele große
Philosophen vertraten eine teleologische Weltsicht. Der modernen Wissenschaft
gelang es jedoch nicht, die Existenz einer solchen kosmischen Teleologie zu beweisen.
[Genausowenig wie die kosmische Kausalität. Ob zu Recht oder zu Unrecht, die Wissenschaft betrachtet dergleichen nicht als ihren Gegenstand.]
AuchfandmankeinerleiMechanismenoderGesetze,diedasFunktioniereneiner
solchen Teleologie ermöglicht hätten.
[Also keine ’kausale’ Erklärung von Teleologie. Hätte man die gefunden, wäre die Te-
leologie ja auch überflüssig. Vor Nachdenken über Teleologie muss der Biologe erst
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Tomaten passgenau aufs Auge drücken und das Kritikhirn abschalten, sonst geht seine
Welt noch unter. Mannomann.]
Die Wissenschaft zog daraus den Schluss, Endzwecke dieses Zwecks existieren
nicht.”
p97-98
(347 )
“Darwin verstand Auslese im Wesentlichen als einen einstufigen Prozess, als FörderungreproduktivenErfolgs...Unsistinzwischenklar,dassessichbeinatürlicher
Auslese in Wirklichkeit um einen zweistufigen Prozess handelt: der erste Schritt
besteht in der Hervorbringung genetisch verschiedener Individuen (Variation),
während über das Überleben und den reproduktiven Erfolg dieser Individuen p98
imzweitenSchritt,demeigentlichenSelektionsprozess,entschiedenwird.Obwohl
ichdieTheoriedernatürlichenAuslesealsDarwins5.Theoriebezeichnethabe,ist
sieinWirklichkeitihrerseitseinkleinesBündelvonTheorien.EsenthältdieTheorie des fortwährenden Vorhandenseins eines reproduktiven Überschusses, die
Theorie großer genetischer Variabilität, die Theorie der Erblichkeit individueller
Unterschiede, die Theorie, dass für bloße reproduktive Überlegenheit selektiert
wird (sexuelle Auslese), sowie etliche andere.”
Darwinismus – ein biologischer Theoriehaufen?
Theorien gleich bündelweise? Und fünf solcher Bündel häufen sich zum “Darwinismus”? Solch präpotentes Herumwerfen mit dem Begriff “Theorie” verrät den
leidigen Theoriekomplex des typischen Biologen. Jeder andere Wissenschaftler
würde sagen “Hypothese” oder “Annahme”, wo Mayr gleich eine Theorie auffährt.
Darwins Konversion und Erleuchtung
Ein Jahr nach der Beagle-Reise sei Darwin zum überzeugten Evolutionisten kon(347p99)
vertiert.“DochzuAnfangwarenihmdieUrsachenderEvolutioneinschierunauflösliches Rätsel.
Eineinhalb Jahre lang grübelte Darwin unablässig. Er entwickelte eine Theorie
nach der anderen, um sie wieder zu verwerfen, bis er schließlich am 28. September
1838 eine entscheidende Erleuchtung hatte. In seiner Autobiografie beschreibt er
dieses Erlebnis wie folgt: ‘15 Monate, nachdem ich meine Untersuchungen systematisch angefangen hatte, las ich zufällig zur Unterhaltung Malthus über die Bevölkerung.Unddaichhinreichenddaraufvorbereitetwar,denüberallstattfindenden Kampf um die Existenz zu würdigen. namentlich durch lange fortgesetzte Beobachtung über die Lebensweise von Tieren und Pflanzen, kam mir sofort der Gedanke,dassuntersolchenUmständengünstigeAbänderungendazuneigen,erhaltenzu werden, und ungünstige zerstört zu werden.DasResultathiervonwürdedie
Bildung neuer Arten sein. Hier hatte ich nun endlich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte.’ ”
Stilisierung
(347p100)
Diese Darstellung ist nach neueren Darwin-Forschung stark stilisiert und ideengeschichtlich falsch. Vgl (195): Nachweisbare direkte Einflüsse der Ideen Adam Smiths,
der Statistik und der Sozialwissenschaft. Keine empirische Biologie!
Darwin hält seine Idee für etwas ganz Einfaches. Er “hatte vergessen, welch umfassende Umstellung bei vier oder fünf wichtigen Begriffen nötig gewesen war, um
zu der neuen Theorie zu gelangen. Wahrscheinlich wurde ihm selber nie klar, wie
beispiellos seine neue Konzeption war, und wie sehr sie vielen tradtionellen Annahmen zuwiderlief.
Die Konzeption der natürlichen Auslese war ... in der Tat so befremdlich für seine
Zeitgenossen, dass allenfalls eine Handvoll [?] von ihnen sie übernahm. Nahe zu
drei Generationen dauerte es, bis sei sich zumindest die Biologen zu eigen machten. Unter Nichtbiologen ist die Vorstellung nach wie vor kein Allgemeingut, und
selbst jene, die Lippenbekenntnisse dazu ablegen, enthüllen oft durch ihre Kom-
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mentare, dass sie immer noch nicht ganz verstehen, wie natürliche Auslese wirklich funktioniert. Nur wer sich darüber im Klaren ist, wie völlig unorthodox diese
Idee war, kann Darwins revolutionäre intellektuelle Leistung wirklich würdigen.
Und dies wirft eine große Frage auf.
Wie konnte Darwin auf eine Idee kommen, die nicht nur absolut[?] im Gegensatz
zumDenkenseinerZeitstand, sondernsokompliziert[?] war,dasssieselbstheute
noch, bald eineinhalb Jahrhunderte später, von vielen nicht verstanden wird, obwohl wir soviel mehr über die Prozesse der Variation und Vererbung wissen?”
Die Legende von der Darwinistenverfolgung – ein notwendiger Einwurf WS 26.02.2001
Das ist z.T so, weil wir immer wieder neue und alte Lücken darwinistischer Ideen
zutage fördern! Davon schweigt Mayr hier. Weder Mayr, dem Historiker, noch
Mayr, dem Biologen darf man immer über den Weg trauen. Solche halbwahren
Passagen sindwohlnursozuerklären,dassMayrebenauchanderVerschleierung
der Lebenslügen seiner Biologengeneration liegt.
Sicher war die Selektionsidee historisch neu und stieß auf massiven reaktionären
Widerstand. Ohne massive Widersprüche ging es nicht ab. Aber der Oberwasser
gewinnende materialistische Zeitgeist schrie förmlich nach solchen Ideen. Wieso
trugen Darwins Freunde ihn so eindringlich zum Jagen, als Wallace ihm mit dem
Pflücken der überreifen Frucht zuvorzukommen drohte? Woher die begeisterte
Aufnahme von Darwins Ideen unter fortschrittlichen Intellektuellen? Sie kamen
wie gerufen; die Entwicklung wurde den Buchhändlern aus den Händen gerissen.
Mayrs strickt an einer ‘Legende von der Darwinistenverfolgung’. Sicher gab und
gibt es Probleme mit Akzeptanz und Verständnis darwinistischer Ideen – aber
liegt das nicht in der Natur der Sache? Darwinismus ist eben keine klare Theorie,
auchkeine“komplizierte”Idee,abereinegenialeinfacheAll-Erklär-Idee.Siebietet eine intellektuell bestechende Grundlage für den materialistischen Glauben,
ihre nähere theoretische Bestimmung stellte sich aber all zu oft als nicht haltbar
heraus. Worauf Apolegeten wie Mayr hastig rufen: Halt halt, Sie haben das ja immer noch nicht verstanden, das ist halt alles so kompliziert, Sie Dummerle, Sie uneingeweihter Nichtbiologe, haltenS doch den Mund! Und präpariert einen esoterischen harten Kern heraus, der alles richtig hinterhersagt, und von dem er hofft,
dass er so formuliert nun nicht mehr widerlegbar sei. Und wenn einer auf Schwächen und Ungereimtheiten hinweist, dann hat ers halt wieder missverstanden, ist
ja auch dermaßen kompliziert, man hats nicht leicht mit dem notorischen Theoriendefizit der Biologie ...
Eine entsprechende Gegenmeinung
Max Thürkauf (503) “Die peinlichste Lücke in der Welterklärung der Materialisten war die Tatsache
des Lebens. [Darwin] lieferte den zur vollständigen Mythologisierung der Naturwissenschaft fehlenden Text. Dem Glauben an die Wissenschaft waren jetzt keine
Grenzenmehrgesetzt.DarwinhattesicheinenMechanismusausgedacht,welcher
auch für die Lebensformen die ‘Hypothese Gott’ überflüssig machte. Der Hunger
nach Glaube in einer durch die so genannte Aufklärung von Gott losgelösten Welt
war groß, und Darwins Mythos wurde als Wissenschaft verschlungen: Die erste
Auflage des Buches ‘Über die Herkunft der Arten’ war schon 24 Stunden nach Erscheinen vergriffen. Dieses Ereignis allein beweist schon, dass es sich dabei nicht
um ein wissenschaftliches Werk handeln konnte, sondern ... um einen Bestseller.
Wahrheit lässt sich nie gut verkaufen. Seit Darwin ist der Mythos vom Glauben an
die Wissenschaft zu den Ideologien des Materialismus entartet, deren gesellschaftlich wirksamste, der Marxismus, ohne Darwinismus eine Totgeburt geblieben wäre. Karl Marx und Friedrich Engels begrüßten frohlockend das missing link
zur materialistischen Erklärung der Welt.”
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
EVOLUTION 6.3.2001
Version 6.3
Mayrs definitive Definition von Darwins Auslese-Idee
(347p101)
+
(347p101–109)
(347p120)
(347p120-121)
(347p123)
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Darwins Erklärungsmodell durch natürliche Auslese”:
3 Tatsachen
T1 potenzielles exponentielles Bevölkerungswachstum (Malthus)
T2 Stabilität der Populationen (allgemein beobachtbar)
T3 Begrenztheit der Ressourcen (offensichtlich)
⇒ S1
Kampf ums Dasein und der Individuen und der Individuen (Malthus)
2 Tatsachen
T4 Einzigartigkeit des Individuums (Tierzüchter, Systematiker)
T5 Erblichkeit eines Großteils der individuellen Verschiedenartigkeit (Tierzüchter)
⇒ S2
unterschiedliches Überleben, d.h. natürliche Auslese (Darwin)
⇒ S3
über viele Generationen hinweg: Evolution. (Darwin)
(Texterklärung) T4 bedeutet den Übergang zum Populationsdenken; nicht mehr
Kampf zwischen Arten, womit sich keine Evolution begründen lässt, sondern nur
eine Harmonisierung; stattdessen Kampf zwischen den Individuen einer Art.
“Die mittlerweile überholte Vorstellung, dass Evolution das Wechselspiel zwischen genetischer Mutation und Selektion sei, war ... Teil des saltationistischen
Denkens der Mendelisten. Das Material, mit dem die Selektion arbeitet, ist nicht
Mutation. Vielmehr bringt die Rekombination elterlicher Gene die neuen Genotypenhervor,welchedieEntwicklungvonIndividuensteuern.Diesewerdeninder
nächsten Generation wieder einer Selektion ausgesetzt. Man daf nie vergessen,
dass Auslese ein zweistufiger Prozess ist. Der erste Schritt besteht aus der Erzeugung (durch genetische Rekombination) einer ungeheueren Zahl neuer genetischerVariationen,währendderzweiteSchrittdiegezielteBewahrung(Überleben)
einer weniger der neuen genetischen Varianten ist.
Auslese auf der Ebene des Gesamtorganismus führt zur VeränderungaufzweianderenEbenen:derderGene,aufderdurchdieAuslesevonIndividuendieHäufigkeit bestimmter Gene in der Population zu- oder abnehmen kann, und auf der
Ebene der Art, auf der die selektive Überlegenheit von Mitgliedern einer Art zum
Aussterben einer anderen Art führen kann. Dieser Prozess ist ... oft als ‘SpeziesSelektion’ p121 bezeichnet worden, sollte aber lieber ‘Artersetzung’ oder ‘Aufeinanderfolge von Arten’ genannt werden, um Fehldeutungen zu vermeiden...
Schließlich ist hervorzuheben, dass es sich bei der Auslese um zwei Spielarten von
Qualität handelt.” Also einmal die “natürliche Auslese”, über die höhere Überlebenswahrscheinlichkeit durch bessere Anpassung an die Umwelt; und dann die
von Darwin so genannte “sexuelle Auslese”. “Besonders beeindruckt war [Darwin] von den männlichen sekundären Geschlechtsmerkmalen, etwa von dem
prachtvollenGefiedermännlicherParadiesvögel,derriesenhaftenGrößederElefantenrobbenoder dem eindrucksvollenGeweihvonHirschen.NeuereForschungen haben gezeigt, dass Selektion die Evolution solcher Merkmale entweder begünstigt, weil sie im Konkurrenzkampf mit anderen Männchen um die Weibchen
recht hilfreich sind, oder weil Weibchen von Männchen mit diesen Eigenschaften
angezogen werden. Letzterer Prozess wird als ‘Weibchenwahl’ bezeichnet.”
“Charles Darwin war die Persönlichkeit, über die in den Sechzigerjahren seines
Jahrhunderts am meisten geredet wurde. T.H. Huxley bezeichnete Darwins Ideen
schon bald als ‘Darwinismus’ (1864), und 1889 veröffentlichte Alfred Russell Wallace einen ganzen Band mit dem Titel ‘Darwinism’. Allerdings haben seit jenen
Sechzigerjahren keine zwei Autoren das Wort ‘Darwinismus’ in genau dem gleichen Sinne verwandt.”
Die diversen Autoren hätten immer nur je ihre eigenen Aspekte herausgelesen
und diesen für das Wesen der Sache erklärt. “Keine dieser Autoren hat begriffen,
Abb1:“
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
EVOLUTION 6.3.2001
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dass der Darwinismus keine monolithische Theorie ist, die mit der Gültigkeit oder
Hinfälligkeit einer einzigen Idee steht oder fällt.”
Darwinismus als Glaubensgemeinschaft
“Nahe zu jeder moderne Biologe wird auf die Frage, was unter dem Begriff ‘Dar(347p131)
winismus’ zu verstehen ist, antworten, er beinhalte den Glauben an die Bedeutung
der natürlichen Auslese für die Evolution. Diese Deutung von Darwinismus ist
heute so allgemein anerkannt, dass manchmal übersehen wird, wie relativ jung
diese moderne Auffassung ist. Natürliche Auslese als der Mechanismus evolutionären Wandels wurde bis zur Zeit der evolutionären Synthese in den Dreißiger
bis Vierziger Jahren von den Biologen nicht allgemein angenommen; jedoch war,
zumindest in den Augen einiger Evolutionstheoretiker, natürliche Auslese immer
die Schlüsseltheorie in Darwins gesamtem Forschungsprogramm.”
“Es existiert ... eine allen ursprünglichen Darwinisten gemeinsame Überzeugung,
(347p134)
und dass war ihre Ablehnung des Schöpfungsglaubens, eine Ablehnung der Einzelschöpfung... Nichts war für sie von größerer Bedeutung als die Entscheidung,
ob Evolution ein natürliches Phänomen ist oder etwas, das von Gott gelenkt wird.
Die Überzeugung, dass die Vielfältigkeit der natürlichen Welt ein Ergebnis natürlicher Prozesse und nicht das Werk Gottes ist, war die alle so genannten Darwinisten einende Idee.”
(347p135)
“Allein die Annahme oder Zurückweisung von Darwins These von der Evolution
durch natürliche Prozesse grenzte die Darwinisten klar von den Nichtdarwinisten
ab. Sie brauchten keine eng verknüpfte soziale Gruppe zu bilden; auch war es unerheblich, ob sie in Europa, Südamerika oder Ostindien lebten, sie wurden vielmehr durch einen festen Glauben zusammengehalten und waren daran leicht zu
erkennen: den Glauben an Evolution durch natürliche Prozesse. Dies erklärt, was
einige Historiker verwirrte: dass so viele Evolutionstheoretiker des 19. JahrhundertssichselberalsDarwinistenbetrachteten,obwohlsieganzandereErklärungsmechanismen als Darwins natürliche Auslese übernommen hatten. Nur die Überzeugungen, die sie mit Darwin teilten, waren ihrer Ansicht nach die wahrhaft
wesentlichen Aspekte des Darwinismus.”
Lyell, der ungläubige Darwinist
“Obwohl ein Freund und Mentor Darwins, der normalerweise als Darwinist gilt,
(347p135)
hat er nie die grundlegenden Elemente von Darwins Forschungsprogramm anerkannt. Für ihn war offensichtlich Gott immer die letzte Ursache. Lyell dehnte die
Evolution nicht auf den Menschen aus, und die natürliche Auslese nahm er nie
an.”
“Darwinismus als eine neue Weltsicht”
“J.C. Green (1986) hat ... vorgeschlagen, die Endung -ismus Ideologien vorzube(347p136-137)
halten und nicht auf wissenschaftliche Theorien anzuwenden. Ich stimme mit ihm
dahingehend überein, dass man das Festhalten an einer üblichen wissenschaftlichen Theorie nicht mit der Endung aufwerten [?!] sollte; es gibt jedoch wissenschaftliche Theorien, die zu wichtigen Pfeilern von Ideologien geworden sind, wie
im Falle der Lehre Newtons. Etliche von Darwins wichtigen neuen Vorstellungen
– etwa Evolution durch Variation, p137 natürliche Auslese, das Wechselspiel von
Zufall und Notwendigkeit, das Fehlen übernatür-licher Wirkkräfte in der Evolution, die Stellung des Menschen unter den Lebewesen u.a. – sind nicht nur wissenschaftliche Theorien. Dabei handelt es sich gleichzeitig um wichtige philosophischeKonzeptionen, und sie charakterisieren bestimmte Weltsichten, welche diese
Konzeptionen in sich aufgenommen haben. Was also einige von Darwins grundlegenden wissenschaftlichen Theorien betrifft, gehören sie legitimerweise sowohl in
den Bereich der Wissenschaft als auch in den der Philosophie.”
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
EVOLUTION 6.3.2001
Version 6.3
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2001 Werner Schneider u.a.
Im normalen Sprachgebrauch kennzeichnet die Endung -ismus eine Ideologie oder
weltanschauliche Position. Wer von ‘Newtonismus’ spricht, tut einen polemischer
Zungenschlag gegen eine (fragwürdige) “Ideologisierung” der newtonschen Physik.
Die Endung -ismus unterstellt eine Verwicklung in sachgebietsfremde Auseinandersetzungen.
Chargaff bemerkt dazu:
(68p105)
“Ich weiß nicht, ob es schon bemerkt worden ist, dass die Sprache selbst die zwielichtige Stellung Darwins hervorhebt, indem sie solche Bezeichnungen wie ‘Darwinismus’ oder ‘Darwinist’ zulässt. Ich glaube nicht, dass, sagen wir Newtons Entdeckungen die darauf folgenden Physiker zu ‘Newtonisten’ macht, oder dass die
Annahme der Strukturformel des Benzols zur Entstehung des ‘Kekulismus’ führen konnte.”
Es wäre naiv, die Kennzeichnung des ideologischen Anteil für allgemein akzeptiert anzusehen. Für die Legitimation des Glaubens in der Wissenschaft (bei gleichzeitiger
Kennzeichnungspflicht) muss nochgekämpft werden! Auf lange Sicht sind Glaubensgründe stärker als alle Fakten, das zeigt gerade der Darwinismus. Dass eine Theorie die
zu ihr gehörigen Fakten schafft, ist oft eher das Kennzeichen als das Mittel ihres Sieges:
“Beweise” für eine Theorie finden sich oft, wenn diese ihrer schon lange nicht mehr bedarf! Es ist wie mit Krediten ...
Der meist subjektive Ideologie-Vorsatz muss benannt werden! Es ist unwissenschaftlich, wenn Anhänger eines Forschungsprogramm den ideologischen Anteil leugnen
und so tun, alles sei “objektive Erkenntnis”. Z.B. Wuketits (569p21)
Einspruch
(347p138)
Sowieso!
Green möchte gerne das Wort ‘Darwinismus’ reservieren für “eine viktorianische
Weltsicht, in welcher bestimmte soziologische Vorstellungen zur Entwicklung
einer neuen Wissenschaftstheorie herangezogen wurden. Diese stützte sich teilweise auf die Schriften von Adam Smith, Malthus und David Ricardo, und behauptete, Konkurrenzkampf und Bevölkerungswachstum führten zu Fortschritt.
Darwin war mit diesen Vorstellungen vertraut; aber sorgfältige Analysen seiner
sowie der Schriften der Sozialphilosophen haben gezeigt, dass diese Ideen nicht
die Quellen von Darwins biologischen Vorstellungen waren, wie viele politische
Schriftsteller uns glauben machen wollen.
Naive “kausale” Vorstellung gesellschaftlicher Einflüsse. Osmose ist das bessere Modell! Aber es gibt inzwischen auch Belege für einen direkten und entscheidenden Einfluss von Smith und der Sozialwissenschaft auf Darwin. (195)
In seinen Schriften hat Darwin nie eine solche Weltsicht vertreten.” Green habe
daher vorgeschlagen, den Darwinismus mit Herbert Spencers Weltsicht zu identifizieren, von Green definiert wie folgt:
“Ein gesetzmäßiges System von Materie in Bewegung. Evolutionärer Deismus,
der unter dem Einfluss eines positivistischen Empirizismus an Agnostizismus
grenzt. [ui ui ui] Die Idee einer organischen Evolution. Die Idee einer sozialen
Wissenschaft der historischen Entwicklung. Glaube an die segensreichen Auswirkungen von Konkurrenzkampf.”
“War dies wirklich Darwins Weltsicht? – Es gibt Hinweise darauf, dass Darwin die
herrschenden Glaubensvorstellungen vieler aufgeklärter Engländer der Oberschicht teilte, einschließlich ... der Spencers, Huxleys und Wallaces. Bei kritischer
BetrachtungdervonGreenaufgelistetenGlaubensvorstellungenentdecktmanjedoch, dass keine einzige darunter von Darwin stammt, ja nicht einmal eine, die ursprünglich von Spencer entwickelt wurde.”
Niemandes Gedanken stammen von ihm selber! Sie treten nur bei bestimmten Menschen am klarsten zutage.
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
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EVOLUTION 6.3.2001 Version 6.3
 2001 Werner Schneider u.a.
(347p138-139)
Das spencersche Paradigma liefe sogar in einigen Punkten Darwins Ideen völlig
zuwider. “Beispielsweise vertrat Spencer eine Evolution durch Transformation
undnichtEvolutiondurchVariation.ZweitenswarseineEvolutionwarseineEvolution eindeutig teleologisch, und schließlich beruhte sie aussschließlich auf einer
Vererbung erworbener Eigenschaften, so das natürliche Auslese überhaupt keine
Rolle spielte. Daher unterschied sie sich sowohl vom Wissenschaftlichen als auch
vom Philosophischen her beträchtlich von Darwins Ideen. zu behaupten, Darwin
undSpencerhättendasgleicheParadigmavertreten,isteinevölligeFälschungder
Geschichte.EsisteinebeiSoziologenrechtbeliebteThese,aberBiologen,diesich
in den letzten Jahren p139 mit diesem Problem auseinandersetzten, haben sie übereinstimmend widerlegt.”
Alles ziemlich irrelevant. InundzwischendenGenanntenwirktenprominenteautonome (durchaus widersprüchliche) Komplexe des Zeitgeistes, und in jedem äußerten sie
sich individuell. Wie Mayr selbst hervorhebt, bemühte dich Darwin sehr um Übernahme der wichtigsten Wissenschaftsattitüden; darunter die im 19. Jahrhundert zunehmende Abwertung der wissenshistorischen Perspektive und die leidige Gewohnheit, die subjektiven Spuren schon im Unreinen tunlichst zu verwischen, der Gestus ahistorischen Objektivität. Die vielfältigen Einflüsse wieder herauszuarbeiten, sind
“Biologen” sicher nicht besonders qualifiziert, es sei denn, sie hätten sich nebenbei intensiv mit textkritischen Methoden befasst. Das gilt auch für “Soziologen”, nota bene.
Was ist Darwinismus?
Mayrs endgültige Antwort als Biologe und Biologiehistoriker: “Nach 1859 ... bedeutete Darwinismus für fast jeden ‘Erklärung der lebenden Welt durch natürliche Prozesse’. Während und nach der evolutionären Synthese verstand man ... unter dem Begriff ‘Darwinismus’ einhellig adaptiven evolutionären Wandel unter
der Einwirkung natürlicher Auslese und Variations- anstelle von Transformationsevolution. Dies sind die beiden einzigen wahrhaft bedeutungsvollen Konzeptionen des Darwinismus. Die eine herrschte im 19. Jahrhundert vor und noch etwa
bis 1930; die andere im 20. Jahrhundert – ein Konsens, zu dem man im Verlauf der
evolutionären Synthese gelangte. Jede andere Verwendung des Begriffs ‘Darwinismus’ durch einen modernen Autor ist notwendigerweise irreführend.”
(347p143)
“Teilweise war Darwin selber an den Schwierigkeiten schuld, auf die seine Theorien in den Jahren nach der Veröffentlichung der ‘Entstehung’ trafen. Bei fast jedemGegenstand,mitdemersichbefasste,auchbeinahezuallenseinenTheorien,
widersprach er sich irgendwann selber.”
(347p146)
Entschiedene Zurückweisung der ‘weichen‘Vererbung (erworbener Eigenschaften) erst durch August Weismann. 1883 veröffentlicht Weismann den Essai ‘Über
dieVererbung’:“DarinbestrittWeismannkategorischjeglicheAuswirkungenvon
Gebrauch und Nichtgebrauch, genau genommen jegliche Vererbung erworbener
Merkmale. Dieser unnachgiebigen Einstellung schloss sich sogleich A.R. Wallace
an, der in seinem Buch ‘Darwinism’ 1889 das Monopol für Selektion beanspruchte. Georges J. Romanes, ein Schüler des späten Darwin, betrachtete die VerneinungeinerweichenVererbungalsentscheidendeAbweichungvonDarwinsLehre
und prägte 1896 den Begriff ‘Neodarwinismus’ für Weismanns ausschließlichen
Selektionismus, oder, wie dieser selbst es einmal formulierte, für seinen Darwinismus ohne eine Vererbung erworbener Merkmale.”
p149-150
(347
)
WeismannlehntdenSaltationismus ab:“DieplötzlichesprunghafteUmwandlung
ist nicht denkbar, weil sie die Art existenzunfähig machen müsste, schreibt Weismann p150 und begründet es damit, dass ‘der Tierkörper gewissermaßen eine ungemein komplizierte Kombination von alten und neuen Anpassungen ist. Dann
würde es doch ein höchst wunderbarer Zufall sein, wenn bei einer plötzlichen Abänderung zahlreicher Körperteile diese sich alle gerade so abänderten, dass sie zu-
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sammenwiedereinGanzesbildeten,welchesmitdenverändertenäußerenBedingungen genau übereinstimmt.’”
Das ist in der Tat auf den Punkt argumentiert, und wegen der Tragweite dieser Argumentation hatte der Punktualismus es so schwer. In der Tat:
(347p150)
dagegen
(347p156)
(347p157)
(347p158)
(347p158-159)
“Weismann war stolz darauf, behaupten zu können, ‘schärfer als es Darwin getan
hat, dass die Veränderung der Lebensbedingungen sowohl als die des Organismus
in kleinsten Schritten erfolgen müssen.’ ”
Gould (195): Argumente für Großmutationen: kleine Änderungen im Genom
könnenkonsistentegroßeÄnderungenimPhänotypbewirken.Besondersinteressant seien die Variationen im Timing der embryonalen Ontogenese.
“Der Glaube an eine Vererbung erworbener Merkmale war bis zu Beginn der
Achtziger Jahre praktisch Allgemeingut.” Für Darwin und auch anfangs für Weismann sei er ein Mechanismus gewesen, “der die das Wirken der Auslese erforderliche Variation erzeugte. Es war die Aufgabe der Vererbung erworbener Merkmale, zumindest für einen Teil dieser Verschiedenartigkeit zu sorgen.”
“Angesichts Weismanns wiederholter lamarckistischer Äußerungen nimmt es
Wunder, wie rückhaltlos er sich in seinem Vortrag von 1883 ‘Über die Vererbung’
vom Lamarckismus abwandte. Seine Widerlegung der lamarckschen Behauptungen ist so umfassend und seine darwinistische Deutung der zahlreichen Fäll, die er
vorher als Beweise für eine Vererbung erworbener Merkmale zitiert hatte, ist so
gut durchdacht, dass man sich fast zu dem Schluss gezwungen sieht, Weismann
habe schon viele Jahre lang über dieses Problem nachgedacht.”
DieStrategieWeismannszurWiderlegungeinerVererbungerworbenerMerkmale: “Weismann griff einen Fall nach dem anderen auf, der nicht ‘Gebrauch und
Nichtgebrauch’ lamarckscher Mechanismen erklärt werden kontte. Wie können
die zahlreichen speziellen Anpassungen der Arbeiter und Soldaten der Ameisen
durch Gebrauch vererbt werden, wenn diese Kasten sich nicht fortpflanzten? Wie
können Gewohnheiten durch Gebrauch zu Instinkten werden, wenn ein spezieller
Instinkt nur einmal im gesamten Leben des Individuums zum Tragen kommt, wie
es so oft bei Fortpflanzungsinstinkten der Insekten der Fall ist? Wie kann die
äußere Struktur von Insekten durch Gebrauch und Nichtgebrauch modifiziert
werden, wenn das Chitinskelett während des Puppenstadiums angelegt wird und
sich anschließend nicht mehr verändert? Für einen modernen Biologen, der von
der Unmöglichkeit einer Vererbung erworbener Merkmale fest überzeugt ist,
scheinen Weismanns Argumente äußerst überzeugend. Aber zu Weismanns Zeit
war der Glaube an das lamarcksche Prinzip so tief verwurzelt, dass nur eine Minderheit sich bekehren ließ. Gebrauch und Nichtgebrauch schienen eine weit überzeugendere Erklärung für den Verlust von Extremitätem bei Schlangen oder der
Augen bei höhlenbewohnenden Tieren zu sein. Erst im Rahmen der evolutionären Synthese in den Vierziger Jahren unseres Jahrhunderts nahmen die Biologen mehr oder weniger alle einen bedingungslosen p158 Selektionismus an. Aber
die endgültige Widerlegung des Prinzips der Vererbung erworbener Merkmale
gelang erst in den Fünfziger Jahren mit Hilfe des so genannten ‘zentralen Dogmas
der Molekularbiologie’, laut dem keine in den Eigenschaften der Körperproteine
enthaltene Information auf die Nukleinsäuren übertragen werden kann.”
“Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass in der gegenwärtigen Literatur zur
Evolution natürliche Auslese nicht so sehr wegen ihres Unvermögens, bestimmte
Anpassungen odere andere evolutionäre Entwicklungen zu erklären, angegriffen
wird, sondern, weil sie ein derart erfolgreiches Prinzip ist, mit dem man alles erklären könnte. Daher sei es, um sich der Sprache Karl Poppers zu bedienen,
unmöglich, irgendeine auf dem Prinzip natürlicher Auslese fußende evolutionäre
Erklärung p159 zu widerlegen.”
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Mythos vom Universalschlüssel
(347p159)
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Licht und Schatten! Intellektuell bestechend heißt auch intellektuell korrumpierend. Ein Universalschlüssel lässt die Denkmuskulatur erschlaffen. Heute wissen
wir, dass Dinge systematisch übersehen wurden. Ein verwandtes Denkhindernis
ist die scheinbar so schlüssige Klärung der Rolle der DNS, auf die man bereitwillig
einen Wechsel zur Erklärung des gesamten Vererbung und Epigenese zog, dessen
Platzen wir gerade erleben; denn die Dinge sind tatsächlich so verwickelt, wie wir
heimlich fürchteten. Dieser Furcht konnte man aber erst dann entgegentreten,
nachdem die Theorie der so genannten ‘Selbstorganisation’ dissipativer Systeme
einen Ausweg zeigte. Vgl Stuart Kauffman (271)
Das Hauptproblem von “Universalschlüsseln” sehe ich nicht unbedingt in ihrer
Unwiderlegbarkeit, sondern an ihrem scheinbar hohen, in Wahrheit aber abgehobenen Erklärungswert, der den Abstieg in die Niederungen detaillierter Aufklärung kratzbürstiger Einzelfälle minder dringend erscheinen lässt. Dort, wo sie
heuristischeHilfeleistenunddieForschungvorantreiben,sindUniversalschlüssel
wirklich wunderbar!
Vorläufer des ‘zentralen Dogmas’ 1858: Weismanns Theorie der ’Kontinuität des
Keimplasmas’: “Die Keimbahn ist von Anfang an von der Körper-(Soma-) Bahn
getrennt, und darum kann nichts, was mit dem Soma geschieht, den Keimzellen
und ihren Kernen vermittelt werden... Die strikte Trennung, die wir mittlerweile
zwischen dem DNS-Programm des Kerns und den Proteinen im Zytoplasma einer
jeden Zelle vornehmen, spiegelt Weismanns frühe Ansicht wieder.”
In seiner Einschätzung der Rekombination (also der sexuellen Reproduktion) kann
ich Mayr nicht ganz folgen. Ist das Schulmeinung? Ich hab’ so im Hinterkopf, dass Populationsdynamiker unter unendlichen Mühen herausrechneten, dass sexuelle Reproduktion tatsächlich einen kleinen evolutionären Vorteil bedeutet. Die verschiedenen
Möglichkeiten im ‘Genpool’ einer Population können besser und vor allem schneller
durchgespielt werden: größere Sprünge sind möglich, um von Nebengipfeln runterzukommen. (271p272) Aber leider hat sexuelle Reproduktion ein schlechtes Gedächtnis:
selbst wenn eine tolle Kombination zu Stande kommt, ist nicht garantiert, dass sie weitergegeben wird. Es gibt – sagen die Populationsgenetiker – eine schwach erhöhte
Wahrscheinlichkeit dafür. Mas schießt da ein wenig zu schnell:
(347p161)
(347p163)
“Genetische Rekombination kann daher in Verbindung mit natürlicher Auslese
vorher getrennte und unabhängige Merkmale miteinander verbinden, die den Selektionswert ihrer Träger erheblich vergrößern.”
Nachdem man den Lamarckismus hinausgeworfen hatte, hat Weismann Probleme mit der Quelle genetischer Variation. Auf den Begriff der ‘spontanen Mutation’ konnte damals niemand kommen. Weismann selber gab sich naiven mechanischen Vorstellungen hin; er unterstellte kausalmechanische Einwirkungen von
Klima, Ernährung und anderen Faktoren auf die Keimbahn.
“ErstimmteschließlichdenLamarckistensoweitzu,dasseineeinfachedarwinistische Selektion von Individuen nicht alle Phänomene zu erklären vermag, wie beispielsweisedieständigeRückbildungverkümmerterOrgane.Zuguterletzträumte
Weismann ein, dass Zufall allein nicht die richtige Variation der richtigen Art zur
richtigen Zeit hervorbringen könne.” Das führte ihn dann auf Abwege, deren abwegigster seine These direkter Einflüsse auf das Keimplasma war, welche die Folgerichtigkeit seiner eigenen Vererbungstheorie untergrub. Er handelte sich eine
Menge innerer Widersprüche ein, derentwegen er heftig angegriffen wurde. Nicht
zuletztdarumwarinderZeitzwischen1890und1910“dieTheoriedernatürlichen
Auslese dank der Angriffe von de Vries, Bateson, Johannsen u. a. Mendelisten auf
den Tiefpunkt ihrer Anerkennung bei Wissenschaftlern angelangt”.
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“Kein anderer Biologe im 19. Jahrhundert hat nach Darwin einen so großen Einfluss auf die Evolutionstheorie ausgeübt wie Weismann.” Ihm fiel “wie Darwin
sehr leicht, Hypothesen aufzustellen. Dies wurde im 19. Jahrhundert keineswegs
geschätzt, und wie Darwin wurden auch Weismanns ‘Spekulationen’ verlacht.
Wenn man bedenkt, wie wenig über Vererbung bekannt war, würden auch einem
modernen Biologen manche Spekulationen p166 Weismanns all zu gewagt erscheinen, obwohl er heutzutage ständig ermutigt wird, Modelle zu konstruieren.”
(347p165-166)
Anhaltender Theorie-Komplex der Biologen! Darwin und Weismann: auch heute
noch leuchtende Ausnahmen von der noch heute herrschenden Theoriefeindlichkeit:
(347p176)
1.
(347p177)
2.
Weismann “war sich der geistigen Dürftigkeit des damals in Deutschland vorherrschendenInduktionismusbewusst:‘DieZeitistvorüber,indermanglaubte,durch
das bloße Sammeln von Tatsachen die Wissenschaft vorwärts zu bringen.’ Gewiss,
fürWeismannwarsievorüber,aberbeidenMeistenseinerZeitgenossenwardiese
Botschaft noch nicht angekommen. Ehe Darwin, Haeckel, Weismann und einige
andere Theoretiker damit begonnen hatten, ein begriffliches System der Biologie
zu entwickeln, hatte, so Weismann, die Untersuchung bloßer Details einen Zustand intellektueller Kurzsichtigkeit herbeigeführt. Man interessierte sich nur für
das, was man unmittelbar vor Augen hatte. Zwar wurden große Fakten detaillierte
Falten angehäuft, aber es fehlte das geistige Band, das sie verbinden sollte. Weismannwurdenichtmüde,zubetonen,dassseineHypothesennichtdieletzteWahrheit waren, sondern heuristische Hilfsmittel. Von einer seiner Theorien sagte er:
‘Sollte aber auch diese Theorie später wieder verlassen werden müssen, so scheint
sie mir doch für jetzt als ein notwendiger Durchgangspunkt unserer Erkenntnis.
Sie musste aufgestellt, sie muss durchgearbeitet werden, mag die Zukunft sie nun
als richtig oder als falsch erweisen.’”
Die Darwinisten hätten sich darum so lange nicht einigen können, weil, wie erst in
neuerer Zeit klar erkannt worden sei, “Evolution insgesamt eigentlich aus zwei
völlig verschiedenen, aber sich gleichzeitig abspielenden Vorgängen besteht”,
nämlich:
Anpassung: ununterbrochene Einwirkung der Auslese auf jede Population, unaufhörlicher Wechsel des Gen-Inhalts eines Gen-Reservoirs; vertikaler Vorgang in
derDimension der Zeit. “Die Genetiker, die diesen Vorgang experimentell untersuchten, konzentrierten sich auf Einzelgene und so genannte additive Vererbung.
Das Einzelgen wurde als Zielobjekt der Auslese betrachtet, und Evolution als
Änderung in der relativen Häufigkeit von Genen definiert. Obwohl sich die evolutionären Genetiker Populationsgenetiker nannten, befassten sie sich in ihren
Studien meistens nur mit Genänderungen in einer einzigen Population. Das Problem der organischen Vielfalt blieb fast vollkommen außer Acht, und wo es erwähnt wurde, sah man es als ein Problem der Zeitdimension an.
Vielfalt:horizontal-geografischews Denken. “Das Interessengebiet der Systematiker war die Erklärung der Vielfalt der Natur. Sie beschäftigten sich mit Artentstehung, mitdemVorhandenseinvonpolytypischenArten,mitGrenzfällenzwischen
Rasse und Art, mit dem biologischen Artbegriff, der Rolle der Art und Artbildung
in der Makroevolution. “Geografische Variation begründet “eine ‘horizontale’
Tradition.” “Mit der horizontalgeografischen Denkweise konnte ein Rätsel, der
Evolution nach dem anderen gelöst werden. Der scharfe Gegensatz zwischen der
absoluten Trennung lokaler Arten und Darwins Prinzip des Gradualismus wurde
durch das Prinzip der geografischen Artentstehung gelöst.
Neuerdings Sympatrismus wieder in hohen Ehren (Gould).
(347p177-178)
Die Einbeziehung der geografischen Dimension war von besonderer Bedeutung
für die Erklärung der Makroevolution. Schon seit langem waren Paläontologen
sich des scheinbaren Widerspruchs zwischen Darwins Postulat eines durch die Po-
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(347p178)
(347p178-179)
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pulationsgenetik bestätigten Gradualismus und dem tatsächlichen Funden der
Paläontologie bewusst. Wenn man Stammeslinien durch die Zeit hindurch verfolgt, schienen sie nur winzige graduelle Veränderungen zu erfahren, jedoch keineneindeutigen Beweis für irgendeine Veränderung einer Art in eine andere Gattung, oder für die allmähliche Entstehung einer evolutionären Neuerung. Alles
wirklich Neue schien immer ziemlich unvermittelt in der Fossilienüberlieferung
aufzutauchen. Im Rahmen der Synthese wurde klar: es ist nicht verwunderlich,
dass die Fossilienüberlieferung diese Sequenz nicht widerspeigelt, zumal da neue
evolutionäre Anfänge sich p178 fast ausschließlich in lokalisierten, isolierten Populationen abzuspielen schienen. Eine rein vertikaler Ansatz ist nicht in der Lage,
diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen.”
ZumindesteinigeNaturforscherversuchten,“diestrengreduktionistischeAuffassung der meisten Genetiker durch einen stärker ganzheitlich ausgerichteten Ansatz zu ersetzen. Evolution, so sagten sie, ist nicht nur eine Veränderung der Genhäufigkeit in Populationen, wie die Reduktionisten behaupteten, sondern gleichzeitig ein Prozess, der sich auf Organe, Verhaltensweisen ünd Wechselbeziehungen zwischen Individuen und Populationen bezieht. In dieser ganzheitlichen Einstellung trafen sich die Naturforscher mit den Entwicklungsbiologen.”
“Die Synthese der gegensätzlichen Standpunkte wurde erst möglich, als eine Reihe von Systematikern – Sergei Chetverikov, Theodosius Dobzhansky, E.B. Ford
und Mayr – sich mit der ... Populationsgenetik vertraut machten und eine auf den
neuesten Stand gebrachten Darwinismus entwickelten, p179 der die besten Elemente sowohl der Genetik als auch der Systematik miteinander verband.”
Architekten der ‘modernen Synthese’ (auch: ‘evolutionäre Synthese’):
(347p179-180)

Ev-55
Dobzhansky (1937) Genetics and the Origin of Species
Huxley (1942)
Evolution: the modern Synthesis
Mayr (1942)
Systematics and the Origin of Species
Rensch (1947)
Neue Probleme der Abstammungslehre
Stebbins (1950)
Variation and Evolution in Plants
Die evolutionäre Synthese sei keine wissenschaftliche Revolution gewesen, “es
handelte sich eher um die Vereinheitlichung eines vorher stark aufgesplitterten
Bereiches. Die evolutionäre Synthese ist insofern wichtig, als sie uns gelehrt hat,
wie eine solche Vereinheitlichung zu Stande kommen kann: weniger mit Hilfe revolutionärer neuer Konzeptionen, als vielmehr durch eine Art Großreinemachen,
in dem man endgültig mit verschiedenen irrigen p180 Theorien und Glaubensvorstellungen, die vorher Uneinigkeit stifteten, aufräumt. zu den konstruktiven Errungenschaften der Synthese gehört, dass man eine neue Wissenschaft, Evolutionsbiologie, gründete, dass man zu einer gemeinsamen Sprache zwischen den
beteiligten Bereichen kam und zu einer Klarstellung vieler Aspekte der Evolution
und der ihr zu Grunde liegenden Vorstellungen.”
“Esistverständlich,dassindenAnfangsphasenderSynthesedieOmnipräsenzder
natürlichen Auslese besonders betont wurde, da es unter den älteren Evolutionstheoretikern nach wie vor eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Lamarckisten
gab. Sobald jedoch dieses Stadium überwunden war, entwickelte sich ein Trend
zur Anerkennung auch anderer Faktoren. Der moderne Biologe unterscheidet
sich vielleicht weitestgehend von Darwin darin, dass er zufallsabhängigen Prozessen eine weit größere Bedeutung zuschreibt als Darwin oder der frühe Neodarwinismus. Zufall spielt eine Rolle nicht nur während der ersten Schritte der natürlichen Auslese, bei der Erzeugung neuer, genetisch einzigartiger Individuen durch
Rekombination und Mutation, sondern auch während des probalistischen Prozesses, der über den Fortpflanzungserfolg dieser Individuen entscheidet. Mannigfal-
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tige Einschränkungen verhindern immer wieder, ‘Vollkommenheit’ zu erreichen,
obwohl es sich bei der natürliche Auslese in der Tat um einen Verbesserungsprozess handelt, ist es aufgrund zahlreicher entgegenwirkender Einflüsse ausgeschlossen, dass je ein Optimum erreicht wird.
Grobkörnig, nicht feinkörnig: In dem Pfeffer liegt der Hase immer noch
DiedurchdieSynthesegeleisteteVereinheitlichungderEvolutionsbiologiezeich(347p181-182)
neteinkühnenStrichenfolgendesBild:allmählicheEvolutionberuhtaufderOrdnung genetischer Variation durch natürliche Auslese, und alle evolutionären p182
PhänomenekönneninBegriffenderbekanntengenetischenMechanismenerklärt
werden. Dies war eine extreme Vereinfachung, wenn man bedenkt, dass Prozesse
in der organismischen Biologie normalerweise hochgradig komplex sind, oft mehrere hierarchische Ebenen einbeziehen und pluralistische Lösungen enthalten.
Nach der Synthese der Vierziger Jahre bestand die Aufgabe der Evolutionsbiologie darin, die grobkörnige Theorie der Evolution zu einer feinkörnigen, realistischen auszuarbeiten. Da sie nicht länger gezwungen waren, den Darwinismus zu
verteidigen, begannen die Anhänger der evolutionären Synthese im Verlauf detaillierterer Analysen nach wie vor bestehende Widersprüche anzugehen, die
nicht nur zwischen den reduktionistischen Tendenzen der Genetik und dem organismischen Standpunkt der Systematiker und Paläontologen bestanden, sondern
auch andere Aspekte der Evolutionstheorie betrafen.”
p183
“Seit den Siebziger Jahren unseres Jahrhunderts [wird] immer häufiger behaup(347 )
tet, ‘der Darwinismus ist tot’. Ich habe nicht vor, mich mit den auf rein ideologischen Voreingenommenheiten beruhenden Angriffen von Seiten der Kreationisten auseinanderzusetzen, deren Argumente sind [von vielen vielen Autoren] endgültig widerlegt worden. In zahlreichen Artikeln und Büchern wurde aber auch
von Nichtbiologen die Behauptung aufgestellt, der Darwinismus sei veraltet. Ihre
Argumente sind zwar nicht religiöser Art, aber sie verraten eine solche Unkenntnis der Evolutionsbiologie, dass es nicht der Mühe wert ist, ihre Schriften überhaupt zu erwähnen.”
Schade!
6
Schlechter Stil! Wer Gegenmeinungen so abzukanzelt, ohne Ross und Reiter zu nennen, lenkt Verdacht auf sich. Zumindest exemplarische Literaturangaben sind allemal
der Mühe wert! Suspekt, dass Mayr den ideologischen Randbedingungen des frühen
und mittleren Darwinismus soviel Raum gibt und nun so tut, als sei der Standpunkt
von “Nichtbiologen” nicht mal rezeptionstheoretisch interessant. Es geht ja nicht um
Ideologie, sondern um Argumente, und womöglich solche, die Biologen nicht gerne
verstehen, wohl aber Wissenschaftler anderer Disziplinen, wie Informationstheorie,
Nachrichtentechnik, Mathematik, “Synergetik”, deren evolutionsbiologische Beiträge
in Mayr Werk durch Abwesenheit glänzen. Der Verdacht gegenseitiger Missverständnisse besteht, sogar der Abwehr unerwünschter Erkenntnisse, deren intellektuelle Erfassung dem Nurbiologen Mayr vielleicht so viele Schwierigkeiten machten, dass er
eine – anonyme – Retourkutsche nötig hat (Welch Unkenntnis, Ihr Ignoranten!). Mich
ärgert, dassichdiesemVerdachtnichtnachgehenkann,unddassdieBetroffenenMayr
nicht zur Rede stellen können! Vgl. das noch schlimmere Geifern von H.K.Erben, der
aber wenigstens sagt, wen er anpinkelt, so dass man ihn wissenschaftlicher Falschheit
und Dummheit überführen und an den Pranger stellen kann!
Indem sie das ‘adaptionistische Programm’ anwendet und zufallsabhängige Prozesse undEinschränkungenderSelektionvernachlässigt,insbesonderesolche,die
die Entwicklung auferlegt, zeichne die evolutionäre Synthese ein irreführendes
Bild evolutionären Wandels.
DiesehöchstverschiedenartigenEinwändereichenvonderextremenAnsicht,der
Darwinismus als Ganzer sei widerlegt worden, bis zu der gemäßigterern Auffassung, die Synthese sei zu eng adaptionistisch eingestellt, oder der Begriff der Art-
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bildung müsse gründlich revidiert werden. Diese Kritikpunkte wurden von Ayala
(1981, 1983), Stebbins und Ayala (1981), Grant (1983), Maynard Smith (1982,
1983), Mayr (1984), A. Huxley (1982), Lewinton (1988) u.a. widerlegt.”
MayrplädiertaufMissverständnis“derTheorie,dieausderevolutionärenSynthese resultierte. Oft erwächst dieses Missverstehen aus der Annahme, die extrem reduktionistische Version der Synthese, wie sie einige Populationsgenetiker vertraten, sei das grundlegende Dogma der Synthese. Kritiker fordern, die Schlussfolgerungen der Synthese sollten durch eine modernere Betrachtungsweise der Evolution ersetzt werden; aber diese angeblich neuen Ansichten sind fast ausnahmslos
und schon immer von Rensch, mir selber und einigen anderen Vertretern der Synthese verfochten worden. Ich bedaure, dies sagen zu müssen, aber es ist offensichtlich, dass fast alle Kritiker der Synthese die Standpunkte ihrer führenden Verfechter völlig falsch dargestellt haben.”
Relativierung
Mag schon sein. Aber diese Pappkameraderie ist leider weithin üblich, sowie es ans
ideologisch Eingemachte geht. Da schnitzt man sich sein Angriffsziel schon ein wenig
auf die eigenen Schießprügel hin zurecht.
Soweit es sich allerdings um Verzerrungen handelt, die öffentlich weit verbreitet sind,
und auf die sich (Halb-)Gebildete, aber Einfluss-Reiche ständig berufen, so handelt es
sich keineswegs um Pappkameraden, sondern echte Angriffsziele. Da sind gerade die
Vertreter der angeblich reinen Lehre in der Pflicht. Wenn sie sich aber Beifall und Berufungen von der falschen Seite dankbar akzeptiert haben, solange dies opportun war,
dann ist es ein wenig heuchlerisch, jetzt mit fuchtelndem Zeigefinger die Angreifer zur
Ordnung zu rufen.
Und in der Tat: hätte immer die wissenschaftlich korrekte Version des Darwinismus
geherrscht, wäre viel politisches Unheil vermieden worden, und, wer weiß, vielleicht
auch einige Forscherleben sinnvoller verbracht worden.
“Ärgerlicher sind ähnliche, gleichsam indirekte Behauptungen, die einige kompetente Biologen aufgestellt haben, sogar Evolutionsbiologen. Dazu zählen Gould
(1977, 1980), Eldredge (1985), White (1981) sowie Gutmann und Bonik (1981).”
Wohl auch S.M. Stanley (1983) (485).
Ganz schön viele, und nicht die dümmsten!
1
2
3
(347p184)
4
5
(347p185)
1
2
Mayr sortiert die Argumente in sechs Kategorien: (347p183-184)
Erkenntnisse der Molekularbiologie seien nicht mit dem Darwinismus vereinbar.
Neuere Forschung zur Artbildung zeige, dass andere Formen der Artbildung weiter verbreitet und wichtiger seien als geografische Artbildung, der nach Ansicht
der Neodarwinisten der herrschende Modus ist.
NeuzurDiskussiongestellteEvolutionstheorien,etwadiederschubweisenEvolution (Punktualismus), seien mit der synthetischen Theorie nicht vereinbar.
Die synthetische Theorie sei auf Grund ihres reduktionistischen Standpunkts
nicht in der Lage, die Rolle der Entwicklung in der Evolution zu erklären.
Selbst wenn man die reduktionistische Behauptung verwirft, das Gen sei das Zielobjekt der Selektion, könne der Darwinismus, da er das Individuum als Zielobjekt
der Selektion betrachtet, Phänomene auf hierarchischen Ebenen über der des Individuums nicht erklären; d.h. er sei nicht in der Lage, Makroevolution zu
erklären.
“Gegner der Synthese verwechseln ständig drei Schulen des Darwinismus:
den Neodarwinismus: das ist ein von Romanes 1896 geprägter Begriff um ‘Darwinismus ohne Vererbung erworbener Eigenschaften’ zu bezeichnen,
die frühe Populationsgenetik, eine stark reduktionistische Schule, die Evolution
als die Veränderung von Genhäufigkeiten durch natürliche Auslese definierte
und
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3 den ganzheitlichen Zweig der Synthese, der die Traditionen Darwins und der Naturforscher fortführte und gleichzeitig die Erkenntnisse der Genetik übernahm.
Das Denken der Reduktionisten wurde stark von R.A. Fisher beeinflusst, daher
wurde diese Schule gelegentlicher als fisherscher Darwinismus bezeichnet. Dieser
ist eindeutig die Hauptzielscheibe der Gegner der Synthese, aber diese Kritiker
bringen alles durcheinander, wenn diese reduktionistische Schule als Neodarwinismus bezeichnen oder unterstellen, dass Leute wie Huxley, Dobzhansky,
Wright, Rensch und ich ihr angehören, die wir alle die reduktionistischen Schlussfolgerungen der fisherschen Schule entschieden ablehnen.
Darwinismus: ein Forschungsprogramm
Darwinismus ist nicht eine einfache Theorie, die entweder richtig oder falsch ist.
Darwinismus ist ein hochkompliziertes Forschungsprogramm, das ständig abgeändert und verbessert wird. Das galt vor der Synthesem und das gilt auch danach.”
Genau da läuft des Pudels Kern in den Hasenpfeffer! Wenn man dieses Esoterikum in
der Schule etwas lauter und deutlicher sagen würde! Diese Minimalplattform unterschreiben wir gerne; aber es ist eben nicht der exoterische Standpunkt der Schulbiologie, für den man Mayr als maßgebliche Stimme ohne weiteres haftbar machen
soll! Man führe sich nur einmal die betonnäsig autoritären ‘Argumente’ typischer
Epigonen wie H.K. Erben zu Gemüte!
Statt den programmatischen Charakter zu betonen, tut man doch ständig so, als der
Darwinismus eine bis hart an die Grenze des vernünftigen Zweifels bewiesene, vollkommene in sich schlüssige Theorie!
Tatsächlich kann ich Mayr hier nicht mehr vertrauen. Mir scheint, es bezieht hier eine
klammheimlich Rückzugsposition, mit einem Augenzwinkern für Esoteriker. Einen so
entscheidenden Punkt darf man nicht so im Text verstecken, wenn einem an breiter
(exoterischer) Aufklärung gelegen ist. Wo hat man je Folgendes laut sagen hören:
(347p186)
“Dem Unterfangen, solche scheinbar zusammenhanglosen Perioden zu unterscheiden,haftetjedochinvielerHinsichtetwasKünstlichesan.UmnureinigeBeispiele zu nennen: nach 1886 herrschte die partikuläre Vererbung offensichtlich
vor, aber sie wurde erst nach 1900 anerkannt. Die Rolle der Vielfältigkeit in der
Evolution wurde von der Naturforschern seit Darwin immer wieder mit Nachdruckbetont,vondenFisherschülernjedochfastvölligübergangen.DieNaturforscher wiederum lehnten die Wald- und Wiesengenetik (beanbag genetics) der Reduktionisten ab und hielten in der Zeit nach der Synthese an ihrer ganzheitlichen
TraditionderbetonungdesIndividuumsalsZielobjektderSelektionfest.Kurzgesagt:jededieserPeriodenwaraufgrundderVielfaltderDenkansätzederverschiedenen Evolutionstheoretiker in gewissem Ausmaß heterogen. Die meisten Kritiker, welche die evolutionäre Synthese zu widerlegen versuchten, waren außerstande, diese Meinungsvielfalt zu erkennen. Es ist ihnen daher lediglich gelungen,
die reduktionistischen Außenseiter des darwinistischen Lagers zu widerlegen. Ihr
Unvermögen, die Komplexität der evolutionären Synthese richtig einzuschätzen,
ließ sie ein Bild jener Zeit zeichnen, das bestenfalls eine Karikatur ist. [Gute Karikaturen treffen das Maßgebliche!]
(347p186-188)
Mayr versucht sich – mit allen Vorbehalten – an einer tabellarischen Übersicht
über die “Phasen der Modifizierung des Darwinismus”.
Ein weiterer Fehler, den die meisten Gegner der Synthese machen, ist: sie versäumen es, zwischen unmittelbaren und evolutionären Ursachen zu unterscheiden.
Für Darwin und seine ganzheitlich denkenden Nachfolger beginnt Selektion bei
der Befruchtung und setzt sich durch alle embryonalen und Larvenstadien hindurch fort. Ein Darwinist ist ernstlich verärgert, wenn er die Kritik eines Embyologen liest, dass ‘Entwicklung ... sich als ein Problem erweist, das im Rahmen des
Neodarwinismus nicht zu verstehen ist.’ Von welchem Aspekt der Entwicklung re-
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det dieser Autor überhaupt? Wenn er von der Übersetzung des genetischen Programms in molekularen Ereignisketten während der Ontogenese spricht, dann redet er von unmittelbaren Ursachen. Deren Untersuchung war in der Tat nie die
Aufgabe des Evolutionsbiologen. Aber viele andere Aspekte der Entwicklung
werfen sehr wohl Fragen nach evolutionären p187 Ursachen auf, und diese sind es,
die seit Darwin Evolutionsbiologen interessieren. Sie sind für den Evolutionsbiologen von Belang, erstens weil jedes Stadium der Entwicklung ein Zielobjekt der
Selektion ist, und zwar vor allem dann, wenn die Entwicklungsstadien (Larven)
freilebendsind.ZweitenstendierenembryonaleStadien,weilsieselberalssomatische Programme bei der Entwicklung dienen können ... p188 dazu, in der Evolution
in hohem Maße konserviert zu werden (beispielsweise das Kiemenbögenstadium
des Vierfüßerembryos). Solche in hohem Maße konservierte Stadien sind bei der
Rekonstruktion der Phylogenese (Rekapitulation) oft recht hilfreich. Kein Darwinist wird je die Bedeutung der Entwicklung für die Evolution in Frage stellen;
aber evolutionäre Deutung stößt an Grenzen, wenn die unmittelbaren Ursachen
der Entwicklung von Embryologen noch nicht erforscht sind. Die Untersuchung
solcher unmittelbarer Ursachen ist nicht die Aufgabe des Evolutionsbiologen.”
Wohl aber die ihrer Entwicklung (sozusagen die Entwicklung der Entwicklung) – und
dahinzielt die anhaltende Kritik der Entwicklungsbiologen, und sie treffen wirklich auf
einen Schwachpunkt. Um sich damit nicht befassen zu müssen, unterstellt Mayrhier
den Kollegen Dummheit und ärgert sich dann über die Dummheit. (“Behalten Sie Ihren Hammer doch!”)
Tatsächlich können die Erklärungslücken zumindest spekulativ geschlossen werdern
– durch Ansätze, die über die Darwins hinausgehen (ohne diesen zu widersprechen).
Kauffman (271) spricht von einer “Verzahnung” von Selbstorganisation und Selektion, mit der sich die Entwicklung von Abläufen besser verstehen lässt.
(347p187)
Zeit
Phase
Modifikation
1883-86 Weismans Neodarwinismus EndederweichenVererbung,Diploidieund
genetische Rekombination werden anerkannt
1900
Mendelismus
Die genetische Konstanz wird akzeptiert
und die Mischvererbung abgelehnt
1918-33 fisherscher Darwinismus
Evolution wird als Sache der Genhäufigkeiten und der Wirksamkeit selbst kleiner
Selektionsdrücke betrachtet
1930-47 Evolutionäre Synthese
Populationsdenken rückt in den Vordergrund. Interesse an der Evolution von Vielfalt, geografischer Speziation, variablen
Evolutionsraten
1947-70 Postsynthese
Das Individuum wird zunehmend als Zielobjekt der Selektion betrachtet: ein verstärkt ganzheitlicher Ansatz. Gesteigerte
Anerkennung von Zufall und Einschränkungen.
1954-72 Schubweise Evolution
Bedeutung der Artbildungsevolution.
1969-80 Wiederentdeckung der
sexuellen Auslese
Bedeutung des Fortpflanzungserfolgs für
die Selektion
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Heilsamer Aufruhr oder Frontbegradigungen
(347p189)
(347p189-190)
(347p190)
Die evolutionäre Synthese sei noch nicht abgeschlossen. “Der heilsame Aufruhr,
der derzeit die Evolutionsbiologie kennzeichnet, sollte nicht als Todeskampf aufgefasst werden,sonderneheralsdieArtlebendigerAktivität,diemaninjedemgesunden und fortschreitenden Wissenschaftsbereich findet.”
Obwohl der Spielraum für Evolutionstheorien “drastisch eingeengt” sei, gebe es
trotzdem “in der Zeit der Postsynthese nach wie vor einige Meinungsverschiedenheiten unter den Darwinisten, und einige dieser Streitpunkte sind auch heute, 50
Jahre später, noch nicht völlig geklärt.
Für die Genetiker, oder zumindest für die von Muller, Fisher und Haldane beeinflussten, blieb weiterhin das Gen das Zielobjekt der Selektion, und man glaubte,
dass die meisten Gene einen konstanten Eignungswert besitzen. Das ganze ProblemderEntstehungorganischerVielfalt...wurdevondieserSchulegeringgeachtet,wennnichtsogarignoriert.DieMehrzahlderer,diesichselberalsPopulationsgenetiker bezeichneten, arbeiteten mit einzelnen geschlossenen Genpools. Selbst
White kam mit seiner Theorie der schubweisen Evolution weder das Problem der
Vervielfachung von Arten noch die aus der Artbildung sich ergebenden Probleme
der Makroevolution in den Griff.”
Wer aus der Systematik oder anderen Bereichen kam, sah das anders: “Evolution
sei ein Problem von Populationen, und das ganze ... Individuum ist Zielobjekt der
Selektion... Die Vervielfachung der Arten [war] der Weg zur Lösung der Probleme der Makroevolution. Trotz ihrer Neigung, in Begriffen von Phänotypen zu
denken, betrachteten sie schließlich den Genotypus als ein System von Geninteraktion, d.h. sie erkannten die Kohäsion des Genotypus an.”
Hierarchische Gesichtspunkte waren von Anfang an wichtig. “Für Simson,
Rensch, Huxley und Mayr bestand Evolution nicht in einer Veränderung p190 der
Genhäufigkeiten, sondern sie war der gekoppelte Prozess adaptiven Wandels plus
Entstehung von Vielfalt.”
“Meinungsverschiedenheiten herrschen unter den Genetikern ... über die relative
Häufigkeit neutraler Mutationen und den durch Aufspalten von heterozygoten
verursachten Anteil an Variation. Unter den Paläontologen kommt es zu Auseinandersetzungen darüber, ob phyletischer Gradualismus zur Entstehung höherer
Taxa führen kann oder nicht. Und unter anderen Evolutionstheoretikern gibt es
Uneinigkeit über die Gültigkeit von Gruppenselektion, das Ausmaß von Anpassung, die Rolle, die der Konkurrenz zukommt, die Häufigkeit sympatrischer Artentstehung,darüber,wiekontinuierlichoderschubweiseEvolutionist,inwelchem
Maße alle Komponenten des Phänotyps eine Adhoc-Selektion widerspiegeln, wie
groß der Anteil allopatrischer Artbildung ist, was das Zielobjekt der Selektion ist,
wieviel genetische Variation in Populationen gespeichert ist, und win welchem
Maße die neuen Erkenntnisse der Molekularbiologie einer Überprüfung der gegenwärtigen Theorie erfordern. Allerdings tut keine dieser Meinungsverschiedenheiten, ganz gleich, was dabei schließlich herauskommt, den Grundprinzipien
des Darwinismus Abbruch.
Immer noch fehlen Hinweise auf Beiträge der Informationstheorie, die spätestens seit
1970 auch von Evolutionstheoretikern ernst genommen werden. Für Entstehung, Weitergabe und Veränderung biologischer Information ist sie nun einmal die wichtigste
Disziplin.Mayr macht einen großen Bogen darum, von Komplexitätstheorie und
nichtlinearer Dynamik ganz zu schweigen.
Die von den Anhängern der evolutionären Synthese vertretenen Schlussfolgerungen waren zwar selten völlig falsch, aber oft unvollständig und etwas simpel. Insbesondere zwei Arten von Prozessen zog man häufig nicht gebührend in Betracht: 1.
mehrfache gleichzeitige Verursachungen und 2. pluralistische Lösungen.”
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Beispiele für (1): “Bei allen Selektionsphänomenen und bei Selektion handelt es
sichnatürlichumeinennichtdemZufallunterliegendenProzess;eskönnen [aber]
gleichzeitig Zufallsphänomene auftreten.”
Selektion ist immanent wahrscheinlichkeitsgetrieben. Es können natürlich noch weitere Kontingenzen auftreten. Es lässt sich keine ‘zufallsfreie’ Selektion analytisch herauspräparieren. Überdies scheint Mayr einen sehr verschwommenen Begriff vom
Zufall zu haben.
(347p190-191)
Pluralismus:
Noch ein Beispiel: “Artbildung ist nie ausschließlich eine Sache der Gene oder
Chromosomen, sondern auch des Wesens und der Geografie der Populationen, in
deneneszudiesengenetischen p191 Veränderungenkommt.Geografieundgenetische Veränderungen von Populationen beeinflussen den Artbildungsprozess
gleichzeitig.”
Berufsbedingte ideologische Abwehrkrämpfe schwächen die Ausdruckskraft des
Autors. Ein verbogener Umgang mit der Sprache, der nicht reflektiert, wie weit die
Sprachzeichen ‘Zufall’ und ‘Ursache’nur Kolloquialismen sind, sprachliche Konventionen, in vielen Fällen durch panisch gemiedene finale Kategorien angemessener auszudrücken. Die Übernahme von Konventionen verpflichtet doch nicht zu ihrer Übernahme als Ontologie. Weit davon entfernt, die Begrifflichkeit zu mathematisieren,
solltemandennocheinenvernünftigenfachsprachlichenGebrauchdieserWorteindie
Biologie einführen. Wenn jemand wie Mayr das nicht schafft, wer dann?
Unappetitliche Konsequenz: kategoriell wohlunterscheidbare Zusammenhänge werden durch dieselben, etwas vergammelten Mühlen gedreht und verschrotet, und dann,
nicht mehr ganz taufrisch, in einen Topf geworfen und zu matschigem Begriffssalat
verrührt. DasindmirjadieSoziologenmitihrenResidualkategoriensympathischer!In
Verbeugung vor ideologischen Geßlerhüten unklar zu lassen, was sich klar sagen lässt,
ist eine wissenschaftliche Todsünde. Die Biologen dürfen sich nicht wundern, dass sie
unter Beschuss geraten! Bei allem Verständnis für ihre déformations professionnelles,
die das analytische und synthetische Denken im Schatten des Ganzheitlichen dahinkümmern lässt.
“Weit schwerer wog, dass der Pluralismus häufig von evolutionären Phänomenen
vernachlässigt wurde. Darwin war sich des Pluralismus des Evolutionsprozesses
sehrwohlbewusst.JeeingehendermandieProzesseuntersucht,destomehrbeeindruckt einen ihre Vielfalt. Viele Unstimmigkeiten in der Evolutionsbiologie erwachsen aus der Unfähigkeit bestimmter Wissenschaftler, diese Vielfalt gebührend in Betracht zu ziehen [und die für ihre theoretische Behandlung notwendigen
Denkzeuge in der Tradition von Darwin und Weismann weiterzuentwickeln und in
Schuss zu halten. Faktensammelei bei festgeklemmtem Hirn bestätigt nur liebgewordener Meinungen]. Für fast jede evolutionäre Herausforderung scheint es Viel-
fachlösungen zu geben. Im Verlauf der Artbildung entstehen bei manchen Organismengruppen zuerst Isolationsmechanismen, die vor der Paarung wirksam werden, bei anderen zuerst solche, die sich nach der Paarung entfalten. Manchmal
sind geografische Rassen genauso unterschiedlich wie gute Arten, aber durchaus
nicht reproduktiv isoliert; aber andererseits können vom Phänotypischen her ununterscheidbareArten (Zwillingsarten) reproduktiv vollständig isoliert sein. Einige Arten sind außergewöhnlich jung, sie sind erst vor 2000 – 10000 Jahren entstanden, während andere sich in 10 bis 50 Millionen Jahren nicht sichtbar verändert
haben. Bei einigen Gruppen sind Polyploidie oder asexuelle Fortpflanzung von
Bedeutung, die bei anderen ganz fehlen. Chromosomenumstrukturierung scheint
beieinigenGruppen,etwadenMorabinä(HeuschreckeninAustralien)einewichtige Komponente der Artbildung zu sein, bei anderen jedoch nicht vorzukommen.
Kreuzung zwischen Arten ist bei einigen Gruppen häufig, bei anderen hingegen
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(347p191-192)
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kommt es nur selten oder gar nicht dazu. Bei einigen Gruppen erfolgt Artbildung
ausgesprochen häufig, bei anderen scheint sie ein seltener Vorgang zu sein.
Allein daraus, dass es in bestimmten Arten einen geringen Genfluss gibnt, kann
man nicht schließen, Genfluss sei bei allen Arten irrelevant. In Wirklichkeit
scheint der Genfluss selbst bei nahe verwandten Arten sehr unterschiedlich zu
sein. Dass es bei vielen Gründerpopulationen nicht zu einer großen genetischen
p192 Umstrukturierung kommt, ist kein Beweis dafür, dass genetische Revolutionen nie stattfinden können. Parapatrie kommt häufig bei Gruppen vor, in denen
sichpostzygotischeIsolationsmechanismenzuerstentwickeln,währendpräzygotische zu diesem Zeitpunkt noch sehr unvollständig sind. Dies rechtfertigt jedoch
keineswegs, dass man alle Fälle von Parapatrie mit ein und demselben Mechanismuserklärt.DieeineStammesliniekannsichsehrschnellentwickeln,währendandere, selbst nahe Verwandte, über Jahrmillionen einen völligen Stillstand durchmachen können. Kurz gesagt: es gibt mehrere mögliche Lösungen für viele evolutionäre Herausforderungen, aber sie alle stehen in Einklang mit dem darwinschen
Paradigma.
Die meisten Evolutionsbiologen, vor allem jene, die sich mit einer einzigen Organismengruppe beschäftigen, neigen dazu, den außergewöhnlichen Pluralismus
der Evolution zu unterschätzen. Wie Francois Jacob 1977 richtig gesagt hat: die
Evolution ist ein Flickschuster und bedient sich in einer gegebenen Situation dessen, was gerade zur Hand ist. Man kann fast für jedes evolutionäre Phänomen zeigen, wie sehr es sich bei den verschiedenen Gruppen von Pflanzen und Tieren unterscheidet. Aus alledem kann man folgende Lehre ziehen: verallgemeinernde
Behauptungen sind in der Evolutionsbiologie selten korrekt.”
Vor allem, wenn man die Kunst der Verallgemeinerung – d.h. der Abstraktion – nicht
pflegt. Allerdings wird sich bei den Biologen sehr unbeliebt machen, wer sie mit der
Nase drauf stößt, vor allem mit dem Gestus des philosophischen Überfliegers, der den
Stein der Weisen auspackt, wie Rupert Riedl (423,424) oder Erhard Oeser (378). Zuallererst stehe das Bekenntnis der Unwissenheit und eine gewisse Abwertung der Emsigkeit, mit der Fakten gesammelt und dann mit viel Schwielen am Arsch am Schreibtisch
hin- und hergeschoben werden. Die Biologie wird nicht weiterkommen, wenn Epigonalgeister wie H.K. Erben (138) ihre Faktenüberflutung als empirischen Reichtum
ausgeben und sich aufgrund ihrer überfüllten Datenrumpelkammer alleinig autorisiert
fühlen, über die Entstehung des Lebens zu reden!
“Selbstwennetwas‘normalerweise’soundsoist,bedeutetdasnicht,dassesimmer
so ist. Man sollte nie den stets gegebenen Pluralismus evolutionärer Prozesse
außer Acht lassen.
Fast jede wissenschaftliche Theorie bedarf laufend der Überprüfung und Ergänzung, aber derlei Änderungen berühren nicht unbedingt den eigentlichen Kern
der Theorie. Die mendelsche Theorie der Vererbung ist dafür ein gutes Beispiel.
Als man sie 1900 wiederentdeckte, wurde sie in Form dreier Gesetze formuliert.
InnerhalbwenigerJahrestelltemanfest,dasszweidieserGesetze–lasderDominanz und das der unabhängigen Verteilung – nicht allgemein gültig sind; dennoch
hat kein Mensch behauptet, dass damit Mendels Theorie widerlegt sei.”
Weil auch kein Mensch behauptet, diese Theorie sei ein Universalschlüssel zu etwas,
und weil sie nicht wie die moderne Synthese immer wieder dazu missbraucht wird, notwendige Denkansätze zu verschreien oder lächerlich zu machen und/oder als unwissenschaftlich zu disqualifizieren.
(347p192-193)
“Die ständigen kleinen Verbesserungen und Ergänzungen der p193 darwinistischen Theorie einschließlich der Fassung, die sie im Rahmen der Synthese erhielt,
taugen ebensowenig zu Widerlegungen.”
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Mayr konterkariert immer wieder seine Bemühungen um begriffliche Klarheit. Statt
von‘Theorien’ spricht er hier plötzlich doch wieder von ‘Theorie’, dann wieder von ‘Paradigma’; ich halte den Zungenschlag nicht für zufällig, sondern durch den Inhalt bestimmt: sind dies heilige, um jeden Preis zu immunisierende Glaubenssätze, sagt er
Theorie; sind es schwer haltbare Positionen, sagt er Paradigma. Wenn man den Kontext als Resumee einer Vorwissenschaft betrachtet, als Entwurf eines Forschungsprogramms, kann man alles unterschreiben; wenn es aber als entfaltete Wissenschaft segelt, kommt es einem vor wie eine geschickt hinter den Tatsachen her lavierende, apologetische Scholastik.
Im Folgenden aber auch weniger geschickt: erst weist Mayr mit zornbebendem Sprachduktus es als vollkommen absurd zurück, den Evolutionsbiologen einen Allerklärungsanspruch zu unterstellen, um ihn im selben zitternden Atemzug selber noch extremer zu erheben und dabei die wissenschaftstheoretischen Finger hinter dem Rücken
zu kreuzen Ich zitiere:
(347p193)
“Einige Kritiker haben den Architekten der evolutionären Synthese vorgeworfen,
sie hätten behauptet, alle ungeklärten Fragen der Evolution gelöst zu haben. Diese Anschuldigung ist schlichtweg absurd. Ich kenne keinen einzigen Evolutionstheoretiker, der sich je zu einer solchen Behauptung verstiege. Die Verfechter der
Synthese erhoben lediglich den Anspruch, zu einer so weit abgesicherten Ausarbeitung des darwinistischen Paradigmas gelangt zu sein, die nicht Gefahr lief,
durch die noch vorhandenen Rätsel umgestoßen zu werden. [Sie reklamieren unumstößliche Wahrheit.] Kein Mensch leugnete, dass viele Fragen offen blieben,
aber man hatte das Gefühl, ganz gleichgültig, welche Antwort herauskäme, sie
würde mit dem darwinschen Paradigma in Einklang stehen. Bis heute ist – so will
mir scheinen – diese Zuversicht nicht enttäuscht worden.”
Nach allem vorangehenden: wie sollte sie auch noch? Zuversicht und optimistische
Gefühle sind ja menschlich sehr wichtig, auch und gerade für Wissenschaftler, aber
doch keine wissenschaftlichen Argumente! An dieser Stelle tritt der außerwissenschaftliche Kern von Mayrs sich wissenschaftlich gebender Argumentation klar zu
Tage. Er schützt seine Religion; Frage nur: welche? Wir würden Frieden schließen,
wenn er hier sich und dem Leser gegenüber ehrlich wäre. Aber so stolpert der gewissenhafte Leser immer wieder über seinen sich selbst konterkarierenden Zungenschlag,
etwa zwischen denen von ihm doch mit so viel Fleiß getrennten Einschätzungen
‘ergänzungsbedürftig’ und ‘widerlegt’. Etwa in seinen Bemerkungen über den Einfluss
der Molekularbiologie:
(347p193-194)
Mayr zitiert White (1981) “Erneut brauchen wir dringend eine neue Synthese
zweier Traditionen, der der Evolutions- und der der Molekularbiologie.” Andere
Molekularbiologen behaupteten angeblich, “dass die Erkenntnisse der Molekularbiologie einenGroßteildesanerkanntenDarwinismusbereitswiderlegthätten.
So wurde betont: ‘viel [molekularbiologische] Beobachtungen (induzierte Mutationssysteme, p194 rapide genomische Veränderungen, bei denen mobile genetischeElementeeineRollespielen,programmierteVeränderungenderChromosomenzahl) rufen die grundlegenden Annahmen der Evolutionstheorien über die
Mechanismen erblicher Veränderungen und die Fixierung genetischer Unterschiede auf den Prüfstand.’ (Shapiro 1983)
Tagtäglich werden in der Molekularbiologie Entdeckungen gemacht, die dem
Bild der klassischen Genetik zu widersprechen scheinen. Keine war verblüffender
alsdieEntdeckung,dassGenehochkomplexeSystemesind,dieausExons,Introns
und flankierenden Sequenzen bestehen, und dass es zahlreiche Gensorten gibt.
Einige scheinen überhaupt keine Funktion zu haben, während man bei den aktiven Genen mehrere Funktionsklassen unterscheiden kann. Aber hat irgendeine
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(347p194-195)
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dieser Entdeckungen eine Revision des Darwinismus erforderlich gemacht? Ich
meine: nein!
Es ist keine Frage, die Molekularbiologie hat uns zahlreiche und großartige neue
Einsichten in das Funkionieren evolutionärer Ursachen vermittelt, insbesondere
was die Erzeugung genetischer Variation betrifft. Erfreulicherweise stellten sie in
den meisten Fällen eine Bestätigung oder Weiterentwicklung bereits bestehender
Ansichten dar... Einige der wichtigsten Entdeckungen im molekularen Bereich...:
Das genetische Programm liefert nicht von sich aus das Baumaterial für neue Organismen, sondern nur die Blaupausen für die Ausformung des Phänotypus [Halb
richtig. Es liefert Blaupausen für Eiweißgeneratoren!].
Der Weg von Nukleinsäuren zu Proteinen ist eine Einbahnstraße. Proteine und
Information, die sie möglicherweise erworben haben, werden nicht in Nukleinsäuren zurückübersetzt [falsch, es gibt Enzyme, die den DNS-Strang verändern
(‘Transskriptase’)].
Nicht nur der genetische Code, sondern in der Tat die grundlegenden molekularenMechanismensind–vondenprimitivstenProkaryontenaufwärts–inallenOrganismen die gleichen.
Viele Mutationen – Veränderungen in den Basenpaaren – p195 scheinen neutral
oderfastneutralzusein,d.h.keinenerkennbarenEinflussaufdenselektivenWert
des Genotyps zu haben. Allerdings ist dies von Gen zu Gen verschieden.
Eine kritische vergleichende Analyse der molekularen Veränderungen während
der Evolution liefert viele Teilinformationen, die sich für die Rekonstruktion der
Phylogenese eignen. Besonders nützlich ist dies, wenn die morphologische Information nicht eindeutig ist. Allerdings sind molekulare Merkmale auch anfällig für
Homoblasie: die parallele oder konvergente Erzeugung des gleichen Merkmals
oder Phänotypus.
Interessanterweise hat bis zum heutigen Tage keine dieser Erkenntnisse eine
grundlegende Revision des darwinschen Paradigmas erforderlich gemacht. Mehr
noch: die Beziehung zwischen Molekular- und Evolutionsbiologie ist nicht ganz
einseitig gewesen. Darwinistisches Denken hat eine wesentlichen Beitrag in der
Entwicklung der Biochemie zur Molekularbiologie geleistet. Die Erforschung der
Phylogenese von Molekülen und die Suche nach der selektiven Bedeutung der
Molekularstruktur haben die Molekularbiologie enorm bereichert. In der Literatur der Molekularbiologie findet man jetzt keine gründliche Untersuchung eines
bestimmten Moleküls oder einer Gruppe von Molekülen mehr, die sich nicht zugleich um eine evolutionäre Erklärung der Molekularstrukturen bemüht, auf die
man bei dieser Untersuchung gestoßen ist.”
Das hat zwei Seiten. Auf der anderen Seite, wie ich selbst im Rahmen neurobiologischer Theoriebildungen erfuhr, erhöht die bloße Anwesenheit evolutionärer Argumente die Wissenschaftshaltigkeit von Modellen. Daher könnten einige der oben angeführten Übereinstimmungen zirkulären Charakter haben. Das evolutionäre Paradigma ist eine Landkarte, die sicher auch unserem modernen Standpunkt nahe
Schichten der Wirklichkeit zu erschließen oder Neuentdeckungen zu beschleunigen
hilft, aber auch möglicherweise in Sackgassen oder auf Holzwege führt und, wichtiger
noch, Entdeckungen verhindert, nach dem Motto: dort, wo auf meiner evolutionären
Landkarte keine Verbindung eingezeichnet ist, gibt es auch keine; also denk ich da gar
nicht erst hin.
(347p196)
“Als 1966 mit der neuen Methode der Elektrophorese Enzymgene in natürlichen
Populationenuntersuchtwurden,stelltemanfest,dassabweichendeGene,Allele,
äußerst häufig waren. Aus diesen und anderen Gründen stellten Kimura? 1968
sowie King und Jukes 1969 eine Theorie der neutralen Evolution zur Diuskussion,
die behauptete, dass viele, vielleicht sogar die meisten Aminosäure- und Nukleo-
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(347p196-197)
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tidsubstitutionen der Evolution zufällige Fixierungen neutraler oder nahe zu neutraler Mutationen seien. Ein neues Allel bzw. eine Basenpaarsubstitution wird
neutral genannt, wenn es funktional dem Allel oder Basenpaar, das es ersetzt,
äquivalent ist und die Eignung eines Organismus nicht verändert. Obwohl die
meisten Evolutionstheoretiker, darunter auch ich, dieser Theorie anfangs heftig
widersprachen, ist mittlerweile die große Häufigkeit neutraler Ersetzungen von
Basenpaaren erwiesen. Andererseits wurde auch die selektive Bedeutung von
zahlreichen Allelen bewiesen, die Neutralitätsenthusiasten bis dahin für neutral
gehalten hatten.
Ein Hauptgrund für den hitzigen Streit zwischen Neutralisten und ihren Gegnern
war, dass sie das Zielobjekt von Selektion verschieden deuten. Die Neutralisten
sind Reduktionisten; für sie ist das Gen, genauer gesagt, das Basenpaar, das ZielobjektderSelektion.FürsiehandeltessichbeijederFixierungeinesneutralenBasenpaares um einen Fall neutraler Evolution. Für den darwinistischen EvolutionstheoretikeristdasIndividuumalsGanzesdasZielobjektderSelektion,undEvolutionfindetnurstatt,wennsichdieEigenschaftendesIndividuumsverändern.Eine
ErsetzungneutralerGenewirdlediglichalsevolutionäresRauschenundalsirrelevant p197 für die phänotypische Evolution betrachtet.”
Wo sie doch das Wort “Zielobjekt” nicht in den Mund nehmen dürften, ohne sofort
vom Blitz erschlagen zu werden. Und um rein sprachliche Konventionen streite man
nicht “hitzig”! Sinnvoll allenfalls wäre ein Streit um praktikable Definitionen; aber da
die Biologen ihn als solchen nicht führen, sondern als inhaltlichen, machen sie die
lächerliche Figur schrulliger Gelehrter im ideologischen Kindergarten.
Trivialerweise wird selektiert, was selektiert wird. Ziele gibts bei der Betrachtungsweise
wirklich nicht! Wenn ein einzelnes Allel sich ändert, mag das im gegebenen Kontext
keine besondere Veränderung bedeuten, im anderen aber eine gewaltige. Es kann eine
Veränderung bedeuten, die man erst in bestimmter Perspektive und von einem bestimmten Standpunkt aus wahrnimmt, un die sich erst später manifestiert. Immerhin
deutet Mayr an:
(347p197)
“Je wichtiger ein Gen oder ein Teil eines Gens von seiner Funktion her ist, desto
geringerdieWahrscheinlichkeiteinerMutation,dieesverbesserte. [Fasthalbrichtig!] Alle Mutationen eines solchen Gens wären schädlich und würden aussortiert.
[Nein. Zwar sind Ausnahmen extrem selten, aber auch extrem interessant!] Eine potenzielle Bedeutung neutraler Evolution, über die wir noch nichts wissen, besteht
darin, dass einige, durch Mutation erzeugte neue Allele in einem späteren Stadium der Evolution auf einem anderen genotypischen Hintergrund einen selektivenWerthabenkönnten.” Oder auf einen andern phänotypischen oder ökologischen
Hintergrund.
Und dann wissen sie nicht mal, was Evolution ist. Ein pseudowissenschaftlicher Streit
um Ideologien, bestenfalls Semantik – von Semiotik – der Kunst der Bezeichnung –
weit entfernt:
“Der Darwinist fragt sich, ob es überhaupt statthaft ist, durch nichtselektierte Zufallsfixierungen verursachte Veränderungen in Genhäufigkeiten als Evolution zu
bezeichnen. In einem Teil der älteren Evolutionsliteratur vor allem des 19. Jahrhunderts wird die Frage erörtert, wie Evolution von bloßer ‘Änderung’ zu unterscheiden sei. [Oh oh!] Darin wurde betont, dass es sich bei den ständigen Wetterund Klimaveränderungen bei der Aufeinanderfolge der Jahreszeiten im Jahreszyklus, den geomorphologischen Veränderungen einer verwitternden Gebirgskette
oder eines sich verlagernden Flussbettes und anderen derartigen Veränderungen
nicht um Evolution handelt. Interessanterweise ähneln die Veränderungen in
nichtselektierten Basenpaaren und Genen viel mehr diesen nichtevolutionären
Veränderungen als einer Evolution. Vielleicht sollte man nichtdarwinistische
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Evolution lieber als nichtdarwinistische Veränderungen während der Evolution
bezeichnen.” [Das wär was für Karl Kraus!]
Der seltsame Diskurs verrät, wie tief der Evolutionismus im Würgegriff der finalistischen und vitalistischen Vorstellungen steckt, die er so vehement von sich weist!
Tatsächlich kämpfen die verdrängten Bilder verzweifelt gegen Bewusstmachung und
rationale Reflexion, denn das bräche ihre Herrschaft. Die obskuren Götter der Biologie
wollen nicht beim wahren Namen genannt sein; wer das missachtet, wird durch ihre
materialistischen Priestern exkommuniziert. Daher der finstre, stets inquisitionsbereite
Ton in der theoretischen Biologie; kein Wunder, dass sie sich furchtsam als “Biophilosophie” (Wuketits) tarnt.(569)
Unterbrochene Gleichgewichte
(347p197-198)
“Seit Darwin haben die Paläontologen darauf hingewiesen, dass kontinuierliche
Sequenzen von Fossilien sich in der Zeit nicht verändern oder kleine Veränderungen hinsichtlich p198 Größe oder Größenverhältnissen aufweisen. Alle größeren
evolutionären Veränderungen scheinen ziemlich unvermittelt zu erfolgen und
nicht über Zwischenglieder mit den vorangegangenen Fossilien zusammenzuhängen. Diese Beobachtung veranlasste Schindewolf und andere Paläontologen,
die These von der sprunghaften Evolution aufzustellen. Wie kann ein Anhänger
der darwinistischen allmählichen Evolution das Rätsel dieser Lücken erklären?
Die Theorie der peripatrischen Artentstehung – d.h. einer Artbildung in geografisch isolierten Populationen – erlaubte es Mayr (1954, 1963), folgende Thesen
aufzustellen: solche beginnenden Arten, die eine Phase der Inzucht durchlaufen,
sind zuweilen der Schauplatz einer besonders raschen Umwandlung, und sie hinterlässt infolge der geografischen Isolierung und der kurzen Dauer solcher Gründerpopulationen keine Spuren in der Überlieferung von Fossilien. [Teilhard
(495p117)] Auf dieser Grundlage entwickelten Eldredge und Gould 1972 die Theorie der Evolutionsschübe. Die meisten großen evolutionären Ereignisse finden
während kurzer Schübe der Evolution statt, und erfolgreiche neue Arten treten,
sobald sieweitverbreitetundhäufiggewordensind,ineinelangePeriodedesStillstandes ein. Diese Periode dauert manchmal Jahrmillionen, und in ihrem Verlauf
kommt es nur zu minimalen Veränderungen. Derlei Artbildungsevolution ist, da
sie in Populationen stattfindet, trotz ihrer rapiden Geschwindigkeit graduell und
steht daher in keinerlei Widerspruch zum darwinschen Paradigma. Wie oft solche
drastischen Umwandlungen in Gründerpopulationen stattfinden, und wieviel
Prozent der neuen Arten in eine darauf folgende Periode des Stillstandes eintreten, ist allerdings nach wie vor umstritten.”
Diese Theorie hat schon Darwin vertreten und ganz ähnliche Argumente gebraucht;
und ihre Erklärungsreichweite bleibt zweifelhaft. Stcihwort: kambrische Explosion u.
a.. Vgl Stanley (485) und Gould (195).
Soziobiologie E.O.Wilson(1975): Sociobiology – the new synthesis.
(347p199)
Wilson definiert Soziobiologie als ‘die systematische Untersuchung der biologischen Grundlage jedweden sozialen Verhaltens’.
Reichlich kühn, nach einem halben Jahrhundert Verhaltensforschung. Da versteht
man, warum der Riedl sauer auf den Dawkins ist.
Mayr beklagt den von dem Wort ‘biologisch’ ausgelösten heftigen politischen Streit.
Aber wenn er darum Tränen weint, dann Krokodilstränen eines Kombattanten. Von
Nazizeiten an, früher und später, haben die Biologen dem Biologismus immer heftig
Vorschub geleistet; und nach allem, was ich von Soziobiologie weiß, wobei sie für ihre
‘Miss’bräuche ebenfalls haftbar mache, begehen sie im Fall der Gene die Sünde der
Rückspiegelfixierung, unterschätzen gewaltig die konvergente kulturelle Evolution und
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überschätzen das Maß an Information, welches vom Genom überhaupt übertragen
werden kann.
Mayr plädiert begütigend für ein Sowohl-Als Auch, was man leicht als 50 zu 50 verstehen könnte; aber wer einmal mit einem Taschenrechner nachrechnet, merkt, dass
dieser ‘Vergleich’ vielleicht ein guter ideologischer Kompromiss, aber wissenschaftlich
eine grobe Verzerrung der Verhältnisse ist. Zur Groborientierung vergleiche man den
astronomischen Unterschied zwischen dem konservativ nach oben abgeschätzen Informationsgehalt des menschlichen Genoms mit dem des menschlichen Körpers oder
gar der menschlichen Kultur. →Ge-10
(347p200)
KernproblemseidieFrage“nachderEvolutiondesAltruismus”.Selektionsei“ihrem Wesen nach ein durch und durch eigennütziger [?] Prozess, der nur am reproduktiven Vorteil, den er einem Individuum verschafft, gemessen wird.”
Niemand misst, niemand ist eigennützig. Wer überlebt, überlebt. Das gilt auf allen vom
Menschen erkennbaren Hierarchien: für Gene, Individuen, Familien, Sippen und
Wissenschaften heterogener und homogener Natur. Evolution ist immer auch Koevolution. Ob ein Individuum zur Fortpflanzung kommt, hängt ganz sicher nicht nur vom
Individuum ab: es braucht Luft zum Atmen, Nahrung zum Essen, Verteidigung gegen
Feinde. Freunde sind immer gut fürs Überleben. Die Lösungen, auf die die Humanethologen und die Soziobiologen verfallen sind, berücksichtigen dies ja auch; wenn sie
auch hin und wieder ein paar zentrale biologistische Dogmen verteidigen müssen; wie
Mayr etwa dieses wie politisch ausgehandelt klingende Halbe-Halbe-Prinzip.
Politische Untergrundwünsche der Biologen und unterschwellige, aber finanziell
trächtige Erwartungshaltungen an die Biologengemeinde führen zur Aufstellung konformer Beobachtungstheorien und damit herstellbarer, ‘reproduzierbarer’ Tatsachen,
klammern aber auch ganze Komplexe aus. Auch auf krummen Zeilen kann man gerade schreiben, aber niemals die ganze Wahrheit. Die blauäugige Unterschätzung des
Einflusses herrschender Ideologien auf die Humanwissenschaften verrät geringes
Selbstbewusstsein und konkrete Menschenkenntnis: die Biologen gehen davon aus, sie
könnten diesen Einfluss rational und methodisch kontrollieren. Gerade auf dem Gebiete des menschlichen Verhaltens ist dies vollkommen unmöglich und auch gar nicht
wünschenswert. Ideologien fördern, und Ideologien verhindern Erkenntnis.
(347p200-201)
(347p202)
Mayr referiert die handelsüblichen ‘Mechanismen’: reziproker Altruismus, p201
kin selection. Übertragung der Spieltheorie auf die Frage des Altruismus und des
selbstsüchtigen Verhaltens. Mayr ist nicht so auf das Individuum fixiert. Etwa das
Beispiel vom Wachtposten, welcher die Gruppe beschützt, während diese frisst:
“Wenn ein solcher Posten Warnrufe ausstößt, um die anderen Mitglieder der
Gruppe auf sich aufmerksam zu machen, setzt er sich dadurch einer erhöhten Gefahr aus; aber dieses altruistische Verhalten kommt dem Überleben und dem reproduktiven Erfolg seiner Gruppe als Ganzer zugute.”
Der Streit um die Gültigkeit von Gruppenselektion endete mit der donnernden
Erkenntnis: “Einige Gruppen unterliegen einer Gruppenselektion, andere hingegen nicht.”
Forschungsfront der nächsten zehn bis zwanzig Jahre
(347p203)
“Die vereinfachende, reduktionistische Sicht der Beziehung zwischen Genotypus,
EntwicklungundEvolutionbesagt:JedesGenwirdineineentsprechendeKomponente des Phänotypus übersetzt, und die Beiträge dieser Komponenten zur EignungdesdarausresultierendenOrganismusbestimmendenSelektionswertdieser
Gene. Diese Betrachtungsweise birgt zweifelsohne ein Körnchen Wahrheit, ist
aber eine grobe Vereinfachung der tatsächlichen Beziehungen.”
All dies erkannte man schon zu Darwins Zeit. Darwin selber sprach von den “geheimnisvollen Gesetzen der Wechselbeziehungen” und Haeckel stellte das Prin-
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(347p203-204)
Mosaikevolution
(347p205)
(347p206)
(347p206-207)
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zip der Rekapitulation auf, “wiederum eine grobe Vereinfachung”, aber mit wahrem Kern: “Die Tatsache, dass landbewohnende Wirbeltiere in ihrer Entwicklung
ein Kiemenbogenstadium durchmachen, ist ein aussagekräftiger Hinweis auf ihre
Abstammung von Wassertieren... Beide Verallgemeinerungen lenken die Aufmerksamkeit auf ganzheitliche Wechselbeziehungen. Im Gegensatz dazu vernachlässigtdieAnsichteinigerReduktionisten,dieRollederGeneseimitdemunabhängigen Beitrag eines jeden Gens zu einem besonderen Aspekt des Phänotypus erschöpfend beschrieben, die Tatsache, dass der Genotypus ein komplexes
System von Wechselwirkungen ist.”
Die Struktur des Genotypus und die Rolle der Entwicklung sei noch ein in starker
Gärung befindliches Gebiet. p204 Verschiedene Klassen von Genen spielen unterschiedliche Rollen in der Ontogenese und in der Evolution. Bestimmte Gene
scheinen in genau abgegrenzten Bereichen funktionale Einheiten zu bilden, “die
dem Genotypus eine hierarchische Struktur verleihen”. Paläoontologische Evidenz dafür sei seit Darwins und Lamarcks Zeiten die Mosaikevolution: verschiedene Merkmale und merkmalskomplexe entwickeln sich mit höchst unterschiedlicher Geschwindigkeit.
“Auf der molekularen Ebene stellte man nicht nur fest, dass verschiedene Moleküle verschiedene Evolutionsraten haben, sondern auch, dass dasselbe Molekül
seine Geschwindigkeit in verschiedenen Stadien der Evolution einer genetischen
Linie ändern kann. Jede Periode großer adaptiver Radiation ist von einer stark gesteigerten Geschwindigkeit der molekularen Evolution begleitet, auf die später
eine Verlangsamung hin zu allmählichem Wandel erfolgt. Die so genannte molekulare Uhr kann für verschiedene Moleküle sehr verschiedene Zeiten anzeigen,
und ihre Geschwindigkeit kann sich innerhalb einer phyletischen Linie ändern.”
WodurchderZusammenhaltinfunktionaleBereiche“geregeltwird,istnochweitgehend unbekannt; aber dass es ihn gibt, ist überreich dokumentiert. Die nahe zu
vollständige Integrität des Genkomplexes, der die Anzahl der Extremitäten bei
Vierfüßern, Insekten und Spinnentieren regelt, ist nur eines von buchstäblich
HundertenvonBeispielen.WährendderpräkambrischenPeriode,alsderZusammenhalt des Eukaryonten-Genotypus sehr lose war, bildeten sich gut 70 verschiedenemorphologischeTypen(Phyla)heraus.DerVerlaufderdannfolgendenEvolution zeigt eine Tendenz zu einem fortschreitenden Erstarren des Genotypus.
Damit wurde ein Abweichen von einem seit langem bestehenden morphologischen Typus immer schwieriger. Dies ist eine der wohl bekannten Einschränkungen des evolutionären Wandels und einerderGründe,weshalbnatürlicheAuslese
einen solch begrenzten Spielraum hat. Wenn wir von Erstarrung des Genotypus,
oder lieber von der fortschreitenden Erstarrung des Genotypus sprechen, verwendenwireinfachWorte,umunsereUnwissenheitzuverbergen.Dennochweistalles
darauf hin:sichausderZwangsjackeeinesinhohemMaßeintegrierten,erstarrten
Genotypus zu befreien, ist desto schwieriger, je älter ein Taxon ist. Aus diesem
Grund ist seit dem Kambrium vor über 500 Millionen Jahren kein einziger neuer
morphologischer Typus (Phylum) entstanden.
Auf den ersten Blick scheint diese Schlussfolgerung durch die adaptiven Radiationen, die in so vielen phyletischen Linien stattgefunden haben, widerlegt zu werden. Nach einem Stillstand von 100 Jahrmillionen oder länger kann es bei einem
höheren Taxon plötzlich zu einem Aufbrechen in zahlreiche neue Taxa kommen,
wie dies bei den Säugetieren im Paläozän und Eozän der Fall war. Allerdings handelt es sich dabei zum größten Teil um Adhoc-Anpassungen, die im Grunde nicht
sehr weit vom Bauplan oder strukturellen Typus der Vorfahren abwichen. So weit
ich dies beurteilen kann, gilt das gleiche p207 für die meisten anderen uns bekann-
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ten Radiationen. Zum Beispiel haben die Singvögel seit ihrer Entstehung über
5000 lebende Arten hervorgebracht, aber abgesehen von ihrem Gefieder und ihren Schnäbeln zeigen sie nur geringe Abweichungen vom Standardbauplan.”
“Evolutionäre Beschleunigung oder Verlangsamung lassen alle oder zumindest
(347p207)
die meisten Teile eines neuen, höheren Taxons erkennen. Ein allgemein bekanntes Schulbeispiel ist die Evolution der Lungenfische, die Westoll (1949) ausgearbeitethat.FastdiegesamteanatomischeUmstrukturierungindieserneuenKlasse
von Fischen fand in den frühesten Stadien im Verlauf von ungefähr 25 Jahrmillionen statt, während in den nachfolgenden 200 Millionen Jahren so gut wie keine
Veränderung eintrat. Solch ein drastischer Unterschied zwischen den Raten evolutionären Wandels bei jungen und reifen höheren Taxa ist praktisch die Regel.”
Somatische Programme
“Die traditionelle Formel, nach der Entwicklung durch den Genotypus program(347p208)
miert ist, impliziert einen viel zu direkten Weg vom Gen zum Endpunkt seines
Wirkens im Genotypus. Seit Kleinenberg (1986) wissen die Embryologen, dass
GenedieHervorbringungeinerembryonalenStrukturbewirkenkönnen,diedann
als Teil des Programms für spätere Stadien der Entwicklung dient. Nicht alle Entwicklungsprogramme sind rein genetischer Natur; es gibt auch somatische Programme. Das verdeutlicht wohl am besten das Beispiel von Programmen, die Verhalten steuern. Legt beispielsweise ein männlicher Vogel ein bestimmtes BalzgebarenandenTag,sowirddiesnichtdirektvomGenotypusprogrammiert,sondern
von einem während der Ontogenese im zentralen Nervensystem niedergelegten
sekundärenProgramm.InWirklichkeitsteuertebendiesessekundäre,somatische
Programm das Verhalten.
Die Existenz somatischer Programme hat für die Evolution des Verhaltens wahrscheinlich keine nachhaltigen Folgen. Für die morphologische Evolution kann sie
hingegenvongroßerBedeutungsein.Siekönntedazubeitragen,vieleverwirrende
Phänomene sowohl der Ontogenese als auch der Evolution zu erklären. Z.B.
könnte sie die meisten Fälle von Rekapitulation verständlich machen. Wenn eine
embryonale Struktur der Vorfahren einer Art in der Ontogenese beibehalten
wird, obwohl sie keinerlei funktionalen Wert mehr zu haben scheint, wie etwa die
Kiemenbögen der Säugerembryonen, dann ist eine solche embryonale Struktur
möglicherweise deswegen von der natürlichen Auslese beibehalten worden, weil
sie als somatisches Programm für spätere ontogenetische Stadien fungiert.”
p209
“Die Forschung wird gleichzeitig reduktionistische Ansätze (d.h. die Erforschung
(347 )
des Wirkens individueller Gene) wie holistischer (d.h. die Untersuchung von Bereichen des Genotyps und ganzer somatischer Programme) verfolgen müssen.”
“Holistisch” ist hier die große Manschkategorie, in die Mayr die allermeisten komplexen Phänomene, die wir noch gan zu gar nicht verstehen, steckt.
→Ev-32
Darwins Kerntheorien
(347p209-211)
Darwin habe in seinen fünf Kerntheorien glänzend recht bekommen:
(1) Die Tatsache der Evolution an sich sei heute ein Faktum
(2) Die gemeinsame Abstammung: glorreich bestätigt. “Alles, was wir über die Physiologie und Chemie von Organismen gelernt haben, stützt Darwins gewagte Spekulation, dass ‘alle Pflanzen und Tiere nur von einer einzigen Urform herrühren.’
(91) Die Entdeckung, p210 dass Prokaryonten den gleichen genetischen Code habenwiediehöherenOrganismen,wardieentscheidendeBestätigungvonDarwins
Hypothese.”
Das wäre die Metapher von der gemeinsamen Quelle.M.E. spricht aber auch Einiges
für die Metapher eines Quellsumpfes, einem Netzwerk von Flüssen, die zu einem
Hauptstrom zusammenflossen, und die anderen irgendwann von der Entwicklung ab-
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schnitten, so dass sie ausstarben. Die gemeinsamen Urzelle ist eher eine naturphilosophische Spekulation, einm Mythos, und gehört auf die spirituelle Ebene, weniger auf
die materielle.
(3) DieTheorievonderEntwicklungderVielfaltseiauchnochimRennen:“DieKontroverse über das Thema Artbildung ist heute noch lebendig, aber unbestritten ist
die grundlegende Theorie, das Arten sich sowohl vervielfachen als auch entwickeln.”
(4) Der “Gradualismus hat schließlich und endlich triumphiert und ergibt umso mehr
Sinn, je deutlicher wir erkennen, dass Evolution ein auf Veränderung von Populationen beruhender Prozess ist. Die einzigen erkennbaren Ausnahmen sind das gelegentliche Auftreten sexueller Fortpflanzung[hein?] und bestimmte Änderungen in Chromosomenverhältnissen, etwa Polyploidie. Diese Prozesse haben jedoch keinerlei makroevolutionäre Folgen gehabt, die sich von der Populationsevolution unterschieden. Alle anderen Formen der Artbildung beziehen sich auf
Populationen, selbst in der Theorie der unterbrochenen Gleichgewichte.
(5) Natürliche Auslese: “Der größte Triumph des Darwinismus ... nach 1859 80 Jahre
lang die Auffassung einer Minderheit ... jetzt die vorherrschende Erklärung für
evolutionären Wandel. Erlangt hat sie diese Stellung sowohl auf Grund unwiderlegbarer Beweise, als auch wegen des p211 Bankrotts der Opposition. Alle ihr widersprechenden Theorien erwiesen sich als unzutreffend. Darwin hatte es als
selbstverständlich erachtet, dass jederzeit ein nahe zu unerschöpflicher Bestand
an Verschiedenartigkeit zur Verfügung steht und Rohmaterial für die natürliche
Ausleseliefert.ErhattekeineAhnungvonderQuelledieserVariationundvertrat
mehreregenetischeTheorien–weicheVererbung,Pangenese,Mischvererbung–,
die seitdem widerlegt worden sind. In der Tat stärken Fortschritte in der Genetik
auch weiterhin die Theorie der natürlichen Auslese eher, als dass sie sie schwächen. Bei der begrifflichen Fassung der Selektionstheorie erwies sich Darwin als
bemerkenswert scharfsinnig. Er sah sehr klar (besser als A.R. Wallace und die
meisten anderen seiner Zeitgenossen), dass es zwei Arten von Auslese gibt: eine
für allgemeine Tauglichkeit, die zum Überleben und zur Aufrechterhaltung oder
Verbesserung von Angepasstheit beiträgt; diese bezeichnete er als ‘natürliche
Auslese’. DieandereführtzugrößeremFortpflanzungserfolg,unddiesenannteer
‘sexuelle Auslese’.”
”Darwin hat nie gesagt: ‘Selektion kann alles’. Auch wir sagen dies nicht.”
(347p211)
Schlussabschnitt
“130 Jahre erfolgloser Widerlegungen endeten mit einer ungeheuren Stärkung
des Darwinismus. Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Evolutionsbiologie
beziehen sich auf spezielle Fragen, wie das Auftreten sympatrischer Speziation,
die Existenz zusammenhängender Bereiche des Genotypus, die relative Häufigkeit vollständigen Stillstands der Arten, die Artbildungsrate, die Bedeutung neutraler Allele-Ersetzung, und was sonst innerhalb des Systems des Darwinismus
abläuft. Die grundlegenden darwinistischen Prinzipien gelten heute unangefochtener denn je.”
Teilhard “Der Mensch im Kosmos”
Zur Rezeption
Teilhards Ideen über Evolution unterliegen offensichtlich einer Rezeptionsneurose. Monods Anwürfe wg. Animismus sind lachhaft, Zeugnis einer Fehlinterpretation, die man böswillig nennen müsste, wenn sie nicht eher kindisch wäre. Und
wieso meint Tipler, Teilhard dürfe nicht Wissenschaftlichkeit reklamieren? Teilhard darf das, denn er bleibt streng wissenschaftlich und durchaus originell!
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Makroevolution
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Die Makroevolution ist Tatsache und kaum ernsthaft zu bestreiten. Nur wer die
Illusion festhält, die Makroevolution müsse bereits verstanden sein, und darum
einen palmströmsch deduzierten Gradualismus im Ideologierucksack herumschleppen muss, gerät in schiefe Beweislage, und die nicht Eingeschworenen bezweifeln am Ende die schiere Existenz der “Entwicklung der Arten”: Wasser auf
der kreationistischen Mühle. Teilhards Argumentation für die Evidenz der Makroevolution ist einleuchtender als die der Neodarwinisten, weil mit weniger einschränkenden Apriori-Annahmen belastet. Er kann es sich leisten, all die Tatsachen gradwegs anzusprechen, um die die Gradualisten regelrecht herumeiern:
Unterdrückung der Entwicklungsansätze
(495p117)
“SeitdenheroischenZeitenLamarcksundDarwinswardiebevorzugteTaktik,die
(495
p118)
man stets gegen die Transformisten anwandte, dass man sie an die Unmöglichkeit
erinnerte, die Entstehung einer Art auf Grund materieller Spuren zu beweisen. ‘Gewiss’, sagte man ihnen, ‘zeigt ihr uns in der Vergangenheit die Aufeinanderfolge
verschiedener Formen – und sogar, wir wollen es zugeben, in gewissen Grenzen
die Umwandlung dieser Formen. Doch euer erstes Säugetier, sei es auch noch so
primitiv, ist bereits ein Säugetier, euer erster Equide ist bereits ein Pferd, und so
weiter. Daher gibt es vielleicht eine Evolution innerhalb des Typus. Aber es gibt
keinErscheinendesTypusaufGrundeinerEvolution.’Sosprechendieimmerselteneren Vertreter der fixistischen Lehre auch heute noch.
[Wir können schon] die Voraussetzung der Anti-Transformisten ... verneinen. Im
Grundeverlangendiese,manmögeihnendochden‘Ansatz’einesPhylumszeigen.
Eine solche Forderung ist nun aber ebenso unvernünftig wie unnütz. ...
Nichts ist von Natur so zart und flüchtig wie ein Beginn. Solange eine zoologische
Gruppe jung ist, bleiben ihre Merkmale unbestimmt. Ihr Bau ist noch nicht fest.
Ihre Ausmaße sind schwach. Sie besteht aus verhältnismäßig wenigen Individuen,
die überdies rasch wechseln. Sowohl im Raum als auch in der Dauer hat der
[Spross] eines lebenden Zweiges ein Minimum von Differenzierung, Ausdehnung
und Widerstand. [Die Zeit] wird unvermeidlich Spuren [dieser schwachen Zone]
zerstören.
Ärgerliche, aber wesentliche Gebrechlichkeit allen Ursprungs! Alle, die sich mit
Geschichte befassen, sollten vom Gefühl dafür durchdrungen sein.
Auf keinem Gebiet unterscheiden wir das wirklich Neue, das um uns zu keimen
beginnt, – einfach deshalb, weil wir schon seine künftige Entfaltung kennen müssten, um es in seinen Anfängen zu bemerken. Ist es aber einmal groß geworden und
blicken wir zurück, um seinen Keim und seine ersten Ansätze wiederzufinden,
dannverbergensichgeradedieseerstenStadien,weilsiederZerstörungoderVergangenheit anheimfielen. Wo sind, wiewohl uns so nahe, die ersten Griechen und
Lateiner? Wo sind die ersten Weberschiffchen, die ersten Wagen, die ersten Herde? Wo (schon jetzt) die ersten Modelle der Automobile, der Flugzeuge, der Kinos? – In der Biologie, in der Kulturgeschichte, in der Sprachforschung, überall:
[die Zeit] wischt ... jede feine Linie in den Zeichnungen des Lebens aus. ... ...
Soistesnichterstaunlich,dassesunsinderRückschauscheint,dieDingetauchten
völlig fertig auf. [Fußnote:] Wenn unsere Apparate (Autos, Flugzeuge usw.) durch
irgendein Kataklysma verschüttet und ‘fossiliert’ würden, so hätten bei der Entdeckung die künftigen Geologen denselben Eindruck wie wir bei einem Pterodactylus: nur durch ihre letzten Marken vertreten, würden ihnen diese Produkte unserer Erfindungskraft ohne evolutive Tastphase geschaffen scheinen, – wie auf
einen Schlag vollendet und festgelegt.”
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Zwei Beispiele für konvergente Evolution bei Säugetieren
Biot (495
p120)
(495p123)
(495p124)
“Entwicklungsgeschichtlich (man könnte sogar sagen ‘physiologisch‘) betrachtet,
bilden die placentalen Säugetiere, als Gesamtheit genommen, das, was ich hier
übereinkunftsgemäß einen Biot nennen möchte. Darunter verstehe ich eine büschelförmige Gruppenbildung, deren Glieder nicht nur von Geburt aus verwandt
sind, sondern sich überdies im Kampf um die Fortpflanzung und Verbreitung des
Lebens wechselseitig unterstützen und ergänzen.”
“WährenddesTertiärs,solehrtdieGeologie,fandsicheinFragmentdesplacentalen Biots, der damals in voller Entwicklung war, durch das Meer abgetrennt und in
der südlichen Hälfte des amerikanischen Festlandes gefangen. Wie reagierte dieser Steckling auf seine Isolierung? genau wie eine Pflanze, – das heißt, indem er in
kleinerem Maßstab das Bild des Stammes, von dem er sich getrennt hat, wiedergab. Er hat seine Pseudo-Rüsseltiere, seine Pseudo-Nager, seine Pseudo-Pferde,
seine Pseudo-Affen ... hervorsprießen lassen. Ein ganzer Biot in Verkleinerung
(ein Unter-Biot) innerhalb des ersten!
Und nun das zweite Beispiel: Es wird uns von den Marsupialiern (Beuteltieren)
geliefert.
Urteilt man nach der relativ primitiven Weise ihrer Fortpflanzung und auch nach
ihrer gegenwärtigen geografischen Verteilung, ..., so stellen die Marsupialier
(oder Aplacentalier) ein Stockwerk für sich auf der Basis der Säugetiere dar. Sie
sind vermutlich früher als die Placentalier zur Entfaltung gelangt und haben vor
diesenihreneigenenBiotgeformt.ImallgemeinenistdiesermarsupialeBiotspurlos verschwunden ...
Einer seiner Unterbiote hingegen, der gleichfalls durch Isolierung noch vor dem
TertiärinAustralienentwickeltwurdeundzufälligerhaltenblieb,setztnochheute
wegen der Klarheit seiner Umrisse und seiner Vollkommenheit die Naturforscher
in Erstaunen. Als Australien von den Europäern entdeckt wurde, war es bekanntlich nur von Marsupialiern bewohnt, aber von Marsupialiern jeder Größe, jeder
Wohnweise, jeder Gestalt: pflanzenfressende und laufende Marsupialier, fleischfressende Marsupialier, insektenfressende Marsupialier, Marsupialier-Ratten,
Marsupialier-Maulwürfe usw. Man könnte sich die jedem Phylum innewohnende
Kraft, sich zu einer Art von geschlossenem, physiologisch vollständigem Organismus zu entwickeln, kein packenderes Beispiel vorstellen.”
Stephen J. Gould: Der Daumen des Panda
(195p20-21)
(195p24-25)
“Unsere Lehrbücher veranschaulichen die Evolution gern an Beispielen optimaler Formgebungen und Gestaltungen, etwa an der vollkommenen Mimikry eines
Schmetterlings an ein welkes Blatt, oder genießbarer Arten an ihre giftigen Verwandten. Aber eine ideale Formgebung und Gestaltung ist ein schlechtes Argument p21 für die Evolution, denn es äfft nur die vorausgesetzten Handlungen eines
allmächtigen Schöpfers nach. Sonderbare Anordnungen und komische Lösungen
sind der Beweis für die Evolution, also Wege, welcher ein vernünftiger Gott niemals eingeschlagen hätte, denen aber natürliche Prozesse unter dem Zwang der
Entwicklungsgeschichtenotgedrungenfolgen.Niemandhatdasbesserverstanden
als Darwin. Ernst Mayr hat gezeigt, wie Darwin sich zur Verteidigung der Evolution folgerichtig den organischen Teilen und geografischen Verteilungen zuwandte, welche am Wenigsten sinnvoll erschienen, und das führt mich auf den
großen Panda und seinen Daumen.”
“Der Daumen des Panda bietet ein elegantes zoologisches Gegenstück zu Darwins Orchideen. Die beste Lösung eines Ingenieurs wird von der Geschichte verhindert. Der ursprüngliche Daumen des Panda wird auf eine andere Rolle verpflichtet. Er ist zu sehr auf eine andere Funktion spezialisiert, als dass er ein
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brauchbarer Finger mit Gegengriff werden könnte. Der Panda muss sich also der
vorhandenen Teile bedienen, sich mit einem vergrößerten Handwurzelknochen
undeineretwasungeschickten,aberrechtarbeitsfähigenLösungzufriedengeben.
Der Sesambeindaumen gewinnt keinen Preis in einem Ingenieurswettbewerb; er
ist ... eine eher komplizierte oder komische, aber keine wunderschöne Erfindung.
Doch er leistet seine Dienste p25 und erregt unsere Fantasie umso mehr, weil er auf
so unwahrscheinlichen Voraussetzungen beruht.”
“Die Natur ist nach einem Wort des Biologen Francois Jacob ein ausgezeichneter
(195p27)
Bastler,aberkeingöttlicherHandwerker.Dochwerwolltezwischendiesenbeiden
Fertigkeiten entscheiden?”
Sinnlose Zeichen der Geschichte
“Wenn Organismen eine Geschichte haben, so argumentierte Darwin, dann
(195p30)
müssen von früheren Entwicklungsstufen Überreste erhalten bleiben. Solche
Überreste der Vergangenheit, die nach gegenwärtigen Begriffen sinnlos erscheinen, das Nutzlose, Merkwürdige, Eigenartige, Ungereimte sind die Zeichen der
Geschichte. Sie liefern den Beweis, dass die Welt nicht in ihrer gegenwärtigen
Form erschaffen worden ist. Wenn die Geschichte etwas vervollkommnet, verwischt sie ihre eigenen Spuren.”
“Kein Beweise für die Evolution gefiel Darwin besser als das Vorhandensein von
rudimentären oder verkümmerten Strukturen, also von ‘Teilen in einem merkwürdigen Zustand, die den Stempel der Unbrauchbarkeit tragen’, wie er schrieb.”
Die natürliche Selektion und das menschliche Gehirn: Darwin vs. Wallace
“Historisch gilt Wallace allgemein als Darwins Schatten.”
(195p50)
“Alle scharfsinnigen Ideen können trivialisiert, ja sogar vulgarisiert werden, wenn
(195p51)
man sie in starren und absoluten Begriffen darstellt... Darwin sah noch zu seinen
Lebzeiten, dass sein Name für extreme Ansichten reklamiert wurde, welche er
niemals vertreten hatte. Denn sowohl damals wie heute wurde der ‘Darwinismus’
häufig als jener Glaube definiert, demzufolge buchstäblich jede evolutionäre
Veränderung das Produkt der natürlichen Selektion ist. Darwin hat sich in der Tat
oft mit einer für ihn gan zu gar nicht charakteristischen Bitterkeit über diese Usurpation seines Namens beklagt.”
p52
Gould verweist auf Darwins Klage in (91p555) →Ev-23, wo Darwins sich vom Dar(195 )
winismus distanziert und fährt fort: “In England gab es jedoch eine kleine Gruppe
von rigiden Selektionisten von ‘Darwinianern’ in einem falsch verstandenen Sinn,
und Alfred Russell Wallace war ihr Anführer. Diese Biologen schrieben jeden
evolutionären Wandel der natürlichen Selektion zu. Sie betrachteten jedes Stück
der Morphologie, jede Funktion eines Organs, jedes Verhalten als eine Anpassung, ein Produkt der Selektion, welche zu einem ‘besseren’ Organismus geführt
hatte.Siewarenzutiefstvonder‘Richtigkeit’derNaturüberzeugtundglaubtenan
die vorzügliche Anpassung aller Lebewesen an ihre Umwelt. Seltsamerweise führten sie fast wieder die Vorstellung einer natürlichen Harmonie ein, die dem Schöpfungsglauben zu Grunde gelegen hatte, indem sie an die Stelle einer gütigen
Gottheit die allgewaltige Kraft der natürlichen Selektion setzten. Darwin dagegen
war durch und durch ein Anhänger des Pluralismus und staunte über ein sehr viel
weniger geordnetes Universum. Er sah sehr viel Übereinstimmung und Harmonie, denn er glaubte, dass die natürliche Selektion unter den evolutionären
Kräften eine Sonderstellung einnahm; doch er sah ebenso auch das Wirken anderer Vorgänge. Denn Organismen weisen eine Menge Kennzeichen auf, welche
keineAnpassungendarstellenundnichtdirektdasÜberlebenfördern.Darwinbetonte zwei Prinzipien,die zu einem nicht an einer Anpassung orientierten Wandel
führen. Erstens: Organismen sind zu einem Ganzen zusammengeschlossene Sys-
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teme,undeineanpassungsorientierteVeränderunganeinemTeilkannzuModifizierungen anderer Züge führen, die nicht an einer Anpassung orientiert sind ( zu
‘Wachstumskorrelationen’, wie Darwin dies nennt). Zweitens: ein Organ, das unter dem Einfluss der Selektion für eine besondere Rolle ausgebildet wird, kann
aufgrund seiner Struktur in der Lage sein, zahlreichen anderen, nicht selektiv erworbenen Funktionen zu dienen.”
“Alles, was scheinbar unnütz ist, so argumentierte [Wallace], zeigt nur unseren
fehlerhaften Erkenntnisstand. Dies ist ein bemerkenswertes Argument, da es das
Prinzip der Nützlichkeit von vornherein jeder Widerlegung entzieht. ‘Angesichts
irgendeines Organs kann die Behauptung, es sei *unnütz*, niemals eine Tatsachenfeststellung, sondern lediglich Ausdruck unserer Unkenntnis im Hinblick
auf seinen Zweck oder Ursprung sein.’”
Wallace, der die Selektion bis zur Übertreibung verteidigte und Darwin Vorwürfe
wegendessenmangelnderBereitschaftmachte,dasWirkendernatürlichenSelektion in jedem Detail organischer Lebewesen zu sehen, machte abrupt vor dem
menschlichen Gehirn halt. Unser Intellekt und unsere Sittlichkeit, so argumentierte Wallace, können nicht Produkt der natürlichen Selektion sein. Da nun aber
die natürliche Selektion der einzige Weg der Evolution ist, muss irgendeine höhere Macht – direkt gesagt: Gott – eingegriffen haben, um diese jüngste und bedeutendste der organischen Neuerungen zu gestalten.
Wenn Darwin betrübt darüber gewesen war, dass es ihm nicht gelungen war, Wallace von seiner Theorie der sexuellen Selektion zu überzeugen, so war er nun vollkommen entsetzt, dass Wallace im Begriff war, unmittelbar vor dem Ziel eine
abrupte Kehrtwendung zu machen.”
“Wallace gab die natürliche Selektion nicht an der Schwelle zum Menschen auf.
VielmehrführteseineeigenartigrigideAuffassungvonihrganzfolgerichtigdahin,
sie für den menschlichen Geist zurückzuweisen... Der Irrtum von Wallace in Bezug auf den menschlichen Geist entstand aus der Unangemessenheit seines rigiden Selektionismus und nicht aus einem Unvermögen, sich seiner zu bedienen. Es
lohnt sich auch heute noch, seine These zu untersuchen, da deren Fehler sich noch
als Schwachstellen in vielen der ‘modernsten’ Evolutionstheorien unserer gängigen Literatur erhalten haben. Sehr viel näher als Darwins Pluralismus steht der rigideSelektionismusvonWallacejenerGeisteshaltung,dieinderheuteherrschenden Lehre [des ‘Neo-Darwinismus’] verkörpert ist.”
Ursprung der Selektionstheorie
(195p66)
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Zitat aus Darwins Autobiographie, wo er angibt, die zum Vergnügen betriebene
Malthus-Lektüre habe ihn auf die Idee der natürlichen Selektion gebracht. Dies
sei zumindest stark stilisiert. Neuere Darwin-Forschungen ergeben ein anderes
Bild:
“SilvanS.Schweberhat,soweitdieQuellendieszulassen,DarwinsLebenwährend
der wenigen Wochen vor Lektüre der Schrift von Malthus im Detail rekonstruiert
(‘The origin of the origin revisited’, Journal of the History of Biology1977).ErvertrittdieAuffassung,dasssichdieletztenStückederTheorienichtausneuenTatsachen der Naturgeschichte entwickelten, sondern aus Darwins intellektuellen
Streifzügen durch entlegene Gebiete. Darwin las insbesondere eine lange Rezension des berühmtesten Werkes des Sozialwissenschaftlers und Philosophen Auguste Comte, ‘Cours de philosophie positive’. Beeindruckt war er vor allem durch
Comtes nachdrücklichen Hinweis, dass eine angemessene Theorie Vorhersagen
treffen und zumindest potenziell quantifizierbar sein müsse. Er wandte sich dann
Dugald Stewarts ‘On the life and writings of Adam Smith’ zu und machte sich die
Grundüberzeugung der schottischen Nationalökonomen zu eigen, dass Theorien
einer gesamtgesellschaftlichen Struktur bei einer Untersuchung der spontanen
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(195p69)
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Handlungen von Individuen ansetzen müsse. (Die Theorie der natürlichen Selektion hat vor allen den Kampf individueller Organismen um eine erfolgreiche Reproduktion zum Gegenstand.) Danach las Darwin auf der Suche nach einer Quantifizierung eine längere Analyse der Arbeiten des berühmtesten Statistikers seiner
Zeit, des Belgiers Adolphe Quetelet. In ihr fand er unter anderem eine eindrucksvolle Bestätigung der quantitativen These von Malthus, dass die Bevölkerung geometrisch, die Nahrungsmittelversorgung aber nur arithmetisch wachsen werde,
dass es somit unausweichlich zu einem verschärften Existenzkampf kommen werde. Tatsächlich hatte Darwin die Ausführungen von Malthus bereits vorher mehrmals gelesen. Erst jetzt aber war er bereit, sie in ihrer Bedeutung richtig einzuschätzen. Er geriet also nicht zufällig an Malthus, sondern er wusste bereits, was
dessen Schrift enthielt. Sein ‘Vergnügen’ bestand also, wie wir annehmen müssen,
darin, dass er eine ihm vertraute These, die ihn in Quetelets Darstellung so sehr
beeindruckt hatte, in ihrer ursprünglichen Form lesen wollte.
Bei der Lektüre der Darstellung, die Schweber von der Zeit unmittelbar vor Darwins Formulierung der natürlichen Selektion gibt, war ich besonders davon beeindruckt, dass kein entscheidender Einfluss auf Darwin von dessen eigenem Gebiet,
der Biologie, ausging. Ausgelöst wurde seine Theorie durch einen Sozialwissenschaftler, einen Ökonomen und einen Statistiker...
Ichmeine,dassdieTheoriedernatürlichenSelektiontatsächlichalseineAnalogie
zu der Ökonomie des Laissez-faire von Adam Smith aufgefasst werden sollte.”
Lamarck war kein Lamarckist
(195p80)

Ev-75
“Lamarck vertrat die Ansicht, dass das Leben unablässig und spontan in sehr einfacher Form erzeugt wird. Nach seiner Auffassung steigt es dann eine Leiter der
Komplexität empor und wird dabei durch eine Kraft motiviert, ‘die unablässig der
Tendenzfolgt,seineOrganisationkomplexerzugestalten.’DieseKraftwirddurch
die kreative Kraft von Organismen auf ‘wahrgenommene Bedürfnisse’ wirksam.
Doch das Leben kann nicht wie eine Leiter organisiert sein, weil der Weg nach
oben häufig durch die Anforderungen einer lokalen Umgebung versperrt ist. So
entwickeln Giraffen ihre langen Hälse, und Wattvögel Schwimmhäute an den
Füßen, während Maulwürfe und in Höhlen lebende Fische ihre Augen verlieren.
Eine Vererbung erworbener Eigenschaften spielt dabei eine bedeutende, aber
nicht zentrale Rolle. Sie ist der Mechanismus, durch den sichergestellt wird, dass
die Nachkommen von den Anstrengungen ihrer Eltern profitieren; doch sie bringt
die Evolution auf der Stufenleiter nicht voran.
Imspäten19.JahrhundertsuchtenvieleEvolutionstheoretikereineAlternativezu
Darwins Theorie der natürlichen Selektion. Sie lasen erneut Lamarck, verwarfen
den wahren Inhalt seiner Theorie (die fortgesetzte Zeugung und die auf Komplexität dringenden Kräfte) und erhoben einen Aspekt seiner Lehre, die Vererbung
erworbener Eigenschaften, zu jener zentralen Bedeutung, die sie für Lamarck selber niemals gehabt hatte. Darüber hinaus gaben viele dieser selbsternannten
‘Neo-Lamarckisten’ Lamarcks Hauptidee auf, dass die Evolution eine aktive,
schöpferische Reaktion von Organismen auf ihre wahrgenommenen Bedürfnisse
ist.SiehieltenanderVererbungerworbenerEigenschaftenfest,betrachtetenaber
Veränderungen als direkte Beeinflussung passiver Organismen durch eine prägende Umwelt.”
“Als Lyssenko Jahre nach 1930 dafür einzutreten begann, die Missstände der sowjetischen Landwirtschaft nach den Vorstellungen des Lamarckismus zu kurieren,
da ließ er nicht irgendeinen Unsinn des frühen 19. Jahrhunderts wiederaufleben,
sondern eine immer noch angesehene, wenn auch rasch verblassende Theorie...
Bei Lyssenkos Auseinandersetzungen mit den Anhängern Mendels in Russland
handelteessichzuBeginnwirklichumeinewissenschaftlicheDebatte.Tragischist
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freilich, dass er sie späterhin mit Betrug, Irreführung, Manipulation und Mord
fortsetzte.”
Zentrales Dogma der Molekularbiologie
(195p83)
(195p84)
Kulturelle Evolution
(195p87)
“Ein ‘reverse Transskriptase’ genanntes Enzym kann das Lesen von Information
ausderzellulärenRNSzurückinKern-DNSbewerkstelligen.DiealteVorstellung
eines einzigen, irreversiblen Informationsflusses nuklearer DNS über die Vermittlung der RNS zu den Proteinen, aus denen sich der Körper aufbaut, stimmt
nicht in allen Fällen, obwohl Watson selbst sie einmal das ‘zentrale Dogma der
Molekularbiologie’ postuliert hat: DNS wird zu RNS wird zu Proteinen.”
“In einem klassischen Beispiel aus jüngster Zeit lernten verschiedene Arten von
Meisen, ihre Schnäbel in englische Milchflaschen zu stecken, um den Rahm am
oberenDeckelrandzutrinken.Mankannsichnunsehrwohleinedaraufhineinsetzende Evolution der Schnabelform vorstellen, um die Dieberei zu erleichtern...
Die Meisen, die gelernt haben, mit ihren Schnäbeln in Milchflaschen einzudringen, haben einen neuen Selektionsdruck geschaffen, indem sie ihre Umwelt verändert haben. Anders geformte Schnäbel werden nun durch die natürliche Selektion begünstigt; doch die neue Umwelt veranlasst die Meisen nicht, eine genetische Variation in Richtung auf diese günstigere Schnabelform hervorzubringen;
ebendies und nur dies aber wäre lamarckistisch.”
“Ich vermute, dass ein durchschnittlicher Cro-Magnon-Mensch bei entsprechender Ausbildung ebensogut wie wir einen Computer hätte bedienen können (denn
die Cro-Magnon-Menschen besaßen in der Tat ein geringfügig größeres Gehirn
als wir). Alles, was wir – ob nun zum Guten oder zum Schlechten – seither erreicht
haben, ist das Resultat der kulturellen Evolution. Und wir haben es mit einer Geschwindigkeit erreicht, die von ihrer Größenordnung her in der gesamten bisherigen Geschichte des Lebens nicht ihresgleichen gehabt hat... Von vielleicht hunderttausend Leuten mit Beilen zu mehr als vier Milliarden mit Bomben, Raketenschiffen, Großstädten, Fernsehern und Computern – und dies alles ohne irgendeine substanzielle genetische Veränderung.
Die kulturelle Evolution ist mit einer Geschwindigkeit vorangeschritten, welche
darwinistische Evolutionsabläufe nicht annähernd erreichen. Die darwinistische
Evolution setzt sich zwar beim homo sapiens fort, aber mit einer so langsamen Geschwindigkeit, dass sie auf unsere Geschichte keinen großen Einfluss mehr hat.
Dieser entscheidende Punkt in der Erdgeschichte wurde letztlich erreicht, weil die
lamarckistischen Evolutionsprozesse in ihr freigesetzt worden sind. Die kulturelle
Evolution der Menschheit ist (in genauem Gegensatz zu unserer biologischen Geschichte) ihrem Wesen nach lamarckistisch. Was wir in einer Generation lernen,
geben wir direkt in Lehre und Schrift weiter. Erworbene Eigenschaften werden in
Kultur und Technik vererbt. Die lamarckistische Evolution verläuft schnell und
kumulativ. Sie erklärt den grundlegenden Unterschied zwischen unserer vergangenen, rein biologischen Veränderung und der gegenwärtigen, verrückten Geschwindigkeit, mit der wir uns auf etwas Neues und Befreiendes zubewegen – oder
auf den Abgrund.”
An welchen Einheiten greift die Selektion an?
(195p94)
Bei Gruppen? Bei Sippen und Individuen (Darwin)? Oder bei den Genen, wie
Dawkins (99) meint?
“Ganz gleich, wieviel Macht Dawkins den Genen zusprechen möchte, eins kann er
ihnen nicht geben, nämlich die direkte Sichtbarkeit im Prozess der natürlichen Selektion. Die Selektion kann die Gene einfach nicht sehen und direkt zwischen ihnen eine Auswahl treffen. Sie muss Körper als Zwischenformen verwenden. Ein
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(195p94-95)
Reduktionismus
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Gen ist ein Stück DNS, das in einer Zelle verborgen ist. Die Selektion aber betrachtetundbeurteiltKörper.Siebegünstigteinigevonihnen,weilsiestärker,besser isoliert, früher geschlechtsreif, kampfeswütiger oder schöner anzuschauen
sind [ – sie wirkt auf den Phänotyp, nicht den Genotyp].
Wenn die Selektion bei der Bevorzugung eines stärkeren Körpers direkt auf ein
für Körperstärke einwirkendes Gen einwirken würde, dann ließe sich die Theorie
von Dawkins rechtfertigen. Wenn Körper unzweideutige Lagepläne ihrer Gene
wären, dann könnten die miteinander kämpfenden Teile der Natur nach außen
hin Flagge zeigen, und die Selektion könnte direkt auf sie einwirken. Aber Körper
sind so nicht aufgebaut.
Es gibt kein Gen ‘für’ so unzweideutige Teile der Morphologie wie die linke Kniescheibe oder der Fingernagel. Körper können nicht in Teile atomisiert werden,
von denen je einer durch ein einzelnes Gen aufgebaut wird. Hunderte von Genen
tragen zum Aufbauder meisten Körperteile bei, und ihr Vorgehen wird durch eine
kaleidoskopartige Serie von Umwelteinflüssen kanalisiert. Durch embryonale p95
und postnatale, innere und äußere Einflüsse. Körperteile sind nicht einfach übertragene Gene, und die Selektion richtet sich nicht einmal direkt auf bestimmte
Körperteile. Sie akzeptiert oder verwirft ganze Organismen, weil eine bestimmte
AusstattungeinigerKörperteile,welcheaufkomplexeArtaufeinandereinwirken,
bestimmte Vorteile mit sich bringt. Das Bild einzelner Gene, die den Ablauf ihres
eigenenÜberlebensplanen,hatwenigzutunmitderEntwicklungsgenetik,wiewir
sieverstehen.DawkinswirdsichandererMetaphernbedienenmüssen.Erwirddarauf zurückkommen müssen, dass Gene sich versammeln, Bündnisse schließen,
einander Achtung zollen, einem Pakt beitreten, und eine mögliche Umwelt auskundschaften. Doch wenn so viele Gene miteinander vereint und zu hierarchischen Handlungsketten, die durch die Umwelt vermittelt sind, aufeinander bezogen sind, dann bezeichnen wir das sich daraus ergebende Objekt als einen Körper.”
“Ich meine..., dass die Faszination, die von Dawkins Theorie ausgeht, auf einige
schlechte Angewohnheiten des wissenschaftlichen Denkens des Westens zurückgeht. Auf Einstellungen (man verzeihe mir den Jargon), die wir als Atomismus,
Reduktionismus und Determinismus bezeichnen, also auf die Vorstellung, dass
Ganzheiten verstanden werden sollten, indem sie in ihre ‘grundlegenden Einheiten’ zerlegt werden; dass Eigenschaften mikroskopischer Einheiten das Verhalten
makroskopischerErgebnissehervorrufenunderklärenkönnen,dassalleEreignisse und Gegenstände bestimmte, vorhersagbare, determinierte Ursachen haben.
Diese p96 Vorstellungen haben sich bei unserer Untersuchung einfacher Objekte,
die aus wenigen Teilen zusammengesetzt und von ihrer Vorgeschichte nicht beeinflusst sind, als erfolgreich erwiesen.”
Die ideologische Natur übertriebener Stetigkeitsvorstellungen der Evolution
(195p187)
“Am...TagvorderVeröffentlichungseinesrevolutionärenBucheserhieltCharles
Darwin einen außergewöhnlichen Brief von seinem Freund Thomas Henry Huxley. Der bot ihm in dem bevorstehenden Konflikt seine Unterstützung ... an. Huxlex ...: ‘Ich wetze meinen Klauen und meinen Schnabel und bin auf Alles vorbereitet.’ Aber der Brief enthielt auch eine Warnung. ‘Sie haben sich eine unnötige
Schwierigkeit aufgehalst, indem sie den Satz natura non facit saltum so vorbehaltlos übernommen haben.’”
Huxlex war der Ansicht, Darwin grabe seiner eigenen Theorie das Grab. Die na(195p187-188)
türliche Selektion setzte keine Aussagen über die Geschwindigkeit voraus. Sie
konnte Wirkung ebensogut entfalten, wenn die Evolution sich rasch vollzog. Der
Weg, den Darwins Theorie vor sich hatte, war steinig genug. Warum also sollte
(195p95-96)
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(195p188-189)
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man der Theorie der natürlichen Selektion eine Annahme aufbürden, die sowohl
unnötig, wie wahrscheinlich auch falsch war? Fossilfunde gaben keinen Hinweis
auf einen allmählichen, stufen- und schrittweisen p188 Wandel. Ganze Faunen waren in beänstigend kurzen Zeiträumen gelichtet worden. Neue Arten traten in den
Fossilfunden beinahe stets plötzlich und ohne Verbindungsglieder zu Vorläufern
im älteren Gestein derselben Region auf. Die Evolution, so glaubte Huxley, konnte so rasch vor sich gehen, dass die langsamen und unregelmäßigen Vorgänge der
Sedimentation sie nur selten in flagranti ertappten.
Der Konflikt zwischen Anhängern eines raschen und eines allmählichen Wandels
war in geologischen Kreisen während der wissenschaftlichen Lehrjahre Darwins
besonders intensiv ausgetragen worden. Ich weiß nicht, was Darwin veranlasste,
Lyell und den Befürwortern allmählicher Veränderungen so genau zu folgen.
Doch einer Sache bin ich mir sicher: die Entscheidung für die eine oder andere
Auffassung hatte nichts mit der überlegenen Verarbeitung empirischer Informationen zu tun. Zu dieser Frage sprach (und spricht) die Natur mit mannigfaltigen
und gedämpften Stimmen. Kulturelle und methodologische Vorlieben beeinflusstenjedeEntscheidungebensowiedieBeschränktheitdesvorliegendenMaterials.
BeiFragen,dievonsogrundlegenderBedeutungsindwieeineallgemeineTheorie
der Veränderungen, arbeiten Wissenschaft und Gesellschaft gewöhnlich Hand in
Hand. Die statischen Systeme der europäischen Monarchien wurden von ganzen
Heerscharen von Gelehrten als Verkörperung des Naturrechts angesehen...
Als die Monarchien gestürzt waren und das 18. Jahrhundert in einem Zeitalter der
Revolution endete, begannen die Wissenschaftler, Veränderungen als normalen
Teil eineruniversalenOrdnungundnichtalsVerirrungenoderAusnahmenzubetrachten. Die Gelehrten übertrugen das liberale Programm einer langsamen und
geordneten Entwicklung, dass sie für die soziale Transformation der menschlichen Gesellschaft vertraten, auf die Natur. Vielen Wissenschaftlern erschienen
Naturkatastrophen als ebenso bedrohlich wie die Schreckensherrschaft, die ihr
großer Kollege Lavoisier zum Opfer gefallen war.
Aber die geologischen Funde schienen ebensoviele Beweise für katastrophenartige wie für allmähliche Veränderungen beizubringen. p189 Um also die Theorie von
einer allmählichen Veränderung und deren universaler Geschwindigkeit zu verteidigen, musste sich Darwin einer für Lyell im besonderen Maße typischen Methode der Argumentation bedienen. Was buchstäblich vor aller Augen lag und
dem gesunden Menschenverstand erkennbar war, musste er zugunsten einer ‘dahinterliegenden Wirklichkeit’ zurückweisen. (Entgegen einem verbreitetem Mythos waren Darwin und Lyell nicht jene Helden der reinen Wissenschaft, welche
die Objektivität gegen theologische Fantasien solcher Anhänger der Katastrophenlehre wie Cuvier und Buckland verteidigten. Die Anhänger der Katastrophenlehre waren dabei der Wissenschaft ebensosehr verpflichtet wie die Befürworter allmählicher Veränderungen. Tatsächlich vertraten sie die ‘objektivere’
Auffassung: Man solle glauben, was man sieht, und nicht in die wörtliche Geschichte rascher Veränderungen fehlende Teile interpolieren, um daraus einen
BeweisfürallmählicheVeränderungenzugewinnen.)Kurzgesagt,Darwinvertrat
die Auffassung, die geologischen Funde seien außerordentlich unvollständig... Er
meinte, der langsame evolutionäre Wandel sei deshalb an Fossilfunden nicht zu
entdecken, weil man nur einen Schritt unter Tausenden untersuche. Der Wandel
erscheine als abrupt, weil die Zwischenschritte fehlten.
DieaußerordentlicheSeltenheitvonÜbergangsformenunterdenFossilfundenist
bis heute das Geschäftsgeheimnis der Paläonotologie. Die evolutionären Stammbäume, die unsere Lehrbücher schmücken, sind nur an den äußeren Spitzen und
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Knoten ihrer Zweige durch exakte Daten abgesichert. Der Rest ist (wie vernünftig
auch immer) erschlossen und besitzt nicht die Evidenz von Fossilfunden. Doch
Darwins war so sehr mit der Lehre von einem allmählichen Wandel verheiratet,
dass er seine gesamte Theorie aufs Spiel setzte, um diesen Funden eine Absage zu
erteilen...
Seit einigen Jahren schon empfehlen Niles Eldredge vom American Museum of
Naturul History und ich einen Ausweg aus diesem unbequemen Paradoxon. Wir
glauben, dass Huxley mit seiner Warnung recht behalten hat. Die moderne Theorie der Evolution setzt keine allmählichen Veränderungen voraus. Die Funktionsweise darwinistischer Evolutionsprozesse kommt vielmehr zu eben dem Ergebnis,
die wir in den Fossilfunden vor uns haben. Wir müssen die Theorie von der allmählichen Veränderung, nicht aber den Darwinismus, zurückweisen. Die Geschichte der meisten Fossilarten umfasst zwei Merkmale, die sich besonders
schwer mit der Theorie einer allmählichen Veränderung vereinbaren lassen:
Stasis. Die meisten Arten zeigen während ihrer Anwesenheit auf der Erde keine
Veränderungen, die in eine bestimmte Richtung weisen. Sie treten in den Fossilfunden auf und sehen im Großen und Ganzen ebenso aus, wenn sie verschwinden,
Morphologische Veränderungen sind gewöhnlich begrenzt und ungerichtet.
Plötzliches Auftreten. In allen Lebensbereichen treten Arten nicht aufgrund unablässiger Veränderungen ihrer Vorgänger auf. Sie erscheinen vielmehr plötzlich
und ‘voll ausgebildet’.
Die Evolution geht im wesentlichen auf zweierlei Weise vor sich. Zum einen kann
sich durch phyletische Transformation eine gesamte Population von einem Zustand zu einem anderen hin verändern. Würden sich alle evolutionären Veränderungen auf diese Weise p191 ereignen, könnte sich das Leben nicht lange erhalten;
denn bei der phyletischen Evolution kommt es nicht zu einer Zunahme an Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit, nur zu einer Transformation von einem Zustand zu einem anderen. Da nun ein Aussterben (durch Ausrottung, nicht durch
Evolution zu etwas anderem) so verbreitet ist, würden eine Flora und Fauna, die
keine Möglichkeiten zur Erhöhung ihrer Vielgestaltigkeit und Mannigfaltigkeit
besäßen, bald vernichtet. Zum anderen wird durch Speziation die Erde immer
wieder aufgefüllt. Neue Arten zweigen von weiterhin vorhandenen Beständen ab.
Gewiss hat Darwin den Vorgang der Speziation gekannt und ausführlich erörtert,
aber seine Diskussion des evolutionären Wandels bleibt beinahe ausschließlich
auf das Muster der phyletischen Transformation ausgerichtet. Die Phänomene
der Stasis und des plötzlichen Auftretens neuer Arten konnten dabei kaum etwas
anderes zugeschrieben werden als der Unvollständigkeit der Fossilfunde. Wenn
neue Arten durch die Transformation ganzer vorheriger Populationen entstehen,
und wenn wir diese Transformation fast niemals zu Gesicht bekommen (weil sich
die Arten während ihrer gesamten Lebensdauer im wesentlichen statisch verhalten), dann müssen unsere Fossilfunde allerdings hoffnungslos unvollständig sein.
Eldredge und ich glauben nun, dass Speziationen für beinahe alle evolutionären
Veränderungen verantwortlich sind...
Alle wesentlichen Theorien der Speziation gehen davon aus, dass Aufspaltungen
beisehrkleinenPopulationenrascheintreten.DieTheoriedergeografischenoder
allopatrischen Speziation wird in den meisten Fällen und von den meisten Evolutionstheoretikern bevorzugt... Seit 1977 hat in der Evolutionsbiologie ein bedeutender Meinungsumschwung stattgefunden. Die allopatrische Orthodoxie ist
zusammengebrochen, und verschiedenen Mechanismen sympatrischer Speziationhaben sowohl an Vertretbarkeit wie an Beispielen gewonnen. (Bei der sympatrischen Speziation treten neue Formen innerhalb des geografischen Bereichs ihrer Vorläufer auf.) Diese sympatrischen Mechanismen laufen auf zwei Vorausset-
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zungen hinaus,dieEldredgeundichfürunserModellderFossilfundepostulieren:
eine schnelle Entstehung im einer kleinen Population. Sie gehen im Allgemeinen
wirklich von kleineren Gruppen und von rascheren Veränderungen als die konventionelle Allopatrie aus (vor allem, weil p192 Gruppen in potenzieller Berührung
mit ihren Vorläufern sich bei ihrer Fortpflanzung rasch auf eine Isolation hinbewegenmüssen,wennnichtihrebegünstigterenVarietätendurcheinegemeinsame
Fortpflanzung mit den zahlreicheren bisherigen Beständen beeinträchtigt werden
soll.) White hat 1978 diese sympatrischen Modelle ausführlich erörtert: Eine neue
Art kann entstehen, wenn ein kleiner Teil der bisherigen Population an der Peripherie seines Lebensraums isoliert wird. Große, stabile Zentralpopulationen üben
einen starken homogenisierenden Einfluss aus. Neue und vorteilhafte Mutationen werden durch die große Masse der Population beeinträchtigt, in der sie sich
ausbreiten müssen. Sie mögen langsam an Häufigkeit zunehmen, aber eine
veränderte Umwelt setzt gewöhnlich ihren selektiven Wert herab, lange bevor sie
sich durchsetzen können. Mithin sollte eine phyletische Transformation bei
großen Populationen sehr selten sein, wie dies auch die Fossilien beweisen.
Inzucht im Dienst der Bewahrung potenzieller Eigenart. Es sind also neu entstandene
Minderheiten, die vor allem ein Interesse an Endogamie haben, an ‘Rassereinheit’. Die
kompakten Majorität und altetablierten Gruppen sollte eher an Exogamie interessiert
sein – zur ‘Blutauffrischung’.
Die Bedeutung der Peripherie für die Innovation: Das Neue gedeiht am besten in der
Provinz!
(195p190)
Aber kleine, an der Peripherie isolierte Gruppen sind von den bisherigen Beständen abgeschnitten. Sie leben als winzige Populationen im geografischen Nischen
des Lebensraums ihrer Vorfahren. Gewöhnlich sind sie einem intensiven Selektionsdruck ausgesetzt, weil die Peripherie die Grenze der Grenze der ökologischen Toleranz der bisherigen Lebewesen markiert. BegünstigteVarietäten breiten sich rasch aus. Kleine und isolierte Räume an der Peripherie sind ein Labor
evolutionärer Veränderungen.
Darwins Argument hat sich bei den meisten Paläontologen als Lieblingsausrede
aus der Schwierigkeit erhalten, dass die Evolution sich direkt nur in sehr geringem
UmfangandenFossilfundenablesenlässt...DiePaläontologenhabenfürDarwins
Argument einen exorbitanten Preis bezahlt. Wir bilden uns ein, als einzige
wirklich die Geschichte des Lebens zu untersuchen. Um nun aber die von uns
bevorzugte Darstellung der Evolution durch natürliche Selektion aufrechtzuerhalten, betrachten wir unsere Daten als so unvollkommen, dass wir beinahe nie
gerade den Prozess sehen, den wir zu untersuchen vorgeben.
Korrekte Hinterhersage der paläontologischen Befunde
(195p192-193)
Was sollten die Fossilfunde enthalten, wenn der größte Teil der Evolution sich
durch Speziation isolierter Gruppierungen an der Peripherie vollzieht? Die Arten
sollten während ihrer gesamter Lebensdauer gleichbleibend sein, weil unsere Fossilien die Reste großer, zentraler Populationen sind. In jedem Gebiet, welches von
Vorläufern bewohnt wird, sollte plötzlich eine von ihnen abstammende Art auftreten,dievonderPeripherie,andersiesichevolutionärentwickelthat,eingewandert ist. An der Peripherie selbst könnten wir unmittelbar einen Beweis für die
Speziation entdecken, aber ein solches Glück wäre in der Tat rar, weil ein derartiges Ereignis so rasch und in einer so kleinen Population eintritt. Die Fossilfunde
sind also eine wahrheitsgetreue Wiedergabe dessen, was die Evolutionstheorie
vorhersagt, und nicht ein kläglicher Überrest einer einstmals reichen Geschichte.
Eldredge und ich zeichnen dieses Schema als Modell intermittierender Gleichgewichtszustände. Die Abstammungsverhältnisse verändern sich während des
größten Teils ihrer Geschichte nur wenig, doch die Ereignisse einer raschen Spe-
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ziation unterbrechen p193 gelegentlich diese Ruhe. Die Evolution findet als entscheidendesÜberleben und weitere Entfaltung während dieser Unterbrechungen
statt. (Wenn ich die Speziation isoliert an der Peripherie lebender Gruppen als
sehr rasch beschreibe, so spreche ich als Geologe. Ein solcher Prozess kann Hunderte, Jahrtausende von Jahren in Anspruch nehmen... Doch tausend Jahre sind
nureinwinzigerBruchteileinesPrzentsderdurchschnittlichenLebensdauervon5
– 10 Millionen Jahre der meisten wirbellosen Fossilien. Die Geologen können
einensokurzenZeitraumkaumjemalsausmachen.Wirneigendazu,ihnwieeinen
Augenblick zu behandeln.)
Wenn die Theorie von den allmählichen Veränderungen westlichen Geistes als
eine Tatsache der Natur ist, dann sollten wir auch andere Philosophien von Veränderungen in Betracht ziehen, um den Bereich der Vorurteile einzudämmen, die
uns auferlegt sind. In der Sowjetunion z.B. werden Wissenschaftler mit einer ganz
anderen Philosophie der Veränderung, den so genannten ‘dialektischen Gesetzen’, ausgebildet, die eine von Engels ausgearbeiöete Neuformulierung der hegelschen Philosophie darstellen. Die dialektischen Gesetze beziehen sich ausdrücklich auf intermittierende Veränderungen. So sprechen sie etwa von einem ‘Übergang von Quantität in Qualität’. Dies mag uns wie ein fauler Zauber klingen, doch
eserinnertdaran,dasssichVeränderungeningroßenSprüngenereignen,dienach
einer allmählichen Aufstauung von Spannungen eintreten, denen ein System
solange widersteht, bis es seine Zerreißgrenze erreicht. Erhitzt man Wasser, so
fängt es schließlich an zu kochen. Unterdrückt man die Arbeiter immer stärker,
dannfördertdiesdieSachederRevolution.Eldredgeundichwarenfaszininiertzu
hören, dass viel russische Paläontologen sich für ein Modell aussprechen, welches
unserem Modell intermittierender Gleichgewichte ähnlich ist.
Der Boden der marxistischer Ideologie wissenschaftstheoretisch fruchtbar, aber leider
ergab auch er keine brauchbare Gesellschaftstheorie, das hilft der ganze Anspruch
nichts.
(195p193-194)
Ich vertrete nicht emphatisch die generelle ‘Wahrheit’ dieser Philosophie intermittierenderVeränderungen.JederVersuch,dieausschließlicheGeltungeinesso
hochtrabenden Begriffs zu behaupten, würde an blanken Unsinn grenzen. Zuweilen ist die Theorie einer allmählichen Veränderung durchaus vertretbar... Ich plädiere einfach nur für simplen Pluralismus in den führenden wissenschaftlichen
Theoriebildungen und möchte daran erinnern, dass derlei p194 Theorien wie versteckt und unausgesprochen sie auch sein mögen, unser gesamtes Denken in eine
bestimmte Richtung zwingen. In den Gesetzen der Dialektik drückt sich eine
Ideologie ganz offen aus. Unsere westliche Vorliebe für die Theorie allmählicher
Veränderungen leistet dasselbe viel subtiler.
Dennoch möchte ich persönlich der Meinung Ausdruck verleihen, dass die Auffassung von intermittierenden Veränderungen das Tempo des biologischen und
geologischen Wandels häufiger undgenauernachzeichnenkannalsalleihreRivalen, wenn vielleicht auch nur deshalb, weil komplexe Systeme, die sich in einem
Gleichgewichtszustandbefinden, sowohl weit verbreitet wie auch Änderungen gegenüber hochgradig resistent sind. Mein Kollege, der britische Kollege Derek V.
AgerschreibtzurUnterstützungeinerintermittierendenAuffassunggeologischer
Veränderungen:‘DieGeschichteeinesjedenTeilsderErdebestehtwiedasLeben
eines Soldaten aus großen Zeiträumen von Langeweile und kleinen Augenblicken
des Schreckens.’”
Vielversprechende Monster
(195p195)
“Als ich Mitte der Sechziger Jahre auf der graduate school die Biologie der Evolution studierte, konzentrierten sich Hohn und Spott von offizieller Seite auf Richard Goldschmidt, einem berühmten Genetiker, der, wie man uns sagte, zu ganz
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irrigen Auffassungen gelangt war... Ich sage ... voraus, dass im Verlauf diesesJahrzehnts Goldschmidt in der Evolutionsbiologie weithin rehabilitiert sein
wird.”Goldschmidt geriet in Gegensatz zur synthetischen Theorie, die “die Theorien der Populationsgenetik mit denen der klassischen Beobachtungen der Morphologie, Systematik, Embryologie, Biogeografie und Paläontologie verbindet.
Im Zentrum dieser synthetischen Theorie werden die beiden charakteristischsten
Behauptungen Darwins neu formuliert:
dass die Evolution ein zweiphasiger Vorgang ist, in dessen Verlauf zufällige
Variationen als das Rohmaterial der Evolution mit der natürlichen Selektion abwechseln, die diesem Vorgang eine Richtung gibt
dassevolutionäreVeränderungenimAllgemeinenlangsam,stetig,allmählichund
unablässig vor sich gehen.”
Orthodoxe Anhänger der modernen Synthese schließen aus den tatsächlich zu beobachtenden “gleichmäßigen und ununterbrochenen Veränderungen auf ähnliche Vorgänge in den grundlegenden strukturellen Übergängen der Geschichte
des Lebens. Durch eine lange Reihe von unmerklich abgestuften Zwischenschritten sind Vögel mit Reptilien, Fische, die mit Kiefer besitzen, mit ihren Vorfahren
ohne Kiefer verwandt. Die Makroevolution (also die größeren strukturellen
Übergänge)istnichtsalseineausgeweiteteMikroevolution(alsodieVeränderungen von Fliegen in geschlossenen Behältern). Wenn schwarze Nachtfalter die
weißen im Verlauf eines Jahrhunderts ersetzen können, dann können Reptilien
durch die sanfte und folgerichtige Summierung zahlloser Veränderungen in einigen Millionen Jahren zu Vögeln werden.”
“Viele Evolutionstheoretiker betrachten eine präzise Kontinuität zwischen der
Mikro- und der Makroevolution als einen wesentlichen Bestand des Darwinismus
und als ein notwendiges Ergebnis der natürliche Selektion.”
Aber “die Fossilfunde mit ihren abrupten Übergängen bieten keinerlei Anhaltspunkte für allmähliche Veränderungen und das Prinzip der natürlichen Selektion
setzt sie nicht voraus. Denn eine Selektion kann sich sehr rasch vollziehen. Doch
die unnötige Verbindung, die Darwin zwischen beiden herstellte, wurde zu einem
zentralen Grundsatz der synthetischen Theorie des Neodarwinismus.
Mayr nimmt Anstoß an der Bezeichnung ‘Neodarwinismus’ für die moderne Synthese.
Goldschmidt erhob keinen Einwand gegen die übliche Darstellung der Mikroevolution... Er brach jedoch insofern scharf mit der synthetischen Theorie, als er die
Auffassung vertrat, neue Arten entstünden abrupt, durch diskontinuierliche Variation oder Makromutation. Er räumte ein, dass die Mehrzahl der Makromutationen nur als unglücklich und verheerend bezeichnet werden können. Sie nannte
er ‘Monster’. Aber ... die Makromutation können immer mal wieder durch einen
glücklichen Zufall einen Organismus an eine neue Art zu leben anpassen. Das Ergebnis sei dann etwas, was er als ‘vielversprechende Monster’ bezeichnete. Die
Makroevolution gehe durch den seltenen Erfolg solcher vielversprechender Monster, nicht aber durch eine Akkumulation kleiner Veränderungen innerhalb von
Populationen vor sich.
Ich bin nun der Meinung, dass die Verteidiger der synthetischen Theorie ... aus
GoldschmidtsVorstellungeneineKarikaturundihnselbstzuihremPrügelknaben
gemachthaben.Ichmöchtenichtallesverteidigen,wasGoldschmidtvertretenhat.
In der Tat stimme ich mit seinem Anspruch grundsätzlich nicht überein, dass eine
abrupte Makroevolution den Darwinismus in Misskredit bringt. Denn auch
Goldschmidt beachtete Huxleys Warnung nicht, dass das Wesen des Darwinismus, die Kontrolle der Evolution durch natürliche Selektion, keinen Glauben an
allmähliche Veränderungen voraussetzt.
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Als Anhänger Darwins möchte ich Goldschmidts Postulat verteidigen, dass die
Makroevolution nicht einfach eine ausgedehnte Mikroevolution darstellt, und
dass größere strukturelle Übergänge ohne eine Reihe sanfter Zwischenschritte
rasch und abrupt auftreten könne.”
Drei Fragen:
1. “Lässt sich eine vernünftige Darstellung kontinuierlicher Veränderungen für alle
p198 makroevolutionäre Ereignisse entwerfen?” (Nein)
2. “Sind Theorien abrupter Veränderungen vom Wesen der Sache her antidarwinistisch?” (Einige sind es, andere nicht)
3. “ StellenGoldschmidts‘vielversprechendenMonster’denGipfelderAbtrünnigkeit
vom Darwinismus dar, wie seine Kritiker lange behauptet haben?” (Nein)
zu 1. “Können wir, auch wenn wir keine direkten Beweise für glatte Übergänge haben,
eine vernünftige Abfolge von Zwischenformen, also von lebensfähigen und funktionstüchtigen Organismen, zwischen den Vorläufern und den Nachkommen bei
größeren strukturellen Übergängen erfinden? Welchen Nutzen haben möglicherweise die unvollkommenen Anfangsstadien nützlicher Strukturen? Was nützt ein
halber Kiefer oder Flügel? Die übliche Antwort darauf gibt der Begriff der Präadaptation. Er gestattet uns, die Auffassung zu vertreten, dass in den AnfangsstadienandereFunktionenerfülltwordensind.SoleisteteeinhalberKieferdurchaus
nützliche Arbeit, indem seine Knochen die Kiemen stützten. Ein halber Flügel
mag zu einem Fangen von Beutetieren gedient haben oder zur Kontrolle der
Körpertemperatur. Ich betrachte den Begriff der Präadaptation wichtig, ja sogar
als unerlässlich, doch eine plausible Erklärung ist nicht notwendig wahr. Ich zweifle nicht daran, dass der Begriff der Präadaptation die Theorie von allmählichen
Veränderungen in manchen Fällen retten kann. Aber gestattet er uns, Kontinuität
in den meisten oder gar in allen Fällen herzustellen? Ich behaupte, obwohl dies
nur meinen Mangel an Fantasie beweisen mag, dass die Antwort ein Nein ist.”
ZweiBeispiele: einmal eine Schlange mit einem geteilten Oberkieferknochen und
einer beweglichen Verbindung zwischen diesen Teilen, dann Nagetiere mit Backentaschen,dieaußensitzen.“WozuaberisteinebeginnendeRinneoderFurche
an der Außenseite von Nutzen? Liefen die hypothetischen Vorläufer dieser Tiere
auf drei Beinen einher, während sie mit dem vierten einige Stücke ihrer Nahrung
in einer noch unvollkommenen Hautfalte festhielten?” Man könne sich immer
fantasievolle Möglichkeiten der Präadaptation ausdenken, “doch das Gewicht
dieser und zahlreicher ähnlicher Beispiele hat meinen Glauben an die Theorie
allmählicher Veränderungen schon vor langer Zeit erschüttert. Erfindungsreichere Köpfe mögen ihn sich erhalten, doch Vorstellungen, die nur durch oberflächliche Spekulationen zu retten sind, faszinieren mich nicht sehr.”
“Wir können uns sehr wohl eine nicht-darwinistische Theorie diskontinuierlicher
Veränderungen vorstellen. Sie beschreibt grundlegende und abrupte genetische
Veränderung, die mit viel Glück (hier und da) ganz plötzlich eine neue Art entstehen lassen. Hugo de Vries, der berühmte holländische Botaniker, vertrat zu Beginn dieses Jahrhunderts eine solche Theorie. Aber die Vorstellungen, auf denen
sie basiert, scheinen unüberwindbare Schwierigkeiten zu bieten. Mit wem soll sich
die dem Haupt dem Zeus entsprungene Athene fortpflanzen? All ihre Verwandten sind Angehörige einer anderen Art! Welche Chance besteht, überhaupt
eine Athene und nicht ein deformiertes Monster hervorzubringen? Große Unterbrechungen ganzer genetischer Systeme führen nicht zu begünstigten oder
selbst lebensfähigen Geschöpfen.
Doch wie Huxley vor beinah 120 Jahren nachwies, sind nicht alle Theorien diskontinuierlicher Veränderungen antidarwinistisch. So kann man etwa annehmen,
dass eine diskontinuierlicher Veränderung bei erwachsenen Lebewesen aus einer
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kleinen genetischen Anderung entsteht. Problem der Nicht-Übereinstimmung
mit anderen Mitgliedern der Art ergeben sich dabei nicht, und die große, be- günstigte Variante kann sich auf darwinistische Art in einer Population ausbreiten.
Man kann aber auch annehmen, dass eine so große Veränderung nicht auf einmal
ein vervollkommnetes Lebewesen hervorbringt, sondern vielmehr als eine
‘Schlüssel’-Adaption dient, die ihren Besitzer zu einer neuen Lebensweise veranlasst. Deren kontinuierlicher Erfolg kann eine große Zahl weiterer Änderungen
der Morphologie und des Verhaltens erforderlich machen. Sie können auf eine
eher traditionelle und allmähliche Weise entstehen, wenn die Schlüssel-Adaptation grundlegende Änderung des Selektionsdrucks erzwingt.”
Dem blind missverstandenen Goldschmidt zufolge beruhte “einer der Mechanismen der Diskontinuität bei ausgewachsenen Lebewesen auf der Vorstellung von
geringfügigen genetischen Veränderungen, die einem Wandel zugrundeliegen.
Goldschmidt war auf dem Gebiet embryologischer Entwicklungen tätig. Er
verbrachte einen Großteil seiner wissenschaftlichen Laufbahn mit der UntersuchungdergeografischenVariationdesSchwammspinners lymantria dispar.Erentdeckte,dassgroßeUnterschiedebeidenFarbmusternderRaupensichauskleinen
Änderungen der Entwicklungszeiten ergeben. Die Auswirkungen eines leichten
Aufschubs oder einer Steigerung der Pigmentierung während des frühen Wachstums nahmen im Verlauf des Ontogenese zu und führten zu grundlegenden Unterschieden bei voll ausgewachsenen Raupen.
Goldschmidterkannte die Gene, die für die geringfügigen zeitlichen Veränderungen verantwortlich sind und wies nach, dass sich die Tätigkeit eines oder einiger
‘Wachstumsgene’ in den Frühphasen der organischen Entwicklung in großen Unterschieden an deren Ende niederschlägt. 1918 schuf er den Begriff ‘Wachstumsgen’ und schrieb 20 Jahre später: ‘Das Mutantengen ruft seine Wirkung dadurch
hervor..., dass es die Geschwindigkeit der einzelnen Entwicklungsprozesse
verändert.EskannsichdabeiumWachstums-oderDifferenzierungsgeschwindigkeiten handeln, um die Produktionsgeschwindigkeit von Stoffen, die zur Differenzierung notwendig sind, um die Reaktionsgeschwindigkeit, die zu bestimmten
physischen oder chemischen Situationen in bestimmten Entwicklungsstadien
führen, um die Geschwindigkeiten von Vorgängen, die für die Entwicklung der
Anlagen des Embryos zu bestimmten Zeiten verantwortlich sind.’
In seinem berüchtigten Buch von 1914 meinte Goldschmidt, die Wachstumsgene
seien potenziell für die Hervorbringung vielversprechender Monster verantwortlich. ‘Die Grundlage hierfür ist durch die Existenz von Mutanten geschaffen, die
Monstrositäten des erforderlichen Typs hervorbringen, sowie durch die Kenntnis
der embryonalen Determination, die es einer kleinen Geschwindigkeitsver- änderung auf den frühen Entwicklungsstufen des Embryos gestattet, eine große Wirkung zu zeitigen, die beträchtliche Teile des Organismus betrifft.’
Meiner eigenen, stark voreingenommen Meinung zufolge wird das Problem, das
darin besteht, die offenkundig vorhandene p202 Diskontinuität in der Makroevolution mit dem Darwinismus auszusöhnen, im Großen und Ganzen durch die Beobachtung gelöst, dass geringfügige Veränderungen in der Frühgeschichte des Embryos über das Wachstum hinweg zum grundlegenden Unterschied im Erwachsenenalter führen. Verlängert man die hohe pränatale Geschwindigkeit des Gehirnwachstums in die frühe Kindheit hinein, dann nähert sich das Gehirn eines Affen
der Größe eines menschlichen Gehirns an.” Gould verweist auf sein Buch “Ontogeny and Phylogeny”; Harvard University Press 1977.
Taxanomischer Universalismus
(195p215-224)
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Die linnésche Artenklassifikation wird von vielen Naturvölkern reproduziert, Wir
haben hier also keinen Nominalismus und auch keinen kulturellen Relativismus.
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Die Einteilung in Arten scheint etwas Objektives zu sein, interkulturell bestätigt
sozusagen.
Zumindest bringt der menschliche Erkenntnisapparat, konfrontiert mit der Reich der
Pflanzen und Tiere, kulturunabhängig isomorphe Taxanomien hervor.
Wissenschaftstheoretische Kritik der Evolutionstheorie (437p51–58)
–
–
–
Mutation
Selektion
(437p56)
Für Kurt Hübner ist die Evolutionstheorie bestenfalls ein “vorwissenschaftliches
Paradigma”. Ausgerechnet der bekennende Historist Hübner übersieht völlig,
dass Kriterien und Kategorien für Wissenschaftlichkeit ex post facto hergeleitet
sind, und zwar im Wesentlichen an Hand der physikalisch und technisch orientierten Wissenschaften. Seine Vorstellungen über die Grundlagen der Evolutionstheorie sind die großhandelsüblichen dürren und halbwahren Verallgemeinerungen,
die Version für intellektuelle Nichtbiologen. Hübners Kritik ist nicht falsch, aber
ausgesprochen schlecht angebracht und streckenweise grotesk formalistisch:
Die Evolutionstheorie bestehe aus drei “Schichten”:
Tatsachenbehauptungen: Paläontologie, Aufstellung und Systematisierung von
Homologien, die haeckelsche Rekapitulation (ein sehr dünnes Beinchen);
daraus folge per “Analogieschluss” eine “Plausibilitätshypothese”;
diese Plausibilitätshypothese werde im Wesentlichen (un)wissenschaftlich erklärt
durch “Mutation und Selektion”. (Hübner erwähnt den richtigeren Begriff “Variation”, sieht diesen aber anscheinend im Begriff “Mutation” erschöpft.)
DensoaufgebautenPappkameradschustertHübnerintaschenspielerischerAkribiemitlokalrichtigenlogischenVersatzstückenaufsrechtewissenschaftstheoretische Maß herunter:
beruhe im Wesentlichen auf “Zufall”. “XYZ ist Zufall”, bedeute aber nur “Es gibt
keine wissenschaftliche Erklärung für XYZ, und wissenschaftliche Erklärungen
und Grundbegriffe sind für XYZ aber priori nicht anwendbar.” Darüber hinaus sei
nochnichteinmalderBegriffderWahrscheinlichkeitanwendbar,dakeineVerteilungen bekannt oder auch nur angebbar.
sei nur für die Mikroevolution belegt. Es gebe erwiesenermaßen Eigenschaften
ohne Selektionswert. Überhaupt sei der Selektionswert “empirisch nicht definierbar”, weil tautologisch und in sich zirkulär definiert: “Etwas ist lebensfähiger, angepasster, günstiger usf., weil es überlebt hat, und es hat überlebt, weil es lebensfähiger, angepasster oder günstiger war.” Die“RichtungfürdieEvolution”auf
“höhere Organismen” hin sei dadurch nicht erklärt.
“So führt schließlich die wissenschaftstheoretische Analyse der so genannten biologischen Evolutionstheorie zu dem Ergebnis, dass sie den Rang einer empirischwissenschaftlichen Theorie nicht besitzt. Das Kennzeichen einer solchen Theorie
bestehtdoch darin, dass sie Gesetze als Axiome aufstellt, mit denen bestimmte Erscheinungen erklärt werden können. Aber wie sich zeigte, ist von den beiden Axiomen der Evolutionstheorie das eine nichts anderes als das Eingeständnis wissenschaftlicher Nichterklärbarkeit, das andere eine Tautologie. Sie leistet also gar
nicht, was sie zu leisten vorgibt, das sie doch eine Erklärung für eine Plausibilitätshypothese liefern soll und will. Und schließlich ist ja auch dies, dass sie nicht Tatsachen, sondern nur eine Hypothese über Tatsachen zu erklären sucht, befremdlich
genug. Vielleicht passt für sie daher am Besten der von Th. Kuhn geprägte Ausdruck ‘vorwissenschaftliches Paradigma’.
Blickt man so auf die Analyse der so genannten biologischen Evolutionstheorie
zurück, so fragt man sich erstaunt, warum an sie mit solcher Selbstverständlichkeit
geglaubt wird, während man den Schöpfungsbericht des Alten Testaments für ein
kindliches Märchen hält. Denn – wie man auch die Sache drehen und wenden mag
– einen zwingenden Grund gibt es dafür nicht. Vielleicht erinnert man sich hier an
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das Märchen von dem Kaiser, der keine Kleider anhatte – es musste nur einmal
ausgesprochen werden, damit es alle sehen.”
(autsch)
O si tacuisses – philosophus mansisses. Diese Gegenüberstellung wird weder Wissenschaft noch Mythos gerecht. Eine echte, herbe Enttäuschung, nach der “Kritik
der wissenschaftlichen Vernunft”. In Folgendem können wir ihm wieder unauffällig folgen, ohne all zu rot zu werden:
p57
(437 )
“Man verkennt..., dass die Wissenschaft keineswegs auf jenem fundamentum inconcussum beruht, wie man meist glaubt, sondern dass sie in ihren apriorischen
Grundlagen durchaus fragwürdig, jedenfalls nur historisch verstehbar bleibt. Man
verkennt dabei aber immer ihren hypothetisch-deduktiven Charakter , und all zu
leicht nimmt man für die endgültige Erkenntnis einer absoluten Wirklichkeit, was
wissenschaftlich nichts anderes als ein erster, kühner Versuch ist, in einen bestimmten Gegenstandsbereich einzudringen.”
Immerhin nimmt Hübner seine Kritik zumindest für “eine Seite der Medaille”
(Welcher Medaille? Welche Seiten? Und wieviel hat die noch?) zurück:
“Die Schärfe der Kritik, die ich hier besonders an der so genannten biologischen
(437p57)
Evolutionstheorie geäußert habe, betrifft nur die eine, allerdings allein relevante
[???] Seite der Medaille und darf nicht darüber hinwegtäuschen, welche zahlreichen Entdeckungen von höchster Bedeutung zugleich mit ihr verbunden sind.”
Die Grundlage der Evolutionstheorie – soweit man sie akzeptieren kann, und soweit von ihr zumindest dieselbe Wahrheitsdauer zu erwarten ist wie für das ptolemäischeWeltmodell,dessenWahrheitz.T.ewigist–ruhtnichtaufdenvonHübner diskutierten schmalen logisch-empirischen Fundamenten, sondern eher auf
ihren polyempirischen, polylogischen Verflechtungen. Was eben heißen soll, dass
natürlich auch für die Evolutionstheorie ähnlich grundstürzende Revolutionen
möglich sind wie für das ptolemäische. Aber da der je zu stürzende Grund nicht
unbedingtdermaßgeblicheGrundderheutigenEvolutionstheorieist,werdenviele wesentliche Inhalte der Evolutionstheorie sich als Fixpunkte jeder revolutionären Transformation erweisen – so, wie dem Navigator den Wandel vom geozum heliozentrischen Weltbild glatt egal sein kann.
Kritik des Neodarwinismus/Gradualismus
Kumulation
etwa in (100) und an vielen anderen Orten: “Kumulation von Kleinmutationen
verkürzt Zeiträume erheblich”:
1) die Idee ist richtig, das könnt die notwendigen Zeiten schon 1000x kürzer machen
... dann brauchen wir halt nicht Fantastilliarden von Jahren, sondern nur noch
Fantastillionen ...
2) Kumulation von Kleinmutationen muss ungezählte “kleine” Zwischenglieder erzeugt haben (etwa Schuppe→Feder). Kein Beleg, nirgends, sondern alles deutet
auf:
Bio-Emergenz
Scheinbare Sprunghaftigkeit der Evolution, etwa “kambrische Explosion”. (433)
Die Evolution hat in wenigen kurzen Zeiträumen jeweils riesige Entfernungen im
genetischen Raum zurückgelegt. darum historische Interpretation der Stammbäume als Abbild der Stammesentwicklung fragwürdig. (252)
Sequitur
Der Neo-Darwinismus und viele pan-genetische Theorien erscheinen nach heutigen Wissen als sehr unvollständig und lückenhafte, da sie wesentliche Tatsachen
nicht erklären und immer fragwürdigere ad-hoc-Hypothesen erzeugen. Nun ist
dasinderEntwicklungderWissenschaftnormal,undwirwollendenNeodarwinistennixBöses:esmussimmerSpinnergeben,dieauchaussichtslosePositionenhalten–die“genetischeReserve”derWissenschaft.WiealleSpinner,bildenauchder
Neodarwinistenein wunderbares Korrektiv des zu erwartenden neuen Hauptstro-
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Wende
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mes der Evolutionstheorie und Genetik (mehr in die punktualistische Richtung
weisend).
Nun gleicht eine veraltete Theorie einer zerrütteten Partnerschaft: sie mag so heruntergekommen sein wie sie will, wird aber praktisch niemals aufgegeben, solange nichts Besseres in Sicht ist, und man bestreitet gerne empört, dass es auch nur
annähernd so schlimm sei. Dieser Grund fürTrägheit und Blindheit der Evolutionstheorie scheint zu fallen: wir dürfen heute hoffen, dass der Hauptstrom der
Evolutionstheorie langsam in intelligentere Richtungen einbiegt. Mittlerweile
gibt es Evolutionsmodelle, die zwar auch noch nicht alles, aber immerhin mehr erklären und aussichtsreicher sind: im Umfeld der sogenannten “Komplexitätstheorie” entstanden. Populärer Überblick: (309)
Gentechnikglaube von Robert A. Heinlein bis Stephen King
Finalverbot
Noch wollen die Genetiker die Menschen vor schlimmer Krankheit bewahren;
schon kommen die biotechnischen Dissidenten und wollen die Menschen vor der
schlimmenGenetikbewahren;beideabernährengrandiosetechnischeMachtfantasien, erst konstruktiv, dann destruktiv; erst Robert A. Heinlein, dann Stephen
King.
Verbindliches Denk-Grundgesetz (KauMech): nur kausal, nicht final. Die Natur
hat keine Zwecke. Nicht durch Neo-Darwinismus 1000x belegt, sondern 1000x beschworen, gegen den Augenschein!
Methodischer Finalismus kann für (praktisch oder sogar ontologisch) nicht reduzierbare nichtlineare Dynamik die bessere, mathematisch “einfachere” Rahmenmethodik sein; mathematisch konsistenter Hintergrund: Attraktoren, geometrische Beschreibungen im Phasenraum ohne Angabe der “konkreten” Wechselwirkung möglich). “Form-Ursachen”; vgl EE und (501).
Exkurs: Plädoyer für <Finalismus> →GP-39 WS 12.10.97
Deutung
Mayr widmet der Darstellung der ideologischen Kämpfe um die Evolutionstheorie breiten Raum. (347p81f)Er zeigt, wie sehr der Kampf um den Darwinismus vor
allem ein ideologischer Kampf um die Durchsetzung des absoluten, “ontologischen” Wahrheitsanspruchs einer monistisch kausalmechanischen Ideologie war
–undwenigereinKampfumdieAkzeptanzvonTatsachenundelementarerempirischer Schlussfolgerungen. Denn auch rein- oder gemischtgläubige Finalisten akzeptierten die Wirklichkeit der Evolution schnell und bereitwillig; der Kampf tobte um Deutungen.
Der Darwinismus habe sich des zu Darwins Zeiten vorherrschenden Finalismus
erwehren müssen; Mayr sieht die finalen Deutungsansätze als mühsam zu überwindendesErkenntnishindernis,undtutso,alswärederKausalmechanismus–die
reine Lehre, ganz monistisch – nicht nur eine von mehreren “Ideologien” (besser:
Erkenntnisweisen), sondern diejenige, welche einzig wahr sei; nach heutigem Erkenntnisstandeineallzunaive,jedenfallsunwissenschaftliche‘metaphysischeAnnahme’; ein metaphysischer Alleinerklärungsanspruch, den wir im Namen der
Wissenschaft heute nicht mehr erheben dürfen, denn dann fiele diese in die voraufklärerische Position zurück, sie habe eine allen Ideologien enthobene, privilegierte,autoritativeLetzterklärung.(Unddieseikausalmechanischundverdamme
jegliches Denken in Zwecken als falsch: anathema!)
Ernst Mayr unterstellt den Anhängern der “Endzwecke” anscheinend genau den
ontologischen Dogmatismus, wie er ihn für den Kausalmechanismus für angemessen hält. Ob er ihnen damit gerecht wird? Als Indiz dagegen führe ich nur an, dass
die “Teleologen” selten solche Alleinerklärer waren wir die Kausalmechanisten.
Auch heute können wir teleologisch denken und dennoch glauben, dass auch mit
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kausalmechanischen Netzen ein Haufen toller Fische zu fangen ist – durchaus
auch im Reich der Biologie. In guter Übereinstimmung mit Psychologie(397),Anthropologie, Primatologie und Humanethologie gestehen wir Kant zu, dass weder
Ursache noch Zweck empirisch sind, weil sie unserer individuellen Erfahrung
vorangehen, und ergänzen mit Konrad Lorenz(318), dass beide Erkenntnisfunktionen aber starke reale Gründe haben, weil sie den knallharten Realitätstest der
Evolution erfolgreich bestanden.
Sowohl kausale als auch finale Denkungsart bewährten sich in wichtigen BereichendermenschlichenWirklichkeitimmerwiederunderwiesensichfürdasÜberlebenalsförderlich;sowurdensievondernatürlichenAuslesehochgezüchtet.Für
beide Denkungsarten ist “da draußen” etwas wirklich wahr – wirklich wahr wie für
das Auge das Licht.
Wer nur die kausale Denkungsart als wirklichkeitsgerecht und “wissenschaftlich”
erklärt, die finale aber als abergläubische “anthropomorphe Projektion” abtut,
hat heute weder empirische noch theoretische Argumente für sich, sondern nur
mehr ideologische. Tatsächlich lässt sich empirisch und theoretisch gut begründen, dass wir uns nicht nur kausale, sondern auch finale Gedanken über wirkliche
Dinge machen können.(344) Aristoteles, der “Zweckursachen” für wichtig erachtete, war nicht zufällig in erster Linie Biologe. Der Humanbiologe Rupert Riedl
(423,424) und der Wissenschaftstheoretiker Erhard Oeser (378), glühende Evolutionäre, schrieben sich die Finger wund, um Aristoteles zu rehabilitieren und unsere metaphysischen Vorurteile zu erschüttern.
Die finale Denkungsart ist ein kognitives Netz, mit dem wir besonders gut Erkenntnisse über ganz bestimmte komplexe Dinge fischen können, genannt: lebende Wesen. Wer dieses Netz auswirft, nimmt anders wahr, als wer gerade an Kausalität glaubt: er benutzt andere kortikale Assoziationsfelder, filtert und ordnet die
hereinströmende Flut der Sinnesdaten – Fakten, Fakten, Fakten – zu anderen, in
sich konsistenten Mustern, nimmt eine andere Form der Datenreduktion und
-kompression vor, und macht schon auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmungen ganz andere Beobachtungen, als wenn er gerade den Kausalanalyse-Treiber
geladen hätte. Bei dieser Art von “final gefilterter Beobachtung” hinkt die kausale
Denkungs- und Wahrnehmungsart hoffnunglos hinterher; es dächte und dächte
und dächte, spränge Haken schlagend wie ein Hase von Link zu Link zu Link, aber
verlöre hoffnungslosdenÜberblickundmeldete“Zufall”,“Chaos”“irrelevant”...
woderIgellängstzufriedenseine‘Aha!’sgenösse.WirkennendieseArtvongenial
wahnsinniger Fehlleistung aus unserem Alltag, das Zerstreuter-Professor-Syndrom, aber auch den armen Schizoiden, der nie weiß, wie du etwas meinst (‘Also
wie meisnt du das jetzt?‘) und ob du ihn nicht gerade heimlich auslachst.
Dieselbe Fehlleistung gibts auch in der Wissenschaft. Darum sollten wir bei der
historischenBetrachtung zur Evolutionstheorie die umgekehrte Frage aufwerfen:
wie weit hat der Kampf um das kausalmechanische Weltbild den Darwinismus geschädigt? Sicher schon allein dadurch, dass er den Biologen immer wieder in
schwere Erklärungsnot bringt; Mayr zeigt uns, dass gerade Darwin, der ein fast so
gewissenhafter, ängstlicher Umstürzler war wir Kopernikus, davon immer wieder
in schwere Bedrängnis gerät und außer Tritt gebracht wird; und nach ihm seine
Nachfolger, bis auf den heutigen Tag. Mayr beklagt es selber, und auch er stürzt
sich noch einmal in den ideologischen Kampf. Aber diese um alles in der Welt –
auch vor jeder Evidenz, vor jeden empirischen Tatsachen – zu verteidigende
Kausal-Ontologie ist der Wahrnehmung der gesamten Wucht des Lebens immer
wieder schwer hinderlich.
Das Drama des begabten Biologen: um die interessanten Tatsachen wahrnehmen
zu können, lädt er den bei ihm –a ls biologisch begabten – fast automatisch funk-
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tionierenden Finaltreiber ins Hirn, ertappt sich aber früher oder später bei der
weiteren Verarbeitung der Daten beim finalen Denken. Das ist nicht wissenschaftspolitisch korrekt, korrekt ist nur kausales Denken, also schaltet er um: dies
scheint ein Zweck zu sein, aber dies dürfen wir nicht glauben, denn in Wirklichkeit
geht alles kausal zu... nun ist mit einem bestimmten Glauben auch eine bestimmte
vorbewusste “Einstellung” verbunden, und es führt zu Dissonanzen, gegen diesen
Glauben ankämpfen zu müssen, weil er bereits die Apperzeption (Ordnung und
Ausrichtung des Wahrnehmungsstromes zu sinnvollen Mustern) stört.
Der begabte Biologe kann gar nicht anders, als in Zwecken zu denken, wenn er
seine Begabung nicht verraten will. Er gestattet es sich ja auch, allerdings immer
mit allerlei verklemmten, kausalmechanisch korrekten Erklärungen und gestammelten Rechtfertigungen, die die unbefangene und vorurteilsfreie Betrachtung
des Wahrgenommenen erschweren. Man blickt sich scheu und um und flüstert
‘Teleonomie’... Rupert Riedl tanzt seitenlang engelsgleich auf Nadelspitzen, um
die doch sehr praktischen, mehr als nur “heuristisch wertvollen” aristotelischen
Kausalkategorien wieder sich und anderen Biologen zu gestatten, und bemüht
sich zu zeigen, dass dieselben im Endeffekt (‘ontologisch gesehen’) doch wieder
auf die kausalmechanisch korrekte Beschreibung reduzierbar und damit kanonisch sind.
Der Naturwissenschaftler entwirft Modelle. Und wenn eines passt und den üblichenwissenschaftlichenAnsprüchenbessergenügtalseinanderes,darferesskrupellos nutzen und es sogar für wahr halten, wenn es der Wahrheitsfindung dient,
und er darf auch auf das ideologischste verdrängen, dass es eventuell anderen Modellen widerspricht – zumindest auf Wiedervorlage oder solange, bis es keinen
mehr interessiert und sich alls daran gewöhnt haben, wie schon so oft in der Geschichte der Wissenschaft, und alle munter mit den Widersprüchen leben.
Ihr Biologen! Samma fesch! Jetzt, wo sich das Jahrtausend neigt, tretet doch wenigsten ins zwanzigste Jahrhundert ein: seht, was die Physiker sich da alles rausgenommenhaben. Aber statt Komplemente zu machen, beschimpft er NielsBohr,
der Biologenhase und Igelhasser H.K.Erben,(138,139) wobei er sich auf Lakatos
Quantenschimpf (297p59-60) berufen kann. →QM-12.
Der ideologische Kompromiss des Darwinismus besteht darin, dass er einen Universellen Übersetzungsmechanismus bereitstellt, der finale Zwecke in kausalen
Kategorien emuliert. Man könnte aber auch sagen: was soll der Scheiß?
Auch den Kopernikus hat man mit dem “Als ob” gequält; wie jede unter ideologischem Beschuss stehende neue Sicht musste er sich dieser Verkleidung bedienen,
die wir heute in seinem Falle lächerlich finden. Die doppelte Erdbewegung ist
“wirklich”,dasgabenbaldauchdieschlimmstenPositivistenundSkeptizistikerzu,
sogar die katholische Kirche; aber sein Herausgeber Osiander schrieb sicherheitshalber ein Vorwort, in dem die ganze Erdbewegerei nur als vorteilhafte Rechenübung hingestellt wurde, gegen des Kopernikus Überzeugung.
Und in solcher ideologischen Klemme befindet sich der Darwinismus: neben der
Förderung der Erkenntnis belud man ihn mit der Aufgabe, Stellung gegen die
schwer verdorbene, das Denken vergiftende christliche Ideologie zu nehmen. Um
dieimmerwiederausbrechendengeistigenEpidemienzubeenden,wolltemandie
überall herumliegenden toten Christengötter endlich beerdigen: das undankbare
Geschäft und dann doch nur halbherzig und einhirnig durchgeführte Geschäft der
Aufklärung.
Aber wir müssen unsere Furcht vor der Kirche verlieren. Lassen wir die Vereinnahmung des teleologischen Denkens durch die Kirchen nicht länger zu!
Für Darwin und für viele andere, z.B. Mayr, wird die Tötung des ideologischen
Drachens leicht wichtiger als die eigentlichen Tatsachen. zu keinem Zeitpunkt
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sprachen irgendwelche Tatsachen auch nur halbwegs überzeugend für die “reine”
Kausalität. Darwin bewies unter unendlichen Mühen halbwegs, aber nicht einmal
für ihn selber restlos überzeugend, dass man die Evolutionserscheinungen ohne
Rückgriff auf “Zwecke” erklären kann. An diesem Beweis musste sich nochbisher
jede Biologengeneration neu abarbeiten; aber noch keiner gelang ein halbwegs
überzeugendes Plädoyer dafür, man müsse alle Evolutionserscheinungen ohne
Rückgriff auf Zwecke erklären. (Oder, trotzig-opponierend: hauptsächlich durch
Zwecke, Entelechie usw., wie Driesch und die Vitalisten.) Schad um das Gehirnschmalz! Erst in der Spätmoderne sind die Biologen erwachsen und selbständig
genug, sich aus diesem kognitiven Krampf zu lösen. Allez en avant et la foie vous
viendra!
Der Preis weiterer Erkenntnis ist, dass wir unsere Erkenntniswerkzeuge samt und
sonders relativieren, statt immer wieder zu versuchen, den kausalmechanischen
Monismus zu verabsolutieren. Niemals haben irgendwelche Tatsachen gegen die
Finalitätgesprochen(sichernichtdiephysikalischen);dennochverpflichtetensich
die Biologen, ausschließlich auf die von Darwin so mühsam eröffnete Deutungsmöglichkeit zurückzugreifen, als hätten sie einen heil’gen Eid geschworen.
Wir plädieren für völlige Ideologiefreiheit, in dem Sinne, dass wir Ideologien unbefangen benutzen, aber so, dass sie der Wissenschaft dienen und nicht der Stillung geheimer metaphysischer Bedürfnisse oder der Rechtfertigung von Machtinteressen. Metaphysik sollte eine Sache bewusst gewählten Glaubens sein, oder,
von einem anderen Standpunkt aus formuliert: Metaphysik sollte man pragmatisch sehen.
In der Tradition von Popper (412) oder Lakatos (297) stehende Wissenschaftler
haben keine Probleme, der Metaphysik eine bedeutende heuristische Rolle einzuräumen.AlsmetaphysischnochweitaussparsamererMenschliebeichdenKonstruktivismus: er sichert mir ein Maximum an Glaubensfreiheit und Verantwortungsbewusstsein.
Predigt: Fahrt meinetwegen mit Rückspiegel, aber fahrt doch los! WS 14.10.97, 22.2.2001, 6.3.2002
Stichworte;
<Kausalzwang> in der Biologie, falsche Romantik, Wertblindheit, Fortschritt
Typischer Kehrreim der Evolutionsbiologie in entlarvender Defensiv-Formulierung bei Mayr: (347p92) “Kein einziger Bedarf einer finalistischen treibenden
Kraft, welcher Art sie auch sein mag.” Welch arme Theorie, die sich rechtfertigt
glaubt, solange sie nur keine Defizite aufweist, also nichts über ihre Kernaussagen
hinaus ‘braucht’, da sie alle bisher bekannten Erscheinungen zumindest theoretisch richtig ‘hinterhersagen’ könnte. Kein Interesse am Erwirtschaften eines ‘Gehaltsüberschusses’, d.h. an empirisch überprüfbarer theoretischer Vorhersage
neuer Fakten! Anhänger von Popper und Lakatos müssen die Evolutionstheorie
als ‘degenerierendes Forschungsprogramm’ einordnen. (297) Nun ist die Zukunft
eine Richtung, in die nie, nie, nie zu schauen der Biologe im Studium zu schwören
lernt. Daher ist es seiner Gedankenwelt fremd, daß wir von einer Wissenschaft erfolgreiche Vorhersagen erwarten,umsieaufDaueralsWissenschaftanzuerkennen.
Der in dieses Zukunfts-Tabu eingeschlossene demonstrative Verzicht auf konstruktives Denken in Zielen und Zwecken ist eine sinnlose Verbeugung vor dem
zwangskausalen Geßlerhut physikalistischer Fremdherrschaft. Das erzeugt wissenschaftliches Rauschen und führt zu einer ausschließlich rückwärtsgewandten
schwarzen Romantik. Er ist etwa so ‘rational’ wie die Aussage: ‘Wir betrachten die
Dinge zwar meistens von vorne; aber sie haben nur eine Hinterseite.’ Bei den klassischenApologeten des entwicklungsbiologischen Status quo wird dieses Argument
biszumÜberdrussvariiert.DonQuichottesAngriffegeltenderWindmühle“finalistische’ These der Evolution”. Ich habe mich durch Berge evolutionskritischer
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Literatur durchgearbeitet, fand aber nirgends eine “finalistische These der Evolution”. Wie auch sollte die lauten? Sie wäre ja gerade so blöd wie eine “kausalistischeThesederEvolution”!WirwollenkeinemetaphysischenThesen,sondernanständige, brauchbare, möglichst schöne Theorien, die Komplexität reduzieren,
das Blickfeld erweitern und neue Tatsachen vorhersagen! Dann können sich die
Biologen ihre scholastisch übertrainierte Apologetik sparen.
Um die Sozialwissenschaften zur Abwechslung mal nicht nur zu deprimieren, sondern zu inspirieren. Von der Sozio-Biologie zur Bio-Soziologie.
Es geht hier um den Schatten der Erkenntnisse, die Scharen von EvolutionsbiologenlebenslangsystematischdurchsForschernetzschlüpfenundimmerdiffuserim
wissenschaftskollektiven Unbewussten spuken. Sogar die Biologisten (die meinungsmachende Nachhut der Biologie) sind kaum noch von der eigenen Lehre
überzeugt und versuchen, sich mit der eigenen Propaganda aufrecht zu halten.
Aber stopp! wir glauben euch ja doch! Wir glauben alles, was ihr habt – nur dass es
halt so wenig erklärt, und wenn, dann nur im Nachhinein. Wir glauben nicht, dass
wir die Evolution so gut verstehen wie die klassische Mechanik, die Relativitätstheorie, noch nicht einmal wie die Quantenmechanik. Anders als die Physiker
haben die Biologen keine geschlossenen, im Kern einfachen Theorien, die das
Wesentliche ihrer Domänen gut erfassen und mit ihren Ergebnissen allgemein
überzeugen, d.h. weit über die Spezialistenwelt hinaus.
(Auch der technisch Unbedarfte glaubt an Elektronik, weil nämlich sein Handy
funktioniert; ein Scharlatan mit Placebo-Handy hat keine Chance. Die Mediziner
wären froh über diese narrensichere Unfälschbarkeit, stattdessen müssen sie hart
gegen eine ganze Phalanx böser böser Scharlatane kämpfen – und gegen Zweifel
im eigenen Herzen.)
Wir glauben ja, dass Variation und Selektion genauso funktionieren, wie uns das
Gros der Evolutionsfachleute beschreibt, von Darwin bis Mayr. Aber diese Anerkennung scheint die Evolvisten nicht zu befriedigen, sondern sie beanspruchen
lautstark den Rang der Totalerklärung. Sie haben viele – teils mehr verwirrende
alserhellende–Befunde,vielgesundenMenschenverstandundbewundernswerte
Intuition, aber ebensoviel leere Tautologie und nutzlos genaue terminologische
Liturgie. Wir lassen uns nicht darüber täuschen, dass die Biologie immer noch und
immermehrRätselaufweistalsLösungen.WerwilleinemkritischenGeistvormachen, wir hätten das Wesen des Lebens verstanden, und seien es auch nur die ganz
großengrobenZüge–wirwärendajetztnichtkleinlich?Istdanichtvielplausibler,
den mühsam bestehenden Konsens auf eine kollektive, internationale, multikulturelle Lebenslüge der biologischen Wissenschaftsgemeinde zurückzuführen?
Der Darwinismus ist noch immer ein konkurrenzloses Forschungsprogramm, mit
demwirGeduldhabensollten.DieseGeduldschuldenwiraberseiner Konkurrenzlosigkeit, nicht seiner Erklärungskraft oder gar seiner heuristischen Exzellenz. Unter den Blinden ist der Einäugige König! Wir können heute genausowenig sicher
sein wie vor hundert Jahren, ob sein “harter Kern”(Lakatos) jemals so unbeschadet in die objektive Erkenntnis der Menschheit eingehen wird, wie die doppelte
Erdbewegung in die objektive Erkenntnis der Menschheit eingegangen ist.
Vielleicht beruht die Konkurrenzlosigkeit des darwinschen Forschungsprogramms auf der panischen Theorieangst der Biologen. Wahrscheinlich aber ist
diese Spitze gegen die Biologen ungerecht, weil Lebewesen grundstürzend komplizierter sind als Computer und Galaxien; und vielleicht sogar ist die Entwicklung
des Lebens für den Menschen und jede andere Spitze des evolutionären Fortschritts in und aus tiefem Grunde von irreduzibler Komplexität: d.h. wir bekommen
womöglich nie und nimmer eine wissenschaftliche Theorie des Lebens und seiner
Entwicklung,sonderntastenunsimmerundewigineinemunserVerständnisprin-
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Heraus!
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zipiellüberforderndenFaktenklumpatschvoran.DieBiologistenunterdenBiologen scheinen solch finale Kränkung menschlicher Vernunfteitelkeit (Achtung
Achtung unbefugte psychoanalytische Deutung) dumpf zu befürchten, und dämpfen sie lieber mit Faktensammelwut und irrationaler Mythenbildung als mit vermehrten theoretischen Anstrengungen. Die offen geäußerten Ressentiments
mancherBiologengegendiemodernetheoretischePhysik(KonradLorenz,Mayr,
H.K. Erben) belegen ihren antitheoretischen Affekt.
Wir fordern: heraus! Denn vielleicht ist dieses Ressentiment ja ein durchaus begründbares Vorurteil, und die polemischen Spitzen sind mit vollem Recht zu richten gegen den physikalischen Olymp, von dem herab die gesamte Natur, namentlich auch die Biologie, philosophisch unterworfen wurde (Bohr, Schrödinger, Heisenberg, Delbrück). Vielleicht haben wir eine bessere Chance, das Leben zu verstehen, wenn wir ihm eigene wissenschaftliche Kategorien zugestehen, statt es immer wieder zu Zwangsanleihen bei der Physik zu verdonnern. Wir jedenfalls meinen:eswäreschoneinirrerZufall,wennmanmitdeninderPhysikbewährtenMethoden ebensogut Biologie treiben könnte. Biophysik ist der Schnitt zwischen Biologie und Physik – nicht die Vereinigung!
Wir müssen unseren Charakter rüsten und uns nicht vom Wunsch nach grundsätzlicher Einfachheit und Verstehbarkeit des Naturgeschehens hinreißen lassen,
diese Wünschbarkeiten den Naturerscheinungen voreilig aufzuoktroyieren. Wir
müssendemChaosmutiginsAugeschauen;dennwerwirklichLichtindasDunkel
des Lebens bringen will, sollte einmal die Augen weit aufmachen, um festzustellen, wie dunkel das Obskure wirklich ist, und ob man nicht auch im Mondlicht sehen kann. Stattdessen hangeln wir uns furchtsam zugekniffenen Augs an einfachen Prinzipien entlang, die – ja, ja! – durch einige hochintressante Provinzen im
komplexen Reich des Lebens führen; da kann man viele Forscherleben langtasten
und im Dunkeln tappen und kommt doch in der Hauptsache (‘Was ist Leben?’)
keinen Schritt über den Laienbiologen Erwin Schrödinger hinaus.
Der darwinsche Universalschlüssel ist verführerisch und intellektuell bestechend.
Lassen wirunsdennochnichtverführenundintellektuellbestechenzumGlauben,
wir hätten bereits ein prinzipielles theoretisches Verständnis der Evolution, wo es
noch so viel theoretisch zu verstehen gibt. Darwin liefert einen LetzterklärungsAutomatismus, der nur wenig wirklich erklärt, aber hurtig alles als erklärbar erklärt.
So viele Teilentwicklungen damit auch beleuchtet werden können, es bleiben immer entscheidende Lücken, die mit reichlich Zufall, unermesslich langen Zeiträumen und beschwörender Rhetorik zugedeckt werden.
Tatsächlich kann ich die verrücktesten Diffenzialgleichungen mit einem Minimum an denkerischem Voraus-Aufwand mit Hilfe einer allgemeinen Monte-Carlo-Methode lösen, oder, wie man heute so oft schwafeln hört, mit ‘Evolutionsstrategie’ – auf Deutsch: durch rechengewaltiges Ausprobieren. Darum dürfte ich
aber nicht behaupten, ich verstünde die Differenzialgleichungen mathematisch.
Tatsächlich funktionieren solche Methoden ‘blind’, ohne Ansehen des Einzelfalls
und seiner Spezialitäten; alles wird zu einer Frage der Rechenleistung – oder eben
derZeit.Unddamitistnichtbewiesen,esgebeebenweiternichtszukapieren–wie
die Evoluzzer gern behaupten.
Da vergeudet Forschergeneration um Forschergenaration ihr Leben damit, mehr
und immer mehr Schlösser zu finden, auf die der wunderbare Universalschlüssel
passt; so wie man mehr und immer mehr Belege dafür finden kann, dass feste Gegenstände nach unten fallen: und man kann sich erfolgreich einbilden, man habe
damit die aristotelische Theorie erhärtet, “unten” sei der natürliche Ort aller festen Dinge.
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Dem Biologiestudenten haut man monatelang ununterbrochen diese ganz gezielt
gesammelte Evidenz um die Ohren und überzeugt sie damit vollkommen erschöpfend.AbernichtderGegenstandisterschöpft,sondernderStudent.Dabeidenke
ich,dassnochnichteinmaldervonDarwinvorgegebeneRahmenausgeschöpftist.
Beachte seine Relativierung des ‘Kampfes ums Dasein’: er subsummiert darunter
nämlich auch gegenseitige Hilfe; noch genauer ‘Wechselwirkung’. Alles hängt mit
allem zusammen, und zwar oft wesentlich: z.B schufen die sauerstoffpupenden
Urtierchen mit ihren giftigen Ausscheidungen die Voraussetzung für das gesamte
ärobe Leben. Jede Evolution ist Koevolution.
Und neuerdings (271,309) sind die verfemten “Zwecke” längst wieder im Rennen:
Inmitten all dieser verworrenen ‘epigenetischen Landschaft’, die sich das Leben
überwiegend selbst geschaffen hat, und die es immer wieder lokal und global umgestaltet, gibt es so etwas wie lokale undglobaleAttraktoren–attraktiveBereiche,
wo die Biosphäre hin ‘will’. Es wäre reichlich vermessen zu behaupten, man könne
diese ohne weitere theoretische Anstrengung erkennen! Ohne es zu wollen, unter
hohem Gänsefüßchen-Verbrauch, bestätigt Mayr solche autopoetischen Trends;
er muss nur den noch nicht so verbissenen Darwin zitieren: dadurch, dass die ‘niederqualifizierten Stellen’ alle besetzt sind, müssen ‘neue Ideen’ verwirklicht werden; es entstehen neue ‘Selektionsdrücke’ (welch Unwort; Attraktoren, Anziehungszentren, triffts besser), und alle passen wunderbar in den Rahmen der
Naturgesetze. Eiweißketten beruhen auf der Natur der Aminosäuren, Aminosäuren beruhen auf der Natur des Kohlenstoffatoms mit seinen multiplen Valenzen, diese wiederum auf Quantenmechanik (hi Schrödinger!) und Kernphysik –
alles noch im konventionellen reduktionistischen Rahmen.
Wenn man sich weit genug ins Elementare heruntergehangelt hat, darf man mit
gnädiger Erlaubnis der Physiker behaupten, hier sei nun letzte Wirklichkeit und
Urnatur, hier walte das Zeit und Raum transzendierende, ewig- und überallgültige, von den Physikern entdeckte, universelle Naturgesetz und nichts walte
außer diesem. Ich persönlich bewahre mir da eine gesunde Skepsis; aber ich darf
im Allgemeinen unterstellen, dass Evolutionsbiologen tatsächlich so denken. Es
ist ja in dieser Blickrichtung (von der Biologie auf die Physik) auch recht vernünftig.DochblickenwirwiederindieandereRichtung,vondenkleinenTeilchen
hin zum großen Leben: dann erscheint in diesem Bild eine Entfaltung (“evolutio”)
aller darin bereits angelegten Möglichkeiten. Und hier ist der gute, alte Reduktionismus nicht mehr so vernünftig. Doch unterschreiben wir noch mal, allerdings mit
garantiertem Rücktrittsrecht! Geben wir ihm noch die Chance, damit a Ruh is’.
Wir können doch bestimmt mehrere Stunden lang streiten über die Realität der
mathematischen Objekte: hat man diese nach und nach konstruiert – alle diese
komplexen mathematischen Strukturen? Wenn ja: woraus? Nach welchen Bildungsgesetzen? Münchhausen schwingt drohend den Zopf! Oder war die ganze
Mathematik – wie Roger Penrose (393) fest glaubt – schon immer irgendwie “da”
und wir “entdecken” sie somit nach und nach? Gibt es die billionste Dezimalstelle
von π schon, bevor derComputersieausspuckt?UndwasfüreineSorteExistenzist
das? Oder von beidem ein bisschen: ein bisschen gibt es sie, ein bisschen nicht?
Vorher weniger, hinterher mehr? Ab wann werde ich – wie Penrose – des Platonismus’ verklagt, oder zumindest des Versuchs?
Ganz ähnliche Fragen könnte sich jetzt die Evolution stellen, wäre sie denn eine
Person. Nun, sie hat doch uns – tun wirs!
Sehet die eifrigen Pharma-Chemiker mit ihrer kombinatorischen Chemie, die
vollautomatisch und datenbankgestützt bis zu 10000 neue organische Verbindungen pro Woche herstellen und durchtesten; jedes streng nach den Naturgesetzen.
Haben diese neuen Stoffe und ihre Eigenschaften schon immer im Reiche der
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Möglichkeiten geschlummert? Sind deren Eigenschaften vollständig durch die
Gesetze der Quantenmechanik determiniert (prinzipiell vorherberechenbar),
oder bilden sie sich erst bei ihrer Erstsynthese? Akademische Frage für die Pharmaforscher, welche sich diese Eigenschaften unter hohem Kapitalaufwand so ertesten müssen, als wären sie komplett neu: Springen die neuen Substanzen erst in
dem Moment wirklich ins Dasein, wenn sie erstmals synthetisiert werden? Hängen
ihrEigenschaften gar von Ort, ZeitundUmständenab,wosieerstmalsentstehen?
Oder sind sie das nicht vorhersagbare Ergebnis von Symmetriebrüchen?
Oder war jede Eigenschaft von jedem komplexen organischen Molekül in jedem
Detail von vornherein vorgezeichnet? Und spiegelt es die bisher entdeckten
Eigenschaften der Materie, oder gibt es kolligative (physikalisch für kollektiv)
neue Eigenschaften bei Makromolekülen?
MitsolchenFragenkönntenwirdieHerrenQuantenmechanikerdurchausinVerlegenheit bringen, die Nachdenklichen sofort, die meisten etwas später; das geht
etwa so:
Na klar liegen die Eigenschaften komplexer Moleküle vollkommen fest, seit immer und ewig. Alles steckt doch in der Schrödinger-Gleichung. Wir müssten bloß
die Lösungen berechnen, daraus folgt alles.
Klasse, spart viel Geld. Mach doch mal!
Wir können zwar alles berechnen, aber es ist leider zuviel Arbeit!
Seid ihr faul oder was? Wir haben doch tolle Computer!
Wir können es nur prinzipiell berechnen, nicht wirklich. Auch nicht mit dem Computer. Wir können die Lösung der Gleichung nämlich nur in Ausnahmefällen programmieren.
Seid ihr dumm oder was?
GenaugenommenlässtsichdieSchrödingergleichungnurfürzweiTeilchenlösen.
Ächz.UntereinpaartausendTeilchenmachenswirsnicht!Diekönntihralso prinzipiell nicht berechnen? Ja da hast du aber eben gelogen!
Nicht hauen! Wir können die Gleichung näherungsweise lösen. Und zwar beliebig
genau!
Na dann los! Mir reichen schon drei Stellen hinterm Komma.
Halt halt – nur prinzipiell beliebig genau. Nicht wirklich, nicht mal für eine Stelle
hinterm Komma,. ... murmel ... endliche Wortlängen ... murmel ... numerische Diffusion ...
Ach nee. Radio Eriwan grüßt! Wat denn nu?
Nur in bestimmten Fällen gibts stabile Näherungen. Schon das Wassermolekül
geht kaum noch – nur mit Tricks. Das ist nicht unsere Schuld, das liegt nur an der
Scheiß-Mathematik. Keine geschlossenen Lösungen! Und dann noch nichtlinear!
Keine stabilen Lösungsverfahren ... murmel ... schimpf
Jetztehrlich mal: meine Pharmazeutika könnt ihr nicht im Mindestens berechnen.
Basta.
Nicht der Hauch einer Chance, nicht mit dem größten Supercomputer. Wir haben
nicht mal ne Ahnung, welchen Näherungsansatz man machen müsste. – Aber die
Eigenschaften deiner Moleküle liegen dennoch fest. Alles steckt schon in der
Schrödingergleichung!
Prinzipiell !!
Prinzipiell !!!
Aber hält sich die Natur auch an die Prinzipien? Vor allem an eure Prinzipien?
Die Quantenmechanik ist die am besten bestätigte physikalische Theorie der
Welt. Beim Wasserstoffatom stimmts. Auch beim Wasserstoffmolekül gibt prima
Näherungen. Und alles, was sich halbwegs berechnen lässt, passt.
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Chemiker
Phh! Aber meine Monster-Moleküle hauen vielleicht heimlich über die Schnur,
tun was sie wollen, und ihr könntet sie nicht wirklich erwischen – stimmts?
Physiker
Aber sowas tun sie nicht. Warum soll die Natur sich nicht an ihre Gesetze halten,
bloß weil wir sie nicht alle kontrollieren können?
Chemiker
Ihr könnt aber nicht beweisen – prinzipiell nicht! – dass die Schrödingergleichung
auch für 10000 Teilchen gilt? Und (ahem!) niemand könnte es widerlegen?
Physiker
Wüsste nicht wie. Kenne auch keinen, der es wüsste. Die Schrödingergleichung ist
universell, also gilt sie für 2 Teilchen und für 10000 Teilchen und für alle 1085 Teilchen überhaupt. Die kosmische Wellenfunktion, wow. Die Quantenmechanik ist
die am besten bestätigte physikalische Theorie der Welt.
Chemiker
Und die Schrödingergleichung, die der Schrödinger mal für die zwei Teilchen des
Wasserstoffatoms richtig aufgestellt hat, ist schon die universell gültige Schrödingergleichung für alles? Eins zwei viele alle? Hui!
Physiker
Das musst du uns Physikern jetzt schon glauben. Die Quantenmechanik ist die am
besten bestätigte physikalische Theorie der Welt.
Lassen wir die Frage offen, ob die Chemie ganz oder nur zum Teil aus der (heute
bekannten) Physik folgt. Was die Evolution jedenfalls tut, ist, zuerst mal in irgendeine Richtung loszurennen und dann die naturgegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen – ob die nun jeweils neu entstehen oder immer schon da waren.
Wenn man sich nun einmal ankuckt, wie konstant gewisse Eigenschaften des Lebens sind – man denke an die Eigenschaften der DNS und des genetischen Codes
–, dann müssen wir sagen: gewisse Randbedingungen werden aufrechterhalten;
gewisse Naturgesetze gelten wohl auch von Anfang an (nehmen wir doch mal so
an, auch als olle Skeptiker); und wenn die Evolution alle zu neuen Funktionen
führenden Kombinationen ausprobiert hat, wenn sie alle Namen Gottes buchstabiert hat, dann darf sie sagen: es ist vollbracht und macht Feierabend. Oder was?
Und jetzt noch eins drauf, womit ich mir vielleicht wegen liturgisch fehlerhafter
und ideologisch inkorrekter Wortwahl Mayrs Ärger einhandle, aber ich denke
jetztschoneinigeStundenüberdieseFragennachundseheganzklarundganzeindeutig einen ganz massiven und gut beschreibbaren Trend der Evolution: nicht spekulativ, rein phänomenologisch; mein Problem. das mich noch um Worte ringen
lässt ist dabei nur: woher kommen diese haltbaren Tomaten und wer hat sie den
Evolutionsbiologen aufs Auge gedrückt?
Undwenn wir in die Zukunft sehen, dann kommt in peinlichkeitserhöhender Weise noch die Moral ins Spiel, Fragen nach der Menschenwürde. Die Richtung der
Evolution nicht zu sehen, oder sie zu verdrängen, oder eine Verschwörung anzuzetteln, dass, wer als eingeweihter Biologe nicht tief über dem Wasser aufgehängt
werden mag, Schweigen zu bewahren habe: all das begünstigt auf fatale Weise den
entsetzlichen Missbrauch, der mit der Biologie angerichtet wurde, wird und werden wird. Sozialdarwinismus, Rassismus bei Hitler und moderner genetischer
Machbarkeitswahn: alles Niederschlag des die Phänomene vergewaltigenden, fanatisch festgehaltenen Dogmas, die Evolution taste sozusagen blind umher, bringe einfach nichts grundsätzlich Neues zur Welt, schaffe nie irgendetwas, was vielleicht wertvoller ist als irgendetwas anderes, und kenne nur ein Gesetz: das Überleben des Angepasstesten. Dieses Gesetz ist natürlich tautologisch, zirkulär: nur
wer angepasst ist, überlebt; nur wer überlebt, ist angepasst. Praktisch gewendet
heißt das: die Evolution kennt gar kein Gesetz.
Niemand kann die Wissenschaft mit dem belasten, was sie nicht trägt, nämlich
WertefürdasmenschlicheLebenfestzulegen,zufindenoderzubegründen.Aber
Wahrhaftigkeit können wir fordern! Darum müssen wir die Biologen damit belasten, dass sie durch die mit ihrer Wissenschaft heillos vermengte falsche Romantik
die Gebildeten wertblind machen. Repräsentatives, nachhaltiges Beispiel ist Kon-
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rad Lorenz und seine explizite, seit Hitlers Zeiten unermüdlich von ihm propagierte und bis zum Ende seines Lebens nie ganz zurückgenommene, im Namen der
Wissenschaft ausgesprochene und auch von dieser Wissenschaft unterschriebene
Zivilisations- und Kulturfeindlichkeit. Soviel Neues, Gutes, Wertvolles, das sich
auf ganz natürliche Weise beim Menschen gebildet hat, wollte der allzu tiervernarrte Lorenz in entschlossener Wertblindheit nur sehen unter dem Aspekt der
DegenerationundDomestikation,passendzudem,wasdieNazisalszersetzenden
jüdischen Intellekt und entartete Kunst verschrien, um ihre infantilen Primitivismen als “natürliche Werte” dagegenzusetzen.
Kausalität ist ein methodischer Rückspiegel: sie erklärt jeden Vorgang grundsätzlich nur aus seiner Vergangenheit. Unter dem einseitigem Rückblick auf die
alten Wege der Evolution durchs Reich der vormenschlichen Natur gerät prinzipiell und automatisch alles, was anders ist als in diesem vergangenem Reich, alles,
was die dort bewährten Prinzipien übersteigt oder ihnen widerspricht, unter den
Verdacht der Degeneration von der “edlen Wildform”, die es aber so, wie Rousseau oder Lorenz sie verstanden, nie gab.
Zurück zur Natur! Der Trend ist ungebrochen und stärker denn je. Warum zurück? Warum nicht vorwärts zur Natur? Die Öko-Nischen der Vergangenheit sind
längst und best besetzt. Ein Platz für wilde Tiere ist kein Platz für Menschen! Auch
nichtfürdenmodernenTouristen:Serengetidarfnichtsterben.Wirsolltenunsere
Abwärtskompatibilität mit der Biosphäre – unsere Lebensgrundlage! – schon im
eigenen Interesse wahren, um nicht missverstanden zu werden. Alles Gute für die
wilden Tiere, aber die brauchen uns nicht so sehr, wir wir uns brauchen. Der
Mensch ist das komplexeste und darum bedrohteste Wesen!
Wer nicht wahrnimmt, was am Menschen, an seiner Zivilisation und Kultur trotz
alledem und alledem ein entscheidender, nicht pietistisch verblasbarer, nie da
gewesener Fortschritt ist, wer sich solchen “Anthropozentrismus” verkneift, wird
kaum ein Gefühl für die eigene Menschenwürde entwickeln, aber dafür den
Zwang, andere Menschen mit Wertblindheit anzustecken. Schauen wir dennoch
unerschrocken und offenen Augs in die verpönte Richtung, in diese so genannte
Zukunft, in die jeder schauen kann, wer mag! Welchen konkreten Ratschlag
können wir dann sofort und unmittelbar ausmachen?
Zunächst einmal: üben üben üben.Entfaltung der Freiheit, insbesondere der Willensfreiheit, der politischen Freiheit, der Demokratie und anderer Langweiligkeiten; Erweiterung des Selbstbewusstseins und der Bescheidenheit, der Individualität,derVerantwortung,Kultivierung aller Lebensbereiche.Einkleinbisschenerwachsener werden; nix Spektakuläres. Erst einmal keine dolle neue Heilslehre.
All das jeder für sich und jeder mit jedem: tun wir dies Unmögliche, dann warten
wieder Wunder auf uns!
Und dann handfester: jeder sollte sich das allgemeine Ziel stecken – Momenterl,
mein Hut –, von zehntausend Menschen beeinflusst zu werden und selber zehntausend andere Menschen zu beeinflussen. Ich denke, genau darauf fährt der
Hauptstrom der Evolution; schon vor 150 Tausend Jahren hat er die gemütlich
daherbummelnde Keimbahn verlassen und ist in das ungemütlich dahinrasende
Vehikel der “kulturellen Entwicklung” umgestiegen; auf deutsch: transzendiert.
Mal wieder die Transzendenzoperation, die die kosmische, präbiotische, biologische, kulturelle Evolution seit Bestehen der ersten Elementarteilchen immer wieder neu hinter sich und über sich gebracht hat, jedesmal den Informationsfluss um
Größenordnungen beschleunigend. Noch so’ne Zahl (chapeau!): zehn Milliarden
Menschen ist ne gute Zahl für den Planeten. Viel mehr solltens nicht werden, aber
auch nicht viel weniger.
Achtung Achtung. Alle Zahlen kommen aus meinem Hut, einem schönen Hut.
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Aber der Ton liegt nicht auf 10 Milliarden; der Ton liegt auf Menschen. Keine
Moleküle, Zelleinheiten, Neuronen, Termiten, Ameisen oder sonstige, irgendeinem großen Ganzen untergeordnete Funktionseinheiten, sondern autonome,
sich parallel entwickelnde, massiv kommunizierende Individuen.
Wo du nicht alles bist, ist dein Volk nichts.
Allseits entwickelte, sperrige, kauzige, originelle, spleenige Individuen in bunter
Vielfalt; sonst – das kann passieren in der Evolution, nicht wahr, da wird nix garantiert – sonst gehen wir im Kreis und machen uns am Ende überflüssig; denn Termitenstaaten und andere formierte Gesellschaften gibts ja schon, und die sind unüberbietbar erfolgreich. Das Projekt homo sapiens sapiens muss sich schon höhere
Ziele stecken – die niederen Nischen sind: BESETZT! Fragt Darwin!
Die Evolution bildete einst ein nettes kleines komplexes Miniversum namens ‘lebende Zelle’, schon als Prokaryont ein ziemlich uneinfach Ding; schließt dann
Gruppen davon zusammen mit je spezialisierten Aufgaben (Organellen) zu Eukaryonten-Multiversen; und dann aus diesen über lose und dann feste Gruppierung
wiederUniversenhöhererOrdnungnamens‘Mehrzeller’mitimmerhöherspezialisierten Strukturen wie dem ZNS, Großhirn, Hirnrinde; und alles gleich im innerlich und äußerlich vernetzten Mehrfachpack, denn es bilden sich mehr oder weniger stark gekoppelte Tiergesellschaften, ja Tierkulturen. (110) Es ist nicht schwer,
den nächsten Schritt zu sehen, sogar im Rückspiegel. Es läuft schlicht hinaus auf
ein weitere Schichtung im Kosmen-Kosmos; ob das nun eine ontologische Entelechie ist oder Emergenz oder Fulguration oder Noosphäre, sonst etwas, kümmert
kein’ großen Geist.
Wassermann
Die nächst höhere Stufe ist nur dann eine höhere Stufe und erschafft damit eine
nachhaltige ökologische Nische für uns Menschen, wenn die untere – wir Menschen, wir Einzelnen – wirklich all unsere on-board-Optionen an Komplexitätskontrolle und Autonomie voll ausschöpfen. Sollte es mal eine Noosphäre namens
‘Gäa’ geben, mit eigenem Über-Selbst-Bewusstsein und unausdenkbaren hypermentalen Features, dann nur, wenn die überwiegende Mehrheit der Menschen,
aus denen sie besteht, ganz doll und voll entwickelte Individuen sind und alle
menschlichen Möglichkeiten voll ausgelotet haben. Ein Ende ist da nicht abzusehen.
Das Symbol ‘Wassermann’ steht für Einheit, Gemeinschaft, Humanität, Teamgeist und fürOriginalität,Individuation;undbeideBedeutungsgruppenstehenfür
dasselbe Prinzip!
Verstehen wir, warum die alle so stocksauer auf den armen Teilhard sind, dessen
Grundideen so goldrichtig wie offensichtlich sind? (495) Ich darf persönlich gestehen: ich finde Teilhards Stil etwas unbegeisternd, pastoral, einschläfernd, repetetiv, betulich. Ich hab mich durchgequält. Das kommt davon, wenn man sich so
einem schwach inspirierten Verein wie der katholischen (oder sonst einer christlichen)Kircheimmernochverpflichtetfühlt:dasfärbtab.AberwoerRechthat,hat
er Recht, der Schlemihl.
Prinzipien der Evolution WS 20.7.97
Selektion im Kampf ums Dasein hat mindestens die Funktion ständiger Kritik der
Entwicklung. Scharfer Test, ständige Erprobung. Selektionsdruck in Richtung auf
ständige Verbesserung bisheriger Entwicklungen. Nachgewiesen als “Mikro-Evolution”.
Aber schieres Überleben ist nicht das einzige Prinzip der Evolution, wie Darwinismus und Neo-Darwinismus es einst wollten. Auch wenn sich einzelne Evolutionstheoretiker noch so wütend sträuben: man muss Teilhard, will man die Befunde
nicht grotesk verbiegen, zustimmen, wenn er eine “Richtung” der Evolution an-
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nimmt. Spekulationsfrei, hart an den Phänomenen, ohne irgendeine theoretische
Erklärung zu suggerieren, weisen wir darauf hin, dass es eine Entwicklung zu
höherer Komplexität gibt: Selbstorganisation in immer komplexeren Einheiten.
(Trilobiten sind nicht ‘komplex’ im organisatorischen Sinne, auch wenn noch so
formenreich!Genausowenig wie die Gesamtheit aller Schneeflocken in ihrer bunten Vielfalt noch lange nicht ’komplex’ ist.)
Treten wir in Teilhards Glaubenssystem zumindest so weit ein und unterstellen,
diese Entwicklungsrichtung zu größerer Komplexität habe beim Menschen noch
kein Ende gefunden. Ein solcher Glaube ist nicht nur vernünftig, führt nicht nur
sozialdarwinistische und rassistische Ideologien vollkommen ad absurdum, sondern auch jeden Kollektivismus und Totalitarismus, wie etwa bei den Nazis “Du
bist nichts, dein Volk ist alles.”
Das Wort “organisch”, “Organisation” ist von diesen inhumanen Ideologien stark
kontaminiert – vgl L.T.I! (274)
Denn: (Zelle:Organismus ≠ Mensch:Gesellschaft)
Zelle im Organismus ist immer dediziert und in der Rolle fixiert. Der römische Senator, die alte Magenzelle, erklärt den plebejischen Muskelzellen, warum es so ist,
wie es ist.
Insektenstaaten wiederholen diese starre Rollenverteilung. Die Ameise ist nichts,
der Haufen ist alles. Kein Vorbild für die menschliche Gesellschaft!
‘Innere Komplexität’, Flexibilität, ‘Freiheit’ in mehreren Sinnen des Wortes wegenäußerenRandbedingungeneinzufrieren,einzuschränkenheißtevolutionären
Bonus verschenken: in mehreren Sinnen des Wortes ‘reaktionär’.
Keine “organische” Gesellschaft. Ist nämlich kaum ein Fortschritt von der “Mechanischen”;wennmanMenschen“organisiert”,läufteswiederaufdieolleMegamaschine hinaus. “Organisation” im Sinne der L.T.I.
Neu wäre ein wesenhafter Zusammenschluss, eine ‘Gesellschaft’, ein größeres
Ganzes ‘Menschheit’ oder auch, bescheidener, ‘Stämme’, ‘Völker’, Gemeinschaften eben, in denen jeder einzelne Bestandteil volle innere Freiheit hat. Freiwilligkeit, Freiheit. Mehr-als-organisch, synergetisch durch ‘Faltung’, ‘Multiplikation’
alldernichteingefrorenen,eingeschränkteninnerenFreiheitsgrade(sicveniaverbi) des Menschen. Alles, was erzwungen wird, ‘durch Versklavung’ (im synergetischen und gesellschaftlichen Sinne), mindert die Dimensionalität des entstehenden Hyperwesens.
Darum sollen die Menschen sich wohl zusammenschließen, ein größeres Ganzes
bilden,aberohnedieeigeneIndividualitätdabeiimMindesteneinzuschränken,in
Gegenteil, der Zusammenschluss sollte die weitere Entfaltung innerer Freiheitsgradefördern.DerWassermann-GottwillIndividuen,ausgestattetmitallenMenschenwürden, freien Willen, in kollegialem, nicht zentralisierten Zusammenschluss.
Ein Universum von Universen. Totaler Partikularismus.
Evolutionäre Funktionalitäts-Argumente WS 20.7.97
Funktionalität
kann für alle komplexen, aufwendigen Organismen und Verhaltensweisen aus
evolutionären Argumenten abgeleitet werden (modulo Luxurationen; Geweihe).
Vgl EE; und – über deren blinde Flecke hinaus: Funktionalität von Mythen sowie
des (nach Piaget) spontan auftretenden magischen Denkens beim Kind.
Diese Argumente beruhen nicht primär auf dem Darwinismus, im Sinne des “survival of the fittest” als alleinigem Selektionskriterium, sondern können sich vorderhand aus dem Faktenfundus der Evolutionsbiologie bedienen: Funktionalität
aufwendiger, kostspieliger Strukturen ist eine durchgänge Tatsache der Biologie.
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ex negativo
Punktualismus
(485p9)
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“Geweihe” sind eher die Ausnahme, da sie die Überlebenschancen verringern.
Nicht-funktionelle, teure Entwicklungen mindern generell die Überlebenschancen,sodasssichdieNaturdiesaufdieDauernichtleistet.DieserAspektderSelektion steht nicht zur Debatte; problematisch ist nur, ihn zum alleinigen Kriterium
der Evolution zu machen.
(485) holt auf gegenüber dem Gradualismus, der bis vor 1970 allgemein, und heute noch unter Humanbiologen dominierenden Auffassung. Die Gründe für das
BeharrenindiesemschlechtbestätigtenParadigma(Ausrede:“lückenhafteÜberlieferung”) liegen vor allem in einem Dominieren der Molekulargenetik im Rahmender“neuenSynthese”;diePaläontologiewurdedabeikaumernstgenommen.
“Wie ... erst seit kurzem zuverlässig datierbare Zeugnisse offenbaren, überleben
Arten im Regelfall Hunderttausende, ja sogar Millionen von Generationen ohne
nennenswerte Weiterentwicklung. Das aber legt den Schluss zwingend nahe, dass
sich die Evolution größtenteil sprunghaft vollzieht, wenn durch evolutive Divergenz kleiner Populationen von der Elternart neue Arten entstehen. Danach machendanndiemeistenArtenbiszumZeitpunktihresAussterbenskaummehreine
Evolution durch.”
→R/N Kompost II p138-148
<Evolutionstitel> im SPIEGEL 2.3.1998 p184-195
Neue Fundstelle
Federsaurier
Im historischen Rückblick des groß aufgemachten Themas die offiziellen NichtfalschheitenüberLamarckundDarwin,allesleiderimpoliertenRahmenderallzu
frommen “in-usum-delphini“-Version zur Geschichte der Evolutionstheorie. Lieber Spiegel-Ober-Wissenschaftsredakteur, ich weiß, deine Zeit ist begrenzt, aber
lies zum Thema gelegentlich wieder mal die Klassiker: Darwin (91), Mayr (346,
347), Dawkins (99), Stanley (485), Gould (195 u.a.), Rose (427), um einen ungefähren Überblick über die schwankende Geschichte des Darwinismus bis in die
Siebziger Jahre zu bekommen und vor allem – vor allem, um langsam abstumpfenden Star-Querdenkern wie Gould gehörig geben zu können, was sie brauchen, um
ihren Biss nachzustellen! Das wäre Wissenschaftsjournalismus: bidirektional.
Von den Achtzigern reden wir nur leise, weil das weder Dawkins noch Goulds
Welt ist: Einfluss der Informations- und Komplexitätstheorie, der Theorie nichtlinearer bzw. dissipativer Systeme: Eigen (128), Haken (207), Küppers (295,296),
Prigogine (408), Goodwin (194), Kauffman (271). Spannend ist das schon, wenn
man bloß Zeit hätt’, sich damit zu beschäftigen – und man bringts am Ende doch
nicht auf den berühmten Punkt, von dem aus alles zu erklären ist. Hauptsache,
eine ungefähre Vorstellung des Begriffs “Information” – denn das ist ein Schlüssel
zur Evolution!
Liaoning in der südchinesischen Steppe: Ein Vulkanausbruch vor 123 MJ ermöglicht heute einen noch nie da gewesenen paläontologischen Querschnitt. Er konservierte im Tuffgestein “Zeugnisse aus einer Umbruchzeit, in der neue Wesen in
der Welt der Saurier auftauchen”. “Den dominierenden Farnen, Gingkogewächsen und Nadelhölzern” erwuchs “Konkurrenz durch Blütenpflanzen... Libellen
und Bienen zeugen von einen gleichzeitigen Siegeszug der Insekten. Vögel erobern die Lüfte, Säugetiere beginnen sich auszubreiten.”
Der Münchner Paläontologe Peter Wellnhofer findet unter dem UV-Mikroskop
Gefiederreste und damit Hinweise auf Federschwingen an einem Saurier.
Laut ‘Science’ entstehe ‘eine neue Sicht der Evolution’. Laut Spiegel “kommen
nun Lesarten auf”, nach denen es “sinnlos” sei, “von höheren und niederen Krea-
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Ganz alter Hut.
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turen zu sprechen – der Homo sapiens wird auf eine Stufe mit Käfern und
Würmern gestellt.”
Schon Darwin mahnte: ‘Gebrauche nie die Worte höher oder niedriger’. (347p89) Und
seitdem eiern die Biologen darum herum, denn irgendwie und irgendwie ...
Das Neueste von den Genen:
Hox-Gene als letzter Schrei spätmoderner Molekularbiologie
Diese lernen, “im Erbgut jetzt lebender Tiere die Baupläne einstiger Kreaturen
nachzulesen” These: “In den Genen ihrer Urahnen waren die Körperteile neuer
Geschöpfe bereits angelegt, Jahrmillionen bevor diese leibhaftig erschienen.”
Der Baseler Entwicklungsbiologe Walter Gehring verstärkte “die Wirkung eines
Gens, das in Larven [von Fruchtfliegen] die Entwicklung der Augen steuert” und
“14 Augen wuchsen diesen Insekten an abseitigen Stellen: auf den Flügeln und an
den Beinen, sogar an den Spitzen ihrer Fühler.”
“Er entnahm Mäusechromosomen das entsprechende Augen-Gen und schleuste
es in Fruchtfliegenlarven ein. Wieder waren die ausgewachsenen Fliegenkörper
mit rubinrot glitzernden Insektenaugen übersät.” Es funktionierte sogar mit
“Augen-Genen eines Tintenfisches.”
Schalter-Theorie Gehring folgert, das Augen-Gen sei “ein Schalter, der in allen Geschöpfen gleichermaßen die Bildung des Sehorgans steuert.” Spezifische Gene regeln dann das
Nähere; nur diese unterschieden sich.
Frage: hat er per Sequenzvergleich geprüft, ob die Augen-Gene “gleich” sind, oder ist
das auch eine Schlussfolgerung? Wird nicht ganz klar.
Konsens:
Wilde Frage:
“Parallel ... hatten US-Forscher ein Gen gefunden, das in Mäusen wie in Fliegen
das Herz wachsen lässt.”
“Der letztegemeinsameVorfahrvonInsektenundWirbeltieren”hattekeine“Organe, Blutkreislauf oder Gesichtssinn”.
“Existierten also im Erbgut dieses schlichten Urahnen bereits Pläne für Auge und
Ohr?”
Oh Ironie des Schicksals!
So liefern ausgerechnet die Molekularbiologen noch dem Kreationismus und anderen
satanischen teleologischen Ketzereien prima Argumente! Das kommt davon, wenn
man – aller Evidenz vergangener Jahrzehnte zum Trotz – nicht lassen will von der notorischen Überschätzung des Anteils der in den Genen “programmierten” Information
über den Bau der Lebewesen. Was sich nur dem erschließt, der den Informationsgehalt
des Genoms durchrechnet und herausfindet, dass er astronomische Größenordungen
unter dem Informationsgehalt des entfalteten Phänotyps liegt, auch bei extrem konservativer Schätzung. Die Gene sind die Weichen für diverse Entwicklungsschienen,
liefern selbst aber nur wenig Information. “Die Weichen sind nicht die ganze Strecke.”
Der Schluss ist unabweisbar und voll kompatibel mit der ‘neuen Sachlage’:
Der Baseler Biologe Georg Halder: “Genetisch sind sich die Lebewesen sehr viel
ähnlicher, als wir es je vermutet hätten. Inzwischen fragen wir uns: Was erzeugt
eigentlich die Unterschiede zwischen Würmern und Menschen?”
Bei differenzieller Betrachtung schrumpft der Anteil der im Genom tatsächlich transportierten Erbinformation noch einmal um einige Größenordnungen. Vgl. Abschätzungen und Schlussfolgerungen zum menschlichen Cortex →Ge-10
Sheldrake ante portas!
“Auch das Programm, das den Körpergrundriss festlegt, ist bei allen Tieren ähnlich. Ob Spinne, Krake oder Wal – stets bestimmen die gleichen Erbstränge [Nukleotidsequenzen] die Anatomie. Mit der Entdeckung der ‘Hox’-Gene scheint
nunmehr geklärt, welche Kräfte die Entwicklung des Tierreichs vorantrieben.”
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
EVOLUTION 6.3.2001
Version 6.3

Ev-101
2001 Werner Schneider u.a.
‘Geklärt’ ist da noch nicht einmal in der Theorie etwas. Man kann ein paar Evidenzen
besser sinnvoll ordnen, man ‘versteht einen neuen Zusammenhang’ zwischen Tatsachen. Und ‘vorantreibende Kräfte’ ist und bleibt eine fahrlässig irreführende Metapher
– und es geht weiter mit einer substanziell schiefen, buchstäblich verräterischen Metaphorik, die heimlich gerade das befördert, was die Diskurrierer solcher Diskurse eigentlich als ‘Anthropomorphismen’ in das Reich des Aberglaubens verbannen müssten –
wären sie denn hinreichend selbstbewusst.
“Wie Architekten dirigieren diese Gene das Wachstum eines Embryos von Kopf
bis Schwanz. Zerrtiere wachsen heran, wenn Forscher in die Hox-Befehle eingreifen: durch die Käfige des Genfer Entwicklungsbiologen Denis Duboule humpeln
undkugelnMäusemitVorderbeinen,diesichnachaußenwölbenwieRobbenflossen. Oder es kamen Nager mit verkürztem Unterleib zur Welt, denen einzelne Zehen fehlen – den männlichen Exemplaren obendrein der Knochen, ler den Penis
stützt.”
Duboule glaubt den Übergang der Fische an Land so zu erklären: “Flossen und
Füßewachsen...unterderRegiedesselbenGens(‘Hoxd-13’).Nurseiwährenddes
Wachstums von Mäusen dieses Gen etwas länger eingeschaltet als in Fischlarven:
Aus dem Stummel, der im Fisch zur Flosse würde, sprießen dann Fußballen und
Zehen.”
“Unter dem Oberkommando dieses einen Gens” wachse der ganze Apparat zur
Fortbewegung an Land.
Die referierten suggestiven Metaphern sind nicht einmal in sich schlüssig. Der “Architekt”, der doch das “Kommando”, ja das “Oberkommando” hat, wäre niemand, der
sich ein Ein- oder Ausschalten von außen gefallen ließe. Hier liegen Fehler nicht nur
der sprachlichen Einkleidung vor, sondern wohl auch der dahinterliegenden theoretischen Modellvorstellung.
Im Einklang mit Goulds früheren Gedanken über kovariante Mutationen findet
sich: Weil die Hox-Gene “am mehreren Stellen in den Körperbau eingreifen, ...
haben sie der Natur viel Herumprobieren erspart... bereits durch eine winzige Änderung im Hox-Programm wuchsen völlig neue[!1] Formen, ohne den bewährten
Grundplan zu gefährden – die Evolution arbeitete mit dem Baukastenprinzip.[!2]”
[!1]
[!2]
Vgl die im ersten Drittel des Jahrhunderts gegen die verfemten “Großmutationen” vorgebrachten Argumente. Man kann ahnen, wie das erforderliche Gegenargument geht.
Ins Unreine: es ermöglichte sprunghafte, aber nichtletale Mutabilität, also Mutationen, die den Körperaufbau ändern, ohne die Vitalfunktionen außer Betrieb zu setzen
und die “relativ tauglich” waren, aber in gewissen Nischen tauglicher, so dass hier die
Evolution mit verfeinernden Mikromutationen weiterkam, um allopatrisch Arten zu
bilden, zu Darwins heller Freude.
Baukasten ist eine all zu schiefe Metapher – es sei denn, man stelle sich flexible, parametrierte Elemente vor, und keine starren, was ‘Baukasten’ suggeriert.
“Seit letztem Monat steht fest, dass schon die allerersten Tiere nach diesem Systemen zusammengesetzt sind.” Chinesische Paläontologen fanden 570 MJ alte,
sandkorngroße, versteinerte Embryonen, “die frühesten zweifelsfrei identifizierten Tierkörper überhaupt” – und an ihnen könne man “das Walten von Hox-Genen erkennen.”
Der US-Genetiker Eric Davidson spricht vom Urahn aller Tiere, der ‘vor etwa
einer Jahrmilliarde’ lebte. Aus Erbgutvergleichen habe er abgelesen, “dass sich
aus diesem ‘wahrscheinlich kugelförmigen’ Vorfahren von Mensch und Wurm
verschiedene Ahnenreihen abgespalten hätten”, differenziert nur in der Feinstruktur des Genoms, noch nicht aber im Phänotyp.
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
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EVOLUTION 6.3.2001 Version 6.3
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Der neueste Mythos der Evolutionstheorie:
“Hox-Gene haben wahrscheinlich die kambrische Explosion ... ausgelöst ... Plötzlich vermehrten sich die Hox-Gene und ermöglichten komplizierte Designs”: die
präkambrischen Quallen haben nur zwei davon, “Plattwürmer, die damals entstanden, haben vier, Krebse acht, die Lanzettfischchen zehn Hox-Gene. ‘An die
sem Punkt’, begeistert sich der amerikanische Paläobiologe David Jablonski, ‘erreichte die Natur, boom!, eine kritische Masse.’”
Mit 37 “Grundbauplänen” habe die Evolution die konzeptuelle Innovation eingestellt. (Beim Menschen sind es angeblich 38 Hox-Gene, wie auch immer). Seit
einer halben Jahrmilliarde variiere die Natur nur noch dieses Basiskonzept, sagt
Jablonski.
“Die Evolution ist erlahmt, das sieht auch Gould so. Seine Begründung: Neue Erfindungen hätten erst einmal anzutreten gegen die Wesen, die sich schon breitgemacht haben auf dem Planeten und deutlich im Vorteil sind. ‘Die Bühne des Lebens’, meint Gould, ‘ist voll.’”
Dawkins vs. Gould
“Dawkins
Gould
Und der Spiegel nimmt diese jeder theoretischen und empirischen Evidenz spottende
Provokation Goulds brav als Schlusswort! Statt den Fehdehandschuh aufzunehmen
und ihm kräftig Kontra zu geben! Das i.ff. abgedruckte Interview ist leider danebengegangen. Um die Befrager nicht für voll nehmen zu müssen, nimmt Gould den Mund
umso voller. Da komme wir noch drauf zurück.
Man kann ahnen, was Gould meint. Vielleicht raufen sich alle Beteiligten jetzt die
Haare und schwören: nie, nie wieder ein Interview mit Gould resp. dem Spiegel.
Der Spiegel nennt als Kronanwälte der beiden “Fronten” Dawkins und Gould:
preist die ‘fast unbegrenzte Kraft des darwinistischen Prinzips’. Durch Auslese ihrer tauglichsten Geschöpfe habe die Natur aus den simplesten immer bessere Wesen hervorgebracht – der Forscher beschreibt die Evolution als Triumphzug des
Fortschritts.
Der Paläontologe Gould, Professor in Harvard, soeben zum “Präsidenten des einflussreichen amerikanischen Wissenschaftlerverbandes A.A.A.S ernannt, hat seinen Paläontologenhammer längst aus der Hand gelegt. Der Biologe Dawkins, Inhaber eines Oxford-Lehrstuhls für Wissenschaftsvermittlung, hat noch nie im Leben im Labor gearbeitet”. Beide schrieben Bücher in Millionenauflage und gebärden sich als “Diva des Wissenschaftsbetriebs”.
Gould gilt als Hoherpriester des Zufalls. Viel mehr als die natürliche Auslese entscheide ‘wildes Lotteriespiel’ über Wohl und Wege einer Art. Nirgends sieht
Gould Anzeichen für Fortschritt: ‘Die Bakterien sind den Menschen überlegen’”
(auf diese Sottise kommen wir noch zurück)
Sympathy for the devil WS 24.02.2001
In seinen Büchern stilisiert sich Dawkins als bekennender Dünnbrettbohrer: Reduktionist, weil er Verstehen nicht anders verstehen kann, als durch Zerlegen in
kleine Teile,undVerweisaufdieIngenieurerei;(100) miteinembreiten,aber(methodisch bedingt) untiefen Wissen, anders gesagt einem engen Horizont: genau 1
enger Realitätstunnel. Große rhetorische Begabung, geborener Apologet und
fundamentalistischer Missionar mit Bedürfnis nach intellektuell abgesichertem
Glauben.
Ganz anders Gould, der breites Wissen mit Tiefgang verbindet und in seinen unterschiedlichen Schriften beweist, dass er durchaus über mehr als nur einen Zugang zur Wirklichkeit verfügt. War lange praktizierender Forscher (Theorie der
unterbrochenen Gleichgewichte). Bewusstsein für die Brüche in der Realität,
kann unsicheres Wissen aushalten, braucht keine Rettungsanker.
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Sonderbare Fronten? Und dennoch muss ich hier vordergründig Dawkins folgen,
aber nicht in den Gründen, und wahrscheinlich auch nicht in den Konsequenzen;
es ist nicht das heilsbringende darwinistische Prinzip, welches (selbsttätig) für
einenFortschrittderEvolutionbringt,sonderneineweithinunverstandene,nichtselbstverständliche, nicht-ewigwirkende Dynamik; denn soviel ahnen wir dumpf,
dass der Job auf uns Menschen zukommt und der Fortschritt insofern nicht mehr
garantiert ist. Keinesfalls ein Job für die Gengenieure, bewahre; die hantieren mit
einer seit 150000 Jahren überholten, ziemlich gut ausgereizten Technologie. Die
können sich ein wenig um die Medizin verdient machen, hie und da.
→Ev-117 →Mo-4
WogegenGould–dermirsichergeistigNähere–hierwirklichdiefreudloseSünde
wider den wissenschaftlichen Geist begeht, die nicht vergeben wird, sondern die
gebüßt werdern muss. Was heißt begeht? Er schmeißt sich richtig ran, kokettiert
öffentlich mit dem Wissenschaftsteufel ... (starke, donnernde Worte) ... .
Und dennoch: auch hier ist mir seine herausfordernde wissenschaftliche Frivolität
immer noch lieber als Dawkins quietistische Verehrung der Evolution.
Wie nun also? Gould flirtet nicht mit dem Wissenschaftsteufel, er verkörpert de
Teufel. Er übernimmt den Part voll. Und der Teufel muss sein und verdient allemal Sympathie. Also rufe ich ihm anerkennend zu:
Teufel, Teufel!
Er stopft uns wahrlich starken Toback in die Pfeife. Leider reagieren die SPIEGEL-Redakteure etwas unfeurig (sie reagieren immerhin). Wäre jetzt traurig, die
Herausforderung nicht voll anzunehmen und die Pfeife aufzurauchen?
Goulds starken biologischen Toback muss man sich voll reinziehen
Um das diabolisch Schönste vorwegzunehmen: Gould deklamiert emphatisch, es
gebegarantiertkeinerleiFortschrittinderEvolution,keine“Richtung”,insbesondere keine “Höherentwicklung”, und was auch immer uns so erscheine, könne nur
Zufall oder Täuschung sein.
Wenn wir die herrschenden Erklärungsmuster der 70-Jahre als dogmatisches
Nonplusultra der Wissenschaft annehmen, folgt dies in der Tat: denn auf dem Boden des damals herrschenden Paradigmas muss evolutionärer Fortschritt letztlich
unerklärbar sein, wenn sogar einem so gewitzten und kenntnisreichen Geist wie
Gould keine wirklich befriedigende Erklärung einfällt. Soweit sollten wir ihm folgen!
Und seine These in der Pfeife rauchen. Wär doch wirklich schad’ um den Stoff. Im
Anschluss an die folgende Blütenlese aus dem SPIEGEL nehme ich mir das
Zeusch noch mal schön genüsslich zur Brust! Inspiration für das neue Jahrtausend!
Teufel, Teufel
Wirklich ein dolles Kraut. Nix für ängstliche Naturen und schwache Geister.
→Ev-117
Goulds interessanteste Thesen im SPIEGEL
Der SPIEGEL legt Dawkins im wesentlichen die Schul-Auffassung in den Mund.
Gould vertrete die angeblich abweichende These, “dass sich das Leben bei einem
zweiten Anlauf ‘ganz anders’ entwickeln würde”.
Natürlich! Aber das bezweifelt doch niemand! Da spitzen die “Divas” gewisse Aspekte
der schulmäßigen Evolutionstheorie auflagenträchtig zu. Ich referiere mal vorsichtshalber zwecks Rekonstruktion die Spiegel-Version der von Gould vertretenen These
(Irgendwo ist die Konfrontation Spiegel–Gould ungut verlaufen; unvorsichtiger ausgedrückt:Gouldmusshartdarangearbeitethaben,sichwieeinArschlochaufzuführen
– alles im Dienst der Provokation.)
Gould beruft sich auf die kambrische Explosion (Klassischer Fundort: Burgess
ShaleinKanada;Datierung:–530MJ)mitihremplötzlichenArtenreichtum.Aber
“die goldene Zeit der ‘irren Wundertiere’ (Gould) währte nur fünf MJ ... Sie en-
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EVOLUTION 6.3.2001
AUTSCH!
Oder aber
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dete, als manche Tiere begannen, sich mit Zähnen und Klauen zu bewaffnen und
mordlustig [mussassein?] übereinander herfielen.”
Das dem “Wettrüsten” anschließende “größte Gemetzel der Naturgeschichte”
(Gould)überlebtennurwenigeArten,“undkeinerleiMerkmaleließendenSieger
im Voraus erkennen, behauptet Gould”. Warum sei der ein Meter große, “grässliche Räuber Anomalocaris” mit seinen “kreisrunden Mahlwerksgebiss” verschwunden, während der “wehrlose Däumling namens Pikaia”, der Stammvater
der Wirbeltiere, gesiegt habe?
Uralter Schnee! Small is rather beautiful, und einseitige Hochrüstung führt unweigerlich in die Sackgasse, denn nicht ‘der Stärkste und seine Beute’ spielen das Spiel am
längsten, sondern ‘the fittest’, i.e. der mit seiner Umwelt am harmonischsten und effizientesten abgestimmte: Da ist ein Lebewesen, das kambriumübliche Komplexität und
Flexibilität auf kleinerem Raum bei größerer Schonung der Ressourcen unterbringt,
langfristig im Vorteil. Goulds (?) Frage lässt sich also leicht beantworten! Natürlich ist
der Vulgärdarwinismus Blödsinn:dieBedeutungvonKonkurrenzund“Rüstung”wurde schon immer aus durchsichtigen ideologischen Gründen gewaltig übertrieben. Kein
ernsthafter Biologe tut das heute noch.
Beachte: ‘angepasst’ ist eine schlechte Übersetzung von Darwins ‘fit’. Besser ist ‘aufeinander abgestimmt’: eine Spezies ändert sich (via Mutation, Gen-Rekombination und
Selektion), und sie ändert ihre Umgebung (wobei diese Wirkung direkt erfolgt, nicht
über eine zwischengeschaltete Lotterie: also der gewichtigere Anteil!). Wo diese Änderungen so geschehen, dass sowohl eine bestimmte Variante der Spezies als auch die zugehörige Umgebung stabilisiert werden (und, möglicherweise, konkurrierenden Systemenen überlegen: nicht unbedingt der springende Punkt), dort ist die Chance im Lebensspiel am größten.
Damit steht die echte Frage im Hintergrund: “Wo setzt die Selektion an?” Bei den Genen (Dawkins)? Bei einzelnen Individuen und Sippen(Darwin,heutige Schulmeinung)? Bei Gruppen (kin selection)? Bei Arten? Bei Ökosystemen? (Idee der Koevolution?) Oder ist das nicht vielleicht alles immer noch übervereinfachend und in Wirklichkeit spielt alles von “Schichte zu Schichte” (Rupert Riedl) eine Rolle bis hinauf zu
einer selbstoptimierenden Systemen-Evolution der gesamten Ökosphäre (Gaia-Hypothese von Lovelock), so dass ‘Wettbewerb’ im naiven dawkinschen SinneinderHauptrolle nur eine nachgeordnete ‘ständige Funktionsprüfung und -anpassung’ im Rahmen der Mikro-Evolution hat, Abt. “Artenpflege und -wartung”. Hier ist der Streit, der
tatsächlich gestritten wird und sich wissenschaftlich auch lohnt!
Noch mal für die Dummen (To whom it may concern!): am ehesten überlebt das Individuum, dessen Art es gelingt, seine Umgebung am besten dauerhaft an die eigenen
Bedürfnisse anzupassen. Je erfolgreicher ein Räuber ist, desto kleiner wird seine ÖkoNische, und wer nur da nur räubern gelernt hat, hat schlechte Karten. Die Begründung
bleibt dem Leser überlassen.
man nennt, was man auf Grund seiner leider schwerintelligiblen Komplexität nicht auf
einen publikumsmagnetischen Nenner bringt, “Zufall”. Irgendwie schon – aber so ein
richtiger wissenschaftlich korrekter Zufall ist das nun gerade nicht:
“Verflechtungen und Abhängigkeiten der Tiere” [und der Pflanzen und der Atmosphäre und und und] waren in Kambrien “bereits so ausgeprägt, dass das Ver-
schwindeneinereinzigenSpeziesdenNiedergang–oderdasplötzlicheAufleben–
einer ganzen Reihe von Arten auslösen konnte”. Da “solche Unwägbarkeiten” in
der Naturgeschichte seitdem eher noch zunahmen, hielte Gould es für “abwegig,
an die Tüchtigkeit als Überlebensgarantie zu glauben”.
Nochmal: ein ziemlich alter Hut, den sich so weder Darwin noch Nachfolger selber
aufsetzten. Das waren ‘Sozialdarwinisten’ im viktorianischen Überschwang, später
auch viele ‘völkische’ Biologen. Und anscheinend erzählt mans gerne noch den Kin-
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dern in der Schul’, wie so manches andere pseudowissenschaftliche Märchen. Grummel.
“Nicht das Streben nach Verbesserung, sondern zufällige Umstände hätten das
Geschick des irdischen Lebens gelenkt.”
Übersetze: es ist nicht nach einer ‘genial einfachen’, leicht kapierbaren Zauberformel
hergegangen. Es gibt vielleicht überhaupt keinen ‘Universalschlüssel’ zur Evolution.
Wissenschaftstheoretisch anständiger ’Zufall’ ist das deswegen aber noch lange nicht!
Das Leben verdanken wir weder altfränkischem “Streben nach Verbesserung” noch
“zufälligen Umständen”, sondern schlicht ... ‘anderen Umständen’, verlegen, aber
ehrlich formuliert. Ja kompliziert sans scho’, die Umständ’, o jegerl o jerum! Wenn
nicht gar – horribile dictu – ‘hochkomplex’.
Die Lage ist chaotisch, aber nicht ordnungslos: Junk your old equations and look for
guidance in clouds repeating patterns! – Cvitanowich, Universality in Chaos(88)
Die Schneckenhäuser: vor- und rückwärts, ohne Fortschritt. In der Tat.
Oder die Foraminiferen, die Trilobiten, vorwärts, rückwärts, durcheinander: Jessas
Jessas!
“Die Primaten eroberten ihren Platz auf der Erde nicht, indem sie die Bakterien,
die Fische und die Insekten verdrängten. Sie konnten nur jene ökologische Nischen besetzen, die die älteren Bewohner des Planeten noch nicht ausgefüllt hatten.”
Impossibile est satiram non scribere!
Scherz beiseite:
Die Amöben eroberten ihren Platz auf der Erde nicht, indem sie die Aminosäuren, die
Bakterien und die Algen verdrängten, sondern ...
Die Aminosäuren eroberten ihren Platz auf der Erde nicht, indem sie die Photonen, die
Atome und die Moleküle verdrängten, sondern ...
Das Penthouse und die Chefetage eroberten ihren Platz im Bürobau nicht, indem sie
das Fundament, das Erdgeschoss und die anderen Stockwerke, wo halt die ganze
blöde Arbeit gemacht wird, verdrängten, sondern ...
Die Primaten konnten – natürlich! – “nur jene ökologische Nischen besetzen, die die
älteren Bewohner des Planeten” für sie nicht einfach “übriggelassen”, sondern überhaupt erst geschaffen hatten. Im Vorkambrium hätte kein ‘höheres Leben’ existieren
können. Kann so ein lausiger Primat leben ohne pflanzliche oder tierische Nahrung?
Oder gar ohne Darmbakterien und ohne Erdöl, um seine Mobilkapseln anzutreiben?
Jetzt kommen wir der Wahrheit ein bisschen näher! Wär er allerdings tatsächlich ein
“Außenposten”, “einsam am Rand”, dann wär er viel weniger “fragil”. Er ist aber ein
buchstäblich herausragender Bestandteil einer sehr komplexen Umgebung, von vielen
(ach! allzuvielen?) naturellen und kultürlichen “Randbedingungen” abhängig: das
macht seine Fragilität aus. Und wer hat je dem Menschen ewiges Leben versprochen?
Wo sogar Sonnen sterben? Ich halte (am Rande) fünf Megajahre schon für reichlichreichlich bemessen.
Nachdem sich weder starke noch schwache, alte oder neue Argumente aufbringen lassen, auch nicht im “Aufhänger” Liaoning, lassen die Spiegel-Leute endlich die spätmoderne Zeitkatze aus dem Sack (und zeigen Gould immerhin die rosa Karte):
“Mit dieser tief pessimistischen Sicht verabschiedet Gould den Fortschrittsglauben aus der Naturgeschichte – eine These, die auch in anderem Kontext en vogue
ist”, folgt der schon wieder altmodische biologistische Pessimismus und ein Zitat
von Hubert Markl.
Womit wir endlich in den frühen Siebzigern wären, als der Spiegel für solche Töne nur
ein arrogantes Lächeln übrighatte ... Ich traue es weder der Intelligenz noch dem gepflegten Modebewusstsein eines Stephen J. Gould zu, dergleichen restlos abge-
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schmackte, politisch mittlerweile reaktionär verseuchte Ideologien zu tragen. Ich traue
meinen Augen nicht! Noch so eine dezente Lesehilfe, immerhin:
Gould:“ForschersehendieWirklichkeitimmerdurchdieBrilleihrerVorurteile.”
Hm. So gesehen, kann auch ein Forscher gar nicht genug solcher Brillen haben – und
zwar mit so widersprüchlichen Vorurteilen wie eben möglich!
Voll im Ernst:
“Neue Impulse bekommt die Debatte” von den Wissenschaftlern in Liaoning und
“von den Molekularbiologen”:
Schon diese Abwärts-Dependenz definiert eine klare Rangordnung (keine, die unserem Ego doll schmeichelt), nämlich die evolutionär geordnete, alles andere als
‘zufällige’ Abhängigkeitskette im Ge-Schichte des Lebens:
(zu entfalten nach der Melodie: unten in der grün’Au’, steht ein Birnbaum so blau!):
Ohne Proton kein Wasserstoff. Ohne Wasserstoff kein Wasser. Ohne Wasser keine
Aminosäuren. Ohne Aminosäuren keine Prokaryonten. Ohne Prokaryonten keine
Eukaryonten. Ohne Eukaryonten keine Mehrzeller. Ohne reichlich Mehrzeller und
Pflanzenkeine Tiere und erst recht kein Menschen. Und der moderne Kulturmensch ist
einguterKandidatfürdasmultipelstabhängige,fragilsteGeschöpfallerZeiten–sicher
von mehr Umständen und Umständlichkeiten abhängig als die Steinzeitkollegen.
Diese Krone ist nicht zu vermeiden, und sie drückt immer schwerer und schwerer. Nur
gefährlich illusionärer, mehr oder weniger moderner Aberglauben leugnet die schwindelnde Höhe, in die wir entwickelt wurden und uns weiter und weiter entwickeln!
(Man kann eine schichtenspezifische biologische Wohlordnung auch nach schmeichelhafteren und furchtbar streng wissenschaftlichen Kriterien konstruieren, etwa
nach zunehmendem algorithmischem Informationsgehalt im Sinne von Aiken(295),
aber die kaum kodifizierbare Gestaltwahrnehmung ästhetischer Normalverbraucher
tuts auch.)
“NachGouldsVorstellungerscheintderMenschnichteinmalmehralsvorläufiger
Höhepunkt irgendeiner Entwicklung.”
Und die Erde ist eine Scheibe. Hier will Gould einfach die evolutionären Tatsachen
nicht zu Wort kommen lassen! Wahrscheinlicher hat er sich zu sehr in Zipfelspielchen
gegen die Spiegel-Redakteure verstrickt, um denen mal zu zeigen, wie verwegen so ein
Wissenschaftsgurupimmel steht.
“Er steht als Außenposten, ein höchst fragiles Gebilde, einsam am Rand der Natur. Er werde vergehen, kaum anders als die Wunderwesen der kambrischen Explosion.”
Wobei er mit dem fragilen Gebilde natürlich wieder vollkomen richtig liegt.Auf diesen
Preis der Komplexität können wir nicht deutlich genug hinweisen. Da wird Gould mir
wieder richtig sympathisch; denn alle, die einen “Heilsoptimismus” predigen oder zu
einem solchen verführen, sind die Feinde des Menschengeschlechts ...
Aber das ist natürlich nur die eine Seite der Medaille!
Blütenlese aus dem SPIEGEL-Interview mit Gould
Gould wärmt alten Evolutionskäse auf. Und gibt unglaubliche, abgeschmackte Brocken von sich, die die SPIEGEL-Leute nach manchmal tapferer Gegenwehr unzerkaut
schlucken müssen (Raum und Zeit sind begrenzt...) Wenn der damit überall durchkommt, muss er seine Provokationen am Ende selber glauben und wird noch so
zynisch, wie er sich gibt.
Armer Teufel. Gould tut so, als sei er geistig in den 70-ern zurückgeblieben, als habe er
seitdem nicht mehr die Literatur verfolgt, sondern nur Bücher geschrieben, administriert, posiert und repräsentiert. Die aufregenden neue Entwicklungen der
Achtziger Jahre straft er mit Nichtachtung. Vielleicht sind sie ihm suspekt, New Hverdächtig . . .
Die interessantesten Passagen:
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“Gould:
. . . Wir haben die Natur für warm und kuschelig gehalten” usw.
“Gould:
Wer sind ‘wir’ überhaupt? Nicht mal die damaligen Gegner Darwins konnten noch so
denken, die verstrickten sich gerade in der Theodizee; denn die Natur hatte sich den
entsetzten Naturforschern längst als monströse, chaotische Rabenmutter enthüllt, der
liebe Gott war out, und dann war da noch das Erdbeben von Lissabon ... Wer also hält
– nach Rouseau und Leibniz – die Natur für eine Idylle? Sogar heute noch? Ansonsten
schlechte Paraphrasen von Monod aus den frühen Siebzigern! (365) schön vorgeführt
in (366)
...WirsindnichtmehralseineeinzigeArtundtreibenunsgerademaleinpaarhunderttausend Jahre hier herum. Bakterien haben zigtausend von Arten hervorgebracht, es gibt sie seit 3,5 Milliarden Jahren, und es geht ihnen blendend. Darin
sind sie uns überlegen.”
Elektronen haben zwar überhaupt keine Arten hervorgebracht, aber ansonsten sind sie
uns noch viel mehr überlegen als die Bakterien. So eine leere, jede “Rationalität” (im
Sinne von Angemessenheit, Vergleichbarkeit, kategorieller Stimmigkeit) entbehrende
Rhetorik!
Gould:
Spiegel:
Gould:
Immerhin weisen die Redakteure auf einige Evidenzien hin: “...Verglichen mit
dem Leben vor 3,5 Milliarden Jahren, als nur ein paar Mikroben durch die Ozeane
trieben, scheint es doch gerade zu absurd, einen Fortschritt völlig zu leugnen.
Die Vielfalt hat zugenommen, das ist richtig . . .
. . . und zugleich wurden die Organismen immer differenzierter.
1Das Leben begann mit den denkbar einfachsten Kreaturen, den Bakterien. 2Deshalb war die einzige Richtung, in die es sich entwickeln konnte, die hin zu größerer Komplexität. 3Aber solange trotzdem die weitaus größte Zahl von Lebewesen bakteriell bleibt, ist die Entstehung immer höher entwickelter Wesen kein
Trend in der Natur.”
Statt ihn hier nach Strich und Faden festzunageln, lässt sich der Spiegel erst mal auf
das Thema “Wettrüsten” ausmanövrieren – und da hat Gould leichtes Spiel! Er hat
wohl auch recht darin, das uralte, immer neu erstehende Missverständnis um die darwinistische Theorie vom Kampf ums Dasein energisch zu bekämpfen, den (auch unter
nichtbiologischen Naturwissenschaftlern) üblichen Vulgärdarwinismus.
Aus Satz1 folgt ohne formalen oder inhaltlichen Widerspruch Satz2, das ist heute trivialer wissenschaftlicher Konsens: “Weiterentwicklung” wird als Zunahme von Komplexität verstanden, wobei wir alle intuitiv ganz gut, d.h. übereinstimmend über unterschiedliche Komplexitätsgrade urteilen; und je mehr Lebenserfahrung die Mitglieder
einer Testgruppe haben, desto konsistenter wird ihre Intuition sein. Darum hatten die
Spiegel-Redakteure durchaus recht, die Leugnung dieser Art von Fortschritt als
“geradezu absurd” zu apostrophieren.
In Zeiten, wo es streng verboten war, etwas anderes als die Zahl anzubeten, suchten
Biologen ihre an sich richtige Intuition quantitativ zu rechtfertigen; dabei kamen sie
auf das Argument der größeren Zahl, erst an Individuen, dann an Spezies. Dieses rein
quantitative Kriterium ist schon vom Ansatz her falsch und schnell zu widerlegen.
Goulds Taschenspielertrick ist, dieses im Ansatz falsche Kriterium mit Satz3 erneut zu
widerlegen, und damit vom tatsächlichen (der Komplexität) abzulenken, dessen Zutreffenniemand leugnet. Aber die Tautologie ‘1Satz, also 2Satz’ gilt bis heute: das Leben
schreitet – und zwar immer schneller – vom einfacheren zum komplexeren fort, sogar
im quantitativ messbaren Sinne, wenn man denn der Intuition nimmer trauen mag.
Dabei wechselt es gelegentlich auf eine höhere (sic) Ebene der Organisation, wonach
auf den unteren Ebenen in der Tat nicht mehr so viel passiert.
Nicht Artenmehrheit ist des Fortschritts Probe!
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
EVOLUTION 6.3.2001
“Spiegel:
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2001 Werner Schneider u.a.
Dann noch eher umgekehrt: Dass es mehr Bakterien gibt als Menschen, spricht eher
dafür, dass die Bakterien an und für sich niedriger entwickelt sind (nicht unter- oder
überlegen!). Beachte auch: die Komplexität ist kumulativ. Wir ‘bestehen’ sozusagen
aus Bakterien! Wir können den Menschen doch nicht isoliert betrachten, sondern
müssen das ganz komplexe Systemen, das ihn trägt und erhält, mit einbeziehen – ebenso wie alles, was der Mensch im Laufe seiner Kulturgeschichte externalisiert.
Ich vermute, dass die Spiegel-Redakteure (dem Leser nicht sichtbar) zu sehr auf dem
Thema ‘besser’ oder ‘schlechter’ rumgeritten sind. Denn Gould reitet seinerseits auf
der rhetorischen Frage rum, ob Dieses oder Jenes auf der Erde “besser” sei als Jenes
oder Dieses. Das ist so blöde wie zu fragen: Was ist besser, das Wasser oder der Mähdrescher? Das Helium oder das Krokodil? Der Diamant oder der Schimpanse? Das Neutron oder das Bakterium? Aber lassen wir diese Begriffe mal nach Komplexität anordnen, und 95 von 100 Quiz-Kandidaten würden wählen: Neutron – Helium – Wasser –
Diamant – Mähdrescher – Bakterium – Krokodil – Schimpanse. Und die fünf, die das
Bakterium für einfacher halten als den Mähdrescher, haben im Biologieuntericht und
auch sonst zuviel gepennt.
Dochwenn eins in Erwägung zöge, das Wasser würde unseren Planeten zu drei Vierteln
bedecken, und die Mähdrescher lang nicht soviel: da dürfte auch ein Spiegel-Redakteur laut sagen, dass er verarscht wird. Sie spüren es auch Gould gegenüber, aber sie
lassen ihn entwischen, statt ihn zur Sau zu machen wegen seiner albernen Posen demonstrativer biologischer Ignoranz:
Sie werden aber nicht bestreiten, dass das menschliche Gehirn das komplexeste
Produkt der Evolution ist?”
Das muss Gould natürlich zugeben, aber dann verweist er gleich wieder auf die vielen
vielen Arten ohne Gehirn – ohne die es aber keine einzige Art mit Gehirn gäbe, und
welche also zu der Hirnkomplexität hinzuzuschlagen sind: Die wenigen menschlichen
Gehirne sind komplexer als die gesamte Vielfalt der Kakerlaken, eben weil die Kakerlaken den Atomschlag überleben und die Gehirne nicht.
Je höher desto umfall!
“Spiegel:
Gould:
Störanfällig hochempfindlich gefährdet hochgezüchtet komplex: das gehört in eine
Reihe! Und das sollte man Leuten wie Gould um die Ohren schlagen: das würde ihnen
sogar gefallen, denn dann würde die Diskussion wirklich rasant!
Diese bei allen Lippenbekennntnisse notorisch ausgeblendete Evidenz ist es wahrscheinlich, die Gould uns einknüppeln würde, wenn er besser drauf wäre: Die Evolution selektiert nicht die ‘Tüchtigsten’ oder ‘Stärksten’ im militärischen Sinne der Rassisten, Faschisten, Vulgär- und Sozialdarwinisten, der politisch Rechten oder Neoliberalen. Gewalt und Kontrolle bieten begrenzten Schutz und garantieren nichts. Und die
schiere Tatsache, dass wir da sind, garantiert erst recht nicht, dass wir noch lange bleiben. Wer die niedere Natur gewaltsam kontrollieren will, schnitzt am Ast herum, auf
dem er sitzt. Was wir verbal als ‘Umwelt’ herabspielen, ist die ‘Welt’, in der und von der
und auf der wir leben, und ihre Manipulation kann einer tödlichen Amputation gleichkommen – nicht für das Leben an sich, aber für uns höchst entwickelte und darum
höchst gefährdete Wesen!
Wennsiedaraufbeharren,derMenschseinichtmehralseinglücklicherUnfallder
Evolution – könnte ein derartiger Unfall dann nicht aufs neue passieren?
Wir haben nur eine Art von Hinweisen zu dieser Frage – die Geschichte des Lebens auf dieser Erde. Wenn etwas so Glorioses wie das Bewusstsein [hört hört!] so
einfach entstünde, warum haben es nicht viele Linien der Evolution entwickelt?”
Nun wirklich keine schwer zu beantwortende Frage – aber der Spiegel verweist unglücklicherweise auf angebliche Mehrfacherfindungen wie das Auge ... kein tüchtiger
Vergleich. Dabei blufft Gould bestimmt, blöd ist er ist ja nicht. Er könnte das sehr wohl
beantworten. Ich hätte hier offen gedroht, dies unter reichlich Zitaten zu tun und im
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“Spiegel:
Gould:
Spiegel:
Gould:
Spiegel:
Gould:
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Blatt öffentlich seine Inkompetenz zu belegen, wenn er nicht sofort diese blöde rhetorische Frage zurückzieht bzw. selbst beantwortet! Denn die erste Aussage – ‘wir haben
nur 1 Testfall’ – verurteilt den Wissenschaftler zum Schweigen: er hat zu wenig Material, um hier auch nur ‘ex cathedra parvula’ zu reden. Als Spekulant oder Religiöser
oder Ideologe darf er reden – nicht aber im Namen der Wissenschaft! Wir lieben
Science Fiction – doch nicht den wissenschaftsposierenden Wichtigtuer!
Wie steht es mit den Dinosauriern? Hätten sie nicht vielleicht irgendwann ein Bewusstsein entwickelt, wenn sie nicht ausgestorben wären?
Sie hatten 130 Millionen Jahre Zeit, und sie haben es nicht getan. Hätte nicht ein
Meteorit die Erde getroffen, dann würden sie noch immer vorherrschen, die
Säugetiere wären kleine Kreaturen in den Winkeln der Natur, und Arten mit Bewusstsein würde es nicht geben. Der Erde würde es übrigens nicht schlechter
gehen.
Solche netten Flapser wie der letzte Satz sind der Kern von Goulds Botschaft, wir Menschen sollten uns nicht so wichtig nehmen. Dafür verkauft er offensichtlich seine wissenschaftliche Großmutter! Denn zu den vorgehenden Aussagen kann er eigentlich
nur wieder sagen: wir haben nur einen Testfall, alles ist toyotamäßig möglich, aber vielleicht entwickeln wir noch eine konstruktive Methodologie, auch für diesen Einzelfall
zu korrobierbaren wissenschaftlichen Aussagen zu kommen. Da schwirren einige
Ideen in der Luft, aber wohl noch zuweit entfernt von Goulds Repräsentier-Schreibtisch. Die These, der böse Rumser aus dem All habe die Dinos puttemacht, ist kaum zu
halten und wird nirgendwo ernsthaft vertreten. Alles deutet darauf hin, dass sie schon
auf dem absteigenden Ast waren, als es knallte.
Warum also hat der Mensch ein Bewusstsein?
Um diese Frage zu beantworten, müssten wir viel mehr wissen. Warum gab es vor
sechs Millionen Jahren in Afrika ein Geschlecht von Menschenaffen, das uns hervorgebracht hat? Die Zahl der anderen Menschenaffenarten ist seither geschrumpft – nicht gerade ein Fall evolutionären Triumphs.
Sie halten aber die Frage für grundsätzlich beantwortbar?
Durchaus. Die Antwort wird jedoch nicht sein, dass die Natur einem vorhersehbaren Pfad folgte.
Der Ganzsatz ist Goulds religiöse Überzeugung. Niemand ist so töricht und dekretiert,
wozu die Wissenschaft einmal im Stande sein wird und wozu nicht. Ignoramus, si ignorabimus: Wir wissen nicht, ob wir nicht wissen werden. Und der Spiegel hat noch
einen Gegenhieb parat, gibt dabei aber leider die Gegend unter der Gürtellinie preis:
Spiegel:
Es ist die vielleicht interessanteste Frage.
Gould:
Nur in einem sehr engen Sinne. Es ist die für uns interessanteste Frage – weil wir
uns selbst verstehen wollen.
Bevorzugtes Gould-Ziel: Oh! Menschliche Eitelkeit zeigt sich, oh welche Wonne, voll
drauf unter die Gürtellinie, fahr dahin Vernunft und Wissenschaft:
Da hat ers uns aber wieder gegeben! Natürlich es ist die absolut (sic!) interessanteste
Frage der Welt, Herr Gould, ohne Wenn und Aber! Der unfaire Tiefschlag ‘für uns’
ändert nichts am Sinngehalt des Aussage! Denn wir, die wir zufällig die einzigen sind,
die diese Frage stellen, sind auch die einzigen – welch grauslige Tautologie – für die sie
überhaupt interessant sein kann. Wir sind der Mittelpunkt des einzigen Universums,
das wir haben: nämlich unseres Universums. Wenn wir uns nicht selber wichtig nehmen, nimmt niemand uns wichtig! Und das ist vielleicht auch ihre geheime Botschaft –
nur haben Sie sich rhetorisch ein paar Mal um sich selber gedreht und wissen nicht
mehr genau, wo sie stehen . . . Ich empfehle Ihnen, Herr Gould: lesen Sie mal ein paar
Bücher eines gewissen Stephen Jay Gould, da gehen Ihnen die Augen über...
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Spiegel:
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Spiegel:
Gould:
Spiegel:
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Aber knapp bevor er sich um Kopf und Kragen redet, fängt er sich wieder und signalisiert den Eingeweihten augenzwinkernd, dass er sehr wohl noch alle Tassen im
Schrank hat – alldieweil das Thema sich dem Ende neigt; hat er das nachträglich noch
reinredigieren lassen? Hört! Hört!
Wenn Sie die Entwicklung eines Bewusstseins für so unwahrscheinlich halten, bedeutet das, dass an keinen anderen Ort des Universums bewusste Wesen entstanden sind?
Es ist hier passiert, das ist alles, was wir wissen. Die Zahl der möglichen Planetensysteme ist so unvorstellbar groß, dass es viele bewusste Wesen gäbe, selbst wenn
esinMillionenvonFällennureinmalpassiert.Daseinzige,wasichausschließe,ist,
dass wir wieder auf Wesen treffen mit zwei Händen, zwei Augen und einem [Momenterl! auch zwei!] Hirn wie dem unseren. Aber es könnte tausend andere Wege
geben, Bewusstsein zu erlangen. Vielleicht tun es ein paar pulsierende Siliziumschichten . . .
Letzteres wäre für alle Menschen, die Ahnung haben, überraschender, als wieder auf
die abgestrittenen Paarbildungen zu stoßen, denn für diese ahnen wir strukturelle
Gründe. Aber nichts ist unmöglich! Und alles, was nach dem ersten Satz folgt, ist sowieso Science Fiction bzw. Religious Fiction.
Der Nobelpreisträger Christian de Duve erklärt, Evolution führe zwangsläufig zu
Bewusstsein.
Das nächste Mal, wenn Sie ihn treffen, fragen Sie ihn, warum 80% aller Tierarten
InsektensindundwarumsieallesanderealseineNeigungzuwachsenderneurologischerKomplexitätaufweisen.Eristblind,wegenseinesreligiösenHintergrunds.
Wenn das keine Projektion ist, ist es eine Frechheit; denn auch wenn Gould die letzten
vierzehn Jahre sich eisern jede Literatur verkniffen hat, müsste er wissen, dass die Frage
nach den Insekten leicht zu beantworten ist und dass de Duve daraus sogar Argumente
für die eigene These herleiten könnte. Wahrscheinlich hat er genau das auch getan.
Jedenfalls sollte man diese These unbeschimpft vertreten dürfen! Sie bildet nämlich
einen guten Kern für ein interessantes Forschungsprogramm, denn sie macht sehend
für eine Menge auffälliger Tatsachen, die Gould gerne überblenden oder ins Reich des
Zufalls verbannen möchte. Es ist eine erhellende metaphysische These – wie seinerzeit
die pythagoräische These von der göttlichen Natur der Planeten, der der materialistischen These des Anaxagoras’ astronomisch überlegen war. →A2 (343 p36f,44f,518p62f)
Der Spiegel hat noch einen guten Schuss auf der Pfanne, lässt aber zu, dass Gould
sich auf ziemlich stillose Weise rausredet – auf eine Weise, die sicher ausführlicher beschimpft gehört als de Duves Forschungsprogramm: als unverantwortlich, illusionär
und den blinden Aberglauben fördernd, den man scheinheilig bekämpfen will! Antiaufklärerisch par excellence, zum Schreien widersinnig! Das ist wirklich dumm
gelaufen. Ob Gould dem SPIEGEL je wieder ein Interview gibt, wo der ihn doch dazu
brachte, am Ende solches Blech zu reden?
Billigen Sie denn wenigstens der Kultur[lies: Zivilisation] einen Fortschritt zu?
Oder ist die Entwicklung vom Tonkrug zur Thermoskanne auch nur dem Zufall zu
verdanken?
Das ist etwas völlig anderes. [!?1] Technik hat die Kulturgeschichte verändert, ein
Wandel,dergänzlichanderenPrinzipien [!?2] gehorcht.DerMenschhatdieMöglichkeit, sich Fähigkeiten von anderen Menschen oder Kulturen auszuleihen und
sie weiterzuverbreiten [!?3]. In diesem Sinne ähnelt kultureller Wandel einer Infektion [süßer Vergleich]. In der Biologie hingegen kann sich keine Art irgendwelche Eigenschaften einer anderen aneignen. Wir können uns nicht die Kraft des
Löwen oder die Geschwindigkeit der Antilope ausleihen... Biologische Evolution
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ist ein Prozess wachsender Vielfalt. Kulturelle Evolution ist ein Prozess der Ansammlung. [!?4]
Oh du dümmste aller Ausreden: natürlich ist es ‘etwas anderes’, aber in dem Sinn, dass
es gerade den Fortschritt belegt, den Gould widerlegen will!
2
[!? ] Dass die Evolution immer neue, gänzlich andere (aber auf den vorigen aufsetzende,
diese voraussetzende) Prinzipien erst erschafft, ihnen dann gehorcht und sie irgendwann ausreizt, diese Evolution der Evolution ist eben ihr empirischer Fortschritt, der
eingetretenenfalls tatsächlich die unteren Stufen (etwa der Einzeller) aus der Fortschritts-Betracht entlässt: denn auf einer Funktionsebene der Evolution, die ausgereizt
ist (worauf Gould selber immer wieder verweist: Bakterium Bakterium), findet kein
Fortschritt mehr statt, sondern nur noch seine Gewährleistung. Kosmische Evolution
(Urknall ⇒ Sonnensystem) ist etwas prinzipiell anderes als die präbiotische (Ursuppe⇒Prokaryont), ist aber für diese eine Voraussetzung; und auch in der Evolution
kann man, wie Gould eben ja mit seinem “völlig anders” zugibt, immer neue solcher
kategorieller Sprünge sehen (der Sex war ein kleinerer von der Sorte) – wenn man, wie
hier schön vorgeführt, nicht sehr bewusst die Augen zukneift und das, was einen so trivial widerlegt, hinwegdefinieren und umdeuten will, Scheiß-Guru-Rhetorik!
[!?3] Genau das ist ein eindeutig voranschreitendes Prinzip der Evolution (de facto, meine
Herrn: keine Theorie, sondern es liegt auf das empirischste vor unseren Augen): in ihrem Laufe entstehen immer mehr Möglichkeiten zur ‘Erzeugung’, Sammlung, Speicherung, Verteilung und Weitergabe von Information; immer mehr Quellen, Pools und
Kanäle. Nicht nur Abstraktionsriesensehen diesen Trend und erkennen, dass die soziokulturelle Evolution des Menschen dazu in vielem analog ist und zugleich auf das
Transzendenteste übertürmt.
Um mal von der schieren Biomasse runterzukommen: Die heutzutage in den Kulturen
der Menschheit umgesetzte Informationsmenge lässt die Bakterien blass aussehen, die
ihre lumpigen paar immer gleichen Kilobytes genetischen Codes hin- und herschieben
und redundant im ihrem Kreise herum mutieren.
Wenn man dieses Prinzip in die Evolution rückprojiziert, sieht man eine (durchaus
quantisierbare, aber muss das sein?) Fortschrittslinie, die in geradezu beängstigender
[sic!] Weise ansteigt, zu unseren Lebzeiten in ihrer Aufsteilung sichtbar werdend – und
nicht nur Herrn Gould mit exponenziellen Dequalifikationsängsten plagend. Ein
Schuft, der nicht zugibt, dass dies *really* unheimlich ist, und ein unverantwortlicher
Feigling, wer sich blind stellt und ablenkt und tut, als seien wir Menschen nur so ein
Zufall am Rande eines fremden Universums, und wir gingen uns eigentlich selber
nichts an, wir seien quasi aus Versehen hier: so geht der neue Eskapismus, wo sich der
Mensch aus dem Mittelpunkt seines Universums stehlen will, weil es dort mittlerweile
sogar den größten Narzissten unheimlich wird. Uns wird vor unsrer Gottähnlichkeit
bange! Zittern wir halt – aber kneifen? Dann holt uns der Teufel mit Sicherheit!
Der Mythos vom verlorenen Paradies ist zeitgemäßer denn je. Wer zwei Hirne hat zu
lesen, der lese.
4
[!? ] Beides ist beides: wo eine Ebene der Informationserzeugung ausgereizt ist, nur Vielfalt
im Sinne von Redundanz, wo noch nicht, Akkumulation von Wissen. Der Begriff ‘Information’ ist problematisch und ändert von “Schichte zu Schichte” (Riedl) seine
Natur (biologisch – kulturell, ganz grob), aber es gibt sehr viele funktionale Analogien,
wenn man nur scharf hinsieht.
Übrigens gibt es reichlich Übergänge. Die neuere Primatenforschung hat zutage
gefördert, dass der Ethologe Vieles am komplexen Sozialverhalten etwa der Schimpansen und Bonobos als kulturelle Überlieferung ansehen muss, will er sich nicht eines
schweren methodischen Fehlers schuldig machen. (72,110)
Dennoch ist die Spiegel-Frage mehr als berechtigt, leider gleitet der Haken an Gould
ab, er biegt feige und einfallslos alles mit der gleichen blöden Masche ab:
[!?1]
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Spiegel:
Sie gestehen dem Menschen also die Sonderrolle zu, den Fortschritt erfunden zu
haben?
Gould:
Wir sind auch die Einzigen, die über all dies reden und nachdenken können, nur
heißt dies eben nicht, dass alles nur geschah, damit wir es können.”
Gould:
Jetzt wirds wirklich vollends geschmacklos. Der Spiegel stellt ihn wegen seines abgetragenen, schäbigen Kulturpessimismus zur Rede, hier zeigt er sogar halbwegs Flagge,
irgendwo freut man sich über die Angriffsfläche, auch wenn die alte Leier einem
wirklich nur noch auf den Sack geht:
“Ich habe die Frage diskutiert, ob der kulturelle Fortschritt an Grenzen stoßen
kann, ob die Möglichkeiten irgendwann erschöpft sind.[!!!1] Das könnte erklären,
warum es heute nur so wenige große Komponisten gibt, während zwischen den
Jahren 1685 und 1828 die gesamte Lebensspanne von Bach, Händel, Mozart,
Haydn, Beethoven, Schubert und vielen anderen liegt. Es ist doch nicht möglich,
dass damals in der deutschsprachigen [!?] Welt mehr Genies lebten als heute auf
der ganzen Erde. [??] Es muss deshalb etwas damit zu tun haben, dass sie die
Möglichkeiten der klassischen Komposition erschöpft haben.”
Ich könnt mich spätestens hier nicht mehr bremsen und würde herausplatzen: Ihr Problem, Mr. Wissenschaftsguru , wenn sie die persönlichen Grenzen ihrer Kreativität auf
alle Welt projizieren. Denn es gibt Hoffnung, auch für Sie! Machen Sie halt wieder
regelmäßig ihre geistigen Hausaufgaben, bevor Sie so brunzborniert daherschwadronieren! Die Leere in ihrem (und so manchem anderen Hirn) ist heilbar, sofern man
mal kapiert, dass nie, nie, nie der Punkt kommt, wo man auslernt, dass man immer
wieder da steht als Doofa ... es sei denn, man erklärt öffentlich seinen Rückzug ins
Private und hält fürderhin den Mund: si tacuisses!
Und da wär das Interview wohl beendet und ich meinen Job los. Gut, dass ich den nicht
hab.
[!!!1] Not yet, Sir! Not yet! Irgendwann sicher, ganz bestimmt, aber Sie und ich werden das
ganz bestimmt nicht erleben, im Gegenteil: wenn wir nicht allen geistigen Mut zusammennehmen, Ich und Du und Müllers Kuh, dann bleiben wir überrollt vom geistigen
Fortschritt liegen, der Kinder Gespött, mürrische Greise, neue Unübersichtlichkeit
bejammernd, postmoderne Beliebigkeit übelnehmend, Medien- und Reizüberflutung
beklagend und den argen Kompetenzabbau ‘kulturkritisch’ vergouldend, um die
Youngster zu täuschen, wie weit wir tatsächlich geistig zurückbleiben! Aber es gibt immer Hoffnung! Senilität ist kein Schicksal!
Politischen und sozialen Fortschritt konzediert Gould ohne Abstriche.
MitGentechnikhatGouldkeineProbleme,weilernichtanalldieScienceFictionProgramme glaubt: “Wir können die Intelligenz nicht genetisch verändern. Wir
haben doch gar keine Ahnung von der Genetik der Intelligenz.” ... “Wir neigen
dazu, über Zweifelsfälle zu diskutieren, und das sollten wir auch. Aber die meisten
Fälle sind doch eindeutig.” Über allfällige Grenzfälle zu entscheiden, sei Sache
von Ethikern, Theologen und Politikern, nicht von Wissenschaftlern. [Letzteres
glaubt er ja selber nicht, er hält diese These im Interview nicht durch s.u.]
Allgemein wehrt sich Gould gegen die Manie, alles auf die Gene zurückzuführen, und
da der genetische Erklärungs- und Machbarkeitswahn in der Tat noch grassiert. ist hier
seine Polemik tatsächlich vollkommen zeitgemäß und angebracht!
Der Spiegel bringt das Stichwort ‘evolutionäre Psychologie’, was auch immer das
sein mag (gemeint ist wohl die evolutionäre Erkenntnistheorie im Altenburger
Kielwasser).
Gould macht wieder nicht den Eindruck, informiert zu sein, hat aber wohl mal was
läuten hören. Sein ideologischer Schuss geht in eine gute Richtung, in die in der Tat
geschossen werden muss, von wg. lässiger, ja, fahrlässiger kulturpessimistischer Fehl-
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interpretation. Dennoch verkennt Gould das Erklärungspotenzial der evolutionären
Erkenntnistheorie:
“Gould:
Mag sein, dass diese Leute da oder dort recht haben, aber in sehr vielen Fällen ist
dasVerhaltendesMenschenkeineswegseineevolutionäreAnpassung.[?1]Amoffensichtlichsten ist das bei unserer Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben. Erst
Zehntausende von Jahren nachdem sich das Hirn in seiner heutigen Form
entwickelt hatte, hat der Mensch die Schrift erfunden.Also ist völlig ausgeschlossen, dass sie die Folge einer biologischen Anpassung ist. Das ist wie beim Kauf
eines Computers. Sie brauchen ihn nur für ganz bestimmte Zwecke – für die Buchhaltung zum Beispiel – aber dieser Computer kann, dank seiner Struktur, noch
eine Fülle ganz anderer, viel komplizierterer[?] Dinge.[??2]
Unser Verhalten enthält solche “Erbprogramme” nur rudimentär,, davon gehen sowohl evolutionäre Erkenntnistheorie (318,344,378,423,424,568) als auch die Humanethologie (125,126,127) aus: sogar bei den Primaten (72,110) ist viel weniger ‘angeboren’, als lange geglaubt!
[??2] Griff ins Metaphernklo! Computer wurden so ziemlich für all das (und noch mehr!)
entworfen, wozu man sie heute gebraucht, und zwar lange bevor man sie baute, beginnend bei Pascal, Leibniz, Babbage und Ada; von Turing, Church, Wiener und von
Neumann so gut wie auskonzipiert. Alles, was neu hinzukäme, müsste natürlich ebenfalls eine “Folge” des ursprünglichen Entwurfs sein, und zwar wird es kaum wesentlich
“komplizierter”.
Anders als in dieser unglücklichen Metapher wurde unser Hirn sicher nicht zum Lesen
und Schreiben entworfen; dies sind tatsächlich keine evolutionäre Anpassungen,
bauen aber sehr wohl auf solchen auf – und das gilt für alle unsere geistigen Fähigkeiten: alle kein Produkt der biologischen Evolution, aber alle haben biologische Prämissenundesfälltunsleichter,unsvorallfälligenblindenFleckenzubefreien,wennwirals
biologische Wurzel ins Bewusstsein heben, was sonst unreflektiert unsere Erkenntnis
durch vorgetäuschte Evidenz blendet.
Wer sich von der Biologie befreien will, verbessert seine Chance, wenn er sie studiert.
[?1]
Gould schwenkt zumindest seine Fahne wacker gegen den biologistischen Pessimismus: “Was mich beunruhigt, ist, dass eine billige Lesart der Evolutionstheorie
dazu führen kann [und auch dazu geführt hat und heute wieder führt], dass man sagt:
Alles, was wir tun, ist Biologie, da kann man sowieso nichts dagegen machen. Und
dasnährtz.B.denRassismus.DieevolutionärenPsychologenverkaufenihreSicht
derDingezwaralsliberal.Abermichinteressiertweniger,wiesiesichselbstsehen,
ich sorge mich darum, wie die Wissenschaft ihre Thesen aufnimmt.”
“Spiegel:
Gould:
Sehr einverstanden! So hatte ich Gould vor diesem Interview verstanden! Die Wissenschaftler sind also auch nach Gould für Rezeption (und Anwendung) ihrer Wissenschaft vor allem verantwortlich – und nicht vor allem Ethiker, Theologen, Politiker,
s.o. Und darum nehme ich einige Äußerungen Goulds gerade ihm kotzübel, denn er
verstärkt mit seinen diffusen, effekthascherischen Äußerungen einen apokalyptischen
Defätismus, welche ein real drohendes Scheitern bemäntelt, ein Scheitern “nicht am
Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes, sich seiner ohne
Leitung [durch altvertraute, schön übersichtliche Prinzipien] zu bedienen”. Mut im
Chaos: Sapere aude! – noch nie erforderte das Denken soviel Mut, aber die Chancen
für die Aufklärung waren auch noch nie so groß, wenn Vernunft und Wissenschaft ihre
Flegeljahre endlich hinter sich bringen. Irgendein alter Chinese hat uns wohl verflucht,
denn wir leben in späten und interessanten Zeiten.
Wie erklären Sie sich die Missverständnisse...?
Da gibt es viele Vorurteile: Die meisten Leute betrachten die Evolution immer
noch als zielgerichtetem, sinnvollen Prozess [?1] Und dann überbewerten viele
Forscher die Bedeutung der Selektion. Sie vernachlässigen den Anteil zufälliger,
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willkürlicher Prozesse.[?2] Außerdem gibt es eine Tendenz zu glauben, dass die
Gene all unser Handeln bestimmen. Aber das ist lächerlich. Gene legen Veranlagungen fest, aber sie bestimmen nicht alles. Wenn Sie eine genetische Veranlagung zur Aggressivität haben, bedeutet das noch nicht, dass sie ein Mörder werden. Sie müssen nur lernen, Ihre Veranlagung zu kontrollieren.[!3]
[?1]
[?2]
[!3]
Spiegel:
Gould:
Spiegel:
Gould:
“Spiegel:
Ah ja?
Gould:
Schön wärs, wenn sich mal wieder einige trauten! Welches Missverständnis,
bitt’scheen, provoziert diese besondere metaphysische Annahme vom evolutionären
Sinn? Hätte denn ohne eine solche Leitidee Darwin seine Theorien aufgestellt? Ich
denke, die umgekehrte metaphysische Annahme (oder Vorurteil, meinetwegen),
nämlich die Evolution sei kein zielgerichteter sinnvoller Prozess, ist es, die die Missverständnisse, die Herr Gould bekämpft, provoziert, und die gewisse Geister regelrecht
verdunkelt, etwa den seinigen. Nota bene: beides sind metaphysische Annahmen,
keine wissenschaftlichen Aussagen. Es sind verschiedene geistige Koordinatensysteme, die der geistigen Orientierung dienen. Merke: die Landkarte ist nicht das Land,
und beschwer dich nicht über den schlechten Geschmack der Speisekarte, sonst ruft
der Wirt das blaue Auto.
Übersetzung: Sie überschätzen den Anteil, den sie mit den biologisch korrekten Annahmen erklären können. Nichts anderes kann ‘Unterschätzung des Zufalls’ bedeuten
→Ev-117
Den regelrechten Aberglauben um die Gene kann und soll man viel schärfer herausstellen. Es ist nicht ganz falsch, den Genen die Bedeutung einer Veranlagung zuzuweisen, leider aber noch falsch genug, um den Reaktionären eine bequeme Hintertür zu
öffnen. ‘Kontrolliere deine böse Veranlagung’ – wie klingt das? Wem hilft das? Wie soll
das funktionieren! Nein, nein, de facto ist Gould hier repressiv-tolerant, so nannteman
das mal in alten Zeiten: dieses viertelwahre Gerede von genetischer Veranlagung und
der dagegen nötigen Kontrolle macht ihn zum nützlichen Idioten schwarzer Pädagogik. Wir können und sollen uns hier wissenschaftlich korrekter ausdrücken, was gleichzeitig auch verständlicher wäre. Zusammenhang mit Willensfreiheit ist wichtig: was
bedeutet sie, was bedeutet sie nicht.
Warum wird die Bedeutung der Gene so überschätzt?
Wann immer ein Forschungsgebiet erfolgreich ist, neigen die Menschen dazu, es
als Allheilmittel zu betrachten. Aber der wichtigste Grund ist wohl, dass wir uns
gerne selbst entschuldigen, nach dem Motto: ich war vom Teufel besessen, ich
konnte nicht anders.
Gibt es nicht auch politische Gründe für den Glauben an die Macht der Gene?
DerGlaube,dieEigenschaftendesMenschenseienangeboren,kommtinWellen”
[und schwabbelt noch viel zu hoch, auch wenn das Wasser langsam wieder abläuft].
Und was, glauben Sie, lässt die Menschen so verzweifelt nach einen Fortschritt in
der Natur suchen?
Sucht jemand “verzweifelt“ nach Fortschritt? Sind denn nicht alle auf der Flucht davor in diesen regressiven, titanisch todessehnsüchtigen Zeiten?
Wir sind eben nicht so mächtig, wie wir meinen. Das Universum ist chaotisch und
nicht immer wohlwollend, und wie sehnen uns verzweifelt danach, es möge anders
sein. Also basteln wir uns Argumente dafür, alles habe einen Sinn, nämlich den,
uns hervorzubringen, damit wir die Natur beherrschen können.
Wieso verhelfen uns gebastelte Argumente, wir seien der Sinn der Natur, zu Macht über
die Natur? Nur wer an ein prinzipiell feindliches Universum glaubt, für den wird Macht
so überwertig wichtig. So herum sitzt der Schuh! Die Theorien, die uns tatsächlich
Macht über die Natur gaben, waren alle wenig geeignet, unser Sinnbedürfnis zu stillen.
Das weiß heute jeder. Fabuliert Gould nun inkohärent vor sich hin, oder liegt dem ein
ganz anderer Subtext zugrunde? Ziehen wir die Linien, die er nicht zieht!
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Zuerst einmal verniedlicht er unsere tatsächliche Macht. Nicht über das Ausmaß unserer Ohnmacht machen wir uns abwiegelnde, verantwortungsflüchtige Illusionen,
sondern über das Ausmaß unserer Macht. Wir sind mächtiger, als wir zugeben
möchten. Für den katastrophalen ‘Artenschnitt’, den wir tatsächlich ‘machen’ können, brauchte es früher kosmische Ressourcen, abstürzende Kometen o.ä.
Und was folgt wirklich aus dem Glauben, wir seien der Sinn des Evolution? Plötzlich
stehen wir da mit unserem freien Willen und starren entgeistert auf den Stafettenstab in
unserer Hand – am Hals die ganze Verantwortung für den weiteren Verlauf der Chose,
Erfolg oder Scheitern! Wir haben jedenfalls die Macht, und wir setzen ab dem heutigen
spätmodernen Tage auch den Sinn. Nix postmodern, wir ha’ms noch nicht hinter uns.
Die schmutzige Tatsache, dass wir diese Verantwortung tatsächlich haben, ob wir wollen oder nicht, ob wir hingucken oder nicht, ist das beste praktische Argument dafür,
dass wirMenschen der (derzeitige) Sinn der Evolution sind. Wir müssen dran glauben,
injedem Fall, denn wenn wir uns der Realität nicht stellen, wird die Realität uns stellen.
Wer die aus unserer ungeheuren Macht entspringende ungeheure Verantwortung nicht
erträgt, wer nicht wahrhaben will, dass wir nun einmal im Zentrum unseres Universums stehen, verdammte Kontingenz noch einmal, egal ob uns diese Rolle zugefallen,
zugeschrieben, zugedacht oder zugesonstwasst ist, der verdrängt, wertet ab und projiziert. Das ist die geheime Logik dieses oberflächlich paralogischen Textes, nichwahrväterchenfreud.
An der Oberfläche gleitet das Gespräch immer weiter von der Realität, handelt scheinbar nur noch von antagonistischen Idealen ohne Sitz im Leben – ein vollautomatisch
ins surreale abdrehender Diskurs. Gespenstisch! Ich dokumentiere jetzt lückenlos bis
zum absurd verpuffenden Ende:
Die Begeisterung [naja] des Menschen für den Fortschritt hat nur mit dem Be-
Spiegel:
dürfnis nach Macht zu tun?
Das ist vielleicht eine zu martialische [!] Sicht der Dinge. Es hat auch mit unseren
Hoffnungen und Ängsten zu tun. Weil wir spüren, dass die Welt nicht nur für uns
da ist, denken wir uns Mythen aus, die uns glauben machen, die Welt sei dem Menschen wohlgesonnen.
Gould:
So macht man normalerweise ja die Religion runter. Der Spiegel versucht verzweifelt,
dem delirierenden journalistischen Gegenüber die richtige Zielscheibe hinzustellen,
aber da war nichts mehr zu löten! Lies, wie unter seinen Händen die Wissenschaft zu
dem gerinnt, was er gerade noch bekämpfte: zum Trost- und Gnadenmittel. Damit verkennt er aber beide, Wissenschaft und Religion: beide haben (zumindest am Anfang
dieses interessanten Jahrhunderts) eine ganz andere ‘Funktion’, als den Menschen von
Angst zubefreienoderihmdenAnscheinvonBedeutungzuvermitteln,miteingebauter
Heilsautomatik,wiedasChristentumdenMenscheneinredet.Nein!ReligionundWissenschaft sind Baustellen: Zutritt nur für Erwachsene, Menschen haften für ihre
Götter.
Spiegel:
Alle Kulturen der Welt haben Religionen erfunden, nicht zuletzt zu dem Zweck,
dem Leben einen Sinn zu geben. Das scheint einem tiefen Bedürfnis des Menschen zu entspringen.
Ich bezweifle, dass Religion heute noch diese Funktion befriedigen muss. Wir verstehendankderWissenschaftinzwischensehrvielvonderWeltundbesondersvon
jenen Dingen, die ehedem furchteinfößend waren. [!1] Freud erklärt, die Religion
diene vor allem der Bewältigung der eigenen Sterblichkeit. Inzwischen gibt es MillionenodersogarMilliardenMenschen,derenGlücknichtdavonabhängt,dasssie
an ein Leben nach dem Tod glauben.[!2]
Gould:
[!1]
Wissenschaft als Antiphobikum! So wirr dies klingt, so ist es gerade in seiner Pseudologik ein Kern wahrer emotionalen Bedürfnisse, eine Reaktion auf die Scheißangst, die
existenzielle Scheißangst, die wir Menschenkinder zur lebenslänglichen Strafe nun mal
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[!2]
Spiegel:
Gould:
Spiegel:
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haben, dass wir am Baum der Erkenntnis naschten, endgültig vertrieben aus dem infantilen Paradies der Unschuld. Wissenschaft ist ein Symptom des Erwachsenwerdens. Noch nie war die Menschheit so gefährdet wie heute, und noch nie war sie dieser
Gefährdung so geistig und seelisch schutzlos ausgesetzt, noch nie war die Furcht so rational begründbar. Sind wir denn nicht alt genug dafür, ihr Stand zu halten? Statt sie
mit Religion zu dämpfen oder mit Wissenschaft als irrational wegzuerklären?
Hoppla? Wie kamen wir dahin? Vom angeblichen Glauben an den Fortschritt in der
Evolution zum persönlichen Weiterleben nach dem Tode?
D.h., wir brauchen solchen Glauben nicht mehr?
Ich hoffe es. Die Existenz der Religionen beweist, dass wir ein Bedürfnis haben,
um Bedeutung zu ringen. Aber sie beweist nicht, dass wir ein ewiges Bedürfnis
nach übernatürlichen Kräften haben. Es gibt andere Wege, Bedeutung zu finden.
Bedeutung ist jetzt das Schlüsselwort; nun, Herr Gould, sie widerfährt Ihnen hier, drei
anstrengende Tage lang ein Fulltimejob, Ihren Äußerungen die Bedeutung zu geben,
die sie wahrlich verdienen. Sie sind ein bedeutender Mann, sonst hätte ich mir die
Mühe nicht gemacht.
Sind sie religiös?
Ich sehe zumindest keinerlei Notwendigkeit, dass ein übernatürliches Wesen existiert.
Spiegel:
Professor Gould, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Nachbemerkungen WS 18.10.98
Wie kann man nur so viel Gedankenlosigkeit in einen einzigen, noch dazu dermaßen abgeschmackten Satz stecken. Darüber nachsinnend, erkennt der kleine Hermeneut sogleich eine bemerkenswerte Parallele: Gould sieht auch “keinerlei Notwendigkeit”, dass der Mensch existiere.
In der Vormoderne gab ‘übernatürlich’ klaren Sinn: der Begriff verwies ‘über’ des
Aristoteles lunare Sphäre in die ewigen Planetensphären. Was aber bedeutet
‘übernatürlich’ im modernen Sprachverständnis? Wir sind ja gewohnt, mit dem
Begriff Natur den ganzen Kosmos zu umfassen, räumlich und metaphorisch. Man
könnte mit einigem Recht ‘übernatürlich’ nennen, was wir Spitze-Menschen der
Natur hinzufügen, worin wir sie transzendieren: Kunst, Kultur, Wissenschaft ...
dann sind wir die übernatürlichen ‘immanent transzendenten’ Wesen, nicht-notwendig und wahrscheinlich nicht-existent. Witzig, aber nicht-gemeint!
Manche Theologen verwenden das ‘Übernatürliche’ als sicheres Versteck für ihr
Gottesbild, auf dass seine Gegenstandslosigkeit nicht offenbar werde. Gould hat
wohl keine solche Verwendung im Sinne. Was kann er und was will er also meinen
mit ‘übernatürlichem Wesen’? Jedenfalls etwas, was ganz sicher nicht in der Natur
ist. Und was nicht in der Natur ist, ist nun mal nicht in der Natur, also überhaupt
nirgends, da sind wir ganz sicher vor Gott. Definiere, Religion bedeute Existenz
eines nichtexistenten Wesens und siehe: ‘keinerlei Notwendigkeit’ für die krause
Konstruktion! Der übliche Pappkameraden-Beschuss.
Wenn man Religiosität im empirischen und philosophischen Niemandsland ansiedelt,ist das für Theologen und für Agnostiker gleichermaßen bequem: es macht
unangreifbar.
AlsInterviewerhätt’ichaufdieUhrgezeigt,aufdenKalender,undgemurmelt:ich
meinte mehr ein spätmodernes, angreifbareres Verständnis von Religiosität. Ob
Herr Professor irgendeine Ahnung haben? Ja oder Nein genüge jetzt aber.
Nachgrummeln
WasGouldda–voneinpaarhellenPassagenabgesehen–verbrät,istvielschlechte
Religion, schlechte Wissenschaft, schlechte Philosophie und geschmacklos obendrein.
Gould:
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Um ja nicht missverstanden zu werden: ein provozierendes Arschloch wie Gould
ist mir tausendmal sympathischer als ein frömmelnder Langweiler wie Dawkins.
Abergeradeeiner“Diva”wieGouldsolltemanesnichtdurchgehenlassen,dasser
sich ein paar speckige alte Hüte schief aufsetzt und sich auch noch verwegen vorkommt – so ein intellektuell eitler Mensch hat nur dann ein Recht, ernst genommen zu werden, wenn er Geschmack mit geistigem Modebewusstsein kombiniert,
und da war beidemal Fehlanzeige. Dieser lahmarschige biologistische Pessimismus, in den er wider besseres Wollen und wider besseres Wissen immer wieder
zurückfällt, unddieetwaswirrenAngriffeaufdieReligionsinddochvonjederSeite abgekaut, ohne sittlichen und wissenschaftlichen Nährwert, bestimmt nicht das,
wasdieZeitbraucht,nochnichteinmalalsgeistigeNachhuttauglich,dieesjaauch
irgendwie geben muss.
Ich denke nicht, dass dies seine Intention ist: aber er verharmlost und verlangweiligt die Wissenschaft, und er begeht m.E. die Sünde wider den wissenschaftlichen
Geist, die nicht vergeben werden kann, sondern die gebüßt sein will. Aber das ist
ein anderes Kapitel.
Wissenschaftstheorie und Evolution: Weder Gott noch <Zufall>! WS 17.03.98, 03.03.2001
Meist machen die Wissenschaftstheoretiker bei ihren Feldforschungen und Falluntersuchungen einen ziemlichen Bogen um die Biologie. Viel lieber durchschweifen sie physikalische Gründe. Was Wunder, dass bei den so erarbeiteten,
unpassenden Maßstäben die Evolutionstheorie (wie auch die Geschichtswissenschaft) schon mal schlechte wissenschaftstheoretische Noten kriegt, von ‘Pseudowissenschaft’ (Karl Popper in einem Anfall schlechter Laune) bis ‘vorwissenschaftliches Paradigma’ (Kurt Hübner). Solange man der Biologie keine wirklich
eigenen wissenschaftlichen Kategorien zugesteht, ist erst einmal Zurückhaltung
geboten bei der Anwendung wissenschaftstheoretischer Begriffe auf die Biologie
im Allgemeinen und die Evolutionstheorie im Besonderen.
Die Biologen haben nun mal das Problem, dass es höchst interessante biologische
Dinge nur ein einziges Mal gibt. Bis man ihnen Interstellar-Ufos bewilligt, haben
sie nur einen, nämlich den vorliegenden, Planeten mit seiner komplizierten Naturgeschichte zu erforschen. Welch eine mickerige statistische Basis! Und all den Lebewesen in ihrer bunten Vielfalt und großen Zahl fehlt leider die Idealität, wie sie
der statistische Mechaniker für seine Grundelemente voraussetzen darf. Kein Ei
könnte dem anderen ähnlicher sein, als die kleinen Atome oder Elektronen untereinander sind. Absolut deckungsgleich bis auf wenige, numerisch ideale Freiheitsgrade, bilden die Objekte der Physik wunderschöne Grundgesamtheiten, auf denen Physiker mit freundlicher Amtshilfe der Mathematik (Abt. Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik) verblüffend exakte Bauten errichten.
Sogar den ‘wirklichen Zufall’, der da er im Quantenkeller rumort, konnten sie darum in wohldefinierte Schranken weisen, mathematisch von allen Seiten umstellen und bis zur fast sicheren Berechenbarkeit zähmen. Unsere erstaunlich oft
funktionierenden Computer, C.D-Player und Mobilfone beweisen es!
Die Biologie – wo sie Biologie ist, und nicht auf die Biologie angewandte Physik
oder Chemie – hat es nicht mit so einfachen Dingern wie Atomen oder Elementarteilchen zu tun!
Nun ist der greise Wissenschafts-Übervater ‘Physik’ gut Freund mit der Metaphysik. Heutzutage räumen auch sittenstrenge Wissenschaftstheoretiker ein, dass
dem Physiker hin und wieder ein kleines Schlückchen davon ganz gut tut. Die großen Physiker hatten keine Probleme, sich auch mal einen großen Schluck zu genehmigen:
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“Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.” (Albert Einstein). “Über dem Tempel der Wissenschaft steht geschrieben: Du musst
glauben!” (Max Planck). Wer die religiöse Sprache moralisch missbilligt, spricht
halt wissenschaftlich korrekt von ‘metaphysischen Annahmen’, die auch ein Popper als gut und nützlich für die Wissenschaft anerkennt.
Sagen wir: geistige Koordinatensysteme. Sagen wir: Leitideen. Und beurteilen wir
ihreWissenschaftlichkeitnichtdanach,obsie wahr oder falsch sind:siesindgenauso wahr oder falsch wie die Gradeinteilung auf unserer Landkarte, sondern beurteilenwirsiedanach,welcheempirischnachprüfbaren,‘korrobierbaren’Resultate
sich aus ihrem Gebrauch ergeben!
Verwechseln wir nicht die Landkarte mit dem Land, und beurteilen wir Landkarten danach, wie gut wir damit von Bitburg nach St. Wendel finden!
Der Glaube an Höherentwicklung, an einen evolutionären Fortschritt, so vage auch
immer man ihn definiert, ist eine solche metaphysische Annahme, die auf Beobachtungen der Natur zurückgeht. Den Teufel interessiert, ob dieser Glaube auch
wahr ist. (Als dessen gelegentlicher Advokat steh ich unter Schweigepflicht, aber
ich könnt euch was erzählen.) Viel interessanter ist, dass dieser Glaube gute Referenzen
hat: hätten Darwin und Kollegen diesen Glauben nicht gehabt, sie hätten niemals
den Darwinismus hingekriegt; ja nicht mal damit angefangen.
Genauso hätten Kepler und Newton und andere frühmoderne Physiker ohne felsenfesten Glauben an einen ordnenden Gott, der der Natur seine Gesetze gibt,
niemals ihre Physik entwickelt. Und die alten Griechen hätten nie die Vorstufe
dafürgeliefert(nämlicheingutfunktionierendesPlanetenmodell),wärenfüreinige von ihnen die Planeten nicht göttliche Wesen geblieben, die, wie hohen Entitäten gebührt, in erhab’nen gleichförm’gen Kreisen die Sphären durchwandeln.
Aber längst hatten antike Beobachter sie ertappt beim Stehenbleiben oder Rückwärtslaufen. Unmöglich! Materialisten wie Anaxagoras und Demokrit glaubten,
was sie sahen, und dachten sich die Himmelskörper als im Weltraumgewirbel mitgerissene Materieklumpen. Diese gottlosen Ideen hat ihnen der ‘böse Weltgeist’
eingeblasen, ärgerte sich Platon, und gottseidank hat der alte Mythomane sich damals durchgesetzt, sonst hätte es so bald keine Astronomie gegeben.
Heute sagen wir frisch und frei, Newton mit seinen krummen Bahnen sei näher
dran an der wirklichen Wahrheit, metaphysisch, ontologisch, und wie die philosophischen Wahr-und-Wirklich-Wörter heißen. Aber wissenschaftstheoretisch und
wissenschaftsgeschichtlich gesehen, war es faktenresistenter Glaube an gleichförmige Kreisbewegung, die der antiken Astronomie aufs Pferd half; und so war es
die These vom die Welt gesetzlich ordnenden göttlichen Demiurg, der die klassische Mechanik hervorbrachte.
Nun gibt es für jeden naiven, aber scharfen Beobachter in der Natur gut sichtbare
Unterschiede in der Komplexität der Pflanzen- und Tierwelt, und jeder ästhetische Normalverbraucher wird die Lebewesen in etwa der gleichen Weise graduell
anordnen: die Skala der Natur, nannten’s die Mittelalten. Eine plausible wissenschaftliche Erklärung zu finden für diese ungeheuer aufdringliche Gestaltwahrnehmung, war das Motiv, das die Suche nachnatürlichen Mechanismen in Gang
brachte, in der Evolutionstheorie mündete und dieselbe bis zu ihrem heutigen
Entwicklungsstand begleitete.
Den Aufklärern (Darwin selber weniger) ging es ja nicht mehr darum, den GlaubenanGottzuretten,sondernganzimGegenteil,dienichtzuleugnendeOrdnung
unabhängig von Gott zu erklären. Bloßer Anti-Glaube (“Gott wars nicht!”) erklärte gar nichts: man musste positiv dagegenhalten. So ersetzten die Evolutionäre die von Gott in einer Arbeitswoche erschaffene Stufenleiter der Natur durch
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einen jedermann einleuchtenden Automatismus der Höherentwicklung von der
Amöbe zum Mensch und nannten’s Evolution.
Wenn wir nicht hartnäckig – und manchmal sogar gegen Augenschein und empirische Evidenz – darauf bestehen, dass es eine innewohnende Ordnung sogar dort
gibt, wo wir sie noch nicht erkennen und verstehen, verabschieden wir uns aus der
Wissenschaft. Verwirrung dogmatisch zu verklären, ist ein Rückfall in die klerikale Dunkelheit des Mittelalters, auch wenn ein anderes Etikett drauf klebt.
Prüfstein der Wissenschaft
Nicht woher der Wissenschaftler seine Ideen hat, müssen wir am Ende prüfen,
sondern wohin sie geführt haben. Es kommt nicht darauf an, was in die Wissenschaft hineingeht, sondern was aus ihr herauskommt.
Wenn ein Wissenschaftler an eine Ordnung in der Natur und ihrer Geschichte
glaubt, und sei es als Arbeitshypothese ordnender Zwecke, die sich hinter, über,
unter, neben oder in den Phänomenen verbergen, und wenn er am Endeschlimme
Sachen glaubt wie der böse Teilhard de Chardin, dann ist das für ihn – als Wissenschaftler – kein Schmerzmittel für existenzielles Aua, sondern eine erfinderische
Leitidee (Heuristik) zum Bau neuer Theorien, um Neues vorherzusagen oder Altes elegant hinterherzusagen. Nicht den Baugrund, sondern nur die neu erbauten
Theorien hat die wissenschaftliche Gemeinde zu prüfen, und sie urteile nach Vorher- und Hinterhersagen, nicht nach der Religion oder danach, ob auch jedem
‘Zweckdenken’ oder anderen verpönten Ideen auf das politisch Korrekteste abgeschworen wurde. Das soll sie mal schön der Inquisition überlassen! Der Wissenschaftler ist im Grunde frei, sonst ist er kein Wissenschaftler, sondern Lehrer oder
Schüler. (Nichts dagegen – wenn die Etikette stimmen.)
Und weil die Biologen dickere Bretter als die Physiker bohren, sollten wir ihnen
gegenüber mehr Geduld, Toleranz und Forschungsmittel aufbringen (wenn sie
das schon untereinander nicht fertig bringen) als den Physikern zugebilligt wurde:
es hat ein Vierteljahrtausend gedauert, bis das Weltbild des Kopernikus so zweifelsfrei bewiesen war, dass sogar die wissenschaftlich superkluge katholische Kirche dran glauben musste. (Die Börse kann diese Geduld sicher nicht aufbringen,
und der neue Markt ist eher das Fantasmagorium kurzsichtiger, wenn nicht sogar
blinder Hühner, die hin und wieder ein Korn finden. Nix gegen Glücksspiele.)
Physikalischen Theorien gestattet man jede Menge von ‘Widerlegungen’ im (naiven) popperschen Sinne. Und die Physiker paddeln solange munter weiter durch
‘Ozeane von Anomalien’, wie sie Land sehen – am liebsten Neuland. Große Physiker schwimmen manchmal auch dann weiter, wenn sie kein Land mehr sehen: allez
en avant et la foie vous viendra. Und sie finden mit ihren Weltkarten, auch wenn sie
durchausnichtimmerstimmenundsogarDingeeingezeichnetsind, die es gar nicht
gibt (haben Sie je den Äquator gesehen?), interessante neue Plätze, oder neue Passagen zu altbekannten Orten.
Man sollte also der Evolutionsbiologie, die aufgrund der schwierigen und komplexen Natur ihres Gegenstandes unter Armut an theoretischen Leitideen leidet (der
Evolutions-Pionier Ernst Mayr zählt sie an den Fingern einer Hand ab →Ev-32),
nicht auch noch den letzten Kompass klauen.
→Mo-4
AberzurückzumZufall! DerZufallistinQuantenmechanikundThermodynamik
methodisch gut eingezäunt: über mathematisch wohldefinierten Regeln unterworfene Wahrscheinlichkeitsverteilungen erhält er in einer Vielzahl von Fällen
einen nachprüfbaren Sinn, man kann buchstäblich ‘mit ihm rechnen’, sonst würde
kein Transistor und kein Laser funktionieren. Aber ob im Innern der einzelnen
Atomewirklich(metaphysisch,ontologisch,ontisch)Zufallschaltetundwaltet,ob
er die wirklichste Wirklichkeit im Herzen der Dinge ist: man frage einen Physiker!
Er wird eskapistisch reagieren, Fragen nach der Wirklichkeit ausweichen und für
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sinnlos erklären, ablenkend auf die großen Erfolge verweisen, an denen die Quantenmechanik bekanntlich die reichste der Welt ist, kurz: er wird herumeiern und
brav auf das Messbare verweisen.
Und in der Tat ist es hier für Letztgültigkeiten viel zu früh, wo die Quantenmechanik doch noch kein Jahrhundert alt ist. Wenn hier ein Stachel im Fleisch der theoretischen Physik steckt: lass stecken, er steckt gut. Zufall sollt halt einem Wissenschaftler als ‘Letzterklärung’ genauso wenig geheuer sein wie Gott. Zwei Zuschreibungen, die er niemals letztgültig akzeptiere, sondern höchstens als vorläufige Ausrede: Zufall oder Gott. (Gott ist vielleicht ein Grund, aber nie eine Erklärung!)
→Ev-99
Und das gilt ganz sicher für den wilden Zufallshaufen, wie ihn uns Stephen Jay
Gould in maestro-Pose vor die Füße kippt. (SPIEGEL 2.3.98) Es ist nicht der von
einerWahrscheinlichkeitsverteilungundvonGesetzenihrerEntwicklungundBerechnung methodisch eingefasste Zufall, sondern nur eine schlampige Etikettierung für ein geballtes Bündel Ignoranz. Der Evolutions-Guru hat ja so recht,
wenn er sagt, bei kritischer Betrachtung gebe es so Vieles in der Naturgeschichte
des Lebens, was wir nicht verstehen; und es ist sicher ein verhängnisvoller Fehler –
und hier legt Gould den Finger auf eine tiefe Wunde – jedes Schloss mit den
überstrapazierten Universalschlüsseln der Selektion und der Gene aufsperren zu
wollen, auch wenn das in zahlreichen Einzelfällen ganz gut klappt.
Natürlich kommt Goulds emphatische Ablehnung des evolutionären Fortschritts
nicht von ungefähr. Ihr wahrer Kern ist folgender: auch ein einstmals führender,
ideenreicher und denkfreudiger Paläontologe kann sich auf dem Boden des bis in
die 70-er Jahre herrschenden Darwinismus keinen wirklich überzeugenden Mechanismus ausdenken, der gesetzmäßigen Fortschritt der Evolution bewirkt.
Wem dieser herrschende Darwinismus ein dogmatisches Nonplusultra ist, muss
allerdings daraus schließen, einen gesetzmäßigen Fortschritt der Evolution gebe
esebennicht.JederFortschritt,denwirdennochwahrnehmen,undseiesmitüberwältigendem Augenschein, könne nur ein scheinbarer sein: Einbildung, Täuschung oder purer Zufall.
So denkt der fundamentalistische Geist. Der wissenschaftliche denkt: über ein
Jahrhundert hatte der Darwinismus nun Zeit, evolutionären Fortschritt zu erklären, und die meisten Fachleute halten dies heute für unmöglich; also sehen wir
uns anderswo um und holen Erklärungen auch von weiter her, bevor wir das Phänomen, das Darwin einst zu erklären auszog, einfach ganz leugnen.
DerKreationismusersetztdenZufalldurchGott.DasbringtnundieWissenschaft
auch nicht weiter, weil dieser Gott sich nicht in die Karten zu schauen lässt; jeder
VersuchindieseRichtungistBlasphemie.InderAntikeoderderRenaissancewar
Gott dagegen eine echte Erkenntnishilfe, weil er zu nachprüfbaren Spekulationen
über seine Wirkung und seine Eigenschaften einlud.
Breitmaulfrösch? Dü gübs jü gür nücht
Aber noch nie hat es die Wissenschaft weiter gebracht, wenn sie Gegenstände einfach für nichtexistent erklärte, sobald sie ihre Erklärungskraft überstiegen.
Praktizierende Biologen dürfen sich hier also nicht in die Tasche lügen und sollten
sonntags laut und deutlich im Chor singen: Ignoramus! Wir wissen dies nicht, wir
wissen das nicht, aber wir wollen es wissen. Montag arbeiten wir wieder dran.
Aber daraus folgern, wie Gould letztlich tut: Ignorabimus? Wir werden es nie wissen?
Unter all den Biologen, deren Gehalt nicht über die Börse finanziert wird, gilt als
Konsens: (427) die Rolle der Gene und der natürlichen Auslese werden in der
Öffentlichkeit gewaltig übertrieben. Es werden Funktionen an sie delegiert, von
denen wir noch nicht mal eine theoretische oder auch nur spekulative Vorstellung
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haben, wie sie mit Hilfe bekannter Mechanismen zu erklären, geschweige denn
empirisch abzuklären seien. Wahrscheinlich sind die Gene Weichen auf der Linie
der Entwicklung, aber nur ein kleiner Teil der Streckennetzes.
Wie fatal, gäbe es nur die öde Perspektive, mit den methodisch hier und da wunderbar bewährten Stricknadeln weiterzustricken und sich auf die Genetik und anderebishernachweisbareevolutionäreMechanismenzubeschränken,undüberall
dort, wo das nicht klappt, die Hände in den Schoß zu legen und zu murmeln: Alles
Zufall! und wer anderes behaupte, sei religiös!
Aus dem Mystifikatorischen übersetzt, bedeutet Goulds “XYZ ist Zufall” etwa
Folgendes: XYZ hat derzeit keine akzeptable wissenschaftliche Erklärung, und es
gibt auch keine wissenschaftliche Theorie, die so nahe liegt, dass ich sie mir als
Erklärung denken kann, und ich kenne auch keinen, der eine herbrächte, und ich
wüsst auch nicht, woher. (Und das, obwohl XYZ nicht wie Zufall aussieht, gibt er
widerwillig zu, wenn man ihn sehr haut.)
Wennkeine Erklärungen naheliegen, muss man sie weitherholen! Wenn man wirklich nachgewiesen hat – und ich denke, das haben Gould u.a. reichlich nachgewiesen – dass da und dort keine Erklärung naheliegt, müssen wir aus dem
heimeligen Umkreis ach so vertrauter Nähe aufbrechen und die Erklärungen von
weiter herholen, als sonst die Biologengemeinde zu denken sich getraut.
Und wenn das heißt, dass wir zu Fuß gehen müssen, über Stock und Stein stolpernd,ohnedievertrauteMethodologie.Undeswerdeneinpaarvonunsfurchtlosen Wissenschaftlern im unbekannten Land beim Weitherholen von Erklärungen
in den Sumpf fallen und vom Krokodil gefressen werden: der wackre Forscher
fürcht sich nit! Aber nur wenn er einen Glauben hat!
Glaube an Ordnung in der Natur – final, kausal, wurstegal – natürlich, übernatürlich, unternatürlich, vielleicht auch rechts- und linksnatürlich, nicht zu vergessen vorder- und hinternatürlich, die Wissenschaftsgeschichte wimmelt vor
verrückten Beispielen – dieser Glaube erwies sich immer wieder als effiziente
Suchmaschine im Netz der Wirklichkeiten, welche interessante Hits mit vielversprechenden Links produzierte!
Am Rande: vielleicht redet Gould ja von eigenen Problemen. Aber nach meinen
Beobachtungen ist es heutzutage schwerlich die Wissenschaft oder gar die “Begeisterung für den wissenschaftlichen Fortschritt” (Gould zum Spiegel), die als
Opium fürs Volk und Kokain der Reichen dient; man muss also den Missbrauch,
mit dem Gould ständig kokettiert, nicht fürchten. Wer Opium oder Kokain
braucht, greift zu Opium oder Kokain, nicht zur Metaphysik!
Kommt mir nicht mit Gott, kommt mir nicht mit Zufall (außer ihr wisst ganz genau, wovon ihr redet und das wisst ihr nicht.)
Mohr
in (364) als Exponent humanbiologischer Fehlschlüsse: →R/N HNp127f
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