Mann noch Frau ~ ~ co - Evangelisch

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· Isolde Karle
»Da ist nicht mehr
Mann noch Frau ~ ~ co«
Theologie jenseits der
Geschlech terdifferenz
Gütersloher Verlagshaus
Inhalt
Vorwort
7
Einleitung: Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz
11
1. Die bipolare Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit in der modernen Gesellschaft . . . . . .
21
II. Was ist Geschlecht? . . . . . . . . . .
Geschlecht als soziale Klassifikation
2 . Geschlecht als interaktiver Prozess .
3. Die Infrastruktur der Geschlechterklassifikation
4. Gender als Habitus .
5· Schlussbemerkungen . . . . . . . .
1.
IIr. Zur Zirkularität von sex und gender
Man sieht nur, was man glaubt . . .
2. Transgenderwelt: Transsexuelle, Intersexuelle,
Transvestiten und dritte gender . . . . . . . .
3. Soziale Transformation von Körperlichkeit: Hormone,
Intonation, Hirnplastizität und Körperkraft
4. Gender und Sport . . . . . . . . . . .
1.
IV. Reale Mütter und der Muttermythos
Muttersein in Deutschland . . . . . .
2. Deutungsmuster der Mütterlichkeit
3. Das Primat der Mutter-Kind-Beziehung
4. Gender und Beruf . . . . . . . . .
1.
V. Konstruktionen von Männlichkeit
1.
Männlichkeiten im ,Plural
35
35
48
54
66
79
81
81
88
100
111
121
121
133
146
149
161
Homosoziale Sphären und die Konstruktion
hegemonialer lvfännlichkeit
3. Gewalt und IViännlichkeit
4. Perspektiven . . . . . . .
2.
VI. Genderkonstruktionen in der Theologie
Die Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit in der
zeitgenössischen Sozialethik . . . . . . .
2. Die Schöpfungserzählung von Genesis 2-3 . . .
1.
a) Genesis 2 als utopische Gegenwelt . . . . . ..
b) Weisheitliche Erkenntnis und die Ambivalenz der
conditio humana . . . . . . . . . . . . . . .
c) Das Erlernen des zweigeschlechtlichen Blicks . .
3. » . .. und schuf sie als IV!ar'D
l~nd
Frau« - Ge!1esis 1,27
a) Der Mensch als Bild Gottes . . . . . . . . . . . . ..
b) IVfännlich und weiblich - und die In-Betweens? . . ..
189
201
202
208
212
2c7
217
223
4. Die Neuschöpfung in Christus und die Transformation
von Geschlecht: Galater 3,28 . . . . . . . . . . . .. 227
VII. Die Kirche als Raum der Freiheit und des
Vertrauens - Schöpferische Vielfalt jenseits
dichotonler Klassifikationen ... . . . . .
1.
Homosexualität und Kirche
a) Theologische Deutungen und kirchliche Stellungnahmen
b) Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften . .
Eine Theologie der Befreiung jenseits repressiver
Gendernormen . . . . . . . . . . . . . . .. . .
3. »Lasst die Kinder zu mir kommen« Kirche der Lebensbejahung . . . . . .
4. Profiliertes Zeugnis für die Ökumene
2.
Literatur
.................
. . . . . . . . . .
253
271
Einleitung:
Theologie jenseits der Geschled:l.lerdifferenz
Das vorliegende Buch verfolgt zwei Ziele: Es ist als Einführung in
den gegenwärtigen Stand der interdisziplinären Geschlechter- oder
Genderforschung gedacht und möchte darüber hinaus einen spezifisch theologischen Forschungsbeitrag leisten. Die Genderforschung
versteht sich nicht als Alternative zur Frauenforschung, sie nimmt
die Feministische Forschung vielmehr auf und stärkt sie, indem sie
Apliegen des Feminismus auf einem adäquaten sozialwissenschaftlichen Theorieniveau - und damit mit einer gewissen Distanz zu den
Selbstverständlichkeiten des Alltags - reformuliert.
Die Feministische Theologie rezipiert bislang nur zögerlich die
sozialwissenschaftlieh ausgerichtete Genderforschung. Es gibt zwar
zunehmend feministisch-theologische Ansätze, die den offenen wissenschaftlichen Diskurs führen, die sich vom Alltagswissen distan zieren und gängige, aber auch feministische Essentialisierungen von
Weiblichkeit zu entmystifizieren suchen. Doch insgesamt ist immer
noch eine weitgehende »Rezeptionssperre«l in der deutschsprachigen theologischen Frauenforschung zu beobachten. Die Angst vieler
feministischer Theologinnen, durch die konstruktivistische Genderforschung das identitätspolitisch-o Fundament der Frauenbewegung
zu verlieren, spielt dabei sicherlich eine große Rolle. -Wenn die
Mann-fra u-Unterscheidung selbst problematisiert wird und nicht
nur die unterschiedlichen Interpretationen der Differenz des Mannund Frauseins, dann ist es nicht mehr so einfach, das Geschlecht bestimmten Personen als Handlungsträgern zuzuordnen und damit
zugleich eindeutige Täter-Opfer-Zuordnungen und entsprechend
eindeutige moralische Bewertungen vorzunehmen. Vor allem aber
ist es nicht mehr umstandslos möglich, im Namen »der Frauen« als
einer einheitlich strukturierten Menschengruppe zu sprechen. Dann
ist vielmehr auch der Feminismus genötigt, die Pluralität, Vielfalt
1.
Vgl. Hagemann-Vfhite, Die Konstrukteure des Geschlechts auf frischer
Tat ertappen?, 69.
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ständnisse zur Kenntnis zu nehn1ell und zu würdigen,
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'Nenn die Feministische Theologie sich nicht selbst margiilalisie ren, sondern ihi'e unverzichtbaren Anliegen in der theologischen
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will,
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muss sie sich auf das Niveau der Theoriebildung, das in der sozialwissenschaftlich, historisch und sprach philosophisch orientierten
Genderforschung seit vielen Jahren Standard ist, begeben. Sie ist dazu nicht nur aus wissenschaftstheoretischen Gründen herausgefordert, sondern auch in ilirem ureigensten Interesse. Denn entgegen
vielfach geäußerten Befürchtungen führen die Ergebnisse der Genderforschung keineswegs zu einer Abschwächung frauenpolitischer
Interessen. Ganz im Gegenteil: lviit großer Konsequenz und Radikalität weisen sie auf die vielfachen, ofc kaum merldichen alltäglichen
Repre3sio~len hin, die aus der Sozialorciüw.1g der Zweigeschlechtlichlceit resultieren. Einer Theo~ogie der Befreiung, die hier mit guten Gründen anschließen kann, geht es dementsprechend um nichts
anderes als um die Befreiung von kulturell aufgezwungenen Stigmatisierungen, die emanzipierte Frauen, Homosexuelle, Intersexuelle
und alle diejenigen Männer und In-Betvveens erleben, die nicht in
das gängige Raster der überkommenen bürgerlich-bipolaren Geschlechtstypik: passen und unter ihr leiden.
Das Buch ist aber nicht nur als Einführung in die sozialwissenschaftlich fundierte Genderforschung gedacht, sondern leistet auch
einen spezifisch theologischen Forschungsbeitrag. Nur durch die
Einbeziehung moderner Sozialwissenschaften kann eine theologische Wiridichkeitserschließung angemessen geleistet werden. So
stellt sich die Frage, ob sich die zeitgenössische evangelische Sozialethik und Anthropologie mit der selbstverständlichen Annahme
der biologischen Natürlichkeit und Bipolarität der Geschlechter tatsächlich unmittelbar auf die biblischen überlieferungen berufen
kann oder ob damit nicht spezifisch moderne Stereotypen und Perspektiven unreflektiert in die Deutung der (antiken) biblischen
Überlieferungen eingetragen werden, ohne ihre Differenziertheit
hinreichend präzise wahrzunehmen. Auf diesem Hintergrund werden die Schöpfungs erzählungen in Genesis 1- 3 unter ausführlicher
Bezugnahme auf die exegetische Fachliteratur interpretiert. Dabei
wird ihrer gängigen Instrumentalisierung für eine Ontologie der
Geschlechterdifferenz der Boden entzogen. Nicht zuletzt die Tauf-
Einleitung: Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz
13
formel von Galater 3,28 führt in unmissverständlicher Klarheit vor
Augen, dass in Christus die Unterscheidung »männlich-weiblich«
keine tragende Relevanz mehr hat, dass Christus vielmehr eine neue
Identität jenseits kulturell etablierter dichotomer Klassifikationsschemata verleiht und von allen kulturell auferlegten Identitätszwängen und Hierarchisierungen befreit. Das kirchlich noch unausgeschöpfte Potential dieser revolutionären Umgestaltung sozialer
Beziehungen liegt auf der Hand. In einem letzten Schritt werden
deshalb die sozialethischen und kirchenpolitischen Konsequenzen
dieser Perspektive entfaltet.
Dieser Teil des Buches richtet sich sowohl an die theologische Forschung mit ihrem gängigen Androzentrismus und ihrer mangelnals auch an
den
- Sensibilität im Hinblick auf die Genderversvektive,
,
,
die sozial wissenschaftliche Genderforschung, die theologische Forschungserträge bislang kaum rezipiert und zur Kenntnis nimmt.
Beiden will das vorliegende Buch mit einer Theologie jenseits der
Geschlechterdifferenz weiterführende Impulse und Perspektiven
vermitteln.
Nun zum Inhalt des Buches im Einzelnen: Im ersten Kapitel wird
soziologisch analysiert, welche spezifische Kontur die Sozialordnung
der Zweigeschlechtlichkeit in der modernen Gesellschaft gewonnen
hat. Obwohl das Geschlecht mit der Umstellung von einer stratifizierten zu einer funktional differenzierten Gesellschaft prinzipiell
kein Zulassungskriterium m ehr fü r die Inklusion in die Funktionssysteme ist, ist paradoxervieise zn konstatieren, dass es für Frauen
lange Zeit nm sehr begrenzte Möglichkeiten gab, an den zentralen
Funktionssystemen der Gesellschaft zu partizipieren. Eine der wesentlichen Ursachen dafür dürfte in der neuartigen Konfiguration
geschlechtlicher Arbeitsteilung begründet liegen, die sich im Laufe
des 19. Jahrhunderts mit der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit, von Familie und Beruf herausgebildet hat. Diese moderne
Form der Arbeitsteilung und die mit ihr einhergehenden wissenschaftlichen Begründungsversuche einer universell geltenden Geschlechterontologie haben die uns bis heute vertrauten bipolaren
Charakterschemata, Verhaltens- und Orientierungsmuster der Geschlechter erST eigentlich hervorgebracht. Die nacDholende In dividualisierung von Frauen in den letzten Jahrzehnten hat die »bürgerliche Geschlechtermetaphysik« (Hmtmann Tyrell) zwar relativiert,
aber kein eswegs üben'mnden. So ist eine erstaunliche Hartnäclzig-
1 L..
Sinle:tung: Theologie j.el1seits cer Geschlechterdifferenz
keit geschlechtstypischer Verhaltensstile vor allem dann zu beobachten, wenn <iUS Frauenlvfütter und ,ms Partnerschaften Familien werden.
Nach diesen soziologisch-historischen Rahmenbedingungen wird
im n,reiten Kapitel danach gefragt, wie Geschlecht eigentlich zu definieren und zu verstehen ist. In Rezeption des konversationsanalytischen Ansatzes der Ethnomethodologie, der interaktionsbasierten
Analyse der GeschlechterklassifIkation von Erving Goffman, der
vVeiterführung dieses Ansatzes bei Hartmann Tyrell und Stefan Hirschauer und schließlich mit Bezugnahme auf die Theorie vom Habitus von Pierre Bourdieu wird danach gefragt, warum die Genderdifferenzierung auch in der modernen Gesellschaft so wirkmächtig
und populär ist und dies, obwohl es längst vielfältige Erfahrungen
gibt, die die Rigidität des Gescblechterdimorphismus ad absurdum
führen. Gefragt wird aus dieser Perspektive inso fe rn nicht mehr, inwiefem sich Fl'<iuen und 1\113.nn<:01' unterscheiden, sondern welche so zialen Arrangements, welche sozialen Faktoren und Dynamiken die
binäre GeschlechterklassifIkation überhaupt erst hervorbringen und
ihr immer wieder neu Geltung verschaffen. Gender wird mithin
nicht als personale, sondern als soziale Kategorie verstanden, nicht
als etv"as, das wir haben, sondern als en'l'as, das wir tun, nicht als
Eigenschaft, sondern als interaktiver Prozess in sozial organisierten
Praktiken, nicht als Natur, sondern als eine soziale KlassifIkation,
die unser Alltagsleben, unsere Höflichkeits- und Achtungsbezeugungen und Begegnungen in der Interaktion tiefgreifend bestimmt.
Schon die Altmeisterin des Feminismus Simone de Beauvoir hat in
diesem Sinn auf den durch und durch sozialen Charakter der Gender identität hingewiesen: »Man kommt nicht als Frau zur Welt,
m an wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschwesen im Schoß
der Gesellschaft annimmt. Die Gesamtheit der Zivilisation gestaltet
dieses Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten,
das man als Weib bezeichnet. «2
Die Mann-Frau-Unterscheidung kann demnach nicht direkt aus
differenten Körpern abgeleitet werden, sie bedarf vielmehr massiver
kultureller Sanktionen, um zu funktionieren. So erlaubt die kulturell etablierte dichotome Optik in der 'W ahrnehmung von Menschen
2.
Beauvoir, Das andere Geschlecht, 26 5.
Einleitung: Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz
15
immer nur zwei Sorten zu erkennen, während es in der Natur fließende lJoergänge, Überlappungen und eine große anatomische
Vielfalt jenseits binärer Zuordnungen gibt. Die physiologischen
Fakten setzen sich offenbar nicht von selbst in eine Sozialordnung
der Zweigeschlechtlichkeit um. Der klassifikatorische Rigorismus
der Geschlechterunterscheidung wirkt sich umgekehrt auf das Erleben und Wahrnehmen von Körpern aus. Die soziale Praxis der Geschlechterdifferenzierung wird gleichsam inkorporiert, effizient somatisiert und prägt sich in Form von Dispositionen bis in das
Innerste der Körper ein. Die Beharrlichkeit und Trägheit des Geschlechterdimorphismus wird durch eine reiche institutionelle Infrastruktur gestützt, die für die Erwartbarkeit der binären Differenzierung von Tätigkeiten, Fähigkeiten und Verhaltenscodes sorgt.
Nicht der biologische Körper sorgt mithin für eine aus ihm ableitbare Genderidentität, sondern die Genderordnung sorgt für eine oft
subtile Feminisierung und Maskulinisierung von Körpern, Verhaltenscodes, Körperhaltungen und -erfahrungen, Wahrnehmungsschemata, Gefühlen und leib-seelischen Empfindungen - mit vielen
repressiven und exkludierenden Folgen vor allem für Frauen.
Das dritte Kapitel führt anhand eines reichen Anschauungsmaterials vor Augen, dass kÖlpel'liches und soziales Geschlecht (englisch:
sex and gendeI') letztlich nicht zu trennen sind. Der Körper existiert
zwar vorsozial, kann aber nur kulturell gelesen werden und wird darüber hinaus sozial transformiert. So zeigt sich in historischer Perspektive, ""ie unterschiedlich und widersprüchlich Körper (Männlichl<eit und Weiblichkeit) je nach Epoche und Kultur beobachtet
und interpretiert wurden und wie wenig objektiv selbst die moderne
biologische und medizinische Wissenschaft in dieser Hinsicht waren
und sind. Der Leib entzieht sich jedem unmittelbaren Zugriff. Besonders beklemmend und repressiv wirkt der klassifikatorische Rigorismus auf all die Menschen, die dem ihnen zugewiesenen Gender
nicht entsprechen können: Transsexuelle, dritte gender und nicht
zuletzt Intersexuelle. Sie führen besonders anschaulich vor Augen,
dass sich eine stereotype Zuordnung aller Individuen zu einem von
zwei Geschlechtern schon allein biologisch nicht rechtfertigen lässt
und die Kultur sehr viel schärfer zwischen Mann und Frau unterscheidet, als es die natürlichen Fakten erlauben. Auch so scheinbar
objektive Faktoren 'wie Körperkraft, Intonation, Hormone und
Hirnplastizität stellen allesamt keine »harten Fakten« dar, sondern
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sind in hohem Maß von kul'Lurellen Gewo hnheiten und Verhaltensnormen abhängig. Nicht zuletzt demontieren muskulöse Spitzensportlerinnen. insbesondere in sogenannten ]vfännersporta rten. zunehmend den Mythos von der weiblichen Schwäche und stellen
damit eine der letzten unhinterfragten Bastionen der Mann-Frau
Unterscheidung in Frage.
Kapitel vier befasst sich mit dem augenfälligsten Phänomen der
Mann-Frau-Unterscheidung. der Mutterschaft. Aus ihr wird bis in
die Gegenwart hinein eine fa miliär-häusliche Existenz von Müttern
abgeleitet. die weit über die Geburt und das Stillen von Kindern
hinausgeht. Anders als bei vielen europäischen Nachbarn wird in
Deutschland dabei immer noch die Rolle der Vollmutter kultiviert
und idealisiert (und entsprechend jede Form der Fremdbetreuung
als zweitrangig. wenn nicht schädlich betrachtet) und Fal11.ilie und
Beruf nach wie vor als strukturelle Gegensätzlichkeit behandelt. Vlfie
viele Studien zeigen. sind Kinden~runsch und Geburtenrate nicht
zuletzt deshalb in der Bundesrepublilz rückläufig. .
Ideengeschichtlich geht die Gleichsetzung von Weiblichkeit und
Mütterlichkeit auf neuzeitliche Erziehungstheoretilzer zurück. für
die die Frau im Wesentlichen Gattungswesen und nicht Individuum
war. Der Nationalsozialismus hat sich der bürgerlichen Mütterlichkeitsideologie bedient und sie zugleich transformiert in einen Mutterkult. der zum einen Frauen aus dem öffentlichen Leben gänzlich
zu verbannen suchte und zum anderen der rassistischen Biopolitil<
des Nationalsozialismus dienstbar gemacht ,~rde. Die Geschlechterverwirrung, die die beginnende Individualisierung von Frauen
für den Nationalsozialismus darstellte. sollte ein Ende finden. Für
beide Traditionsströme ist bei aller Verschiedenheit evident,- dass
sich eine Frau letztlich nur als Mutter verwirklichen kann und dass
Mutterschaft - anders als Vaterschaft - eine Frau total in Anspruch
nimmt und sie auf diese reduziert. Dieser »deutsche Muttermythos«
(Barbara Vinken), dem das Kapitel ausführlich nachgeht und der bis
in die Gegenwart hinein zu einem als natürlich empfundenen Primat der Mutter-Kind-Beziehung führt, stellt sowohl historisch als
auch interkulturell betrachtet eine Ausnahme dar und erweist sich
in vieler Hinsicht als weder ökonomisch noch sozial noch pädagogisch vernünftig. Der letzte Teil des Kapitels analysiert daran anschließend die augenfällige Konstanz geschlechtsdifferenzierter Habitus selbst in der Berufswelt und die auch dort häufig proklamierte.
Einleitung: Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz
17
erwartete und zugemutete »Andersheit« professionell engagierter
Frauen.
Das fünfte Kapitel widmet sich ausführlich den Konstruktionen
von Männlichkeit und schließt dabei vor allem an einschlägige Studien von Michael Meuser an. Gegenwärtig ist zwar eine gewisse Pluralisierung und Modernisierung von Männlichkeit beobachtbar,
aber diese stellen den männlichen Habitus nicht grundsätzlich in
Frage. Das Leitbild der hegemonialen Männlichkeit ist trotz aller
Gleichwertigkeitsrhetorik nach wie vor weithin unangefochten und dies nicht nur unter Männern, sondern auch unter Frauen.
Das Geschlecht, das der Reflexion weitgehend entzogen ist, scheint
sich gegen alle Individualisierungsanstrengungen und Irritationen
Z11 immunisieren. Meuser füh rt dabei vor Augen, dass es vor allem
homosoziale Sphären, Männergemeinschaften aller Art, sind, die
die Stabilität hegemonialer Männlichkeit gewährleisten. Sie ermöglichen eine gewissermaßen unreflektierte geschlechtliche Selbstvergewisserung. Eine besonders ausgeprägte und prekäre Form des
doing masculinity stellt das Gewalthandeln dar. Im Gewalthandeln
verdichtet sich der männliche Wunsch nach Überlegenheit, Stärke
und Dominanz in extremer Form, ob in reziproken Gewaltrelationen (gegenüber »echten« Männern) oder in einseitigen Gewaltrela tionen, die auf Unterwerfung abzielen (gegenüber Frauen und
schwachen, »untergeordneten « Männern). Trotz alledem hat das
Mannsein seine Eindeutigkeit und Selbstverständlichkeit verloren.
Männlichkeit wird mehr und mehr zu einer Gestaltungsaufgabe. Es
muss deshalb dar über nachgedacht werden, welche Perspektiven
sich daraus (auch arbeitsmarkt- und familienpolitisch) ergeben.
Das in den ersten fünf Kapiteln sozialwissenschaftlieh Erarbeitete
wird im sechsten Kapitel auf theologische Fragestellungen bezogen.
Wie sieht es mit der KOi1struktion von Zweigeschlechtlichkeit in
der zeitgenössischen Sozialethik aus? Vor allem aber: Wie wird gender in den beiden Schöpfungserzählungen (Genesis 1 - 3) beschrieben und imaginiert? Eine ausführliche Rezeption neuester exegetischer Erkenntnisse führt in diesem Zusammenhang überraschende
Deutungen zu Tage. Dies gilt zunächst für die beiden Schöpfungserzählungen, die sich kaum eignen, die These ein er unumstößlich en
und von Gott gewollten bipolaren Zweigeschlechtlichkeit zu begründen.
Die weisheitlieh geprägte Schöpfungserzählung Genesis 2 - 3 be-
18
Ein leitung: Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz
schreibt die faktische A.l11bivalenz des Lebens, das auch das Zusammenleben von Mann und Frau betriff-t. Realistisch wird auf die bestehende partriarchale Realität hingewiesen und zugleich eine Irritation in Bezug auf die Selbstverständlichkeit der gängigen
Geschlechterordnung in der antiken Gesellschaft zum Ausdruck gebracht. So wird das Leitbild hegemonialer Männlichkeit nicht als
Norm, sondern als Folge der Sünde betrachtet (Gen 3,16). überdies
werden im »Paradies« se:A'Uelle Unterschiede (noch) niCht wahrgenommen - erst in der Gebotsübertretung wird die Geschlechterdualität für alle wahrnehmbar und mit diskriminierenden Folgen
spürbar.
In Genesis 1,26 f. wiederum liegt der Akzent nicht, wie vielfach
unterstellt, darauf, die Zweigeschlechtlichkeit zum Ausgangspunkt
für die Gottebenbildlichkeit zu machen. Gen 1,27 ist vielmehr auf
den alle Ivienschen inldudierenden Auftrag, Gott in der geschaffenen
Vvelt zu repräsentieren und sie nach seinem Willen zu gestalten, fokussiert. Anders als in der altorientalischen Königsideologie soll
diese Würde und Aufgabe nicht nur dem König oder Pharao, sondern unterschiedslos allen zukommen. Der Schöpfungsbericht zielt
mithin auf die Beteiligung einer Gesamtheit, nicht auf eine (ohnedies erst neuzeitlich denkbare) dichotome Zweigeschlechtlichkeit
ab.
Nicht zuletzt die neutestamentlichen Vorstellungen von Neuschöpfung und Taufe relativieren die Sozialordnung der Zweigeschlechtlichkeit. So behauptet die Taufformel von Galater 3,28,
die eine bewusst reflektierte Antithese zu Gen 1,27 darstellt, dass in
Christus »nicht mehr männlich und weiblich« gilt, sondern alle eins
in Christus sind. Das Fallen der Schranken zwischen Männen'l und
Frauen ist Ausdruck der Neuschöpfung in Christus, die ein neues
Sozialverhalten provoziert und Genderdifferenzen tiefgreifend relativiert und transformiert. Es geht um eine befreiende Erschließung
von individuellen Erfahrungen jenseits kulturell auferlegter Zwänge,
die Menschen beeinträchtigen und deformieren.
Was dieses grenzüberschreitende, inldusionsorientierte Identitätsverständnis für die Kirche der Gegenwart bedeutet, wird in
einem abschließenden siebten Kapitel im Hinblick auf den Umgang
mit Homosexualität, die Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, die Bewertung von »Geschlechtsmigrantinnen « aller Art
und die Förderung familialer Beziehungen im Geist Jesu Christi ent-
Einleit ung: Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz
19
faltet. 'Nenn der Geist Gottes seine Gaben nicht entlang menschlicher Differenzlinien verteilt, sondern in provozierender Weise
grenzüberschreitend ist, dann dürfen Menschen im Namen Jesu
Christi nicht länger auf überkommene Geschlechtstypil<en festgelegt
werden. Dann ist speziell die Kirche dazu herausgefordert, die neuzeitlich-bürgerliche Geschlechtermetaphysil< nicht länger unkritisch
zu pflegen, sondern eine leib-seelische Schäpfungsvielfalt zu fördern,
die sich der kulturell geforderten repressiven Dualisierung entzieht
und Menschen in aller Vielfalt ermutigt, ihre von Gott geschenkten
Gaben, Fähigkeiten und Talente individuell zu entfalten. Denn nicht
die Anatomie von Leibern, sondern der Geist Christi, der ein Geist
der Liebe, des Vertrauens und der Freiheit ist, ist für die Glaubwürdigkeit der Kirche entscheidend.
Dies bedeutet zugleich, dass die Qualität von Beziehungen und
nicht bestimmte normative Rollenbilder von Mann und Frau Kriterium einer christlich verantwortbaren Beziehung sind. Die Kirche
kann es aus dieser Perspektive nur begrüßen, wenn auch gleichgeschlechtliche Paare, die als Christen bzw. als Christinnen dauerhaft zusammenleben wollen, analog zur herkömmlichen Trauung
um den Segen Gottes für ihren gemeinsamen Weg bitten. Wenn die
Kirche überdies dazu beitragen will, dass mehr Menschen den Mut
zur Elternschaft gewinnen, dann wird sie insbesondere berufstätige
Frauen ermutigen, z'wischen Familie und Beruf nicht länger eine Alternative zu sehen. Als Raum der Freiheit und des 'Iertrau ens fördert
die Kirche eine authentische Plurali tät im Geist Christi und befreit
von den diskriminierenden Fesseln, die die historisch kontingenten
Gendernormen für viele Männ er und Frauen, Homosexuelle und
Transgenderpersonen bedeuten. Die evangelische Kirche hat allen
Grund, eine solch befreiende Perspektive auch in der Ökumene mutig und klar zur Geltung zu bringen.
Friedrich Schleiermacher hat eine solche Vision der Freiheit in
seinem »Katechismus der Vernunft für edle Frauen« treffend auf
den Punlü gebracht. Er hat darin nicht nur die unendliche Menschheit jenseits der Geschlechterdifferenz imaginiert, sondern auch die
Freiheit von den Fesseln der Geschlechterordnung beschworen: »Ich
glaube, dass ich nicht lebe, um zu gehorchen oder um mich zu zerstreuen, sondern um zu sein un d zu werden; und ich glaube an die
Macht des 'Willens und der Bildung, mich dem Unendlichen 'Nieder
zu nähern, mich aus den Fesseln der Missbildung zu erlösen und
20
Einleitung: Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz
mich von den Schranken des Geschlechts unabhängig zu machen.«3
Kirche und Theologie sollten in diesem Sinn dazu beitragen, von
den Schranken des Geschlechts unabhängig zu machen. Sie haben
dabei das Evangelium auf ihrer Seite.
3·
Schleiermacher, Fragmente, 154.
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