Palliative Care für terminal niereninsuffiziente Patienten Susanne Tabernig, 3. Medizinische Abteilung, Donauspital im SMZ-Ost Einleitung Präterminal und terminal niereninsuffiziente Patienten haben im Vergleich zu Nierengesunden eine erhöhte Mortalität. Zusätzlich bestehen bei Patienten an oder kurz vor der Dialyse häufig viele Komorbiditäten. Die Patienten, die mit einer Dialysetherapie beginnen, werden immer älter. Diese zunehmend älteren und kränkeren Patienten führen in der medizinischen Fachliteratur zu einer Diskussion um die optimale Betreuung dieser Patienten, einer Betreuung, die möglicherweise weniger eine Verlängerung der zu erwartenden Lebenszeit, als vielmehr eine Verbesserung der erlebten Lebensqualität in der noch zur Verfügung stehenden Zeit zum Ziel hat. Überlebensvorteil und ‚burden of disease’ durch die Dialyse In einer englischen Studie aus dem Jahr 2007 (NDT (2007) 22:1955-1962) wurde retrospektiv das Überleben von über 75 Jahre alten Patienten mit einer chronischen Niereninsuffizienz (CKD) Stadium 5 im Vergleich mit und ohne Dialysebehandlung untersucht. Dabei zeigte die Studie einen klaren Überlebensvorteil der Patienten an der Dialyse. Dieser Überlebensvorteil zeigte sich allerdings für Patienten mit einer hohen Komorbidität, insbesondere für Patienten mit ischämischer Herzerkrankung, nicht. Fig. 2. Kaplan–Meier survival curves comparing the dialysis and conservative groups (log rank statistic = 13.63, P < 0.001). Fig. 3. Kaplan–Meier survival curves for those with high comorbidity (score = 2), comparing dialysis and conservative groups (log rank statistic <0.001, df 1, P = 0.98). Wenn man angesichts dieses nicht mehr vorhandenen Überlebensvorteils dieser Patienten nun die hohe Belastung betrachtet, die eine Dialysebehandlung darstellt, sollte bei jedem Patienten individuell überlegt werden, ob er von einer Dialysebehandlung profitiert oder ob er diese nicht lieber nicht beginnen oder - falls dies sein Wunsch ist - abbrechen sollte. An Belastungen der Dialysebehandlung sind unter anderem Probleme beim Legen und Erhalten des Zugangs, einzuhaltende Termine, Transporte zu und von der Dialyse, Wartezeiten auf diese Transporte, hypotensive Zustände während der Dialyse und Verwirrtheitszustände während der Dialyse zu erwähnen. Insgesamt steigt durch die Dialysebehandlung der ‚burden of disease’ manchmal an und die Lebensqualität sinkt (Tuso Ph. Per J. 2013;17(1):7879). Natürlich sollten die Patienten, bei denen man durch die Dialyse keinen Überlebensvorteil mehr erwartet nun nicht überhaupt nicht betreut werden, sondern sie sollten entweder anstatt oder auch an der Dialyse einer palliativen Betreuung zur Verbesserung der Lebensqualität, zur Linderung von Symptomen und zur Betreuung in der Sterbephase zugeführt werden. Identifizierung von Patienten mit einer hohen Komorbidität Die erste und wichtigste Frage ist nun, wie man die Patienten identifizieren kann, die von einem Palliative Care Programm profitieren können. Dazu stehen in der Literatur einige Predictive modelling risk calculators zur Verfügung, sowohl für Patienten vor als auch nach Beginn der Dialysetherapie. Für Patienten vor Beginn einer Dialysebehandlung steht zum Beispiel ein Berechnungsmodell nach Couchoud (Cochoud C. NDT 2009; 24:1553-19) zur Verfügung. Dabei werden für folgende Erkrankungen Punkte vergeben: BMI < 18,5 (2 Punkte), Diabetes mellitus (1 Punkt), Kardiomyopathie Grad III-IV (2 Punkte), pAVK III-IV (2 Punkte), Arrhythmie (1 Punkt), Aktives Malignom (1 Punkt), schwere Verhaltensauffälligkeit (2 Punkte), Abhängigkeit bei Transfers (3 Punkte), ungeplanter Beginn der Dialysebehandlung (2 Punkte). Das geschätzte Mortalitätsrisiko innerhalb von 6 Monaten, falls eine Dialysebehandlung begonnen wird, liegt bei 8% für 0, 17% für 2 und 70% für > 9 Punkte. In der oben zitierten Studie zum Überlebensvorteil durch Beginn einer Dialysebehandlung wurde die Komorbidität nach Davies (NDT 2002; 17:1085-1092) berechnet. Erkrankungen wie -) eine ischämische Herzerkrankung, -) ein Malignom, -) eine periphere arterielle Verschlusskrankheit, -) Lungenödem oder echokardiographischer Nachweis einer Linksventrikeldysfunktion, -) ein Diabetes mellitus Typ 1 oder 2, -) eine Kollagenose oder -) eine andere schwere Erkrankung (COPD, Leberzirrhose, Psychose) bekommen je einen Punkt, 0 Punkte ergeben einen Komorbiditätsgrad 0, 1-2 Punkte einen Grad 1, 3 Punkte oder mehr einen Grad 2. Die derzeitigen Empfehlungen der RPA (renal physicians association) (Brown MA. Nephrology 2013; 18:401-454) sind, bei einem Alter > 75 Jahre PLUS zwei der folgenden Punkte • hoher Komorbiditätsscore (Modifizierter Charlson Score (MCS) > 8) • deutliche funktionelle Einschränkung (Karnofsky < 40) und • schwere chronische Malnutrition (Albumin < 25) auf ein Drängen auf einen Beginn der Dialysebehandlung zu verzichten. Zu jüngeren Patienten mit einer hohen Komorbidität gibt es derzeit noch keine Empfehlungen. Beim Modifizierten Charlson Score MCS (Hemmelgarn BR. Am J. Kidney Dis. 2003;42:125-32) werden auch Punkte addiert, und zwar je 2 Punkte für einen stattgehabten Myokardinfarkt, eine kongestive Herzerkrankung, eine cerebrale arterielle Verschlusskrankheit, eine Lebererkrankung, eine Leukämie oder einen Diabetes mellitus mit Komplikationen, je ein Punkt für eine periphere arterielle Verschlusskrankheit, eine Demenz, eine chronische Lungenerkrankung, ein peptisches Ulcus oder einen Diabetes mellitus ohne Komplikationen, 5 Punkte für eine Neoplasie oder ein Lymphom. Die Überlebens-Voraussage an der Hämodialyse nach MCS-Punkten beträgt < 3 Monate bei 9-15 Punkten, 3-12 Monate bei 6-8 Punkten, 12-24 Monate bei 4-5 Punkten, 24-60 Monate bei 2-3 Punkten und > 60 Monate bei 0-1 Punkten. Der Karnofsky-Index definiert die funktionelle Einschränkung in Prozent, wobei 100% einem Leben ohne Einschränkungen und 0% dem Tod entsprechen. Die oben erwähnten 40% beschreiben ein Leben mit schweren Einschränkungen, Abhängigkeit von Unterstützung bei Alltagsaktivitäten und häufiger Hospitalisierung. Zur Voraussage der Überlebenswahrscheinlichkeit für Patienten, die bereits in einem chronischen Dialyseprogramm sind, stehen ebenfalls predictive modelling risk calculators zur Verfügung. Eine wichtige Rolle spielen dabei der oben erwähnte modifizierte Charlson Score (MCS) und die sogenannte ‚surprise question’ - die Frage, ob man überrascht wäre, wenn der Patient innerhalb von 12 Monaten stürbe. Die Wahrscheinlichkeit, innerhalb von 12 Monaten zu versterben, war für Patienten bei einer ‚Nein’-Antwort (also ‚nicht überrascht, wenn er stirbt‘) auf diese Frage 3,5 Mal höher als bei einer ‚Ja’-Antwort (Pang WF. Perit Dial Int. 2013 Jan-Feb;33(1):60-6 und MOSS AH. Clin J Am Soc Nephrol. 2008 Sep;3(5):1379-84). Ein sehr einfaches Berechnungsschema ist im Internet unter der Adresse http://touchcalc.com/calculators/sq zu finden. Hier werden Serum-Albumin, Alter, Vorliegen einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit und die Antwort auf die ‚surprise question‘ eingegeben und man erhält eine Überlebenswahrscheinlichkeit in Prozent für die nächsten 6, 12 und 18 Monate (Cohen LM. Clin. J. Am. Soc. Nephron. 2010;5:72-9). Eine sehr interessante Arbeit wurde vom Team von Peter Kotanko veröffentlicht (Usvyat LA. Kidney Int. 2013 Jul;84(1):149-57). In dieser wird gezeigt, dass man bereits mehr als ein Jahr vor dem Tod des Patienten Veränderungen der Gewichtszunahme zwischen den Dialysen, des systolischen Blutdrucks vor der Dialyse, des Serumalbumins und des CRP feststellen konnte. Diese Veränderungen nahmen im Verlauf der Zeit zu und zeigten eine charakteristische Akzeleration 20 Wochen vor dem Tod der Patienten. Diese Akzeleration war graphisch durch einen ‚Knick’ in den Verlaufskurven der oben erwähnten Parameter darstellbar. Mean interdialytic weight gain (IDWG; expressed as percent of post-hemodialysis (post-HD) weight) and 95% confidence interval. (a) Mean interdialytic weight gain (IDWG; expressed as percent of post-hemodialysis (post-HD) weight) and 95% confidence interval in female patients in the 104 weeks before death. The left panels show estimates of the partially conditional means with 95% confidence intervals, and the right panels show estimates of rate of change. (b) Mean IDWG (expressed as percent of post-HD weight) and 95% confidence interval in male patients in the 104 weeks before death. Ein longitudinales Monitieren und eine graphische Darstellung dieser Parameter kann wie die anderen erwähnten Scores dem behandelnden Team helfen, Patienten mit einem hohen Mortalitätsrisiko zu identifizieren. Wie kann man nun wenigstens die Lebensqualität dieser Patienten möglichst verbessern? Supportive Care für niereninsuffiziente Patienten Die Lebensqualität von Dialysepatienten enspricht der von Patienten mit terminaler maligner Erkrankung (Saini T. Palliat. Med. 2006;20:631-6). Dialysepatienten leiden unter einer Vielzahl von sehr belastenden Symptomen. Die meisten - bis zu 79% der multimorbiden Dialysepatienten leiden unter Schmerzen (Weisbord SD. NDT 2003;18:1245-1352). Weitere typische Beschwerden sind Pruritus, Restless legs, Übelkeit, Verstopfung, Dyspnoe, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Angst und Depression sowie Schlafstörungen. Zur Behandlung aller dieser Beschwerden gibt es Therapieempfehlungen in der Literatur, z.B. unter den ANZSN Renal Supportive Care Guidelines 2013 (Nephrology 2013;18:401-454). In einigen Zentren existieren Paliliativteams, die bei der Linderung solcher Beschwerden auf Basis ihrer Erfahrung bei Patienten mit Malignomen helfen können. Ein weiterer wichtiger Punkt wäre Advanced Care Planning. Es gibt zwar in Österreich durchaus die Möglichkeit, im Vorhinein durch z.B. eine Patientenverfügung genauestens festzulegen, welche medizinischen Maßnahmen man sich für sich im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder am Ende des Lebens nicht wünscht, aber diese Möglichkeit wird von den wenigsten Patienten wahrgenommen. Ein etwas einfacheres Vorgehen als die genaue Definition der eigenen Wünsche für alle Eventualitäten ist die Bestimmung eines Vorsorgebevollmächtigten, der im Falle einer Notsituation Entscheidungen für den nicht mehr befragbaren Patienten treffen kann. Aber auch diese Vorsorgevollmacht vergeben nur wenige Patienten. Wenn man aber nun Patienten chronisch betreut, bei denen in der näheren oder ferneren Zukunft die Notwendigkeit von Entscheidungen bezüglich medizinischer Maßnahmen zu erwarten ist, sollte man die Patienten ermutigen, zumindest eine Vorsorgevollmacht zu vergeben. Wichtig wäre auch, die Patienten darauf hinzuweisen, dass ihnen jederzeit die Möglichkeit offen steht, eine weitere Dialysetherapie zu verweigern, falls die Belastungen durch die Therapie den Nutzen überwiegen. Konkrete Vorschläge für die Prädialyseambulanz und die Dialysestation im Donauspital In der Prädialyseambulanz könnten für alle präterminal niereninsuffizienten Patienten, die älter als 75 Jahre sind, die oben genannten Scores durchgerechnet werden. Alle Prädialysepatienten werden an unserer Abteilung der Psychologin vorgestellt. Bei älteren Patienten mit einem hohen Komorbiditätsscore sollte bei diesem Gespräch auch die Möglichkeit einer konservativen nephrologischen Betreuung ohne Beginn einer chronischen Dialysetherapie besprochen werden. Derzeit gibt es noch nicht das Konzept einer ausschließlich symptomatischen Dialysetherapie. Dieses Konzept könnte aber im Rahmen dieses Palliativkonzeptes möglicherweise etabliert werden, um Patienten, die eigentlich eine chronische Dialysebehandlung ablehnen, dann aber unter Symptomen wie Überwässerung leiden, eine Dialyse zur Symptombekämpfung anbieten zu können. Im Rahmen dieses Palliativkonzeptes wird es notwendig sein, eine strukturierte ambulante Betreuung für terminal niereninsuffiziente Patienten ohne Dialyse zu entwickeln. Auf unserer Dialyse haben wir damit begonnen, uns bei allen Dialysepatienten die ‚surprise question’ zu stellen. Bei allen Patienten mit der Antwort ‚Nein’ wurden verschiedene Scores gerechnet und dokumentiert, um später die Nützlichkeit der Scores evaluieren zu können. Alle Patienten mit der Antwort ‚Nein’ werden von der Psychologin der Abteilung zu Lebensqualität-mindernden Symptomen und zum Vorliegen einer Depression befragt (mit einfach verständlichen Fragebögen wie z.B. dem ‚WHO 5’). Zusammen mit einem Facharzt der Abteilung und der Psychologin sowie einem oder mehreren Angehörigen soll in weiterer Folge ein ‚Advanced Care Planning’ und die Aufklärung über die Möglichkeit einer Verweigerung der weiteren Dialysebehandlung erfolgen. Die Patientenwünsche sollen im Diamant (Dialyse-EDV Dokumentation) dokumentiert werden, und die Patienten sollen ermutigt werden, eine Patientenverfügung oder eine Vorsorgevollmacht zu hinterlegen. Alle diese Patienten werden - je nach Kapazität - dem mobilen Palliativteam vorgestellt werden. Außerdem sollen diese Patienten und die weitere Behandlungsstrategie mit dem Pflegeteam und insbesondere mit der Bezugsschwester besprochen werden, dabei soll besonderes Augenmerk auf Möglichkeiten zur Leidenslinderung gelegt werden. Die von Usvyat und Kotanko publizierten Parameter sollen sobald wie möglich ins Diamant integriert werden, allerdings dauern EDV-Umstellungen im Diamant erfahrungsgemäß einige Monate. Wenn diese Umstellung einmal umgesetzt ist, kann die Software bei der Auswahl von geeigneten Patienten für das Palliativprogramm helfen. Sobald der beschriebene ‚Knick’ in Serumalbumin, systolischem Blutdruck, CRP und Gewichtszunahme auftritt, wird auch das eine Strategiebesprechung des Dialyseteams zur Folge haben, ebenso wie eine Besprechung mit der Psychologin und dem mobilen Palliativteam. Patienten mit sehr niedriger Überlebenswahrscheinlichkeit sollten die Erlaubnis erhalten, Dialysefrequenz und Dauer selbst zu bestimmen, die Therapieziele für Blutdruck, Phosphat, ktv sollten zugunsten einer möglichst hohen Leidenslinderung in den Hintergrund gerückt werden (siehe oben, Versuch der Implementierung einer rein ‚symptomatischen’ Dialysebehandlung). Vernetzung mit anderen nephrologischen Abteilungen Eine Vernetzung mit anderen nephrologischen Abteilungen wäre zum Austausch von Erfahrungen sehr hilfreich. Eine Arbeitsgruppe der ÖGN wurde bereits gegründet, Anfang April wird ein erster Workshop der Arbeitsgruppe stattfinden. Die Arbeitsgruppe kann ein Forum zur Diskussion mit anderen nephrologischen Abteilungen, zur Diskussion von Fragen aller Art und für Feedback nach den ersten Erfahrungen bieten. Die Arbeitsgruppe kann auch rechtliche Fragen klären, z.B. durch Anfragen am Institut für Ethik und Recht, das sich mit Fragen der Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht schon in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Palliativmedizin auseinandergesetzt hat. Auch eine Kooperation mit der Gesellschaft für Palliativmedizin ist meiner Meinung nach sinnvoll, um Erfahrungen der Palliativmediziner nutzen zu können und um sich zusätzliche Unterstützung zu holen. Am 26. April 2014 findet der 1. Österreichische Fachtag für Palliativmedizin statt, bei dieser Gelegenheit kann diese Kooperation vielleicht angebahnt werden.